Agile Organisationen – Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme

Editorial

Journal für Psychologie, 29(1), 3–8

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2021-1-3 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Ein neues Gespenst geht um in der Welt der Wirtschaft – das Gespenst der agilen Organisation. Seit einigen Jahrzehnten (vermehrt aber und größere Aufmerksamkeit auf sich ziehend vor allem in den vergangenen Jahren) werden, angestoßen vor allem durch einige Teile der Organisationsberatung, sogenannte agile Prozesse und Strukturen in Unternehmen eingeführt, die als Wunderwaffe gegen die vielfältigen und starken Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft gepriesen werden. Noch handelt es sich um nur wenige Organisationen, die in Teilen oder sogar vollständig auf den Zug der agilen Steuerung aufspringen. Es kann aber erwartet werden, dass diese Managementphilosophie, man könnte auch von einer Managementmode sprechen, in den kommenden Jahren an Attraktivität gewinnen wird.

Es handelt sich freilich nicht um ein einheitliches Phänomen. Agilität in Organisationen kann vieles heißen, und bei genauer Betrachtung versammeln sich verschiedene neuere Ansätze der Unternehmenssteuerung unter diesem Begriff. Wichtige Begriffe, die in diesem Zusammenhang meist Erwähnung finden, sind Scrum, Holacracy und Feature Driven Development. Aufgrund von einigen Ähnlichkeiten werden vergleichend auch ältere Zugänge wie die Netzwerkorganisation oder die Soziokratie genannt. Dies sind nur einige Beispiele. Es handelt sich dabei nicht wirklich um elaborierte Organisationstheorien, sondern um Ansätze des projektorientierten Organisationsdesigns, also der praxisnahen Steuerung von Prozessen über netzwerkartige, hierarchieferne Strukturen oder Formalkategorien, die auch als postbürokratisch bezeichnet werden können.

Damit ist vielleicht schon eine wichtige Gemeinsamkeit agiler Organisationen benannt, nämlich der Anspruch, es anders, besser machen zu wollen als die bislang bekannten bürokratischen oder eher hierarchisch aufgebauten Unternehmen. Gleichzeitig wird in agilen Ansätzen der Unternehmenssteuerung in unterschiedlichem Ausmaß ein Versprechen gegeben, das darauf hinausläuft, dass mit Agilität die in Organisationen meist auftretenden charakteristischen Widersprüche etwa zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung, Innen- und Außenorientierung, Fremd- und Selbststeuerung, Kapital- und Humanorientierung weitgehend aufgelöst werden können. Oder etwas leichtherzig formuliert: In oder mit agilen Organisationen werden alle glücklich, die Belegschaft sowie die Kundinnen und Kunden, die Führungskräfte sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Worum handelt es sich genau bei agilen Organisationen? Der Verweis auf das Wort agil (von lat. agilis = gewandt, wendig, flink) ist wenig aufschlussreich. Nähere Hinweise findet man im sogenannten Agilen Manifest, das auch in einem der in diesem Heft versammelten Beiträge genauer vorgestellt wird. Dort liest man unter anderem, dass agile Organisationen ihren Fokus auf Menschen und die zwischen ihnen stattfindenden Interaktionen legen (statt auf Prozesse und Werkzeuge), die Zusammenarbeit mit Kundinnen und Kunden fördern und dass es um Anpassung an gesellschaftlichen und technologischen Wandel geht. Auch dies ist noch nicht sehr aussagekräftig, die beschriebenen Merkmale wird man heute in mehr oder weniger ähnlichen Formulierungen als organisationales Selbstverständnis auf den Homepages sehr vieler auch nicht agil strukturierter Unternehmen finden.

Dessen ungeachtet gibt es einige Merkmale organisationaler Agilität, mit denen man sich von der traditionellen, noch vorherrschenden Art und Weise der Unternehmensführung absetzen möchte. Schaut man sich entsprechende, meist auf den Webseiten von Beratungsunternehmen vorzufindende Darstellungen oder Zusammenfassungen agiler Prinzipien an, so werden in aller Regel folgende Punkte genannt (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Agile Organisationen sind offen gegenüber Veränderungen. Prozesse der Produktion oder Dienstleistungserstellung werden fortlaufend optimiert. Der damit verbundene organisationale Wandel wird nach Möglichkeit rasch umgesetzt. So gesehen besteht eine gewisse Affinität zum Konzept der Lernenden Organisation.

