Jürgen Straub im Gespräch mit Aglaja Przyborski
Journal für Psychologie, 30(1), 26–47
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2022-1-26 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deMit Entwicklungslinien der interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie startet das Interview, das Aglaja Przyborski mit Jürgen Straub geführt hat: Anhand seines Werdegangs erläutert er Aspekte der Disziplin Psychologie im deutschsprachigen Raum. Straub identifiziert Nischen für Alternativen, aber auch Engführungen zugunsten der dominierenden, szientistisch-nomologischen Wissenschaftsauffassung und in den letzten Jahrzehnten eine Abwendung von benachbarten Disziplinen wie Soziologie, Ethnologie und Philosophie. Er stellt heraus, dass die stark biologisch-neurowissenschaftlich ausgerichtete Psychologie ebenso wenig an interdisziplinären Forschungs- und Studienprogrammen der Sozial- und Kulturwissenschaften beteiligt ist wie an Theorie- und Methodenentwicklungen in der qualitativen Forschung – zum Nachteil des Faches. Im Gespräch wird für wirkliche Vielfalt in der Psychologie plädiert, die an genuin wissenschaftlichen Ansprüchen orientiert ist und sich damit gegen ökonomischen Druck, populistische Verwertungs- und pseudo-demokratische »Mitmachprogramme für alle« behauptet. Abschließend werden die Bedeutung einer psychotherapeutisch-inspirierten Empirie sowie das Optimierungsbegehren in der Angewandten Psychologie thematisiert.
Schlüsselwörter: Akademische Psychologie, Interdisziplinarität, wissenschaftliche Gütekriterien, Handlungs- und Kulturpsychologie, Psychoanalyse, Optimierung, qualitative Methoden
Summary
»No one asked me to cumulatively produce scientific miniatures in a standard format«
Jürgen Straub in Conversation with Aglaja Przyborski
Aglaja Przyborski’s interview with Jürgen Straub starts with the development of interpretative action and cultural psychology: Based on his career, he explains aspects of the discipline of psychology in the German-speaking world. Straub identifies niches for alternatives, but also a narrowing in favor of the dominant, scientistic-nomological view of science and, in recent decades, a turning away from neighboring disciplines such as sociology, ethnology and philosophy. He emphasizes that psychology, which has a strong biological-neuroscientific orientation, is no more involved in interdisciplinary research and study programs in the social and cultural sciences than it is in theory and method developments in qualitative research – to the detriment of the discipline. In the conversation, a plea is made for real diversity in psychology, oriented towards genuinely scientific claims and thus asserting itself against economic pressure, populist exploitation and pseudo-democratic »participation programs for all«. Finally, the importance of a psychotherapeutic empiricism as well as the desire for optimization in applied psychology are discussed.
Keywords: Academic psychology, interdisciplinarity, scientific quality criteria, psychology of action and culture, psychoanalysis, optimization, qualitative methods
Jürgen Straub hat seit 2008 den Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie der Ruhr-Universität Bochum (RUB) inne. Er habilitierte sich 1995 zu Grundzügen einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. Sein breites wissenschaftliches Werk umfasst grundlegende Arbeiten zu Biografieanalyse, Identitätstheorie und Gedächtnis, ebenso zu aktuellen gesellschaftlichen Themen wie Gewalt, Interkulturalität, Religiosität und Selbstoptimierung. Seit 2014 ist Jürgen Straub Co-Direktor des Hans Kilian und Lotte Köhler-Centrums für sozial- und kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie (www.kilian-koehler-centrum.de). Als Verfasser einschlägiger Monografien und (Mit-)Herausgeber zahlreicher Sammelbände sowie der Zeitschrift psychosozial gilt er als eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Kulturpsychologie.
Das Interview wurde am 22. Januar 2022 online mit einem Konferenztool durchgeführt; es dauerte zwei Stunden. Im Vorfeld wurden Jürgen Straub per E-Mail drei Themenbereiche benannt, die einzelnen Fragen dann aber im Gespräch selbst ad hoc formuliert. Der vorliegende Gesprächstext basiert auf einer Transkription, angefertigt von Judith Rosenthal. Das Transkript wurde von beiden Gesprächspartner*innen überarbeitet und am Ende von Jürgen Straub in der vorliegenden Artikelfassung autorisiert.
Aglaja Przyborski: Im Mittelpunkt unseres Gespräches steht die denkbar weite Frage: Wohin geht die Psychologie? Speziell interessiert uns die Zukunft einer Kulturpsychologie, die geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtet ist. du gehörst zu denjenigen, die dieses internationale Projekt in den letzten Jahrzehnten federführend vorangetrieben haben.
Zwar sollen Gegenwart und Zukunft der Psychologie im Mittelpunkt stehen, lass uns dennoch erst zurückblicken – in deine persönliche berufliche Vergangenheit, die Entwicklung deiner Perspektive: Was hast du vorangetrieben in der Psychologie, mit welchem grundsätzlichen Anliegen? Was ist gediehen, was ist weniger gut vorangekommen? Beginnen wir von vorne: Worum ging und geht es dir in der akademischen Psychologie?
Jürgen Straub: Das ist eine zugleich allgemeine und persönliche Frage. Ich habe mich stets in einem sozialen und kulturellen Feld bewegt, in dem ich auf das, was andere gesagt und getan haben, antworten durfte. Wie generell im Leben spielen Zufälle auch in der eigenen beruflichen Laufbahn die Rolle eines »Motivationsrestes der Geschichte« (Koselleck 1985 [1968]). Mein allmählich sich konturierendes Anliegen war ein überindividuelles Projekt, schon in seiner Entstehung eingebettet in eine gemeinschaftliche Praxis, zu der teils heftige wissenschaftliche und intellektuelle Auseinandersetzungen gehörten. Was war besonders wichtig? Vielleicht dies: Am Anfang gab es eine unbändige Neugier, mit der ich in Zürich ins Studium der Psychologie, Philosophie und Soziologie aufgebrochen bin. Der Wissensdurst hat sich in Erlangen erhalten und ist auf fruchtbaren Boden gefallen: Ich arbeitete am Lehrstuhl von Hans Werbik, der ein paar ziemlich rege Leute im Team hatte – Reinhard Hilke, Heinz-Jürgen Kaiser, Gabriele Korthals-Beyerlein, Günter Aschenbach, Elfriede Billmann-Mahecha oder Walter Zitterbarth etwa, Ulrike Popp-Baier und ich waren die beiden noch wirklich jungen Leute, die als studentische Naseweise mitmachen durften. Den Kolleg*innen ging es um radikale Neuorientierungen in der wissenschaftlichen Psychologie, in Richtung einer handlungstheoretischen Kulturpsychologie, die seinerzeit im interdisziplinären Dialog Gestalt annahm. Wichtig war vor allem das Gespräch mit der Soziologie (Joachim Matthes, Werner Mangold, Ralf Bohnsack) und der Philosophie (Paul Lorenzen, Wilhelm Kamlah, Oswald Schwemmer, Hans-Julius Schneider sowie andere Vertreter*innen des Erlanger und Konstanzer Konstruktivismus, aber auch Manfred Riedel, der seit jeher eine dezidiert hermeneutische Position vertrat).
