Frank Vonk
Journal für Psychologie, 29(2), 139–151
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2021-2-139 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deIn den 1920er und 1930er Jahren hat sich Karl Bühler ausführlich mit einer Axiomatik der Psychologie und der Sprachtheorie auseinandergesetzt, aber auch implizit mit Fragen nach dem Menschen. Ein Überblick über die Quellen Bühlers – nicht nur wissenschaftliche Artikel oder Bücher von Zeitgenossen, sondern auch der Briefwechsel mit Kollegen aus den unterschiedlichsten Disziplinen – bezeugt sein großes Interesse an weit auseinanderliegenden Wissenschaftsgebieten. Auch Vertreter der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden philosophischen Anthropologie, wie die Zeitgenossen Max Scheler, Hans Driesch oder Helmuth Plessner und viele andere »Anthropologen«, die in Handbüchern der philosophischen Anthropologie angeführt werden (wie Aristoteles oder Husserl), werden von Bühler diskutiert. Umgekehrt nehmen zeitgenössische Autoren ihrerseits Gedanken von Bühler in ihren Werken auf. Auf diese Beziehungen soll vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion der philosophisch-anthropologischen Grundgedanken Bühlers eingegangen werden.
Schlüsselwörter: Karl Bühler, menschliches Handeln, (philosophische) Anthropologie, Lebenswissenschaften, Interdisziplinarität
Summary
The soul is the principle of life …«
Karl Bühler’s contribution to anthropological thought
In the 1920s and 1930s, Karl Bühler has contributed to an axiomatics of psychology and to the theory of language, but implicitly also to questions concerning man. An overview of the sources Bühler uses – not only scientific articles or books, but his correspondence with colleagues from all sorts of disciplines as well – shows a genuine interest in a broad range of scientific domains. Representatives of the emerging science of philosophical anthropology at the beginning of the 20th century like Max Scheler, Hans Driesch or Helmuth Plessner and many other »anthropologists« appearing in handbooks of philosophical anthropology (e. g., Aristotle, Husserl) are discussed in Bühler’s work. On the other hand, contemporary authors have dealt with Bühler’s thoughts in their own works, published in the 1920s and 1930s. Such relationships in Bühler’s philosophical-anthropological fundamental thoughts will be reconstructed and discussed in this contribution.
Keywords: Karl Bühler, human agency, (philosophical) anthropology, life sciences, interdisciplinarity
»Wer die Bewußtseinsvorgänge ihrem Mutterboden, den Vorgängen des Lebens entzieht, der macht sie saft- und kraftlos. Und wer sie löst von den letzten Dingen, loslöst von der Bestimmung des Menschen, der macht sie sinnleer.«
(Bühler 1936, 4)
Karl Bühler hat als approbierter Arzt 1903 eine Dissertation über die Umstimmung des Sehorgans (1903) bei Johannes von Kries verfasst und 1905 bei Clemens Baeumker eine philosophische Dissertation über Henry Home, Lord Kames verteidigt. In der Folge arbeitete er als Assistent von Oswald Külpe an den Psychologischen Instituten in Würzburg, Bonn und München, danach als Professor in Dresden und Wien. Als Psychologe hat Bühler sich eingehend mit mehreren psychologischen Teildisziplinen befasst – mit Denkpsychologie, Entwicklungspsychologie, Gestaltpsychologie, Wahrnehmungspsychologie, Sprachpsychologie und biologischer Psychologie – und dabei nach ihrer Verbindung in einer übergreifenden Theorie vom denkenden und handelnden Menschen gesucht. Kann man Bühler aufgrund seiner disziplinübergreifenden Arbeiten als einen Systemdenker im Sinne der Philosophen des