Die Richtung der Veränderung, aber auch generell die strategische Ausrichtung des Unternehmens gibt der Markt vor. Agile Organisationen orientieren sich am Kundenwunsch, Käuferinnen und Käufer werden zu Partnerinnen und Partnern. Im Zentrum stehen dabei die für den Unternehmenserfolg signifikanten Aspekte der angebotenen Produkte und Dienstleistungen. Interne Prozesse und Strukturen werden so angelegt, dass den Marktbedürfnissen optimal und auch möglichst rasch entsprochen werden kann.

Dies setzt effektive Kommunikation innerhalb der Organisation, aber natürlich auch mit den Kundinnen und Kunden voraus. Agile Organisationen halten sich in aller Regel nicht lange mit Grundlagendiskussionen auf. Wenn erkannt wird, auf welche Weise der Markt besser bedient werden kann, so wird dies an die involvierten Rollenträgerinnen und -träger zeitnah kommuniziert und nach Möglichkeit auch zügig umgesetzt.

In agilen Organisationen nimmt das Prinzip der Selbstorganisation eine zentrale Rolle ein. Die (wie auch immer definierten) meist kleineren und kundennah operierenden Einheiten des Unternehmens agieren weitgehend autonom. Entscheidungen werden, so gut es geht, dort getroffen, wo sie erforderlich sind. Auch die einzelnen Teammitglieder verrichten ihre Arbeit mehr oder minder selbstbestimmt. Beurteilt wird das Handeln jedes Organisationsmitglieds hauptsächlich über seinen Beitrag zum Erfolg am Markt.

Das sind natürlich idealtypische Merkmale, inwieweit sie von Organisationen, die sich zum Prinzip der Agilität bekennen, umgesetzt werden, steht auf einem anderen Blatt. Es ist auch eine offene Frage, ob die genannten Merkmale agiler Unternehmenssteuerung überhaupt realisiert werden können. Vor allem wenn man bedenkt, dass hier in traditionellen Organisationen gemeinhin widerstreitende Prinzipien parallel verfolgt werden und auch umgesetzt werden sollen. Nicht zuletzt ist nicht wirklich geklärt, inwieweit die Effekte, die man sich durch agile Steuerungselemente verspricht (z.B. hohe Kundenorientierung und Kundenzufriedenheit, selbstbestimmtes Handeln, Selbstverwirklichung in der Arbeit und hohe Zufriedenheit der Organisationsmitglieder), auch erreicht werden. Damit im Zusammenhang stellt sich insbesondere aus Sicht der Arbeits- und Organisationspsychologie die Frage, wie es überhaupt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer agilen Organisation ergeht. Tragen sie die damit verbundene Philosophie mit? Können und wollen sie die Prinzipien umsetzen? Was braucht es dafür an Voraussetzungen? Was sind kurzfristige und langfristige Resultate auf individueller und organisationaler Ebene?

Dies sind nur beispielhaft einige der Fragen, die sich zur Praxis agiler Unternehmenssteuerung stellen. Es sind Fragestellungen, die letztendlich durch Forschung zu klären sind. Betrachtet man den Forschungsstand zum Thema, so stellt man fest, dass es zwar zahlreiche Publikationen zum Grundgedanken und auch zur Praxis agiler Steuerung gibt, aber nur sehr wenige empirische Studien, egal ob diese explorierenden (qualitative Forschung) oder hypothesenprüfenden (quantitative Forschung) Charakter haben. Dies betrifft den Forschungsstand in allen relevanten Disziplinen (Managementforschung, Organisationssoziologie, Arbeits- und Organisationspsychologie, Erwachsenenbildung etc.). Dem entgegenzuwirken und damit eine Plattform für Forschungsresultate über das Wirken agiler Organisationen auf allen bedeutsamen Ebenen zu schaffen, war einer der Anlässe für den in diesem Heft gewählten Themenschwerpunkt.

Ein weiterer Beweggrund war, angesichts des vor allem in der Beratungs- und populären Managementliteratur vorherrschenden Hypes zum Prinzip der Agilität einen kritischen Diskurs anzustoßen. Dieser Diskurs kann durch empirische Forschung angereichert werden. Er kann aber auch auf der Grundlage bewährter theoretischer Zugänge zum komplexen Charakter von Organisationen generell geführt werden. Ziel dabei war, ob und inwieweit agile Ansätze der Unternehmenssteuerung bestimmte Aspekte individuellen und sozialen organisationalen Handelns explizit oder implizit ausblenden und damit Gefahr laufen, entweder von vorneherein zum Scheitern verurteilt zu sein oder von den Organisationsmitgliedern Dinge zu erwarten, die sich nur mit hohen Kosten (z.B. auf der Seite der Gesundheit) realisieren lassen. Auch hier kann selbstverständlich der Diskurs durch entsprechende Forschungsresultate bereichert werden.

