Zur phänomenologischen Orientierung in der Psychologie

Alexandre Métraux im Gespräch mit Alexander Nicolai Wendt

Journal für Psychologie, 30(1), 48–68

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2022-1-48 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Welche Bedeutung hat phänomenologisches Denken in der Psychologie? Diese Frage lässt sich nicht ohne den Blick sowohl in die komplexe Geschichte der Psychologie als Disziplin als auch der phänomenologischen Bewegung beantworten. Das Gespräch versucht eine angemessene Perspektive zu finden, wobei die Hintergründe der sogenannten phänomenologischen Orientierung in der Psychologie zur Sprache kommen. Von der Geistesgeschichte geht das Gespräch zur grundsätzlicheren systematischen Frage über, welchen Beitrag die Phänomenologie leisten kann. Während die Beschreibung der Erfahrungswelt als ihre Stärke betont wird, bleibt sie ihrerseits ergänzungsbedürftig, denn Phänomenanalysen allein können den Gegenstandsbereich der Psychologie nicht vollständig erschließen. Das Gespräch endet mit dem Blick auf mögliche Ergänzungen der psychologischen Forschung. Die Ansätze der Phänomenologie, beispielsweise von Shaun Gallagher, erweisen sich als nicht unproblematisch. Als Alternative wird die Psychologik Jan Smedslunds angeführt, die die psychologische Theoriebildung auf ihre Redundanz mit lebensweltlichen Gewissheiten überprüft.

Schlüsselwörter: Phänomenologie, Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte, Phänomenologische Psychologie, phänomenologische Bewegung

Summary
On the Phenomenological Orientation in Psychology

Alexandre Métraux in Conversation with Alexander Nicolai Wendt

What is the influence of phenomenological thinking in psychology? An answer to this question requires both considering the complex history of psychology as a discipline and the phenomenological movement. The dialogue tries to find an appropriate perspective, in which the background of the so-called phenomenological orientation in psychology is discussed. From intellectual history, the conversation moves to the more fundamental, systematic plain of the contribution phenomenology can make to psychology. It is emphasised that phenomenology provides an elaborated approach especially for the description of the world of experience. However, it needs to be supplemented because phenomenal analyses alone cannot fully meet the subject area of psychology. The conversation ends with a look at possible additions to psychological research. The approaches of phenomenology, for example, by Shaun Gallagher, prove to be not unproblematic. Jan Smedslund’s psycho-logic, which examines the redundancy of psychological theory formation with real-world certainties, is mentioned as an alternative.

Keywords: Phenomenology, theory of science, history of science, phenomenological psychology, phenomenological movement

Zu Alexandre Métraux

Alexandre Métraux studierte Philosophie, Psychologie und Staatsrecht an der Universität Basel. Nach der Promotion 1973 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg tätig. Derzeit ist er Assoziiertes Mitglied der Archives Herni Poincaré an der Université de Lorraine. Métraux war Mitherausgeber der Zeitschrift Science in Context. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Wissenschaftsgeschichte, insbesondere die Geschichte der Hirn- und Nervenforschung im 18. und 19. Jahrhundert. Ferner ist er Herausgeber zweier Bände der gesammelten Werke Aron Gurwitschs (in Vorbereitung).

Zum Interview

Den Hintergrund des verschriftlichten Dialogs bilden eine Reihe von persönlichen Zwiegesprächen zu verschiedenen Gelegenheiten über den Lauf der letzten Jahre. Der Kontakt besteht seit Frühling 2018 in einem lebendigen Austausch an verschiedenen Orten der Stadt Heidelberg. Der vorliegende Text ist nach persönlicher Absprache abwechselnd geschrieben worden.

Alexander Nicolai Wendt: Ich möchte unser Gespräch mit einer Anekdote aus meiner Studienzeit beginnen. Weil sie kaum vergangen ist, lässt sich vielleicht davon sprechen, dass sie eher eine Brücke in die Vergangenheit schlägt, als selbst schon zur Vergangenheit zu gehören. Jedenfalls ist uns Studentinnen und Studenten an der Universität Heidelberg in den ersten Semestern dank der damals noch in Baden-Württemberg erhobenen Studiengebühren von 500 Euro ein Kopierkontingent von 1.000 Seiten pro Semester zugestanden worden. Statt es für den Semesterapparat zu verwenden, schaute ich mich in der schon zu dieser Zeit, also vor etwa zehn Jahren, eher vereinsamten Bibliothek des Psychologischen Instituts auf der Suche nach Anregungen um. Auf der rechten Seite stieß ich auf ein Regal mit der Signatur V, dessen Bände im Durchschnitt noch um einige Jahrzehnte älter zu sein schienen als die sie umgebenden.

