»Ich bin einigermaßen betrübt, daß mein hochgeschätzter Kollege mich derart mißverstehen konnte«1

Das Ringen um Karl Bühlers Theorie der Farbenkonstanz

Stefan Volke

Journal für Psychologie, 29(2), 41–57

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2021-2-41 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Karl Bühlers Arbeiten auf dem Gebiet der Farbwahrnehmung spielen in der heutigen Rezeption seines Werkes nur eine untergeordnete Rolle. In diesem Beitrag werden Gründe für diese Situation erörtert. Anhand der lebhaften Kontroverse zwischen Bühler und Bühlers Mitarbeitern auf der einen und David Katz auf der anderen Seite kommen die Schwächen seiner Theorie der Farbenkonstanz und deren wichtige Impulse für die moderne Wahrnehmungspsychologie zur Sprache.

Schlüsselwörter: Karl Bühler, David Katz, Ludwig Kardos, Farbwahrnehmung, Farbenkonstanz, Psychologiegeschichte

Summary
»I am somewhat saddened that my esteemed colleague could misunderstand me in such a way«

The struggle for Karl Bühler’s theory of color constancy

Karl Bühler’s work in the field of color perception plays only a minor role in the reception of his work today. This paper discusses reasons for this situation. On the basis of the lively controversy between Bühler and Bühler’s collaborators on the one hand and David Katz on the other hand, the weaknesses of his theory of color constancy and its important impulses for modern perceptual psychology will be discussed.

Keywords: Karl Bühler, David Katz, Ludwig Kardos, color perception, color constancy, history of psychology

Die Farbenkonstanz der Sehdinge

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts notiert der Psychologe Ewald Hering in seinen Grundzügen der Lehre vom Lichtsinn:

»Ich habe das Intensitätsverhältnis festgestellt, welches bei Tagesbeleuchtung zwischen vom ›weißen‹ Papier und dem von den ›schwarzen‹ Buchstaben einer guten Druckschrift zurückgeworfenen Lichte besteht. […] [B]ei der Mittagsbeleuchtung [waren] die schwarzen Buchstaben etwa dreimal lichtstärker als bei der Morgenbeleuchtung das weiße Papier, und die Lichtstärke des letzten betrug des Morgens nur etwa 1/3 der Lichtstärke, welche die Buchstaben des Mittags hatten. Trotz alledem erschienen bei der einen und bei der anderen Beleuchtung die Buchstaben schwarz und das Papier weiß« (Hering 1920 [1905], 14f.).

Derartige Tatsachen einer Konstanz der Farbe »kommen im Laufe eines jeden Tages zahllos zur Beobachtung, aber eben weil sie alltäglich sind, werden sie als selbstverständlich hingenommen«. Hering schlägt ein einfaches Experiment vor, sich diese seltsame Beständigkeit des Farbeindrucks anschaulich vor Augen zu führen (ebd., 10):

»Stelle ich mich mit dem Rücken an ein Fenster, halte vor mich ein Stück matten, dunkelgrauen Papieres in vertikaler Lage und betrachte mit beiden Augen abwechselnd dieses Papier und die dahinterliegende weißgetünchte Zimmerwand, so erscheint mir letztere weiß, erstere dunkelgrau, obwohl es wegen seiner günstigeren Beleuchtung viel lichtstärker ist, als die Wand.«

Auch im Bereich der buntfarbigen Gegenstände ist eine »angenäherte Konstanz der Farben« (ebd., 16) bei inkonstanter Reizgrundlage zu beobachten. Es gehört zu unseren Alltagserfahrungen, dass der braune Schreibtisch, die grüne Wiese oder der rote Fliegenpilz in den verschiedenen Nuancen des Tageslichts ihre eigene Farbe relativ fest bewahren.

Die Befunde sind für die frühe optische Forschung irritierend. Gilt das Augenmerk doch in erster Linie den durch Reizvariation hervorrufbaren Wahrnehmungsveränderungen. Laut Hering zählen diese »Tatsachen, […] zu den merkwürdigsten […] im Gebiet der Physiologischen Optik«. Zugleich seien sie die »am wichtigsten« (ebd.). Die Objektfarben unabhängig vom Wechsel der Beleuchtungsverhältnisse zu erkennen, kann das Überleben sichern.

Wie gelingt uns diese Abhebung der Objektfarbe von der Beleuchtung? Hermann von Helmholtz ging davon aus, dass wir im Wechsel der Beleuchtung über ein Wissen der eigentlichen Farbe verfügen und durch ein unbewusstes Vergleichsurteil auf diese schließen (vgl. Helmholtz 1867). Hering befriedigt diese Lösung nicht. Sie führe in einen logischen Zirkel:

»[d]a wir […] nur auf Grund der Farben, in welchen wir die Dinge sehen, zur Kenntnis der Beleuchtung […] als des angeblichen Maßstabes unserer Abschätzungen kommen könnten, anderseits aber eben diese Farben erst das Ergebnis dieser Abschätzungen sein sollen« (Hering 1920 [1905], 20).

Laut Hering muss deshalb – neben physiologischen Anpassungsvorgängen – schon im Sehen selbst eine invariante Vorstellung der Farbe, eine Gedächtnisfarbe, wie er sie nennt, mit hineinspielen.

1911 widmet sich David Katz in einer bahnbrechenden Studie den Erscheinungsweisen der Farben. Gegenüber seinen Vorgängern zeichnet sich Katz durch ein größeres Methodenbewusstsein aus. Er hat in Göttingen bei dem Phänomenologen Edmund Husserl und dem Experimentalpsychologen Georg Elias Müller studiert und verbindet die vorurteilslose Beschreibung mit einer experimentellen Durcharbeitung des Materials. Durch die Verwendung von tonfreien und bunten Papieren gelingt Katz der experimentelle Nachweis, dass der Einfluss von erinnerten Farben als Erklärung der Konstanz allein nicht zureicht: »[D]enn es liegt weder allgemein im Wesen des Papieres, schwarz oder weiß oder sonst wie gefärbt zu sein« (Katz 1911, 371).