Deutschen Idealismus betrachten? Diese Frage drängt sich auf, da er ausgehend von seinen transzendentalphilosophischen und phänomenologischen Wurzeln in ständiger Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden und auf ihn wirkenden Fachwelt in den Würzburger, Bonner, Münchner, Wiener und später dann den amerikanischen Stätten seines Wirkens die jeweils erreichten Forschungsergebnisse in ein übergeordnetes Ganzes zu integrieren suchte. Unter dieser Zielstellung leuchtet es ein, dass Bühler sich vor allem auf allgemeine Prinzipien, Grundsätze und Grundbegriffe konzentriert hat. Letzten Endes ging es ihm darum, das von verschiedenen theoretischen Zugängen oder Subdisziplinen Geteilte oder ihnen Gemeinsame zu einer Art Fundament zu formen, das den verschiedenen Einzelwissenschaften als gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt dienen sollte.1
Bühlers wissenschaftliches Denken lässt sich also als eine fortgesetzte Suche nach den Prinzipien einer Gesamtwissenschaft begreifen, die das menschliche Handeln von unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven aus zu thematisieren erlaubt. Dabei geht es ihm einerseits um eine historische Positionierung der Einzelwissenschaften und andererseits darum, konzeptuelle Querverbindungen zwischen ihnen aufzuzeigen und damit den im Grunde interdisziplinären Charakter sowohl der Geisteswissenschaften als auch der Naturwissenschaften zu erweisen. Insbesondere ist er aber an dem interdisziplinären Status der Lebenswissenschaften (Biologie und Medizin) und ihren Verbindungen zur Psychologie interessiert. Dabei stößt er immer wieder auf philosophische Fragen – zum Beispiel die nach der Rolle des Telos auch und gerade bei der Erklärung der Lebensvorgänge.
Menschen sind aufgrund ihrer biologischen Ausstattung in der Lage, ihre Umwelt- und Mitwelt mittels zweckmäßiger (teleologischer) Handlungen in einer konkreten Handlungssituation zu beeinflussen und neu zu gestalten. Dazu entwickeln sie Gedanken, Vorstellungen oder Ideen über die zu gestaltende Wirklichkeit, zum Beispiel aufgrund vorangegangener Erfahrungen in ihrer Lebenswelt. Das heißt auch, dass der Mensch aufgrund seiner physischen und geistigen Konstitution in der Lage ist, gedankliche Vorstellungen, auch im Hinblick auf ein Noch-nicht-Vorhandenes, in der Handlungspraxis zu entwerfen und zu realisieren. Das ist eine der von Bühler immer wieder diskutierten Annahmen der Psychologie. Auch in der philosophischen Anthropologie geht es um den Status des »Geistes«, der »Seele« oder des »Bewusstseins« und des Erkennens einer »Wirklichkeit«, »Welt« oder »Umwelt«. Dabei werden die in dieser »Wirklichkeit«, »Welt« oder »Umwelt« tatsächlich realisierten Möglichkeiten des Denkens und Handelns und die Interaktionen mittels Institutionen (Sprache, Sitten oder Gebräuche, Riten, Kulte usw.; vgl. u. a. Landmann 1972, 11ff.; Paetzold 1998, 428; Arlt 2001, 14ff.) in den Mittelpunkt gerückt. Auch der komplexe Begriff des »Lebewesens«, der Tiere und Menschen umfasst und das Studium der konkreten Handlungsmöglichkeiten der Lebewesen in ihren je spezifischen Handlungsumwelten einschließt, wird zum Gegenstand philosophisch-anthropologischer Klärung. Diese ist aber nur interdisziplinär zu realisieren. So konstatiert Bohlken (2019) für die philosophische Anthropologie: »[Sie ist] das Nebeneinander einer Vielzahl einzelner Disziplinen. [Neben] der Soziobiologie, Paläontologie, Ethnologie, Entwicklungspsychologie, Hirnforschung usw. stehen Teildisziplinen wie medizinische, theologische, pädagogische, kulturelle, philosophische oder historische Anthropologie« (ebd., 193).