Die Texte, die ich vorfand, faszinierten mich unmittelbar und sollten mein psychologisches Forschen für die folgende Zeit prägen. Den Ordner, in dem ich meine Kopien abgeheftet habe, besitze ich noch heute. In ihm findet sich auch ein Sammelband mit dem Titel Leibhaftige Vernunft, herausgegeben von Alexandre Métraux und Bernhard Waldenfels. Dies ist der erste Moment gewesen – also im ersten Semester meines Studiums im staubigsten Teil der Institutsbibliothek –, in dem ich Ihrem Namen begegnet bin.

Im folgenden Jahrzehnt sollten sich die Gelegenheiten häufen, in denen ich dem Namen Métraux begegnete. Der Grund dafür ist mein Interesse an der Denkart gewesen, die ich einfachheitshalber »phänomenologische Psychologie« nennen möchte. Sie bot mir eine Schnittstelle zwischen meinen psychologischen und philosophischen Interessen und ist mir inzwischen zu einem Herzensanliegen geworden. Umständehalber handelt es sich bei dieser Denkart jedoch um etwas, das ich bisher eigentlich nur aus der Retrospektive begutachten konnte. Drastischer gesagt: In Deutschland scheint die phänomenologische Psychologie ausgestorben zu sein. Ich halte dies nicht nur für einen Verlust, sondern auch für ein Anzeichen für die Verfassung der gesamten Disziplin, über die wir uns in diesem Gespräch einmal grundsätzlich austauschen möchten.

Das Milieu der akademischen Psychologie scheint mir in der Vergangenheit mehr Spielraum geboten zu haben. Amedeo Giorgi spricht beispielsweise davon, dass in den 1920er Jahren in Deutschland allein fünf Paradigmen der holistischen Psychologie bestanden haben, nämlich die Gestaltpsychologie, der Personalismus Sterns, die Ganzheitspsychologie Krügers, die phänomenologische Experimentalpsychologie von Katz und Sprangers Verstehenspsychologie (vgl. Giorgi 2009, 23). Mir geht es weniger darum zu behaupten, dass diese Darstellung akkurat oder vollständig sei. Eher geht es mir um den Kontrast zur paradigmatischen Monokultur der zeitgenössischen Psychologie. Sie scheint mir nach der »Amerikanisierung der Psychologie«, die Sie bereits 1985 attestiert haben, alternativlos auf dasjenige eingeschränkt zu sein, was sich als »Operationalismus« (Herzog 1992) bezeichnen lässt.

Alexandre Métraux: Zunächst zum Kern dessen, was in Ihrem Statement anklingt: die phänomenologische Psychologie. Im Grunde ging es C.F. Graumann und mir damals um die phänomenologische Orientierung in der Psychologie. Eine andere Psychologie zu skizzieren, gleichsam eine selbstständige Abteilung oder Richtung innerhalb des Fachs, hatte ich jedenfalls nicht im Sinn, und wenn mich nicht alles täuscht, war das auch bei Graumann der Fall. So betrifft die von Amedeo Giorgi vorgeschlagene Aufzählung der fünf Paradigmen der holistischen Psychologie etwas anderes; sein Verzeichnis bildet gleichsam ein Analogon zu Edna Heidbreders Liste der sieben Psychologien (Heidbreder 1933).

Welches Programm Graumann verfolgt hat, davon weiß ich nach wie vor recht wenig. Und dass ich nach dem Beginn der Arbeit am Psychologischen Institut in Heidelberg eher mit der phänomenologischen Orientierung in dem Bereich (oder hieß das damals »Abteilung«? – ich erinnere mich nicht) »Sozial- und Theoretische Psychologie« beschäftigt war, verdankt sich, im Rückblick betrachtet, der Verkettung günstiger Umstände, und nicht einem vorab festgelegten, taktisch anpassungsfähigen Karriereplan. Ich hatte vor Abschluss der Promotion einiges von Maurice Merleau-Ponty gelesen, etliches wirklich studiert, Edmund Husserls Schriften waren mir leidlich bekannt, Max Scheler hatte ich gelesen − nebst philosophischen und psychologischen Schriften anderer Autoren, die in einem Studium mit Promotionsabschluss zu lesen waren.