Er bedient sich einer ganzen Reihe neuer und modifizierter Versuchsaufbauten (vgl. Gilchrist 2006, 27ff.) und stößt auf die zentrale Rolle der räumlichen Organisation des Wahrnehmungsfeldes. Der Eindruck konstanter Farbeindrücke stellt sich umso sicherer ein, je weiter erstens das Feld der beleuchteten Objekte überblickt wird (»Feldgrößensatz I. Ordnung«) und zweitens je gegliederter oder differenzierter die Anordnung der Objekte in diesem Feld ist (»Feldgrößensatz II. Ordnung«).

Im Mittelpunkt seines Erklärungsansatzes steht der Begriff der Eindringlichkeit, das heißt die Kraft, mit der sich die Farben dem Bewusstsein aufdrängen. Das beleuchtete Wahrnehmungsfeld erzeuge den Eindruck einer Gesamteindringlichkeit, dem dann auf assoziativem Weg ein bestimmter Beleuchtungsgrad zugeordnet wird.

In den folgenden Jahren bildet das Konstanzphänomen eines der wichtigsten Untersuchungsobjekte wahrnehmungspsychologischer Forschung. Auch Karl Bühler wendet sich während der Zeit seiner Dresdner Professur diesem Problembereich zu. Er hatte 1903 bereits über die physiologische »Duplizitätstheorie des Sehens« von Johannes von Kries promoviert, die den Aufbau der Netzhaut aus zwei verschiedenen Rezeptortypen (Stäbchen u. Zäpfchen) beschreibt. In seiner Konzeption der Farbenkonstanz wird er sich ebenso von der Figur der Zweiheit leiten lassen.

Nach dem Wechsel an die Wiener Universität veröffentlicht er 1922 seine Studienergebnisse. Bereits mit der Wahl des Titels Die Erscheinungsweisen der Farben setzt Bühler die Resultate ins Verhältnis zu der Arbeit des Rostocker Kollegen. Er entwirft eine neue Vergleichstheorie der Farbenkonstanz, die den von Hering angemahnten logischen Zirkel durchbrechen soll. Unter der Bezeichnung »[neue] Duplizitätstheorie« bildet sie in den folgenden Jahren den Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen mit David Katz.

Bühler selbst reagiert nur auf die erste Besprechung seines Farbbuches. Es sind seine Wiener Assistenten und Mitarbeiter Stephan Krauss, Helmut Bocksch, Egon Brunswik und Ludwig Kardos, die sich der entbrannten Kontroverse mit Katz stellen. Der vorliegende Aufsatz will diesen Schlagabtausch in seinen Hauptzügen nachzeichnen. Das Ringen um die Gültigkeit der Bühler’schen Duplizitätstheorie lässt sich dabei in drei Kapitel unterteilen, die auch an die personellen Veränderungen in Bühlers Wiener Forschungsgruppe gekoppelt sind. Mehrere Strategien der Entgegnung kommen in dieser Auseinandersetzung zum Einsatz. Sie reichen von experimentellen Beweisverfahren, spitzer und scharfer Polemik bis hin zur Modifikation zentraler Theoriebestandteile. Das beharrliche Festhalten an einem Kerngedanken Bühlers führt schließlich zur Entdeckung von Abhängigkeitsphänomenen, die auch für die aktuelle Diskussion zur Farbenkonstanz noch immer von Bedeutung sind.

1 Bühler vs. Katz

Im Vorwort der Erscheinungsweisen würdigt Bühler die Pionierleistung von Katz und stützt sich im weiteren Verlauf auf eine ganze Reihe seiner Untersuchungsergebnisse. So schließt er zum Beispiel an Katz’ Unterscheidung von »Flächen- und Oberflächenfarbe« an (vgl. Volke 2012) und legt mit seinen Begriffen der »Verdichtungs- und Kohärenzfläche« einen eigenen Akzent bei der Strukturierung des Phänomenfeldes (Bühler 1922, 52–64). Mängel sieht Bühler vor allem in der zurückhaltenden und in zentralen Punkten überholten theoretischen Durchdringung der Beobachtungen.

Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage nach den notwendigen Vergleichsmomenten bei der Entstehung der Objektfarbenkonstanz. Die farbige Rückstrahlung des Gegenstandes bedarf seines Erachtens eines Maßstabes und damit eines zweiten separaten Wahrnehmungseindrucks. Nur durch eine erfassbare Relation sei die verhältnismäßige Konstanz herbeizuführen. Der »Göttinger Faktor«, wie er Katz’ postulierte Funktion der »Eindringlichkeit« nennt, führe als ein viel zu »verwickeltes Berücksichtigungsverfahren« hier nicht weiter. Es sind Erlebnisse beim Sehen im dunklen Raum, die ihn auf die Spur des gesuchten Vergleichseindrucks führen.