Das passte wunderbar, nachdem ich in Zürich schon so interessante Studierstuben kennenlernen durfte, wie etwa das etwas aus der Zeit gefallene Seminar von Medard Boss und seinen Schüler*innen, die eine Art phänomenologische Psychologie und sogenannte »Daseinsanalysen« betrieben – in der etwas hagiografisch gepflegten Nachfolge Martin Heideggers. Damals war es noch kein großes Thema, dass dieser bedeutende Philosoph auch ein kleiner Nazi war. Mit meinen 18, 19 Jahren fand ich die Lektüre von Sein und Zeit (Heidegger 1927) jedenfalls ebenso faszinierend wie schwer verdaulich. Ich habe später gleichwohl gut verstanden, warum der junge Hans-Georg Gadamer und einige andere Zeitgenoss*innen – bekanntlich auch Hannah Arendt – der philosophischen Ausstrahlung der Existenzialontologie Heideggers erlegen waren, natürlich auch späterer Arbeiten (man denke an den »Humanismusbrief«, 1978 [1947], der mich einige Jahre danach noch beschäftigen sollte). Ich erkannte im Laufe der Zeit, dass es Verwandtschaften zwischen der philosophischen Phänomenologie und Hermeneutik (Gadamer, Paul Ricœur oder Charles Taylor, ein auch analytischer Philosoph, der frühzeitig tolle Arbeiten z. B. zur Handlungstheorie verfasste) und dem amerikanischen Pragmatismus oder Wittgensteins Spätphilosophie gab, in der so profund von »Weltbildern«, »Lebensformen« und »Sprachspielen« die Rede ist. »Familienähnlichkeiten« gab es auch mit weiteren Strömungen, die für meine eigenen Beiträge zur Handlungs- und Kulturpsychologie sehr wichtig wurden, ohne hier alles aufzuzählen. Völlig klar ist: Ich habe keineswegs nur aus den Quellen der wissenschaftlichen Psychologie geschöpft. Die analytische Philosophie wurde, neben der Hermeneutik und dem Pragmatismus, sehr wichtig für mich. Nehmen wir exemplarisch Arthur Danto, dessen erzähl-, zeit- und geschichtstheoretische Arbeiten auch dank Herrmann Lübbes Vorlesungen in Zürich mich sogleich faszinierten. Danto und einige weitere, mit dem »späten« Wittgenstein verbandelte Philosophen (Georg H. von Wright, Peter Winch, Richard Rorty, Harry Frankfurt, Hilary Putnam etwa) waren für mich schon bald eine viel stärkere Inspirationsquelle als beispielsweise Wilhelm Dilthey, Eduard Spranger oder andere Repräsentant*innen der etwas antiquiert wirkenden geisteswissenschaftlichen Psychologie. Nicht wirklich anschlussfähig waren auch Arbeiten der gewandelten Nachfahr*innen dieser geisteswissenschaftlichen Strömung, etwa von Hans Thomae, der seine Karriere im Nationalsozialismus begann, wo er übrigens höchst zwielichtige Rollen übernahm (vgl. Postert und Hanzig 2017).
Natürlich beschäftigte ich mich auch mit aktuellen psychologischen Positionen, etwa mit der seinerzeit leider nur dürftig entfalteten phänomenologischen Psychologie oder mit der imposanten Kritischen Psychologie Klaus Holzkamps und seiner Schule, aber ich wurde nie ein Anhänger – schon wegen des dogmatischen großen »K« im Prädikator »kritisch«, der strengen Verschulung und der über lange Zeit etwas verbohrten, für mich verblüffenden Nähe dieser »wissenschaftlichen Marxisten« zu kommunistischen Kaderparteien in beiden Teilen Deutschlands. Da fühlte ich mich in Erlangen wohler und fand bald schon andere Arbeiten genauso interessant wie die Kritische Psychologie, etwa von Norbert Groeben, Uwe Laucken, Ken Gergen oder Jan Smedslund, später natürlich von Ernst Boesch, Jerome Bruner, Michael Cole, Joan Miller, Carol Gilligan, Luce Irigaray usw. Ich habe allerdings auch Holzkamps Arbeiten weiter zur Kenntnis genommen, bis hin zur voluminösen, kaum rezipierten Monografie zum Thema »Lernen« (Holzkamp 1993; Straub 2010).
Am Lehrstuhl von Hans Werbik und dem dort gegebenen Umfeld hatte man Luft zum Atmen und die Pflicht, in anregender Atmosphäre nachzudenken. Niemals vernachlässigt wurde dort das »normative Fundament« philosophischen Denkens und wissenschaftlichen Handelns. Man war in einem weiten Sinne politisch reflektiert, ohne Wissenschaft als moralische oder politische Agenda aufzufassen und durch selbstwertdienlichen Aktionismus in etwas anderes zu verkehren – also eigentlich abzuschaffen. Die Erlanger Philosoph*innen verkörperten diese starke Idee von ernsthafter Wissenschaft und relevanter Forschung vorbildlich, weil sie, recht anders als heute, unglaublich nüchterne, sachorientierte Analysen angestellt und das begriffliche sowie methodische Werkzeug dafür bereitgestellt haben, niemals aber allzu emphatisch schwadroniert, überengagierte Attitüden oder gar Welterrettungsfantasien vor sich hergetragen haben. In der distanzierten Nachfolge von Wissenschaftstheorien wie dem logischen Empirismus und dem kritischen Rationalismus besaßen sie das wissenschaftstheoretische Besteck, das es gestattet, exakt und systematisch zu denken – und dabei die normativen Grundlagen und Implikationen wissenschaftlicher Praxis nicht auszublenden. Und von da aus pflegten sie dann enge Kooperationen mit den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, einschließlich einer Psychologie, die sich nun mehr mit »gesellschaftlich relevanten« Fragestellungen befassen sollte.
Werbik war bereits in den 1970er Jahren einer der permanenten Gesprächspartner in dieser Gruppe. Das war ein ganz kleines philosophisches Institut – kein riesiges, weltbekanntes »Exzellenzcluster« – mit Leuten, die wegen ihres Sachverstandes und ihrer intellektuellen Brillanz ein gewisses Ansehen genossen. Sie hatten eine Brücke nach Frankfurt gebaut, im Bemühen um die Klärung der normativen Fundamente philosophischer und wissenschaftlicher Praxis. Dort lief dieses Unternehmen bekanntlich schon seit geraumer Zeit unter dem Namen »kritische Theorie« (ebenfalls mit der Tendenz zum großen »K«). Die Konstanzer Kolleg*innen, Friedrich Kambartel oder Jürgen Mittelstraß etwa, waren häufiger zu Gast in Erlangen und trugen kontinuierlich zum gemeinsamen Anliegen bei.
Für die sich formierende Handlungs- und Kulturpsychologie war das höchst anregend, ganz besonders die zunehmende Koinzidenz philosophischer Strömungen, die in wachsendem Maße in einer Art hermeneutischem Grundkonsens übereinkamen (dabei aber am Wandel der philosophischen und fachwissenschaftlichen Hermeneutik arbeiteten). Überall war das Verstehen von Sinngebilden und die Opposition gegen szientistische Wissenschaftslehren zentral. Ernst Boesch und Jerome Bruner gehörten neben der Gruppe in Erlangen und einigen anderen Leuten – Jens Brockmeier, Jaan Valsiner, Patricia Greenfield etwa – zu jenen Psycholog*innen, die diese sehr lebensnahe, aber ebenso sehr theoretische Einsicht wirklich ernst nahmen und methodologische Konsequenzen daraus zogen. Der Weg zur interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie war frei und bereits geebnet. Boesch war schon in den 1950er Jahren in Saarbrücken einschlägig tätig (vgl. Boesch 2021, 29–48). Bruner hätte die sogenannte »kognitive Wende« in der Psychologie gerne als einen Schritt in die cultural psychology getan, die er dann später ausarbeitete. Andere haben später ihren Teil zur Ebnung dieses Weges beigetragen. Ich musste ihn nur noch begehen, um nach Defiziten und Desideraten Ausschau halten zu können. Wer das tut, bewegt sich, nebenbei gesagt, in einem kompetitiven Feld – in dem es allerdings immer wieder überraschende Konvergenzen und einen zeitweiligen Konsens in grundsätzlichen Fragen geben kann.
Das erlebte ich auch über die Grenzen von Disziplinen hinweg, etwa in den Erlanger Seminaren von Joachim Matthes oder in den bahnbrechenden Forschungswerkstätten von Ralf Bohnsack (zu deren Gesprächspartner*innen Fritz Schütze, Anselm Strauss und andere prominente Figuren der interpretativen Sozialwissenschaften gehörten). Ich erfuhr das auch, wenn ich mit dem sprachanalytischen Philosophen Hans-Julius Schneider gemeinsame Lehrveranstaltungen durchführte, in denen es um sprach-, handlungs-, erzähl- und identitätstheoretische Fragen ging und einen pragmatischen Zugang zu kulturellen Lebens- und Selbstformen.