Ich hatte reichlich Glück. Hans Kunz, bei dem ich Psychologielehrveranstaltungen belegt hatte und der mein Interesse für Merleau-Ponty kannte, riet mir, Graumann anzufragen, ob denn Texte dieses französischen Phänomenologen (nennen wir ihn der Einfachheit halber einfach so) für seine Reihe (die Phänomenologisch-psychologischen Forschungen) überhaupt infrage kämen. Ja, doch − so kam es zu einem ersten Gespräch, ein Editionsplan wurde ausgearbeitet, der Verlag wurde unterrichtet, ein Übersetzungsvertrag kam zustande, ich setzte mich an die Arbeit. Noch vor der Promotion fragte mich Graumann dann, ob ich bei ihm in Heidelberg arbeiten wollte. Ich sagte zu und war damit in seine Abteilung als Angehöriger des Mittelbaus und für die phänomenologische Orientierung in der Psychologie zuständig aufgenommen. Statt aber mit Husserl oder einem Vertreter der Münchener Phänomenologie, zum Beispiel Alexander Pfänder, oder sogar mit Merleau-Ponty, eine Lehrveranstaltung zu gestalten, nahm ich mir Lewin vor, so auch den kleinen Aufsatz über Kriegslandschaft (Lewin 1917) − das ist ein sehr beschreibender, oder eigentlich: ein nur beschreibender Text, in dem die Beschreibung dessen, was auf dem Schlachtfeld geschieht, unmittelbar in die Analyse dessen, was geschieht, eingebaut ist.

Und dann fragte mich Graumann eines Tages, ob ich beim Projekt der phänomenologischen Orientierung in der Psychologie mitmachen würde. Und wieder sagte ich zu. Es wurde zuerst die Architektur des Beitrags, dann die Arbeitsteilung festgelegt. Und wieder ging es nicht um Berühmtheiten der Phänomenologie, sondern zuerst um Wilhelm Schapp, ferner um Aron Gurwitsch, natürlich wurde auch Merleau-Ponty nicht übergangen, wenigstens in unseren Planungsgesprächen nicht. Es sollte jedoch für die Psychologie als akademisches Forschungsfach zugänglich sein. Anders gesagt: Es ging um metatheoretische Überlegungen und um Vorschläge, wie man methodisch auch noch, und nicht, wie man methodisch nur so vorgehen könne. Nicht Graumann, nicht mir ist je eingefallen, den Forschenden irgendetwas vorzumachen oder irgendetwas nahezulegen. Es handelte sich um ein Angebot, was übrigens mitunter missverstanden wurde, denn es gab Leute, die meinten, wir würden etwas vorschreiben wollen und Propaganda für eine andere Psychologie treiben.

Ich versuche, an einem Beispiel darzulegen, warum ein Ansatz, eine methodologisch begründete Verfahrensweise in dem damaligen Beitrag in den Vordergrund gerückt wurde.

Adhémar Gelb und Kurt Goldstein haben im Rahmen ihrer Großstudie über neuropsychologische Ausfälle 1924 einen Artikel über Farbennamenamnesie veröffentlicht. Im Mittelpunkt dieser Studie stand ein Patient Th., dessen Störung von den Autoren so charakterisiert wurde − ich lasse beim Zitieren die Zeilenumbrüche der Publikation außer Acht, wird eine Stelle laut zitiert, gibt man ja wohl nicht an, wo ein neuer Abschnitt beginnt −, also: »Eine außerordentlich schwere Störung zeigte sich, wenn der Patient 1. gezeigte Farben benennen und 2. ihm genannte Farben auswählen sollte« (Goldstein 1971, 64). Der Patient konnte dagegen Farbreize (kolorierte Gegenstände) behänd mit Farbmustervorlagen, etwa mit Holmgren’schen Wollsträhnen, vergleichen und chromatisch richtig zuordnen. Die von Alarik Frithiof Holmgren (o.J. [1877]) entworfene, für Pigmentvergleiche geeignete chromatische Skala1 stammt ursprünglich aus der Erforschung der Farbenblindheit und hatte damals mit der Diagnose amnestischer Störungen nichts zu tun, wie dies dagegen bei Gelb und Goldstein der Fall war. Das alles bedeutet, dass Th. keinerlei Störung der Retina oder des tractus opticus aufwies − seine Störung war zerebral, durch einen kriegsbedingten »Eindringling« in Gestalt eines Granatsplitters verursacht, der durch den Schädelknochen ins Gehirn eingedrungen war.