In »schlaflosen Nächten« beobachtet Bühler ein merkwürdiges Zusammengeschrumpftsein des dunklen, lichtlosen Raumes. Der Raum hängt ihm »schlapp wie ein entleerter Gasballon vor den Augen«. Im Hellen müsse daher, so seine Überlegung, »irgendein reizabhängiger Faktor diesen Gesamtraum erst zur Ausspannung bringen […]« (ebd., 10). Die »Konsequenz des Denkens« verlange, die beleuchtete Luft als raumschaffende Größe zu betrachten. Bühler trägt vergleichbare Beobachtungen mehrerer Autoren zusammen, die für ihn den Schluss zulassen, dass es sich bei dem gesuchten zweiten Moment der Farbenkonstanz um eine genuine Wahrnehmung der Luftbeleuchtung, um die Wahrnehmung eines Luftlichtes handeln muss. Die physiologische Reizgrundlage dieses Helligkeitseindrucks würde das »Luftplankton«, das heißt die vielen kleinen im Raum verteilten Schwebeteilchen bilden:

»Gibt es eine Beleuchtungsempfindung, wird die Helligkeit der Luft gesehen, d.h. empfunden, dann ist der logische Zirkel gelöst; die Abhängigkeit der Körperfarbe von der Beleuchtungsempfindung setzt keinen Denkmechanismus voraus, sondern kann ebenso unmittelbar sein […]. Wir ersetzen also die Urteils- und Gedächtnishypothese durch eine dritte, die wohl passend eine neue Duplizitätstheorie heißen dürfte« (ebd., 127).

Es mag den begrenzten experimentellen Möglichkeiten in seinem Dresdner Institut geschuldet sein (vgl. Katz 1924b, 130), dass er eine Prüfung seiner Luftlichthypothese nur als Gedankenexperiment entwerfen kann.2

Gleich an drei Stellen meldet sich indes Katz mit einer eingehenden sachlogischen und experimentellen Überprüfung zu Wort (Katz 1924a, 1924b, 1930, 437–452). »[Z]u dem Besten, was das Werk bietet«, gehören seines Erachtens Bühlers phänomenologische Betrachtungen über die Oberflächenstruktur von Materialen (1924a, 174). In seinem Tastbuch wird er Bühlers terminologische Vorschläge später übernehmen (vgl. Bühler 1922, 64f. u. Katz 1925, 17).3 Auch lobt Katz das Kapitel zur Gemäldeoptik »nicht zuletzt wegen der Prägung mancher neuartiger Termini« (Katz 1924a, 181). Die gesamte Untersuchung sei jedoch zu sehr durch Hypothesen geleitet. Die notwendig strenge »Scheidung von phänomenologischer und physikalisch-physiologischer Betrachtungsweise [ist] nicht überall gelungen« (ebd., 182). Resigniert wäre er sogar geneigt gewesen, an einigen Stellen auf die weitere Lektüre zu verzichten. Bühlers Duplizitätstheorie besteche zwar durch ihre Einfachheit, ist jedoch nicht haltbar. In mehreren Versuchen kann Katz die relative Bedeutungslosigkeit des Luftlichtes für die Farbenkonstanz aufzeigen. Er hoffe, dass »über den weiter zu veröffentlichten Teilen des Handbuchs des hochgeschätzten Autors ein besserer Stern [walte]« (ebd.).

Bühler zeigt sich getroffen. Der »hoch verehrte […] Referent« hätte in seiner Besprechung der Erscheinungsweisen die einzelnen Kapitel gleichsam »zersaust« (Bühler 1924, 182).4 Missverständnisse lägen vor und er betont mit Blick auf die Luftlichtlehre, sie vielmehr als nützliche »Forschungsannahme« zu interpretieren:

»Ich bin des ketzerischen Glaubens, daß es in der Wissenschaft Wege gibt, die einmal gemacht werden müssen, auch wenn sie sich nachträglich als Irrwege erweisen, und daß man in unserem Falle diese erste und einfachste Annahme schlechterdings einmal durchführen mußte. Wird sie widerlegt, was ich heute noch nicht ganz für leicht betrachte, so sind wir trotzdem in der Theorie ein Stück weitergekommen« (ebd., 186).

Es kann als direkte Antwort und versöhnendes Signal gelesen werden, wenn Katz in seinen erst im Nachhinein publizierten Überprüfungsergebnissen den heuristischen Wert der Luftlichthypothese anerkennt:

»Es ist tief bedauerlich, daß Bühler, der sich wie keiner sonst mit viel Liebe und scharfem Verstand in die Erscheinungsweisen der Farben vertieft hat, […] nicht in der Lage gewesen ist, seine Theorie durch das Experiment zu erproben. Wenn dies hier geschieht und die Entscheidung gegen ihn ausfällt, so soll doch anerkannt werden, welches dauernde Verdienst sich Bühler um das Vortreiben der Forschung erworben hat; indem er die Bedeutung des Luftlichts für die Gesichtswahrnehmung überhaupt einmal zur Diskussion gestellt hat« (Katz 1924b, 130).

Die Debatte kommt nicht zur Ruhe. Zwei Mitarbeiter Bühlers treten an, doch noch empirische Belege für die neue Duplizitätstheorie zu erbringen.