Erwähnt sei, was uns beide besonders verbindet, Aglaja: Was ich bei Bohnsack (u. a. 2021; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2021) als Novize praktisch einüben durfte – empirisch forschen –, habe ich dann mein Leben lang als Universitätsdozent zu vermitteln versucht, bis heute in Bochum in BA- und MA-Modulen oder im sonntäglichen Doktorand*innenkolloquium. In derartigen Milieus oder Kulturatopen kann etwas gedeihen! Hohe wissenschaftliche Ansprüche pflegen, sich anstrengen, ohne sich verrückt zu machen, hin und wieder etwas mit der gebotenen Muße und Konzentration erforschen und zu Papier bringen, einander unterstützen, kommentieren und kritisieren, das scheint mir der Kern der Sache zu sein, an den ich mich glücklicherweise recht frühzeitig herantasten durfte. Diese zwar ein wenig aufreibende, aber eben auch animierende und ziemlich befriedigende soziale Praxis kultivieren wir in Bochum nicht zuletzt in einem eigens eingerichteten, von der Köhler-Stiftung großzügig geförderten Hans Kilian und Lotte Köhler-Centrum (KKC), das ich gemeinsam mit Pradeep Chakkarath leite. Zeitweilige Kompromisslosigkeit, ungesunde Exzesse und ein gerütteltes Maß an Frustrationstoleranz sowie Durchhaltevermögen sind wohl leider Ingredienzen jeder zukunftsweisenden wissenschaftlichen Disziplin (im doppelten Wortsinn), auch der nun in Bochum gepflegten Handlungs- und Kulturpsychologie.
Wichtig ist im Übrigen eine pluralistische Kultur in unserer Disziplin. Diesbezüglich war die Lage in den 1980er Jahren wohl noch etwas generöser. Dass man gegenwärtig so viel über Pluralität auch in der Psychologie spricht – der etwas eintönige Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) in Bochum 2014 stand vielsagend unter dem Motto »Die Vielfalt der Psychologie« –, ist kein Beleg dafür, dass tatsächlich praktiziert würde, was proklamiert wird, sondern vielmehr eine besorgniserregende Problemanzeige: Gerade in der Psychologie unserer Gegenwart ist wirkliche Vielfalt und Aufgeschlossenheit gegenüber diversen Positionen Mangelware. In den 1970/80er Jahren wirkten in der Zeitschrift für Sozialpsychologie Carl-Friedrich Graumann und Klaus Holzkamp als Herausgeber mit (neben Hubert Feger und Martin Irle). Eine derartig heterogene Zusammensetzung des Herausgeberkreises dieser genuin sozialpsychologischen Zeitschrift ist heute wohl unvorstellbar. Deswegen mussten schon bald Nischen geschaffen werden, längst sehr ansehnliche Alternativen wie etwa das Journal für Psychologie oder das Forum Qualitative Sozialforschung (FQS).
Relevant bleibt auch für diese Publikationsorgane, was ich als erstes Anliegen in meiner wissenschaftlichen Sozialisation ausbildete und zu verwirklichen suchte: sehr gute Wissenschaft betreiben, die Ansprüche hoch halten und ihre wenigstens gelegentliche Erfüllung (selbst-)kritisch prüfen. Ich sage das frank und frei: Nicht alles, was in den gegenwärtig von uns bedienten Zeitschriften, Handbüchern und Sammelbänden erscheint, hält dieser Prüfung stand. Ich beobachte und fürchte, dass die Ansprüche weiter im Sinkflug sind. Die Beiträge sollen kurz sein, die Zeichenzahl von X nicht überschreiten. Alles bitte klar gegliedert und möglichst allgemein verständlich, bitte keine Fußnoten und keinesfalls zu lange Anmerkungen, das Literaturverzeichnis knapphalten und die Überschriften auch! Lieber Listen erstellen als einen literarischen Stil pflegen. Standardisierung, Formalisierung und leicht verdauliche Zusammenfassungen von bereits Publiziertem allenthalben, die Inhalte indes werden weniger wichtig. Für die Lektüre von Büchern hat man einfach keine Zeit mehr, schon längere Artikel sprengen das verfügbare Zeitbudget. Wissenschaften sind indes keine Wohlfühloasen, in denen alles kurz und bündig und umstandslos vonstattengeht. Lesen und Schreiben läuft hier unter der Bezeichnung »Arbeit«, auch wenn diese Tätigkeit sublimierte Lust und entsprechenden Genuss keineswegs ausschließt. Neues lesen und denken kann elektrisieren. Eher lähmend wirkt es, wenn in jedem mittelmäßigen oder manchmal sogar erbärmlichen peer reviewed Journalartikel – den mitunter sogar die eigenen Kumpels begutachtet haben – das Adjektiv »neu« im Titel steht, der Beitrag aber so rein gar nichts Innovatives vorzuweisen hat. Im Übrigen sollte man, wenn man über die angeblich allseits erwünschte Vielfalt und Innovationskraft der heutigen Psychologie spricht, noch erwähnen, was Pradeep Chakkarath und viele weitere Vertreter*innen indigener Psychologien und postkolonialer Kritiken stets hervorheben und fordern: Es wäre an der Zeit, den Horizont unserer Wissenschaft über die europäisch-nordamerikanischen Traditionen hinaus auszuweiten und intensivere Kooperationen mit Wissenschaftler*innen zu suchen, die andere kulturelle Lebens-, Handlungs- und Denkformen sehr gut kennen, einschließlich der damit verwobenen (nicht-europäischen) Sprachen. Das ist eine politische und moralische Herausforderung, deren Annahme sich auch wissenschaftlich lohnen würde – wenngleich meines Erachtens keineswegs schon klar ist, wie die zu erwartenden Erträge und Fortschritte genau aussehen werden. Vieles bewegt sich in diesem Feld noch auf der Ebene von programmatischen Forderungen und einer Kritik an einer hegemonialen »westlichen« oder »modernen« Psychologie, ihrer impliziten Ontologie oder Anthropologie und »wissenschaftlichen Weltanschauung«, die es in der unterstellten Homogenität ja gar nie gegeben hat – ebenso wenig wie irgendein homogenes Anderes oder Fremdes. Ich bin selbst zwar in einer sehr heterogenen europäisch-nordamerikanischen Tradition wissenschaftlich sozialisiert worden, ohne aber andere Stimmen genügend vernommen, gründlich studiert und systematisch einbezogen zu haben. Pradeep Chakkaraths mahnendes Engagement in Bochum hat daran zwar manches geändert, aber gewiss nicht alle meine Defizite in diesem Feld beseitigen können. Das ist freilich ein allgemeiner Punkt, der uns noch eine Weile beschäftigen dürfte.
Aglaja Przyborski: Das sind offenbar zentrale Aspekte und Motive: Wie macht man ordentliche und exakte Wissenschaft? Wie gestaltet sich ihr Bauplan, wie fasse ich Erkenntnisse sprachlich? Interesse für unterschiedlich gelagerte Sinnstrukturen und wie man sich diesen korrekt nähern kann, Innovatives machen. Spannende, aktuelle Themen behandeln, wie du das bereits in deiner Dissertation (Straub 1993) getan hast, als du der geschichtlich und soziokulturell eingebetteten lebensgeschichtlichen Entwicklung friedenspolitischen Handelns von Naturwissenschaftler*innen nachgegangen bist. Zugespitzt diese drei Dinge: ordentliche Wissenschaft, die das Sinnverstehen nicht umgeht, regelmäßig aktuelle, gegenwartsbezogene Themen bearbeitet mit inspirierenden Ergebnissen, die das Alltagverständnis überschreiten.
Jürgen Straub: Genau, darum ging und geht es. Dafür muss man mit einer Passion fürs Denken und Forschen bei der Sache sein. So sollte man in diesen komplexen Betrieb namens Universität reingehen. Sonst wird das nichts. Es ist aber leider immer öfters die wissenschaftliche Realität: Nichtssagendes oder Altbekanntes unter Hochdruck in Serie herstellen. Ich meine schon, dass ich da gerade noch mal Glück gehabt habe. Ich bin von diesem ebenso geschäftigen wie leerlaufenden Betrieb weitgehend verschont geblieben. Niemand verlangte von mir die kumulative Produktion von wissenschaftlichen Miniaturen im Standardformat. Diese luxuriöse Freiheit habe ich mir bewahrt, auch wenn Bücher und komplexe Abhandlungen zu schreiben echt anstrengend sein kann. Es bleibt die bessere Wahl, ich finde vor allem: besser für die Wissenschaft.