Bühler teilt diese disziplinäre und – damit verbunden – methodologische Pluralität der Erforschung von Teilaspekten des menschlichen und tierischen Denkens, Handelns und Verhaltens und damit, so meine These, kann man bei ihm eine Annäherung an philosophisch-anthropologische Fragestellungen konstatieren. Ziel des Beitrages ist es, in Bühlers Denken solch eine zusammenhängende Bestimmung und Darstellung des Menschen als kulturelles, historisches, teleologisches und biologisches Lebewesen herauszuarbeiten und damit seinen Beitrag zum anthropologischen Denken zu würdigen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es vor allem drei Forscher, die das Feld der Anthropologie nachhaltig bestimmt haben: Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Aus historischer Sicht spielen auch jene Autoren eine Rolle, die in den sich überschneidenden Grenzbereichen von Biologie, Physiologie, Psychologie und Philosophie gedacht und geschrieben haben, wie zum Beispiel Hans Driesch. In den meisten Einführungen zur philosophischen Anthropologie werden ebenfalls Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, unter den Zeitgenossen Bühlers auch Henri Bergson, von der Methode her Edmund Husserl und schließlich auch Martin Heidegger als wichtige Wegbereiter des deutschen bzw. kontinentalen anthropologischen Denkens genannt. Im Folgenden soll versucht werden, einige Konzepte dieser Denker zu artikulieren, und damit gleichsam den begrifflichen Rahmen abzustecken, in dem das Feld der philosophischen Anthropologie bearbeitet wurde (vgl. dazu ausführlich Sperna Weiland 1999). Die wichtigsten Leitlinien dieser Denker können wie folgt zusammengefasst werden:
Eine erste Annäherung an anthropologische Fragen lässt sich in der Geistigen Entwicklung des Kindes, die Bühler bereits 1918 veröffentlichte, verorten. In diesem Buch entwickelt Bühler seinen Beitrag zur ontogenetischen Frage der geistigen bzw. kognitiven Entwicklung des Kindes. Von basalen psychischen Funktionen wie dem Wahrnehmen ausgehend verfolgt er die Entwicklung des Kindes bis zu den Anfängen des Intellekts, zu dem das Denken und die (vollentwickelte) Sprache gehören. In seinem psychologisch-anthropologischen Ansatz schlägt er ein Drei-Stufen-Modell vor, das Instinkt, Dressur und Intellekt voneinander unterscheidet und verbindet (vgl. Bühler 1922 [1918], 1ff.). Jede jeweils sichtbar werdende Stufe wird von der vorangehenden Stufe vorbereitet, ist also Teil der ontogenetischen Entwicklung insgesamt. Mithilfe von Beobachtungen an den eigenen Kindern und einer minutiösen Auswertung der existierenden Literatur zur psychisch-kognitiven Entwicklung konnte er den Entwicklungsgang des Kleinkindes in diesen drei Stufen nachvollziehen. Am Wiener Psychologischen Institut wurden diese Untersuchungen der kindlichen Entwicklung auch auf andere Lebensphasen des Menschen ausgedehnt. Hier sind vor allem die Arbeiten von Charlotte Bühler und ihrer Assistenten und Assistentinnen zu erwähnen, die die typischen Lebensphasen aus zahlreichen Lebenslaufstudien herausgearbeitet und thematisch erforscht haben (vgl. Bühring 2007, 65ff.). Dabei ging es vor allem um die empirisch wahrnehmbare Seite des menschlichen Lebens vom Kindes- bis zum Greisenalter, so in den Beobachtungen von Kleinkindern in der Wiener Kinderübernahmestelle wie auch in der Lektüre von Tagebüchern.2
Zudem hat Bühler besonders seit Mitte der 1920er Jahre immer wieder die Frage nach dem Gegenstand der Psychologie gestellt:
»Es gibt auf die Frage nach dem Gegenstand der Psychologie im Grunde nur zwei oder drei Antworten, die des Nachdenkens wert sind. Die erste entstammt der antiken Medizin und hat durch Aristoteles ihre philosophische Fassung erhalten; sie lautet kurz und bündig: Die Seele ist das Prinzip des Lebens, das wir in abgestufter Ausgestaltung bei Pflanzen, Tieren und Menschen beobachten können. Psychologie ist also die Lehre vom Leben. Die zweite Auffassung (durch Augustinus, den Kirchenvater, gelegentlich angedeutet und dann im Laufe der Jahrhunderte immer wieder einmal aufblitzend) ist zuerst von Cartesius, Hobbes und ihren Zeitgenossen programmatisch ausgestaltet und vorgetragen worden. Damals, im Anfang des 17. Jahrhunderts, ist die neuere Psychologie zur Welt gekommen, deren Aera nicht ganz drei Jahrhunderte währte. Denn ich glaube, daß das Vertrauen auf sie am Ende des 19. Jahrhunderts geschwunden ist; konkret gesprochen: ich sehe in Männern wie Hermann Lotze, G.Th. Fechner, Wilhelm Wundt und ihren Schülern die letzten reinen Cartesianer oder Erlebnispsychologen. Nach ihnen brach die Krise aus und heute wüßte ich auf der ganzen Welt keinen mehr von Format zu nennen, der sich ohne Einschränkung zu dem cartesianischen Satz bekennen wollte: die Seele ist das Bewußtseinsprinzip, sie ist die res cogitans und sonst nichts« (Bühler 1936, 3).