2 Krauss und Bocksch5 vs. Katz

Mit dem Sommersemester 1924/25 starten Helmut Bocksch und Stephan Krauss eine Versuchsreihe zur Bestätigung der Luftlichthypothese (Bocksch und Krauss 1926; Krauss 1926a; Krauss 1926b; Krauss 1926c; Krauss 1927; Bocksch 1927; Krauss 1928a). Die ursprüngliche Annahme beinhaltet, dass das Luftplankton als Träger des Luftlichtes nur unterschiedliche Helligkeitswerte liefert und keine buntfarbigen Beleuchtungsarten erzeugt. Bocksch und Krauss untersuchen daher gemeinsam die Farbenkonstanz von Objekten unter verschieden bunter Beleuchtung. Sie gelangen zu dem Ergebnis, dass tatsächlich unter diesen Umständen von einer Farbenbeständigkeit keine Rede sein kann (Bocksch und Krauss 1926; Krauss 1926a). In einem Sammelreferat weist Katz den beiden Versuchsleitern methodische Mängel und logische Fehlschlüsse nach. Auch viele weitere ihrer Studienergebnisse halten einer näheren Prüfung nicht stand (Katz 1928a). Bocksch hatte sich zur Aufgabe gemacht, Bühlers Gedankenexperiment in die Tat umzusetzen. Er muss gleichwohl feststellen, dass auch »auf Grund unserer Versuche […] dieses Luftlicht nicht den wesentlichsten Faktor für die Konstitution der Grauqualitäten abgeben kann« (Bocksch 1927, 402). Von der Luftlichthypothese als spezielle Ausgestaltung der Duplizitätstheorie hebt er daher den von Bühler veranschlagten Faktor der Raumhelligkeit als allgemeinen theoretischen Ansatz der Theorie ab. Spätere Fürsprecher werden sich einer ähnlichen Strategie der konzeptionellen Aufspaltung bedienen. Nach Bocksch ist der Einfluss der Raumhelligkeit nachgewiesen worden und somit der »Hauptansatz der Bühlerschen Theorie experimentell vollkommen bestätig[t]« (ebd., 427). Für Katz würde mit dieser Verschiebung allerdings das Kernstück von Bühlers Theorie gestrichen:

»Jeder Leser des Bühlerschen Werkes muß zu der Überzeugung kommen, daß diesem Autor das objektive Licht des Luftplanktons als die eigentliche Reizgrundlage der Beleuchtungswahrnehmung erscheint […]. Wer die Wirksamkeit des Luftlichtes negiert oder es als Bagatelle behandelt, der hat die Bühlersche Theorie aufgegeben« (Katz 1928a, 147).

Vor allem in der Auseinandersetzung mit Krauss befeuert eine zusehends trotzige Rhetorik den Konflikt. Die von Katz an Bühlers Erscheinungsweisen kritisierte Hypothesenlastigkeit und fehlende phänomenologische Überprüfung wird von Krauss zu einem Vorzug des methodischen Zugangs umgedeutet:

»Während Katz das Neuland in Streifzügen durchmaß, als festen Stützpunkt die psychologischen Maßbeziehungen des Beleuchtungseinflusses auf die Farben benützend, aber auch mit offenem Blick den phänomenalen Farbenbeschaffenheiten in Fläche und Raum zugewandt, stieg Bühler gleichsam auf die Warte einer Strukturforschung der Wahrnehmungssituation und nahm das Land mit einem weiten und sicheren Blick, indem er aus theoretischen Gründen die unbedingte Duplizität in der Wahrnehmung […] statuierte« (ebd., 184).

In seiner »Erwiderung auf das Katzsche Sammelreferat« reagiert Krauss auf dessen offensive Kritik gereizt. Er attestiert Katz grundsätzliche Defizite im analytischen Denken, während Katz in der abschließenden Gegenrede bezweifelt, mit dem Parteigänger der Luftlichthypothese überhaupt noch eine konstruktive Kontroverse führen zu können.

»Ich finde, daß Katz, der den Feldzug im Zeichen der Logik antritt, sich für seine Person doch etwas mehr hätte vorsehen sollen, er hätte sich so sehr ich ihm die Schwierigkeit des Terrains nachfühle, unliebsame Stürze ersparen können […] und man muß sich allen Ernstes fragen, ob nicht sein kritisches Einfühlungsvermögen […] an Stellen wie den angeführten bedenkliche Grenzen verrät« (Krauss 1928b, 168).

»Hinter der prunkenden Fassade seiner Satzgebäude kann ich nichts entdecken, was mich bestimmen könnte, meine Einwände zu schwächen oder gar zurückzunehmen. Wie gegenüber den referierten Arbeiten von Krauss so muss ich jetzt gegenüber seiner Erwiderung leider feststellen, daß manche seiner langatmigen Ausführungen in sich widerspruchsvoll sind. […] Krauss wird diese Feststellung mit den ›Grenzen meines kritischen Einfühlungsvermögens‹ erklären, ich sehe in derartigen Mängeln die Äußerung einer schweren Disziplinlosigkeit des Denkens und Formulierens. […] [W]as Krauss angeht, so darf ich nicht mehr hoffen, daß weitere kritische Äußerungen für ihn Anregungen zu fruchtbringender Selbstkritik werden können« (ebd., 171).

Die Fronten scheinen verhärtet. In der Zwischenzeit kann der Blick eines Unbeteiligten die bestehenden Positionen in einen größeren Forschungszusammenhang einordnen.

Synoptik: Gelb

1929 legt der Frankfurter Psychologe Adhémar Gelb eine historisch und systematisch ausgerichtete Überblicksdarstellung zu den Forschungen auf dem Gebiet der Farbenkonstanz vor. Gelb konstatiert, dass in den verschiedenen Phasen der Beschäftigung »der Streit um die Deutung konkreter Beobachtungen und Versuche ein Streit um Grundsätzliches, um Prinzipien der Wahrnehmungslehre ist« (Gelb 1929, 595). Vertreter des physiologischen Erklärungsansatzes haben in der Vergangenheit sich eher als Beschreiber der elementaren, »letzten nicht mehr zurückführbaren ›Empfindungs‹vorgänge« verstanden, während das Psychologische nur als ein erst hinzutretender Prozess gedeutet wurde.6 Einer »voraussetzungslosen Beschreibung und Klärung der Tatsachen« stehe dieses Motiv »vielfach im Wege« (ebd.). Vor dem Hintergrund der aktuellen Tatsachen- und Problemlage sei die Trennung in solcher Form nicht aufrechtzuhalten.