Meine theoretische Habilitationsschrift (Straub 1999) habe ich nicht im Handumdrehen verfasst. Aber sie war und ist mir wichtig, ebenso wie die Arbeiten, die direkter an die Lebenspraxis adressiert sind und dort vielleicht irgendwann irgendetwas ausrichten können – nach einigen Übersetzungs- und Vermittlungsbemühungen, versteht sich. Das geht niemals unmittelbar als praktische Intervention. Wissenschaft ist kein beabsichtigter aktiver Eingriff in die Lebenspraxis, selbst wenn sie diese beeinflussen und sogar, wie Jürgen Habermas feststellt, kolonialisieren kann. Als Wissenschaftler*innen kümmern wir uns um geeignete Denkformen und Instrumente, die es gestatten, besser beschreiben und begreifen zu können, was in der Lebenspraxis alles vor sich geht, wie und warum und wozu. Wir wollen die Dinge genauer sehen, verstehen und erklären, als es auf der Ebene des Alltagsbewusstseins möglich ist. Dieses Ziel ist durchaus mit einem im weitesten Sinne praktisch-politischen, auch ethisch-moralischen Anspruch verbunden. Wissenschaft im Zeichen psychologischer Aufklärung ist nicht belangloses Gerede, l’art pour l’art. Sie ist aber auch kein besserwisserischer Aktionismus zur Errettung der armen Seelen und der gefährdeten Welt. Erlösungsfantasien und missionarische Motive beschädigen die Wissenschaften. Genuine Wissenschaftsansprüche kommen in meiner Perspektive allemal zuerst. Die zu vernachlässigen, halte ich für fatal – für die Wissenschaft und die Gesellschaft.
Aglaja Przyborski: Ich würde das in meinen Worten sagen: Das Anstrengende ist der epistemisch begründete, systematische Bruch mit dem Common Sense, der Alltagsperspektive.
Jürgen Straub: Das ist ein ganz wesentlicher allgemeiner Punkt, und etwas, das mich auch persönlich angetrieben hat. Eigentlich die ganzen ersten Jahre. Ich war auch in sozialen Bewegungen engagiert, aber das war ein Nebengleis. Meine Vorträge auf friedenspolitischen Konferenzen waren wissenschaftliche Abhandlungen, keine Artikulationen von Affekten, Animationen und Apelle. Dafür ist dieses ganze Unternehmen Wissenschaft nicht zuständig. Für die Analyse von Affekten, Animationen und Apellen sowie das vermeintlich nutzlose Nachdenken über scheinbar periphere Dinge dagegen schon. Genau das geschah dann auch in den Forschungsinstituten, in denen ich jahrelang tätig war. Das war ungemein bereichernd – und ansteckend. 1994, nachdem die Habilitationsschrift fertig war, wurde ich ans Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld eingeladen, wo ich Jörn Rüsen kennenlernte, der dort gerade eine interdisziplinäre Studiengruppe einrichtete. Wir befassten uns mit »historischer Sinnbildung«, natürlich im Hinblick auf drängende Gegenwartsprobleme. Rüsen vertrat die Geschichtstheorie, Paul Ricœur, Hayden White, James Young oder Frank Ankersmit ebenso; sie waren damals ungeheuer lehrreiche Gesprächspartner, viele andere auch, Aleida Assmann etwa. Zahlreiche ebenso gebildete und scharfsinnige Gelehrte waren ständig anwesend, viele kamen als Gäste – und einige davon durfte ich selbst zu Vorträgen oder Konferenzen einladen, die ich gestalten konnte, wie ich es für angemessen hielt. Ken Gergen, Donald Spence oder David Polkinghorne und viele andere kamen; mit Jerome Bruner korrespondierte ich seinerzeit, sodass sich auch er an dem Buch Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte (Straub 1998) beteiligte. Dieses Thema hat mich bis heute nicht losgelassen. Dieses Interesse teilte ich damals nicht zuletzt mit Harald Welzer (siehe auch das Gespräch mit Harald Welzer in diesem Heft, 111–130), den ich ebenfalls nach Bielefeld eingeladen hatte. Später haben wir in Erlangen und Hannover noch ein »interuniversitäres Seminar« angeboten.
Ein Jahr in diesem Brutkasten des ZiF, da kam ich natürlich nicht so heraus, wie ich hineingegangen bin. Bereichert und zugleich bestärkt in allem, was ich oben als Ursprungsmotiv meiner wissenschaftlichen Laufbahn erläuterte. Die Leute um mich herum waren eigentlich alle so drauf – und damit wohltuend anders als Durchschnittswissenschaftler*innen, von denen ich immer den Eindruck hatte, sie könnten ebenso gut Autos verkaufen, zwecks Existenzerhaltung, ohne jede Begeisterung für die Sache selbst. Nach einer kurzzeitigen Rückkehr nach Erlangen setzten sich meine intensiven Verwicklungen in die Wissenschaft im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) fort, wo ich ein paar Jahre lang eine Forschungsgruppe leitete – mit Burkhard Liebsch, einem höchst produktiven Philosophen –, wo ich aber auch im Vorstand saß und lernte, was es eigentlich heißt, einen solchen Laden zu organisieren. Wissenschaft muss man nicht nur forschend betreiben, sondern auch managen. Man muss die Ermöglichungsbedingungen kreativer Forschung schaffen, leider unentwegt (in einem bestimmten Feld haben das Günter Mey und Katja Mruck in bewundernswerter Weise getan; vgl. meine kleine Hommage: Straub 2021a). In der eigenen Studiengruppe, die mit dem Thema »Lebensformen im Widerstreit. Identität und Moral unter dem Druck gesellschaftlicher Desintegration« befasst war, versammelten wir übrigens fast nur junge Leute. Der Soziologe Joachim Renn war lange dabei, mit ihm bin ich bis heute im Gespräch. Einige meiner Doktorand*innen waren auch beteiligt und verfassten herausragende Dissertationen (z. B. Carlos Kölbl, Doris Weidemann, Barbara Zielke). Wir haben seinerzeit also mit der auch im Essener Institute for Advanced Study gepflegten Tradition gebrochen, dass Forschung an solchen Einrichtungen ausschließlich von drei, vier Ordinarien betrieben werden sollte. Wir dagegen waren ein quirliger, bunter Haufen neugieriger Temperamente, die die schon arrivierten Professor*innen – wie etwa Käte Meyer-Drawe, Jörg Bergmann, David Carr oder Bernhard Waldenfels – als Gesprächspartner*innen betrachteten, wie wir es füreinander auch waren.
Das KWI als Institution war enorm wichtig für mich. Ich lernte dort vieles von dem, was ich danach an der TU Chemnitz im Feld interkultureller Studien und seit 2008 in der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB zu vermitteln versuche. Speziell das meinem Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie angegliederte KKC ist ohne diese Beschäftigung mit den institutionellen Rahmenbedingungen unserer Tätigkeit kaum denkbar. Der interdisziplinäre Zuschnitt des KKC ist wohl auch ein Erbe aus meiner Zeit am ZiF und KWI. Er ist wichtig, wenngleich er niemanden davor bewahrt, disziplinäre Zuständigkeiten zu erkennen und entsprechende Expertisen auszubilden. Man sollte schon genau angeben können, was Kulturpsychologie denn eigentlich sein soll, ohne Gefahr zu laufen, dass kurzerhand alles in einer diffusen »Praxeologie« oder »Diskursanalyse« aufgeht oder man alles Mögliche als »Subjektivierung« bezeichnet, ohne gründlich und unter Einbeziehung psychologischer, psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Theorien darüber nachgedacht zu haben, was man damit meint.
Aglaja Przyborski: Wie ist nun die Lage der Psychologie(n) heute im Vergleich? Wie wird es denn ausschauen in den nächsten Jahren?