Das hier vorliegende Themenschwerpunktheft versammelt insgesamt sieben Beiträge. Die Autorinnen und Autoren stammen aus unterschiedlichen Disziplinen, von der Organisationssoziologie über die Betriebswirtschaftslehre bis hin zur Erwachsenenpädagogik und psychologischen Stressforschung. Es werden verschiedene Fragestellungen bearbeitet, etwa die Bedeutung von Macht und Hierarchie in agilen Organisationen, die Nebenfolgen holakratischer Managementkonzepte, Probleme agiler organisationaler Transformation, das kognitiv-linguistische Mindset agiler Arbeitsweisen, Lernpotenziale und Lernanforderungen der Methode Scrum sowie das Auftreten von und der Umgang mit Stress in agilen Organisationen.

Im ersten Beitrag gehen Michael Busch und Karin Link der Frage nach, welche Rolle Machtbeziehungen in agilen Organisationen spielen. Bei näherer Betrachtung der agilen Prinzipien kann der Eindruck entstehen, dass in agilen Organisationen aufgrund der hohen Bedeutung von autonomer Steuerung und offener hierarchiefreier Kommunikation das Ausüben von Macht keine nennenswerte Rolle spielt. Im Beitrag wird dies widerlegt. Unter Berücksichtigung einflussreicher sozialwissenschaftlicher Machtkonzepte wird im Rahmen einer theoretisch angelegten Studie aufgezeigt, dass in agilen Organisationen und insbesondere bei der Arbeit in Teams die Interaktion zwischen den Organisationsmitgliedern mit teils offener, teils subtiler Einflussnahme und Machtausübung verbunden ist.

Phanmika Sua-Ngam-Iam und Stefan Kühl wenden sich in ihrem Beitrag dem bekannten agilen Managementkonzept Holacracy zu. Auf der Basis von Luhmanns Konzept der formalen Organisation und empirischen Daten aus Befragungen von Mitgliedern mehrerer holakratischer Organisationen werden einige ungewollte Nebenfolgen der starken Formalisierung von Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen im holakratischen Modell aufgedeckt und näher analysiert.

Finn-Rasmus Bull und Judith Muster entwickeln in ihrem Beitrag eine kritische Betrachtungsweise des Umgangs mit Hierarchie in agilen Organisationen. Unter Rückgriff auf zwei Fälle wird das Spannungsfeld von Hierarchien und postbürokratischen Arbeitsweisen mithilfe des Äquivalenzfunktionalismus analysiert. Dabei wird deutlich, dass durch die Etablierung postbürokratischer Arbeitsweisen Hierarchien keineswegs verschwinden, sondern vielmehr neu auszudeuten sind und veränderte Aushandlungsprozesse erfordern.

Mareike Hattendorf wendet sich agilen Dienstleistungsunternehmen der Softwareentwicklung zu. Auf Basis der Grundsätze des Agilen Manifests wird untersucht, ob und inwieweit die dort festgehaltenen Prinzipien von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen entsprechender Transformationsprozesse auch umgesetzt werden können. Auf der Basis von ExpertInnen-Interviews werden die Schwierigkeiten bei der Einführung agiler Prinzipien thematisiert. Darauf aufbauend entwickelt die Autorin ein Drei-Ebenen-Modell zur Einführung von Agilität in Dienstleistungsunternehmen.

Der Agilitätsbegriff in seiner Vielfältigkeit und Uneindeutigkeit steht im Fokus des Beitrags von Franziska Espinoza und Sabine Mommartz. Auf Basis einer »integralen Reflexionspraxis« stellen die Autorinnen »Patterns of Integrated Organizations« als Entwicklungslandkarte und eine Pattern-Bibliothek als Instrumentarium für die reflexive Organisationsentwicklung vor. Aus einer kognitiv-linguistischen Perspektive werden die Kernversprechen des Agilitätsdiskurses betrachtet, die als vielfältige Projektionsfläche dienen. Mithilfe strukturierter Reflexionsprozesse sollen in Agilität projizierte Sehnsüchte deutlich werden, um als Entscheidungshilfe für die künftige Organisationsgestaltung dienen zu können.

Jenny Kipper thematisiert wichtige pädagogische Elemente in agilen Methoden. Mit Fokus auf den agilen Ansatz Scrum wird der Hypothese nachgegangen, dass agile Organisationen in gewisser Weise auch lernende Organisationen sind oder sein können. Auf der Grundlage der Analyse von acht ExpertInnen-Interviews werden wesentliche Voraussetzungen für Lernprozesse im Rahmen agiler Arbeitsformen benannt. Es wird deutlich, dass Agilität allein noch keine lernende Organisation ausmacht, sondern allenfalls Potenziale für individuelles und organisationales Lernen schafft. Die sich eröffnenden Lernchancen müssen jedoch genutzt und umgesetzt werden.