Zur Bewertung der »›psychologisch‹ zentrierten Theorie« von Katz steuert Gelb eine ganze Reihe eigener Versuche bei. Die veranschlagte Rolle der Eindringlichkeit kann er nicht bestätigen. Die übrigen Befunde sprechen zumindest für Katz’ Feldgrößensätze:

»So verschieden die Beobachtungen und Versuche waren, die wir bisher besprachen, so zeigten sie doch in übereinstimmender Weise, daß die geschilderten Phänomene der Farbenkonstanz nur zustande kommen, wenn die Beleuchtungsverhältnisse, unter denen die zu vergleichenden Farbflächen stehen, möglichst vollständig und frei überblickt werden« (ebd., 630f.).

Bühlers »physikalisch-physiologische« Luftlichthypothese versuche hingegen wieder darzustellen, »daß es sich bei der Farbenkonstanz um den Effekt einer ›elementaren‹ Reaktionsform handelt« (ebd., 656). Nicht wenige Einzelbeobachtungen von Bühler, Krauss und Bocksch erfahren eine Würdigung in der Darstellung der allgemeinen Forschungslage. Eine eingehende Diskussion des Ansatzes führt Gelb dazu, die Bühler’sche Theorie ebenso abzulehnen (ebd., 661). Nach Gelb leitet die Frage nach der Widersprüchlichkeit von Reizgrundlage und wahrgenommener Farbe die Überlegungen generell in eine falsche Richtung. Vielmehr steht angesichts der experimentellen Ergebnisse das viel allgemeinere Problem des »Aufbau[s] und der Struktur unserer Sehwelt« im Fokus:

»Nicht auf reizbedingten und unverarbeiteten ›primären Empfindungen‹ und Empfindungskomplexen, gleichsam als auf einem ursprünglichen Rohstoffe, baut sich auf Grund von ›akzessorischen‹ höheren (zentralen, psychologischen) Vorgängen unsere Sehwelt auf, sondern von Haus aus steht die Ausbildung unseres Sensoriums unter solchen Bedingungen, daß wir je nach der äußeren Reizkonstellation und inneren Einstellung eine in dieser oder jener Weise, bald reicher bald ärmer gegliederte und gestaltete Welt von ›Dingen‹ vorfinden. Mit dieser Gliederung und Gestaltung stehen solche Momente wie ›Sichtbarkeit einer bestimmten Beleuchtung‹, ›Gegebensein straffer Farboberflächen‹ und ›reicher Sehfeldgliederung‹ – also Momente, die für das Auftreten der beschriebenen ›Farbenkonstanz‹-phänomene in prägnanter Form, wie wir gesehen haben, unbedingte Voraussetzung bilden – in einem Wesenszusammenhange« (ebd., 673).

Eines seiner Versuchsergebnisse zur Farbenkonstanzwahrnehmung wird als sogenannter »Gelb-Effekt« in den folgenden Jahren Furore machen. Anhand einer nächtlichen Straßenszene lässt sich der überraschende Eindruck anschaulich vor Augen führen:

»Stellen Sie sich eine schwarze Katze vor, die nachts von den Scheinwerfern eines Autos erfasst wird. In Ihrer Vorstellung treten Sie schnell auf die Bremse, um die Katze nicht zu verletzen. Die Scheinwerfer beleuchten nur einen kleinen Bereich vor dem Auto: den dunklen Bürgersteig, zusätzlich zur Katze. Da es nichts gibt, mit dem man das Objekt vergleichen könnte, erscheint die Katze weiß, weil sie viel Licht in einem ansonsten dunklen Raum reflektiert. Wenn wir jedoch plötzlich ein weißes Objekt neben die Katze stellen, erscheint die Katze nun schwarz, in ihrer eigentlichen Farbe« (Schwartz und Krantz 2015, 161f.).7

Statt einer Katze verwendete Gelb in seinem Experiment eine hell angestrahlte schwarze Scheibe. Als weißes Objekt diente ein weißer Papierstreifen. Die Lichtquelle blieb dem Betrachter verborgen. Gemäß des Feldgrößensatzes II. Ordnung (Katz) entscheidet der Differenzierungsgrad, das heißt die Anzahl an Unterschieden innerhalb eines Beleuchtungsfeldes, in dieser Konstellation über das Aufkommen eines Beleuchtungseindrucks: Der miterfasste weiße Papierstreifen verdunkelt die zunächst weiß erscheinende eigentlich schwarze Fläche. Sie wird nunmehr als beleuchtete schwarze Fläche wahrgenommen. Gelb hebt hervor, dass für das Zustandekommen eines Beleuchtungseindrucks offensichtlich mindestens zwei Oberflächen mit unterschiedlichen Rückstrahlungseigenschaften vorhanden sein müssen (Gelb 1929, 674). Aber bestätigt dieser Vergleichseffekt nicht auch einen wesentlichen Ausgangspunkt des Duplizitätsgedankens? Das Phänomen scheint für eine notwendige Kombination zentraler Theorieelemente von Katz und Bühler zu sprechen.

Ludwig Kardos, ein Mitarbeiter Bühlers, wird dieser Spur quasi mit einer weißen Katze später nachgehen. Zusammen mit Egon Brunswik übernimmt er fortan die Aufgabe, Bühlers Theorie der Farbenkonstanz in ein besseres Licht zu rücken.