Jürgen Straub: In Erlangen traf man sicherlich auf eine besondere Konstellation und Situation. Ein kleines psychologisches Institut, mit einem kleinen philosophischen und soziologischen in der Nachbarschaft. Übrigens gab es im Institut für Psychologie noch einen Lehrstuhl für Psychoanalyse. Heute ist diese für die Gründung und erste Profilierung der Disziplin so ungemein wichtige Tradition in Deutschland exkommuniziert – was gewiss ein starkes Zeichen anti-pluralistischer Dogmen und Machtverhältnisse ist. Walter Toman hat in Erlangen allerdings versucht, aus der Psychoanalyse nach dem Programm des kritischen Rationalismus oder logischen Empirismus eine »richtige Wissenschaft« zu machen. Das war ein wenig langweilig und beseitigte insbesondere die epistemologische und methodologische Komplexität psychoanalytischen Denkens und Forschens. Spannend blieben aber die Bezüge zur klinischen, therapeutischen Praxis sowie die Fallbesprechungen, die regelmäßig im Lehrangebot waren.
Aber was ich sagen wollte: Die Psychologie, die ich angetroffen habe, war schon seinerzeit eine lokale Besonderheit. Es war eine spezielle Situation in Erlangen, allerdings keineswegs völlig einzigartig. Es gab noch einige weitere Orte, die für eine gewisse Diversität und Heterogenität der Psychologie sorgten, und darüber war man im akademischen Disput. Klaus Holzkamp fetzte sich mit Theo Herrmann, um ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel zu nennen. Deren manchmal polemische und ziemlich unerbittliche Auseinandersetzungen hinderte übrigens keinen daran, die Arbeit des anderen kritisch zu würdigen, wertzuschätzen und dabei nie zu vergessen, dass es um Argumente geht und nicht um moralische Anklagen oder persönliche Verunglimpfungen. Die Psychologie war bunter als heute, streitlustiger. Sie hatte es nicht nötig, ständig zu erklären, man sei eine pluralistisch organisierte Disziplin, die Vielfalt schätze.
Das gilt für die theoretischen Ansätze ebenso wie für die methodischen Orientierungen, wobei offenkundig nicht alle gleich stark vertreten waren. Es ist kein Geheimnis, dass qualitative Forschungsmethoden in der Psychologie damals kaum präsent waren und nach wie vor etwas randständig sind, vor allem dann, wenn es nicht um »qualitative Inhaltsanalysen« geht, sondern um komplexe interpretative oder rekonstruktive Ansätze. Man sollte aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: Auch der meistens pejorativ sogenannte »Mainstream« der Psychologie ist nicht ganz so homogen, wie es auf den ersten Blick ausschaut – und wie seine Vertreter*innen sowie (vor allem) seine Verächter*innen so oft vorgeben. »Den« Mainstream gibt es vielleicht weniger, als viele behaupten oder suggerieren, ohne allzu genau hingeschaut zu haben. Gerade die sogenannten »kritischen Alternativen« sollten sich sozialpsychologische Erkenntnisse zur selbstwertdienlichen Gruppenbildung und Gruppenzugehörigkeit stets vor Augen halten. Henri Tajfels und John Turners Einsichten gelten auch für Gruppenbildungen und -konflikte in der Wissenschaft. Verzerrende Konstruktionen des Eigenen und des Anderen gibt es in diesem Feld ebenso wie anderswo. Moralische Selbstaufwertungen sind gerade in der Wissenschaft höchst bedenklich. Integre, intelligente und kreative Leute gibt es immer auch beim Gegenüber, also bei den recht verschiedenen Kontrahenten. Unlängst hatten wir Werner Greve im KKC zu Gast, der sich – unter anderem – mit der »ganz normalen« Entwicklungspsychologie vorzüglich auskennt und selbst Wichtiges zu ihrem Fortschritt beigetragen hat, auch durch quantitative Forschungen. Damit und mit vielen anderen Arbeiten aus der »Mainstream-Psychologie« sollte man sich auseinandersetzen.
Das heißt, man müsste viel mehr miteinander als übereinander reden. Und auch in die Organisationen der Disziplin reingehen, um sie mitzugestalten, die Debatten mitzubestimmen versuchen. Ich habe das hin und wieder probiert, aber da hat mir dann doch die Kraft und Ausdauer gefehlt, um etwas Nennenswertes zustande zu bringen. Vielleicht mangelte es mir auch an Talent und Neigung für diesen Marsch durch die Institutionen. Um es zu resümieren: Ich habe vor 30 und mehr Jahren noch eine diversere, theoretisch vielfältigere, streitlustigere und vielleicht auch tolerantere Psychologie vorgefunden, als das heute der Fall ist. Ich habe eine Psychologie angetroffen, deren universitäres Curriculum ebenfalls noch etwas anders ausgeschaut hat. Man bedenke, dass heute nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch die Psychologiegeschichte praktisch abgeschafft ist – eine fast schon irrsinnig wirkende Entscheidung, frei nach William Shakespeares Hamlet: »Ist dies auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!« Es gibt heute wohl eine noch stärkere Verengung und sogar eine selbstläufige Dogmatisierung bestimmter Standards, die freilich modisch wechseln. Man denke an den neurowissenschaftlichen Hype und überhaupt an die noch anhaltende Biologisierung der Psychologie. Wer aber blickt in der Psychologie noch über den Zaun in Richtung Soziologie oder Ethnologie? Wer mischt bei interdisziplinären Studiengängen und Promotionsprogrammen mit, in denen die Sozial- und Kulturwissenschaften sowie interdisziplinäre xy-studies dieser oder jener Provenienz und Ausrichtung vertreten sind? Allenfalls Ausnahmen.
Das ist bedauerlich, weil aus diesen Nachbardisziplinen wichtige Innovationen kommen, die auch für die Psychologie von größtem Interesse sind. Das war schon bei der Entwicklung des narrativen Interviews (siehe hierzu das Gespräch mit Fritz Schütze in diesem Heft, 88–110) so und ist heute beispielsweise bei der Entstehung und Erprobung neuer bildanalytischer Verfahren der Fall, von vielfältigen theoretischen Neuerungen gar nicht zu reden (Straub 2021b, 2022). Wenn die Psychologie diese zeitgemäßen und entsprechend faszinierenden Bemühungen nicht unterstützt oder wenigstens zur Kenntnis nimmt, wird sie in solchen Bereichen ins Hintertreffen geraten und weiterhin ein trübes Schlusslicht bilden. Das wird vielen Fachwissenschaftler*innen natürlich gleichgültig sein und auch die Nachbardisziplinen nicht sonderlich scheren. Leute wie ich finden das gleichwohl bedauerlich und schädlich fürs Fach, das eben breiter aufgestellt sein sollte, als es gegenwärtig der Fall ist. Ohne ausgefeilte Bildhermeneutik geht es in einer Zeit der Bilderflut jedenfalls genauso schlecht wie ohne Methoden der interpretativen Textanalyse, wie sie in den letzten Jahrzehnten entwickelt und angewandt wurden – meistens am Rande und ohne maßgebliche Beteiligung der Psychologie.
Was ist gewachsen und was nicht? Was ich also überhaupt nicht mehr geschafft habe, übrigens auch die Generation vor mir nicht, ist der besagte Marsch durch die Institutionen mit ihren zahlreichen Gremien. Unsere Vorgänger*innen haben das zu wenig unternommen und keine besonders erfolgsversprechenden Strategien ersonnen, aber ich selbst habe es dann auch nicht besser gemacht. Man hätte sich viel mehr in der DGPs engagieren müssen, in den Fachgruppen und anderen Einrichtungen der DFG usw. Ich hätte da rein müssen, auch mit anderen zusammen, und versuchen sollen, unsere Stimme noch deutlicher vernehmbar zu machen und gewisse Funktionen zu übernehmen, die Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet hätten – Macht, in wie bescheidenem Ausmaß auch immer.