Agil organisierte Start-ups stehen im Zentrum des Beitrags von Hendrik Küster und Marius Raab. Dem hier ausgeführten Modell der optimierten Stressgestaltung liegt ein stressbezogenes Handlungskonzept von Beschäftigten in agil organisierten Start-up-Unternehmen zugrunde. Basierend auf einer Grounded-Theory-Studie wird der Umgang mit Belastung und Beanspruchung rekonstruiert. Widersprüche zwischen der erfahrenen Realität der Arbeitsbedingungen und dem Ideal der Agilität werden deutlich. Wie eine optimierte Stressgestaltung mit spezifischen gesundheitsgefährdenden Disbalancen einhergehen kann, wird durch die im Beitrag analysierten Interviewpassagen greifbar.

Mit diesem Heft ist es wohl gelungen, unterschiedliche Streiflichter auf das Phänomen agiler Organisationen zu werfen. Hervorzuheben ist, dass einerseits theoretisch bedeutsame Analysen dieses Phänomens vorgenommen werden, andererseits durch eine Reihe von qualitativen Studien auch empirischer Gehalt geschaffen worden ist. Natürlich sind wir mit dem in diesem Schwerpunktheft erzielten Querschnitt noch weit von einer befriedigenden, breit gefächerten Aufarbeitung des Phänomens entfernt. Auch die kritische Analyse, sei es aus individuell psychologischer oder aus kollektiv soziologischer Perspektive, kann mit Sicherheit noch weiter vertieft werden. Es verbleiben jedenfalls für die weitere Forschung aus diversen Fachdisziplinen mehrere Desiderata.

Aus unserer Sicht ist vor allem bemerkenswert, dass auf unseren Call zu diesem Schwerpunktheft nur eine Einreichung aus dem Bereich der Psychologie einging. Zu beurteilen, inwieweit der in diesem Heft vorliegende Ausschnitt an theoretischen und empirischen Studien unseren Intentionen für dieses Heft gerecht wird, bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen. Für die Zukunft wäre jedenfalls zu wünschen, dass sich der Anteil an kritischer arbeits- und organisationspsychologischer Forschung zu agilen Organisationsprinzipien und ihren Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft erhöht.

Andrea Birbaumer & Ralph Sichler

Dank

Wir möchten uns herzlich bei den Gutachterinnen und Gutachtern für ihre wertvollen, konstruktiven Stellungnahmen und kritischen, hilfreichen Anmerkungen zu den Beiträgen dieses Hefts bedanken. Unser Dank geht ebenso an den Psychosozial-Verlag, insbesondere an Christian Flierl für die Organisation und Umsetzung des Lektorats.

Die HerausgeberInnen

Andrea Birbaumer, Mag., lebt in Wien. Sie ist langjährige Obfrau und Leiterin der Fachabteilung A&O-Psychologie der Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen (GkPP), selbständige Gesundheitspsychologin, Arbeits- und Organisationspsychologin sowie Notfallpsychologin. Darüber hinaus lehrt sie an verschiedenen Universitäten und in der GkPP in der postgraduellen Fortbildung für Psychologinnen und Psychologen. Als Mitherausgeberin des Journals für Psychologie fungiert sie seit der Umstellung auf Open Access. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Supervision, Prävention, Burnout, Stressmanagement, Arbeitszeitmodelle, Homeoffice.

Kontakt:
Mag. Andrea Birbaumer,
GkPP, Margaretenstr. 72/3,
1050 Wien, Österreich
E-Mail: birbaumer@gkpp.at

Ralph Sichler, Dr., Univ.-Doz., Dipl.-Psych., ist Leiter des Instituts für Management und Leadership Development an der Fachhochschule Wiener Neustadt sowie langjähriger Mitherausgeber des Journals für Psychologie und aktives Mitglied der Gesellschaft für Kulturpsychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Neue Arbeitswelt, Organisations- und Personalpsychologie, Führungsforschung, Kulturpsychologie, philosophische Grundlagen der Psychologie und qualitative Sozialforschung.

Kontakt:
Dr. Ralph Sichler,
Fachhochschule Wiener Neustadt,
Institut für Management und Leadership Development,
Schlögelgasse 22–26, 2700 Wiener Neustadt, Österreich
E-Mail: ralph.sichler@fhwn.ac.at