3 Kardos und Brunswik8 vs. Katz

Nachdem die spezielle Luftlichthypothese gefallen ist, kann, so die Argumentation von Kardos und Brunswik, zumindest die »reine Duplizitätstheorie« Geltung beanspruchen. Sie entspräche der ursprünglichen Grundidee Bühlers. Alle bislang vorgebrachten Einwände betreffen nur den Luftlichtansatz, aber nicht den Bühler’schen Duplizitätsgedanken, das heißt die Zweiheitslehre im Allgemeinen (vgl. Brunswik und Kardos 1929; Kardos 1929). Die Kritik von Katz und Gelb beruhe auf einem Missverständnis. Kardos definiert die »reine Duplizitätstheorie« wie folgt:

»Gegeben sein muss […] einerseits der dingabhängige Teil des jeweiligen Reizganzen, anderseits noch ein anderer Teil, der die Mitabhängigkeit desselben von dingfremden Faktoren eindeutig anzeigt. Auf unser […] Beispiel angewendet, gestaltet sich dieses Duplizitätsprinzip folgendermaßen: zur Konstituierung unserer Farbenwahrnehmungen müssen gegeben sein einerseits die Strahlung, die von der Dingoberfläche reflektiert wird – dingabhängiger Teil des optischen Reizganzen – andererseits ebenfalls optische Reize – möglicherweise Luftstrahlung, Strahlen von den dem Ding benachtbarten Gesichtsfeldteilen usw. – , die die Mitabhängigkeit der von der Dingoberfläche reflektierten Strahlung – Abhängigkeit von dingfremden Faktoren – anzeigt« (Kardos 1928, 245).

Damit bleibt jedoch der gesuchte zweite Faktor weiterhin unbestimmt. Katz: »[D]iese strenge Formulierung des reinen Duplizitätsprinzips [ist] so wenig spezifisch, daß es die Unterbringung sämtlicher bisher überhaupt aufgestellten Theorien toleriert« (Katz 1930, 452). Auch in dieser personellen Konstellation verläuft die Auseinandersetzung nicht ohne Spannungen.

Kardos und Brunswik beschweren sich, dass Katz in der Besprechung von Kardos’ Experimenten zum Beleuchtungsfaktor mit keinem Wort auf die schon im Titel angezeigte »Duplizitätstheorie« eingegangen sei (vgl. Kardos 1928; Katz 1929). Katz eigener Erklärungsansatz enthalte schließlich mit den Faktoren Gesamteindringlichkeit und Beleuchtungsgrad selbst eine solche Doppelstruktur, deren Explikation er zum Nachteil seiner Farbenkonstanztheorie jedoch versäumt habe. Viele Befunde wären theoretisch schlüssiger ausgewertet worden, »wenn er das Duplizitätsprinzip vor Augen gehalten hätte« (Brunswik und Kardos 1929, 315ff.). In seiner 1930 erschienenen umgearbeiteten und wesentlich erweiterten Auflage der Erscheinungsweisen der Farben stellt Katz die Hauptargumente gegen den Bühler’schen Ansatz noch einmal zusammen. Den Vorhaltungen von Bühlers Mitarbeitern begegnet er mit ironischer Selbstkritik:

»Wenn die beiden Forscher unzufrieden darüber sind, daß sich in meinem Werke ›nicht eine einzige explizite Bezugnahme auf eine Zweiheit finde‹, so möge mir die Bemerkung gestattet sein, daß ich vor 19 Jahren nicht ahnen konnte, welche Bedürfnisse im Hinblick auf ihre eigenen Formulierungen zwei Forscher bezüglich der Darstellung meiner im allgemeinen gut verstandenen Ausführungen haben würden« (Katz 1930, 452f.).

Kurz darauf listet Kardos in einem langen Artikel vermeintliche Unterstellungen, Missdeutungen und Irrtümer in Katz’ Besprechung seiner Ergebnisse detailliert auf (Kardos 1930/1931). Der Rostocker Psychologe gibt einen Hinweis auf die neue Ausgabe seines Farbbuches (vgl. Katz 1930, 451f.) und verweigert kurzerhand die weitere Diskussion: »Auf Einzelheiten der Ausführungen von Kardos einzugehen lohnt sich sachlich nicht. Auch hat Kardos bei der überlegenden Formulierung seiner Kritik persönlich keinen Anspruch darauf« (Katz 1930/1931, 216).

Die Debatte findet damit ein vorläufiges Ende. Brunswik und Kardos veröffentlichen kurze Zeit darauf heute als Klassiker geltende Werke der Wahrnehmungspsychologie. Das Duplizitätsprinzip ist wesentliche Grundlage ihrer Theoriebildung.

Brunswik entwickelt 1934 in seiner Habilitationsschrift aus dem »reinen Duplizitätsprinzip« der Optik ein Grundmodell für das Entstehen der allgemeinen Dingkonstanz (vgl. Brunswik 1934, 93–101). Das sogenannte »Linsenmodell« wird mit späteren Überarbeitungen (vgl. Wieser 2017) große Bedeutung unter anderem bei der Beschreibung von sozialen Urteilsprozessen erlangen. Die Komponenten perzeptiver Konstanzleistungen bei der Dingwahrnehmung lassen sich, wie der Psychologe Norbert Bischof deutlich macht, mit der Bildlogik des Linsenmodells allerdings nicht adäquat abbilden. Der Grundgedanke des Bühler’schen Duplizitätsprinzips im Sinne einer notwendig doppelten Erfahrungsgrundlage wird den komplexen Verhältnissen anderer Konstanzprinzipien nicht gerecht (Bischof 2008, 285–290; vgl. Kardos 1965, 84).

Kardos’ Interesse gilt zunächst weiterhin den Problemen der speziellen Farbenkonstanz. Nach Forschungsaufenthalten in London und New York legt er ebenso 1934 eine Studie über Beschattungsphänomene vor. Die »Duplizitätstheorie« wird von ihm, um Missverständnisse zu vermeiden, nunmehr in »Zweifaktorenansatz« umbenannt (Kardos 1934, 3).