Aglaja Przyborski: Das finde ich wirklich einen spannenden Punkt, weil das auch meine Perspektive ein bisschen verändert hat. Ich habe mich sozusagen immer an den »Mainstreamer*innen« abgearbeitet, und das war kein sehr erquicklicher Prozess. Ein bisschen Lob und Anerkennung kam aus der Soziologie und nicht aus der Psychologie, obwohl ich meine Arbeit gerne noch stärker dort verortet hätte. Die Vorstellung, dass man in der Psychologie unserer Gegenwart die Vielfalt der Stimmen hört und anerkennt, sich als Praxeologin oder Kulturpsychologin also nicht immer nur an einem behavioristischen, kognitivistischen oder neurobiologischen Mainstream abarbeiten muss, sondern sich viel stärker mit dialogbereiten Kolleg*innen auseinandersetzt, finde ich interessant. Es gibt tatsächlich den einen oder die andere Bündnispartner*in auf Professuren, aber die Chance zur Zusammenarbeit ist eben nicht optimal institutionalisiert. Nicht mal der Austausch und die Auseinandersetzung innerhalb der alternativen, kritischen Psychologien (oder wie immer man sie nennt) ist zufriedenstellend. Okay, wir haben die Gesellschaft für Kulturpsychologie und das Institut für Kulturpsychologie und qualitative Methoden (IKUS), aber wir sollten uns mit anderen, gerade auch Andersdenkenden, noch mehr vernetzen. Man könnte da schon mehr machen und nicht immer nur polarisieren, wie du es sagst. Es ist in der Tat eine simplifizierende und kontraproduktive Blockbildung, wenn man immer wieder feststellt: »Dort ist der Mainstream und wir sind ganz anders und deswegen benachteiligt und ausgeschlossen!« Man kann in dieser Auffassung verharren und sich dabei selbst lähmen.
Jürgen Straub: Diese Polarisierung ist zum Teil überzogen worden. Es gäbe schon viel mehr Brücken. Dieses Denken in Blöcken ist auch ein Selbstschutz. Aber was wir nun beide gefordert oder gewünscht haben, nämlich möglichst unvoreingenommen »in die Psychologie reinzugehen«, dazu sollte man schon auch wissen: Manches geht einfach – beim besten Willen – nicht. Man rennt gegen die Wand – Machtverhältnisse und hegemoniale Strukturen bringen das unweigerlich mit sich. Das habe ich selbst öfters erlebt. Ich habe in meinen Sturm-und-Drang-Zeiten auch DFG-Anträge gestellt, die positiv begutachtet wurden, von manchen Gutachter*innen sogar überaus würdigend und wertschätzend. In der Fachgruppe Psychologie – also bei letzter Gelegenheit der Machthabenden – sind diese Anträge dann trotzdem abgelehnt worden, mit unglaublich dilettantischen Begründungen, praktisch frei von jeder Sachkenntnis und interdisziplinärer Expertise. Man mochte vor allem keine Projekte, die ausschließlich qualitative Verfahren einsetzen. Die Entscheidungsbefugten in der DFG und anderen Förderinstitutionen haben natürlich das letzte Wort und können Vorhaben ablehnen, selbst wenn positive Gutachten eine Projektförderung empfehlen. Bestimmte Leute wollen uns da partout nicht in der Disziplin haben. Ihre Solidarität mit ihresgleichen ist stärker als das Interesse an vielfältiger Forschung und an Entwicklungen, die sie selbst nicht nachvollziehen können, bestenfalls vom Hörensagen kennen und tatsächlich oftmals nicht verstehen.
Bestimmte Gremien in den einschlägigen Organisationen fungieren wie Gralshüter. Man müsste sich da, wie gesagt, mehr einmischen und einbringen, gleichzeitig aber auch autonome Strukturen außerhalb dieser Einrichtungen oder an ihrem Rand schaffen, wie das zum Teil auch gemacht wurde. Das Journal für Psychologie ist ein eindrucksvolles Beispiel, finde ich, das initial von der DFG geförderte FQS ebenfalls. Das sind erfolgreiche Unternehmungen, selbst wenn sie die Machtverhältnisse nicht umstürzen. Aber sie schaffen eine gewisse Unabhängigkeit.
Man sollte bestimmte, für das Fach und seine plurale Verfassung besonders wichtige Dinge tun und müsste sie dann auch stärker institutionalisieren, so wie wir es in Bochum versuchen. Da gibt es nun seit 15 Jahren – wohlgemerkt: in der Fakultät für Sozialwissenschaft, nicht in derjenigen für Psychologie! – eine interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie und eine indigene Psychologie, als sei das die normalste Sache der Welt. Solche Institutionalisierungen sind sehr wichtig. Ein paar individuelle Stimmen hier und dort vermögen zu wenig auszurichten. Man braucht Lehrstühle, Professuren und Juniorprofessuren, Publikationsorgane, ständige Arbeits- und Forschungsgruppen, Graduiertenkollegs, einschlägige Studiengänge etc.
Aglaja Przyborski: Ja, eine curriculare Verankerung der Anliegen und Ambitionen.
Jürgen Straub: Genau. Es gibt eindrucksvolle Institutionen in diesem Sinn, wie etwa die International Psychoanalytic University Berlin. Da wird Psychologie in Bachelor- und Master-Curricula angeboten, wobei die Psychoanalyse ein fester Bestandteil des Angebots ist. Es wäre schön, wenn derartige Initiativen und Institutionen nicht auf die finanziellen Mittel, die herausragende wissenschaftliche Expertise und die Umsicht von Stifter*innen wie Christa Rohde-Dachser angewiesen wären. Auch davon hängt die Zukunft des Faches ab. Ohne Institutionen und in ihnen angesiedelte, innovative Forschungsprogramme geht gar nichts. Rückenwind kommt auch aus der forschungsorientierten akademischen Lehre, wo qualitative Forschungswerkstätten heute Hochkonjunktur haben. Ich war selbst fünf Jahre lang in einem universitätsweiten BMBF-Projekt für die Förderung forschenden Lernens an der RUB zuständig (Straub et al. 2020). Wenn man die Zukunft der Psychologie in den Blick nimmt, sollte man alle diese Kräfte nutzen, um die institutionalisierte akademische Psychologie auch künftig ein wenig aufmischen zu können. Auch die philologischen Fakultäten sind an einer interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie sowie verwandten Ansätzen viel stärker interessiert als an einer experimentellen Sozialpsychologie, ihren schwer reproduzierbaren und obendrein ziemlich lebensfernen, oft trivialen Ergebnissen (obwohl es auch in der experimentellen Sozialpsychologie interessante Ausnahmen gibt, in Gestalt von Anna Sieben noch eine kurze Zeit auch in Bochum). Ich hatte das niemals erwartet, aber bis vor Kurzem durfte ich in einem sogenannten Think Tank eines Exzellenzclusters in Berlin mitwirken, und zwar, man traut seinen Ohren nicht: in der Archäologie. Es hört auf den Namen TOPOI.
Aglaja Przyborski: Mich würde jetzt noch mal interessieren: Wie würdest du den Mainstream definieren, der als Begriff geläufig und auch in unserem Gespräch gefallen ist? Und wo liegen die Trends für die Zukunft, auch außerhalb des Mainstreams?
Jürgen Straub: Ich bin zurückhaltend, was den Gebrauch dieses Prädikators »Mainstream« angeht – und immer vorsichtiger geworden. Das hat mit dem zu tun, was ich schon angedeutet habe. Ich glaube, man sollte sich in Acht davor nehmen, zu sehr das zu machen, was Gruppen wechselseitig fast immer tun: die andere Seite sehr stark homogenisieren und zugleich abwerten. Mit dem sogenannten »Mainstream« geschieht genau das, mitunter in einer doch auch peinlichen Weise.