In der Gegenstandsfrage der Psychologie hat sich also im Laufe der Geschichte eine Verschiebung von der Lehre vom sinnvollen Leben zur Lehre von den Bewusstseinsvorgängen vollzogen. In der Krise der Psychologie befasst sich Bühler ausführlich mit den Konsequenzen, die diese Verschiebung für die verschiedenen »Richtungen« oder Orientierungen in der Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben. So bedürfe die Erlebnispsychologie nach Bühler einer mehrfachen Ergänzung: zum einen durch eine Theorie vom sinnvollen Benehmen der Tiere und Menschen und zum anderen durch eine Theorie von den objektiven Gebilden, das heißt durch eine geisteswissenschaftliche Psychologie. Aber nicht nur zwischen den verschiedenen Orientierungen innerhalb der Psychologie ist eine Integration vonnöten, auch die Psychologie selbst muss im Kosmos der Wissenschaften Anleihen bei anderen tätigen und diese in ihre Wissensbestände integrieren (vgl. ebd., 5). So braucht die Psychologie als Mittlerin sowohl »Leitgedanken« aus der Medizin und der Biologie wie auch solche aus den Geisteswissenschaften, um das »sinnvolle Verhalten« von Tieren und vor allem von Menschen zu verstehen:
»Die Psychologie soll für die Geisteswissenschaften aufzeigen und bestimmen die Attribute und Modi des Menschseins. Zu den Wesensmerkmalen des Menschseins gehört z. B. die Sprachfähigkeit, gehört es, Zugang zu haben zum Reich der Symbole (Cassirer sagt: zum Reich der symbolischen Formen) und sachgerecht mit ihnen umzugehen. Voll bis zum Rande mit symbolischen Gebilden ist der Lebensraum, den die Menschen schaffen und ausgestalten, und der Quellpunkt aller Symbolik ist die Sprache« (ebd.).
Diese einerseits biologischen, andererseits geisteswissenschaftlichen Fragen zum Menschen passen in den Rahmen der philosophischen Anthropologie. Trotzdem äußerte sich Bühler gegenüber der zeitgenössischen Anthropologie immer wieder kritisch. Die Art und Weise, wie sich das solipsistische Ich, etwa bei Driesch und auch bei Scheler, mit dem Anderen, dem Du, verbindet, ist für Bühler weder aus einer rein biologischen Sicht noch aus einer phänomenologischen Darstellung des Fremdverstehens bzw. des sogenannten seelischen Kontakts herzuleiten:
»Schelers Ansatz: ›Es gibt phänomenologisch ursprünglich gar kein psychisches Ich und Du. Es gibt nur einen indifferenten Strom kontinuierlichen seelischen Totalgeschehens‹ – hat eine fast durchgehend ablehnende Kritik erhalten [vgl. auch Roffenstein 1926: 36–40]. Der eine oder andere Kritiker mag das Beiwort ›phänomenologisch‹ vor ›ursprünglich‹ übersehen haben; ich muß für mich gestehen, daß ich auch mit einem phänomenologisch ursprünglichen Totalgeschehen im Sinne Schelers nur dann etwas rechtes anzufangen wüßte, wenn von ihm im Aspekt des Benehmens gesprochen würde. Wenn Scheler diese Änderung seiner Lehre gut heißt, stehe ich auf seiner Seite« (Bühler 1927, 123).