Es sollen ganze 50 Jahre vergehen, bis sich ein Schüler Bühlers zum nächsten und letzten Mal in der Kontroverse mit David Katz äußert. Mitte der 1980er Jahre hält Kardos auf einer Konferenz noch einmal Rückschau. Bei Bühlers Theorie der Farbenkonstanz handele es sich um eine »misslungene Theorie« (Kardos 1988, 41). Seinerzeit wäre von den Kollegen Bühlers allerdings die besondere Originalität und das Systematische dieser Theorie nicht gebührend wertgeschätzt worden. Es müsse unterschieden werden zwischen dem »streng logisch abgeleitete[n] Prinzip« und der von Bühler zunächst vorgeschlagenen »mögliche[n], konkrete[n] Verwirklichungsweise«. Kardos kommt nicht umhin, noch einmal ein argumentum ad hominem gegen den einstigen Widersacher in Stellung zu bringen: »Ohne den Verdiensten dieses großen Forschers Abbruch tun zu wollen, sind wir mit Metzger einverstanden, wenn er über Katz sagt, er sei ein hervorragender Tatsachenforscher, aber weniger hervorragend als Theoretiker« (ebd., 40; vgl. Metzger 1954).

Die Frage, ob umgekehrt Bühler womöglich als ein hervorragender Theoretiker, aber weniger hervorragend als Tatsachenforscher zu würdigen ist, lenkt den Blick auf den heutigen Einfluss und die aktuelle Rezeption seiner Erscheinungsweisen der Farben.

Nachspiel

Das Fehlen einer englischen Übersetzung hat die Rezeption von Bühlers Farbbuch behindert. Für den angloamerikanischen bzw. nichtdeutschsprachigen Raum ist seine Studie in erster Linie über The World of Colour, der bereits 1935 ins Englische übertragenen zweiten überarbeiteten Auflage von Katz’ Erscheinungsweisen der Farben, zugänglich. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn Bühlers Name in der heutigen Farbforschung vor allem eng mit der verfehlten Luftlichthypothese verbunden ist (vgl. Niederée 1998; Gilchrist 2006, 609). Es müssen jedoch mindestens zwei Aspekte seiner Studie von dieser Kritik klar ausgenommen werden.

Zunächst sind Bühlers zahlreiche Beobachtungen und Beschreibungen zu nennen (vgl. Niederée 1998, 134). Mit präzisen phänomenologischen Deskriptionen fügt er sich in die Reihe wichtiger, aber verdrängter Wegbereiter der Wahrnehmungspsychologie. Der Kieler Farbpsychologe Rainer Mausfeld konstatiert:

»Der traditionellen Wahrnehmungspsychologie ist durch eine […] physiologistische Orientierung der Blick auf zentrale Leistungen unseres Wahrnehmungssystems verstellt. Obwohl Hering, Katz, Bühler, Koffka, Michotte und viele andere eine Fülle feiner Beschreibungen derartiger Leistungen bereitgestellt hatten und damit die grundlegende Unangemessenheit einer sinnesphysiologisch orientierten Zugangsweise aufgezeigt hatten, folgte und folgt die Wahrnehmungspsychologie bis heute einem anderen Weg. Dieser Weg ist durch die Vorstellung bestimmt, daß sich die Wahrnehmungsleistung und die phänomenale Struktur der Wahrnehmung durch schrittweise Prozesse der ›Informationsverarbeitung‹ aus dem sensorischen Input gewinnen lasse« (Mausfeld 2012, 202).

Nach Mausfeld hat diese rein auf sinnesphysiologische Erklärungen abzielende Zugangsweise zu einem »reduktionistisch verzerrte[n] Bild der menschlichen Wahrnehmung« geführt. In seinen Erscheinungsweisen der Farben bringe indessen Bühler die unbedingte Maxime jeder Wahrnehmungsanalyse auf den Punkt: »Bevor man zu erklären anfängt, muß die vielförmige Erscheinung geordnet beschrieben sein« (ebd., 192; vgl. Bühler 1922, 160).

Zweitens hat Bühlers Denkfigur der Duplizität zur Entdeckung eines Mechanismus der Farbenkonstanz geführt. Wenngleich das genaue Zustandekommen dieses Phänomens noch immer nicht geklärt ist, geht die Forschung heute zumindest von einer Reihe von Hinweisreizen aus (vgl. Gegenfurtner 2012, 50). Hierzu zählen unter anderem die Unterscheidung von Beleuchtungsstärke und Lichtreflektion der beleuchteten Flächen, Adaptionsvorgänge des Auges, Gedächtnisfarben und Kontexteffekte. Ludwig Kardos gebührt das Verdienst, eigentümliche Kompensationsvorgänge bei Helligkeitsschwankungen im Raum systematisch freigelegt zu haben (vgl. Gilchrist 2006; Toscani et al. 2016; Murray 2020). Sein Beharren auf die Notwendigkeit eines Zweifaktorenansatzes führte ihn dazu, den von Katz angezeigten Differenzierungsgrad des Sehfeldes (Feldgrößensatz II. Ordnung) genauer zu bestimmen:

»Wieweit soll diese Differenzierung gehen? Braucht man hierfür eine Anzahl sich abhebender Flächenstücke oder genügt eine einfache Differenzierung in zwei verschiedene Gesichtsfeldteile, wie es von einer Scheibe vor einem ausgedehnten homogenen Hintergrund dargestellt wird? Alle Versuche seit Katz lehren, daß es vor allem auf diese Zweiheit ankommt. Neuerdings hat Gelb auf dasselbe hingewiesen« (Kardos 1929, 44).