Allerdings glaube ich, dass es immer noch richtig und wichtig ist, den »Mainstream«, wenn man das Etikett verwenden möchte, methodologisch zu definieren, so wie wir es in Erlangen gemacht haben. Da war klar, der »Mainstream« ist eine methodologische Position und methodische Orientierung: Die Psychologie hat eine nomologische oder nomothetische Wissenschaft zu sein wie alle anderen Naturwissenschaften auch. Basta. Das muss man dann genau ausformulieren, was es im Einzelnen bedeutet. Das braucht man heute gar nicht mehr selbst machen, das kann man leicht aus überlieferter Literatur übernehmen. Diese kritische Arbeit wurde weitestgehend erledigt, in Erlangen, Berlin und anderswo. Die Verwechslung vermeintlicher Naturgesetze mit sprachanalytisch wahren Behauptungen über logische bzw. semantische Zusammenhänge aufzudecken, war eine der Standardübungen für Studierende in Erlangen. Die mussten herausfinden, wo es in »empirischen Arbeiten« tatsächlich um kontingente empirische Zusammenhänge geht, oder aber um sprachanalytische Wahrheiten. Psychologie als Naturwissenschaft ist, dem eigenen Ideal zufolge, in der Methodologie und Methodik experimenteller Forschung konstituiert. Das Experiment (oder Quasi-Experiment) als bevorzugte Methode dient dem übergeordneten Ziel, Gesetzesaussagen treffen zu können, allgemeine Aussagen über Beziehungen kausaler Natur. Weil es strikt deterministische Ursache-Wirkungs-Beziehungen selten gibt im Feld des Psychischen und des Sozialen, ist man mit der schwächeren Variante korrelationsstatistisch abgesicherter, probabilistisch begründeter Aussagen zufrieden. Das ist, würde ich sagen, das wesentliche Definitionskriterium. So versteht sich der »Mainstream«.
Genau diese dogmatische Setzung bedeutet eine erhebliche Einschränkung des Blickfeldes und des als »wissenschaftlich« geltenden Handelns. Man blendet alles aus, was interpretative Wissenschaften auf theoretisch und methodologisch bestens begründete Weise faktisch tun. Wer zum Beispiel handlungsleitende soziale Normen empirisch zu rekonstruieren versucht, sucht weder nach deterministisch noch probabilistisch formulierten Naturgesetzen. Solche Normen sind niemals universell und unumstößlich, und statistische Regelmäßigkeiten sind etwas anderes als soziale Regeln (dazu und zu anderen Handlungstypen und Typen der Handlungserklärung Straub 1999, 2021b). Die Psychologie ist in weiten Teilen keine nomologische Wissenschaft. Leider halten die meisten Kolleg*innen an dieser etwas verbohrten Auffassung fest, selbst wenn einschlägige Forschungsprogramme und etablierte Vorgehensweisen aus systematischen Gründen scheitern – wie etwa die sogenannte »Replikationskrise« gezeigt hat, aber auch viele Argumente aus der klassischen Sozialpsychologie des Experiments belegen. Da nützen selbst Datenfälschungen – wie sie in jüngerer Zeit bekannt geworden sind – und andere Manipulationen, die das Ethos der Wissenschaften untergraben, bekanntlich auch nichts mehr.
Das wesentliche Definitionskriterium für den Mainstream ist epistemologischer, methodologischer Art. Die zeitabhängigen, kontingenten Allianzen mit bestimmten inhaltlichen Ausrichtungen sind dann eher nebensächlich. Ob sich die naturwissenschaftliche Psychologie mit der Neurobiologie bzw. den Neurowissenschaften gemein macht oder mit den Kognitionswissenschaften, ist sekundär – wenngleich in der Forschungsförderung alles andere als unwichtig. Der definitorische Kern dessen, was den sogenannten »Mainstream« der Psychologie ausmacht, ist vielleicht noch durch ein paar Zusatzüberlegungen zu bestimmen, die zum Beispiel den Status normativer Aussagen betreffen. Auch diesbezüglich gilt allerdings, dass man Neutralitätsgebote in Wertfragen oft predigt, um sie dann bedenkenlos zu unterlaufen. Man denke etwa an solche hoch ideologischen Unternehmungen wie die »Positive Psychologie«.
Aglaja Przyborski: Wohin geht die Reise? Wie schaut es aus in zwei oder drei und wie in 20 oder 50 Jahren?
Jürgen Straub: Für längere Zeitperspektiven würde ich mich zu keiner Prognose hinreißen lassen. Ich gehöre zu jenen, bei denen begründete Skepsis gegenüber Vorhersagen im Feld der Geschichte tief verankert ist. Voraussicht im Sinne sicherer Prognosen ist nicht immer ein sinnvolles wissenschaftliches Ziel. Oft bleibt uns lediglich die Möglichkeit des verstehenden Erklärens post festum. Das ist zwar spät, aber in philosophischer und wissenschaftlicher Sicht nur dann zu spät, wenn man sichere Voraussagen in unserem Geschäft für möglich und notwendig hält.
Aglaja Przyborski: Das habe ich mir gedacht.
Jürgen Straub: Nun, die Zukunft ist einfach abhängig von kontingentem menschlichen Handeln und Entwicklungen, die niemand schon kennt und kennen kann. Dabei kommt es nicht allein auf Politik und Organisation an. Differenzierte Forschungsprogramme mit Intelligenz und Ausdauer verfolgen und sie mit interessanten Ergebnissen beenden, das dürfte über die Zukunft auch der heute eher randständigen Ansätze in der Psychologie entscheiden. Ohne solche Anstrengungen werden sie wohl noch marginaler oder sterben aus – sonst vielleicht nicht unbedingt, wer weiß. Man braucht förderliche institutionelle Rahmenbedingungen und kreative Ideen sowie ein bisschen Mut zur Abweichung – ein anderes Wort für Originalität. Dafür müssen sich Menschen bereit erklären und nach Kräften einsetzen.
Aglaja Przyborski: Das finde ich sehr schön und kommt bei mir an als Aufbruchsstimmung nach wie vor, Ärmelhochkrempeln, Mitgestalten!
Jürgen Straub: Noch etwas zu ergänzen ist mir wichtig. Ich habe vor ein paar Monaten bei einem »Tag der Kulturpsychologie« mitgemacht, den vor allem Herbert Fitzek an einer Hochschule für Management, der BSP Business and Law School Berlin, organisiert hat. Meike Watzlawik, Jaan Valsiner und ein paar andere bekannte Kolleg*innen haben das Tagesprogramm gestaltet. Gegen Abend habe ich, schon reichlich erschöpft, in einer Podiumsdiskussion gesagt, dass ich es bedauerlich (und auch ein wenig peinlich) finde, dass es bis heute nicht ein einziges Buch gibt, in dem auf wirklich systematische Weise verschiedene alternative Ansätze in der Psychologie miteinander verglichen und beurteilt werden, nach ausgewiesenen, wohl bedachten Kriterien. Es fehlen uns kritische Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen, und zwar solche, die ihren Namen wirklich verdienen. Auch davon hängt die Zukunft dieser Nische ab. Das heißt: Es kommt auch auf die präzise Artikulation von Differenzen an, etwa im Feld einer wahrlich heterogenen »Kulturpsychologie«. Konkurrenz belebt nicht nur das Geschäft, sondern sorgt, wenn sie gründlich genug ausgetragen wird, auch für Fortschritt. Wir scheuen solche Auseinandersetzungen zu sehr. Man denke zum Beispiel daran, dass wir es mit Müh und Not geschafft haben, endlich einmal eine halbwegs sorgfältige Beschäftigung mit Boeschs Werk hinzukriegen (vgl. die Beiträge in Straub et al. 2020. Aber das ist natürlich lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Es nützt nichts, dass man Ernst Boeschs oder Jerome Bruners, Patricia Greenfields oder Jessica Benjamins Arbeiten toll findet. Man sollte schon Gründe für diese Wertschätzung anführen. Das gilt für spezielle Ansätze und dann für die Kulturpsychologie insgesamt, die aus einzelnen Ansätzen besteht und nicht ein vages Gesamtgebilde darstellt.
Den schönen und informativen Handbüchern, die wir bereits haben oder die im Entstehen begriffen sind, sollten sich ein paar kritische Beschäftigungen miteinander hinzugesellen. Das wäre zukunftsträchtig. Zitätchen von Zitätchen und höfliche, allzu höfliche Gesten sind es dagegen nicht. Die Zukunft unseres Gesamtunternehmens hängt nicht zuletzt davon ab, dass es gelingt, neben dem Mainstream eine lebendige, produktive, interessante, wissenschaftlich hochwertige Psychologie zu platzieren, zu etablieren und zu betreiben, in der das Gespräch mit Vertretern*innen des Mainstreams ebenso normal geworden ist wie die wechselseitigen Kritiken und selbstkritischen Auseinandersetzungen in diesem heterogenen Feld selbst. Immer nur zu stammeln: »Wir sind eigentlich zwar die Besseren, aber keiner guckt hin!«, ist auf Dauer etwas eintönig und einlullend.