Genau dieser eingeforderte Benehmensaspekt wird von Bühler in seiner psychologischen Handlungstheorie entwickelt und in das Zentrum seiner anthropologischen Überlegungen gestellt.
In einer seiner letzten Wiener Arbeiten, Die Zukunft der Psychologie und die Schule (1936), sieht man im Umriss die Gestalt einer philosophischen oder vielleicht auch »psychologischen« Anthropologie, die Bühler anhand von sieben biologischen Modellgedanken der Psychologie thesenartig zum Ausdruck bringt. In diesem Text gibt er auch seine »neue« Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand der Psychologie. Diese Neudefinition ist sowohl mit seinem Wissenschaftsverständnis als auch mit der Frage nach dem »sinnvollen Leben« verbunden. So entsteht eine bio-psycho-philosophische Anthropologie als Lebenswissenschaft, die sich als multidisziplinär entwickeln und Antwort auf die Frage suchen soll, wie die biologischen Lebensvoraussetzungen sich mit dem »sinnvollen Verhalten« (ebd., 5) in Handlungsräumen und -möglichkeiten verbinden.
Die sieben Modellgedanken und Grundbegriffe der Bühler’schen psychologischen Anthropologie sind folgende:
In dieser Art sieht Bühler um die Mitte der 1930er Jahre die Möglichkeit, eine Psychologie der Zukunft »als die Lehre vom sinnvollen Verhalten innerhalb und außerhalb des Körpers« (ebd., 19) aufzubauen.
Es ist nur allzu offensichtlich, dass Bühler sich bei der Suche nach einer »Gesamtwissenschaft« oder Sematologie an unterschiedlichen zeitgenössischen Wissenschaftsmethoden und -ergebnissen orientiert hat. Bühlers Stärke lag in der Synthese der Vorgehensweisen unterschiedlicher Wissenschaften (der Biologie, der Sprachwissenschaften, der Psychologie usw.). Dieses beständige Bemühen um Zusammenführung und Eingliederung hat ihn dazu geführt, im veröffentlichten Werk einerseits auf ganz spezifische Probleme der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen einzugehen, zum Beispiel auf die Frage nach dem einfachen und komplexen Wortbegriff oder nach dem unter- und nebengeordneten Relativsatz (vgl. Bühler 1982 [1934], Teil IV der Sprachtheorie zum »Aufbau der menschlichen Rede: Elemente und Kompositionen«), und dabei andererseits das große Ganze, den »Aufbau« der Wissenschaften, ihren konzeptuellen Zusammenhang, nicht aus dem Blick zu verlieren. Als ausgebildeter Biologe, Mediziner, Psychologe und Sprachtheoretiker war Bühler in der Lage, einen Überblick, ja eine Art Neuordnung des wissenschaftlichen Denkens anzubieten, von der eine anregende Wirkung auf Fachkollegen in und außerhalb der Psychologie ausgehen konnte.
In den Werken von Driesch, Scheler, Plessner oder Gehlen findet man einzelne Hinweise auf Texte Bühlers. Aufschlussreich ist die kurze Auseinandersetzung von Scheler mit Bühlers Geistiger Entwicklung des Kindes in seinem Werk Stellung des Menschen im Kosmos (Scheler 1928, 19). Auch Driesch diskutiert in seiner Ordnungslehre (vgl. Driesch 1923, 386) diesen Text. Gehlen geht in Der Mensch auf Karl Bühlers Funktionsmodell der Sprache ein, das Darstellung, Kundgabe und Mitteilung unterscheidet (Gehlen 2016 [1940], 224). Auch auf das spätere anthropologische und soziologische Denken im 20. Jahrhundert hat Bühlers interdisziplinäres Herangehen Wirkung ausgeübt. Man sieht beispielsweise explizite Hinweise auf Bühlers Ideen in Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1981), die als soziologisch-anthropologische Diagnose rationalen Sprechhandelns verstanden werden kann, oder in Niklas Luhmanns Sozialen Systemen (1984), worin Kommunikation als Verknüpfung dreier aufeinander bezogener Selektionen in Kommunikationseinheiten verstanden wird (vgl. Stichweh 1999, 214).