Er variierte daher die Versuchsbedingungen für den sogenannten Gelb-Effekt in seiner Studie über Schattenphänomene mit einer weißfarbigen Fläche vor einem dunklen Hintergrund (»zuständiges Feld« und »Fremdfeld«). Eine eigentlich weiße Scheibe wurde nunmehr durch unwissentliche Beschattung nahezu schwarz gesehen. Variationen der Helligkeiten und Ausdehnungen eines Teilfeldes zeigten eine jeweils konträre Helligkeitsveränderung des anderen Teilfeldes. Kardos’ Fazit: Die Ko-Determination beider Teilfelder bewirkt einen Helligkeitsausgleich des Gesamtfeldes und unterstützt derart die Entstehung des konstanten Farbeindrucks (Kardos 1934; vgl. in kybernetischem Vokabular Kardos 1965).

Ähnlich der Situation bei Bühlers Erscheinungsweisen verzögerten sprachliche Hürden die Rezeption der Kardos-Studie. Erst nachdem Jahrzehnte später ein Mitarbeiter des amerikanischen Farbforschers Alan Gilchrist eine Übersetzung ins Englische vorlegte, fanden die Befunde ihre Würdigung. Gilchrists Standardwerk zur Geschichte des Forschungsbereichs führt Kardos fortan »as one oft he most important names in lightness history« (Gilchrist 2006, 70). Gilchrist war bereits auf ähnliche Verankerungseffekte des Helligkeitseindrucks gestoßen. Inspiriert durch Kardos und nahestehende feldtheoretische Ansätze (Koffka 1932) konnte er seine Forschungsarbeiten zur Wirkungsweise von räumlichen »Frames« bei der Farbenkonstanz weiterentwickeln (vgl. Gilchrist 1977; Gilchrist und Vidal 2002; Gilchrist 2006, 2014; Soranzo und Gilchrist 2019).

Kardos’ Theorie der Ko-Determination ist als eine fruchtbare Synthese der einst rivalisierenden Erklärungsansätze von David Katz und Karl Bühler zu lesen. Im besten Falle hat der vorliegende Aufsatz die beiden widerstreitenden Argumentationsfelder in einem angemessenen Differenzierungsgrad überschaubar gemacht.

Anmerkungen

[1]
Bühler 1924, 183.
[2]
»Gegeben seien zwei ganz gleiche, zimmergroße, kugelförmige Innenräume, von denen der eine schwarz, der andere weiß gestrichen ist. Das Auge des Beobachters wird im Zentrum jeder Kugel angenommen, die Beleuchtung […] sei so gestellt, daß von der Flächeneinheit der einen Kugel genau so viel und zwar weißes Licht wie von der Flächeneinheit der anderen in dies beobachtende Auge gelangt. Außerdem seien beide Oberflächen ohne sichtbares […] Korn und auch sonst kein Schatten im Gesichtsfeld. Die Frage ist, ob dies Auge (etwa beim sukzessiven Vergleich) imstande wäre, die eine Wand als schwächer beleuchtet weiß von der anderen als stärker beleuchtet schwarz, d.h. tief schwarzgrau zu unterscheiden. […] Zu ermitteln ist, unter welchen Bedingungen und kraft welcher Einrichtungen.« – »Wir wären um eine bedeutsame Erkenntnis reicher, wenn dies Experiment aus dem Bereich der Phantasie in den der Wirklichkeit übertragen wäre« (Bühler 1922, 74f./102).
[3]
»Indem wir uns einer glücklichen von K. BÜHLER vollzogenen Wortschöpfung für zuerst wohl in meinen Erscheinungsweisen der Farben aufgewiesene Phänomene bedienen, wollen wir von den Oberflächenstrukturen als von optischen oder taktilen mikromorphen Beschaffenheiten sprechen. Von makromorphen Beschaffenheiten sprechen wir im Hinblick auf die größeren an den Gegenständen unterschiedenen geometrischen Formen« (Katz 1925, 17).
[4]
Bühler nimmt am meisten Anstoß an der Kritik seines dritten Abschnittes »Die Attribute und Modi der Farben«, der hier nicht Gegenstand sein soll.
[5]
Helmut Bocksch, Bühlers Dresdner Assistent, ist ihm ans Wiener Institut gefolgt und wird 1927 nach Sachsen zurückkehren. Stephan Krauss promoviert 1926 bei Bühler und verlässt im gleichen Jahr das Institut für eine Assistentenstelle in Heidelberg.
[6]
Die Kritik richtet sich in diesem Zusammenhang gegen die verbreitete Auffassung einer psychologischen »Transformation« elementarer physikalisch-physiologischen Daten.
[7]
Übersetzt mit DeepL.
[8]
Ludwig (ungar. Lajos) Kardos ist ab 1925 in die Forschungen zur Farbenkonstanz eingebunden. Er promoviert 1926 bei Bühler. Egon Brunswik übernimmt die Stelle von Bocksch und wird ab 1927 Bühlers Assistent.
[9]
Gilchrist zitiert hier auch aus einem Aufsatz von Robert B. MacLeod (»An Experimental Investigation of Brightness Constancy«, in Archives de Psychologie 135/1932: 5–102). MacLeod übersetzte zusammen mit Charles W. Fox Der Aufbau der Farbwelt von Katz.

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Der Autor

Stefan Volke, Dr. phil., ist Philosophielehrer an einem Hamburger Gymnasium. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Phänomenologie der Wahrnehmung, Sprachpsychologie, Deskriptologie.

Kontakt: Dr. Stefan Volke,
Im Grünen Grunde 5, 22337 Hamburg,
E-Mail: stefanvolke@gmail.com