Professionalisierung im Bereich Inklusion

Editorial

Journal für Psychologie, 27(2), 3–5

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2019-2-3www.journal-fuer-psychologie.de

Der Begriff Inklusion spielt insbesondere in der Soziologie schon mehrere Jahrzehnte eine wichtige Rolle. Speziell die Systemtheorien Talcott Parsons’ und Niklas Luhmanns verwenden den Begriff, um die Möglichkeit der Partizipation von Individuen an gesellschaftlichen Subsystemen zu begreifen. Das hier entwickelte Gegensatzpaar von Inklusion und Exklusion findet sich dann auch beispielsweise in den Theorien zur sozialen Ungleichheit Pierre Bourdieus wieder.

Um inklusive Bildung, um die es in diesem Themenheft gehen soll, besser zu verstehen und zu analysieren, sind unter anderem diese soziologischen Ansätze hilfreich, wobei gleichzeitig ein großes Repertoire an pädagogischen und psychologischen Perspektiven auf diesen großen Themenkomplex zu finden sind. Die ethischen, politischen und gesetzlichen Ansprüche, die sich mit dem Ziel der Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft und einem entsprechend inklusiven Bildungssystem verbinden, sind umfänglich und vielfältig. Diskriminierungsfreiheit, gleichwertige Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt stellen zentrale Komponenten von Inklusion dar. Vermeintlich außergwöhnliche Menschen sollen weder ausgeschlossen, also exkludiert, noch an einen speziellen Ort gezwungen, also segregiert, und eben auch nicht unfreiwillig an die Mehrheit angepasst, also integriert bzw. normalsiert werden. Stattdessen schwingt im Postulat inklusiver Bildung die Überzeugung einer grundsätzlich gleichwertigen Verschiedenheit aller Menschen mit, verbunden mit der Annahme, dass Bildung als System mit dieser Verschiedenheit produktiv umgehen und ggf. sogar davon profitieren kann.

Im Gegensatz beispielsweise zu den skandinavischen Ländern, in denen in der Breite verankerte inklusive Bildungspraxen auf jahrzehntelange Traditionen zurückblicken können, sind in Deutschland Bewegungen hin zu einer inklusiven Bildung für alle erst seit etwa einer Dekade ein in großer Breite thematisiertes öffentliches Thema. Meilensteine auf diesem Weg waren die Änderung des Artikel 3 des Grundgesetzes 1994 wie auch durch die Salamanca Erklärung im selben Jahr. Dennoch stellt sich bis heute die Frage, ob und wie das nominell dreigliedrige und tatsächlich teilweise immer noch viergliedrige Schulsystem in seinen verschiedenen Varianten der Länder der Bundesrepublik Deutschland zu reformieren sei, um inklusiv zu werden. Dabei werden sowohl Fragen der Schulstrukturen als aber vor allem auch der schulischen Praxis in den Blick genommen. Mit der 2006 beschlossenen und von Deutschland ratifizierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat diese Debatte deutlich an Bedeutung gewonnen, was sich auch in deutlichen Veränderungen auf Indikatoren wie die sogenannten Inklusions- und Exklusionsquoten abbildet. Die politische und moralische Debatte über inklusive Bildung hat bis heute nichts an ihrer Brisanz oder Aktualität verloren.

Den Sozial- und Bildungswissenschaften sowie den Fachdidaktiken kommt in dieser Debatte eine besondere Aufgabe zu. Zum einen sollen sie Konzepte inklusiver Bildung erarbeiten und zum anderen aber auch aufzeigen, inwiefern Inklusion im Sinne von Gelingensbedingungen tatsächlich erfolgreich eingelöst werden kann, sprich wie inklusive Konzepte in der Bildung Konzepten von Exklusion und Segregation überlegen sein können. Entsprechend dieser mindestens doppelten Aufgabe, ergibt sich ein breites Spektrum von Forschungsansätzen: so stehen aus dem angesprochenen komplexen theoretischen Überbau abgeleitete Definitionen eher pragmatisch orientierte Ansätzen gegenüber.

Die mit dem Anspruch eines inklusiven Bildungssystems verbundenen Herausforderungen an praktisch alle Bildungseinrichtungen sowie die dort tätigen Personen sind vielschichtig und komplex, in Teilen spannungsgeladen und konträr und spiegeln sich in ebenso vielschichtigen Ideen und Lösungsansätzen wider.

Wesentliches Ziel der Herausgebenden dieses Themenheftes war es daher, die empirische Befundlage im Bereich Professionalisierung von pädagogischem Personal für Inklusion in den Blick zu nehmen, mit einem besonderen Fokus auf evidenzbasierte Interventionen. Der Begriff ›Evidenzbasierung‹ ist dabei nicht – wie häufig anzutreffen – rein quantitativ zu verstehen, sondern explizit unter Einschluss qualitativer, quantitativer sowie Mixed-Methods-Forschung zu verstehen und sowohl auf die Erstellung von Materialien und Prozeduren als auch auf Ergebnisse von Implementationen bezogen. Die insgesamt 17 Beiträge des Themenheftes decken ein breites Spektrum von Inklusionpädagogischen Fragen ab und stammen sowohl aus der Feder führender deutschsprachiger Inklusionsforscherinnen und -forscher als auch von jüngeren Kolleginnen und Kollegen, für die die Debatte nicht ›neu‹ sondern andauernder Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist.

Martin Dege und Michel Knigge

Die Herausgeber

Martin Dege, Prof. Dr., war wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Projekt »StiEL – Schule tatsächlich inklusiv« am Arbeitsbereich Inklusion und Organisationsentwicklung an der Universität Potsdam. Inzwischen ist er Assistenzprofessor am Psychologie Department der American University of Paris.

Kontakt: mdege@aup.edu

Michel Knigge, Prof. Dr., ist Universitätsprofessor. An der Universität Potsdam hatte er den Lehrstul für Inklusion und Organisationsentwicklung sowie die Standortleitung Brandenburg im BMBF-Projekt »StiEL – Schule tatsächlich inklusiv« inne. Seit dem Frühjahr 2020 lehrt und forscht er an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich Rehabilitationspsychologie.

Kontakt: michel.knigge@hu-berlin.de