Auch auf Bühlers Seite sind die Übereinstimmungen in der Grundauffassung mit den zeitgenössischen Arbeiten der philosophischen Anthropologie nicht zu übersehen, so in der Betonung der spezifisch teleologischen Dimension des menschlichen Handelns: Der Mensch handelt auf eine bestimmte Art und Weise nach den ihm aufgrund seiner biologischen Ausstattung und den situativ gegebenen materiellen Voraussetzungen innewohnenden Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf ein Noch-nicht-Vorhandenes in der ihn umgebenden Welt. Außerdem in der von ihm immer wieder unterstrichenen Notwendigkeit einer geisteswissenschaftlichen Psychologie. Verweisen wir exemplarisch nochmals auf Gehlen, der genau diese Notwendigkeit einer externen »Ergänzung« der Handlungsmöglichkeiten, die der Mensch seiner Umwelt gegenüber erfährt, betont. Den Menschen nur als biologisches oder psychologisches Lebewesen zu betrachten, wäre eine Verkürzung seiner besonderen »Stellung im Kosmos«, wie Scheler es nannte. Sprache, Sitten, Riten oder Kulte sind notwendige Voraussetzungen, um das menschliche Handeln zu steuern und zur Lebenserfüllung beizutragen. Damit ist der Mensch stets »unfertig«, er kann (und muss) sich immer weiterentwickeln, wobei die Verbindung zu den ihn begegnenden Gegenständen und Sachverhalten und den anderen Menschen eine conditio sine qua non ist:
»Sofern der Mensch auf sich selbst gestellt eine solche lebensnotwendige Aufgabe auch verpassen kann, ist er das gefährdete oder ›riskierte‹ Wesen, mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken. Der Mensch ist schließlich vorsehend. Er ist – ein Prometheus – angewiesen auf das Entfernte, auf das Nichtgegenwärtige in Raum und Zeit, er lebt – im Gegensatz zum Tier – für die Zukunft und nicht in der Gegenwart. Es gehört diese Bestimmung zu den Umständen einer handelnden Existenz« (Gehlen 2016 [1940], 30).
Man kann aus den Hinweisen Bühlers auf Zeitgenossen und aus der Art und Weise, wie er in der philosophischen Anthropologie rezipiert wurde, ersehen, dass es schon damals zu einem Dialog um anthropologische Fragestellungen kam. Bühler hat die Arbeiten seiner nahen und fernen Kollegen aus den unterschiedlichen Disziplinen sehr genau zur Kenntnis genommen. Das Werk anderer hat ihm – um seine eigene Metapher zu bemühen – als Kompass gedient, die Kollegen als Lotsen auf seinen Wegen von der Biologie zur Philosophie oder Theologie, von der Medizin und Psychologie zur Sprachtheorie. Bei genauerer Lektüre fällt auf, dass von ihm viele Konzepte neu durchdacht, verstanden, interpretiert und benutzt wurden und in der Folge zu den eigenen Ausgangsthesen vom sinnvollen menschlichen Verhalten geführt haben. Und ebendiese zurückgelegte und zurückgefundene Strecke macht Bühlers Werk zu einer zeitbedingten Werkstätte, in der eine Neugestaltung vergangener, zeitgenössischer und auch zukünftiger Forschung zusammenfindet.
Arlt, Gerhard. 2001. Philosophische Anthropologie. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler.
Berger, Peter und Thomas Luckmann. 1977 [1969]. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 5. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
Bohlken, Eike. 2019. »Mensch«. In Grundbegriffe der Philosophie, hrsg. v. Stefan Jordan und Christian Nimitz,191–94. Stuttgart: Reclam.