Aglaja Przyborski: Ich muss das jetzt so zusammenfassen, dass, wenn man Jürgen Straub bittet, in die Kristallkugel zu schauen, man als Antwort ein Säckchen voller Aufgaben bekommt, die zu erledigen sind.
Jürgen Straub: Nicht verkehrt. Wenn man ein paar von diesen wichtigen Aufgaben erledigt, dann hat das Unternehmen auch Zukunft. Sonst braucht man darüber nicht mehr allzu lange zu reden.
Aglaja Przyborski: Und nun noch das letzte Thema: Das Verhältnis Psychologie und Psychotherapie.
Jürgen Straub: Ich mache das mal an einem erfolgreichen Beispiel deutlich, allerdings in einer sehr begrenzten Sicht auf dieses komplexe Thema. Dieses Beispiel ist die bereits erwähnte International Psychoanalytic University Berlin, die Psychologiestudiengänge anbietet, in denen psychoanalytisches und psychologisches Wissen und Können vermittelt werden. Diese Universität, die sich im Schwerpunkt der Psychoanalyse verschrieben hat, integriert auf derzeit vielleicht einmalige Weise die von dir angesprochenen Zweige. Dabei gibt es auch Forschungsprojekte, in denen subjekt- und sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Perspektiven eng verbunden sind. Wenn etwa Benigna Gerisch – in der Zusammenarbeit mit Vera King und Hartmut Rosa – ihre klinischen Erfahrungen einbringt, dann lässt sich über »Aporien der Perfektionierung« oder »Optimierung« ganz anders reden und nachdenken, als wenn man keinen Zugang zur diagnostischen, therapeutischen bzw. psychoanalytischen Praxis hat. Solche Dinge machen ein gleichermaßen forschungs- und praxisnahes Psychologiestudium außerordentlich interessant. Über nicht-intendierte psychosoziale Folgen der Selbstvermessung oder des Self-Trackings etwa lässt sich viel mehr sagen, wenn man seine Empirie auch in der besagten Praxis verankern kann. Der Freud’sche Grundgedanke einer Koinzidenz von Forschungs- und Anwendungszusammenhang ist keineswegs veraltet, sondern, recht verstanden und methodisch kontrolliert umgesetzt, hochaktuell und attraktiv. Dazu braucht es forschungsaffine Psychotherapeut*innen, forschende Psychoanalytiker*innen, offene Beratungseinrichtungen usw.
Aglaja Przyborski: Ausgezeichnet. Ich darf erwähnen, dass dies ein Gedanke ist, den ich mich bemühe, für unsere Psychotherapieforschung und -ausbildung an der Bertha von Suttner-Universität fruchtbar zu machen. Dort werden im Psychotherapie- und künftig auch im Psychologiestudium psychotherapierelevante Themen, wie du sie eben skizziert hast, behandelt, auch im Rahmen von empirischen Qualifikationsarbeiten, die rekonstruktive Verfahren einsetzen.
Jürgen Straub: Aus der Beobachtung der klinischen, therapeutischen, psychoanalytischen oder beraterischen Praxis Forschungen zu generieren, die letztlich gesellschaftlich allgemein relevante Themen aufgreifen, ist übrigens lediglich die eine Seite. Es geht hier nicht nur um einen kleineren Kreis von Menschen, die stärker leiden als andere und deswegen professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Was in der erwähnten, vielgliedrigen Praxis geschieht, geht uns alle an. Die andere, ebenso spannende Seite ist sodann, dass dieser ganze Bereich der Psychoanalyse, Psychotherapie und Beratung etc. natürlich selbst ein gesellschaftlich höchst relevantes Phänomen bildet, das in einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive, die nicht aus diesem Feld selber kommt, in all seiner Vielschichtigkeit erkundet und reflektiert werden muss. Zeitdiagnostische Stichwörter wie »Psychologisierung«, die »Therapie«- oder die »Beratungsgesellschaft« zeigen das ja an. Erfreulicherweise gibt es dazu eine ganze Reihe eindrucksvoller Forschungen, vor allem wohl in der Soziologie (z. B. von Sabine Maaßen oder Stefanie Duttweiler), aber auch in der Geschichtswissenschaft (z. B. von Maik Tändler).
Aglaja Przyborski: Wie stellen wir eigentlich so etwas wie Psychotherapie als Gesellschaft her, auf der Makro- und Mikroebene? Und was ist das eigentlich für eine eigentümliche Praxis? Sehr wichtige Fragen, in der Tat.
Jürgen Straub: Die bleiben übrigens noch jahrzehntelang relevant, weil der Export der Psychoanalyse und Psychotherapie nicht so einfach vonstattengeht im globalen Maßstab – und dort, wo er erfolgt und erfolgreich ist, die analytischen und therapeutischen Konzepte und Verfahren durchaus verändert (wobei diese ja mitunter ohnehin schon durch außereuropäisches Wissen und Können beeinflusst sind). Was wir da vor uns haben, ist eine historisch ungeheuer voraussetzungsvolle kulturelle und soziale Praxis, in der sich Subjekte formieren und umgestalten, ihre (unbewussten) Affekte zu durchschauen und zu kontrollieren lernen und vieles mehr. Dazu gäbe und gibt es viel zu sagen, viel mehr natürlich, als dass Psychotherapie eine Art säkularisierte Nachfolge der katholischen Beichte darstelle, eine Umgestaltung des Bekenntnis- und Geständniszwangs (Michel Foucault, Alois Hahn u. a.) in ent-moralisierten Gesprächsräumen, in denen sich Menschen aus-sprechen, artikulieren, reflektieren und bereits im Setting verändern können.
Das ist eine sehr voraussetzungsvolle Praxis. Was tun wir da eigentlich, was geht da vor sich? Was geschieht genau in diesen für viele moderne Gesellschaften wohl überlebenswichtigen Artikulations- und (Be-)Handlungsräumen? Extrem spannend wird es nicht zuletzt dann, wenn sich der Eindruck verhärtet, dass traditionelle therapeutische Anliegen, die auf die Förderung des Erlebnis- und Handlungspotenzials partiell autonomer Subjekte abzielen, beinahe unmerklich in die Nähe von Praktiken der exzessiven (Selbst-)Optimierung geraten (Straub 2019, 2020), in denen niemand mehr hinreichend kapiert und kontrolliert, was da eigentlich abläuft (wie bei der Selbstvermessung, beim Self-Tracking etc.). Mit solchen Fragen befasst sich der Mainstream der Psychologie übrigens ein bisschen weniger als unsereins. Es geht bei diesem ganzen Themenkomplex eben nicht nur um die in quantitativen, methodisch kontrollierten Evaluationsstudien nachgewiesene Effektivität einzelner psychoanalytischer bzw. psychotherapeutischer Verfahren – oder darum, was man in solchen Zusammenhängen eigentlich unter »Effektivität« verstehen soll.
Aglaja Przyborski: Dem stimme ich zu und würde gern gleich weitergehen – dennoch schlage ich jetzt eine Pause vor. Wir haben bestimmt bald neue Gelegenheiten, unser Gespräch fortzusetzen.
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Aglaja Przyborski, Prof. Dr. habil., Dipl.-Psych., hat eine Professur für Psychotherapie an der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten inne. Sie ist niedergelassene Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen: Entwicklung qualitativer, rekonstruktiver Methoden (Gesprächsanalyse, Dokumentarische Methode, Bildinterpretation), Kulturpsychologie, Medientheorie und Digitalisierungsforschung, Psychotherapie- und Beratungsforschung, Milieu- und Kulturforschung, Vermögens- und Familienforschung sowie Stadtforschung und -beratung. Ihre Monografie Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch (gemeinsam mit Monika Wohlrab-Sahr) ist kürzlich in der 5. Auflage erschienen.
Kontakt
Prof. Dr. habil. Aglaja Przyborski,
Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten,
Campus-Platz 1, 3100 St. Pölten, Österreich;
E-Mail: Aglaja.Przyborski@suttneruni.at