Bühler, Karl. 1922 [1918]. Die geistige Entwicklung des Kindes. 3. Aufl. Jena: Gustav Fischer.
Bühler, Karl. 1926. »Die Krise der Psychologie«. In Kant-Studien 31: 455–526.
Bühler, Karl. 1927. Die Krise der Psychologie. Karl Bühler. Werke Band 4, hrsg. v. Achim Eschbach und Jens Kapitzky, 3–241. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Bühler, Karl. 1932. »Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile«. In Bericht über den XII. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Psychologie, hrsg. v Gustav Kafka, 95–122. Jena: Gustav Fischer.
Bühler, Karl. 1936. Die Zukunft der Psychologie und die Schule. Wien & Leipzig: Deutscher Verlag für Jugend und Volk.
Bühler, Karl. 1954. »The Essentials of Contact Navigation«. Acta psychologica 10: 272–316.
Bühler, Karl. 1960. Das Gestaltprinzip im Leben der Menschen und der Tiere. Bern & Stuttgart: Verlag Hans Huber.
Bühler, Karl. 1969. Die Uhren der Lebewesen und Fragmente aus dem Nachlass. Hrsg. und mit einer Biographie versehen von Gustav Lebzeltern unter Benutzung von Vorarbeiten von Hubert Razinger. Vorwort von Hubert Rohracher. Wien: Hermann Böhlaus Nachf.
Bühler, Karl. 1982 [1934]. Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart & New York: Gustav Fischer.
Bühring, Gerald. 2007. Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Camhy, Daniela. 1984.» Sematologie als Grundlagenwissenschaft«. In Bühler-Studien, Bd. 1, hrsg. v. Achim Eschbach, 98–114. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Driesch, Hans. 1923. Ordnungslehre. Ein System des nichtmetaphysischen Teiles der Philosophie. 2. Aufl. Jena: Eugen Diederichs.
Friedrich, Janette Hrsg. 2021. Karl Bühler und das Wiener Psychologische Institut. Dokumente und Fundstücke. Genf: Sdvig-Press.
Gehlen, Arnold. 2016 [1940]. Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt a. M.: Klostermann.
Habermas, Jürgen. 1981. Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Landmann, Michael. 1972. Filosofische antropologie. Utrecht & Antwerpen: Het Spectrum [Original: Philosophische Anthropologie. Berlin: Walter de Gruyter].
Paetzold, Heinz. 1998. »Der Mensch«. In Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 1, hrsg. v. Ekkehard Martens und Herbert Schnädelbach, 427–466. Hamburg: Rowohlt Verlag.
Plessner, Helmuth. 1977 [1969]. »Einleitung zur deutschen Ausgabe«. In Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, hrsg. v. Peter Berger und Thomas Luckmann, IX–XVI. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag.
Roffenstein, Gaston. 1926. Das Problem des psychologischen Verstehens. Ein Versuch über die Grundlagen von Psychologie, Psychoanalyse und Individualpsychologie. Stuttgart: Julius Püttmann, Verlagsbuchhandlung.
Scheler, Max. 1928. Die Stellung des Menschen im Kosmos. Berlin: Holzinger [vollständiger, durchgesehener Neusatz bearbeitet und eingerichtet von Michael Holzinger].
Sperna Weiland, Jan. 1999. De mens in de filosofie van de twintigste eeuw. Amsterdam: Meulenhoff/Kritak.
Stichweh, Rudolf. 1999. »Niklas Luhmann (1927–1998)«. In Klassiker der Soziologie 2. Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, hrsg. v. Dirk Kaesler, 206–29. München: Verlag C. H. Beck.
Frank Vonk, Dr., ist Senior lecturer und senior researcher an der HAN University of Applied Sciences/Hogeschool van Arnhem en Nijmegen. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Sprachphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, französische Philosophie des 20. Jahrhunderts, allgemeine Sprachwissenschaft, Geschichte der Psychologie, Methodologie praxisorientierter Forschung.
Kontakt: Dr. Frank Vonk,
Hof van Brussel 31, NL-7007 JK Doetinchem,
E-Mail: fjmvonk@kpnmail.nl