Nun schloss Gurwitsch aus der sowohl klinisch wie auch neuropsychologisch angelegten Studie der beiden Autoren, dass die Farbennamenamnesie des Patienten Th. im Rahmen der phänomenologischen Erkenntnistheorie gut anwendbar sei. Er hatte aus Husserl’schen Quellen die Unterscheidung zwischen eidetischer Gleichheit (oder Gleichwertigkeit) und sinnlicher Gleichheit (oder Gleichwertigkeit) abgeleitet. Damit meinte er Folgendes: Die Vielheit von Bäumen wird in der kognitiven Einstellung, für die der Begriff »Baum« leitend ist, anders definiert als die Vielheit von Bäumen in anschaulicher Einstellung, das heißt im unmittelbaren Wahrnehmen vieler Bäume. Im ersten Fall haben wir es (vereinfacht gesagt) mit einer Idee des Baums zu tun, meinte Gurwitsch, und bei gegebener Idee des Baumes sind universell alle Bäume gemeint: die versteinerten, alle in der Jetztzeit als real bestimmten und alle virtuellen Bäume (also auch Bäume, die in 137 Jahren zwölf Jahre alt sein werden). Gurwitsch meinte dann auch, dass der Patient Th. nicht mehr in der Lage sei, die abstrakte Einstellung einzunehmen, also die Einstellung, die für den kognitiven Umgang mit abstrakten Begriffen, mit Wesenheiten, mit platonischen Ideen entscheidend ist. Der Umstand, dass er Rottöne lediglich als eine Vielfalt ähnlicher Farbtöne, nicht aber als reelle Vertreter der Röte als solcher wahrnehme, sei nachgerade als Beweis für die Richtigkeit der von Husserl getroffenen Unterscheidung anzusehen.

Nur vergaß Gurwitsch eine neuropsychologisch wichtige Sache. Gelb und Goldstein waren sich ziemlich sicher, dass Th. an Farbennamenamnesie litt. Dieser Feststellung fehlte jedoch die letzte (diagnostische) Evidenz, es hätte sich auch um Farbenamnesie handeln können. Dieses klinische Detail hat Gurwitsch gar nicht erwähnt. Und doch ist es wichtig. Denn sowohl bei der Farbennamenamnesie wie auch bei der Farbenamnesie ist die abstrakte Einstellung beschädigt, wobei keine Verhaltensbeobachtung und keine Variation des Farbwahrnehmungstests hier hätte weiterführen können. Weiterführen konnten nur neurologische Untersuchungen. Womit auch gezeigt wäre, dass die (phänomenologische) Beschreibung früher oder später an Grenzen stößt, die sie ohne Hilfe aus anderen Quellen nicht überwindet.

Schon dieses Beispiel belegt, dass die phänomenologische Orientierung in der Psychologie − und das heißt doch auch: dass die beschreibende Vorgehensweise in der Psychologie − schon deshalb keine Schule, kein in sich geschlossenes, autonomes Forschungsprogramm, keinen Zweig des akademischen Faches »Psychologie« bildet, da sie an Grenzen ihrer Machbarkeit stößt und sich mal bald, mal später als ergänzungsbedürftig erweist. Das ist ein Aspekt, den Graumann und ich 1977 hätten deutlich artikulieren müssen. Es wären dann womöglich nicht diverse Missverständnisse geäußert worden, die Graumann in späteren Beiträgen namhaft gemacht hat (Graumann 1988, 2002). Auch Giorgi hat sich ausführlich mit den Missverständnissen befasst und sie im Einzelnen beschrieben. In einem Wort: Das vorhin erwähnte Beispiel macht deutlich, dass es nicht um eine neue, eine andere, den Mainstream abweisende Psychologie ging, sondern um einen epistemologisch begründeten Vorschlag zur Ergänzung der ansonsten verwendeten Methoden.

Alexander Nicolai Wendt: Ich möchte einen Gedanken an Ihre Feststellung der Ergänzungsmöglichkeit oder sogar -bedürftigkeit anschließen: Das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie ist nichts weniger als einfach. Auf der einen Seite sind sie geistesgeschichtlich ineinander verwachsen. Das zeigt sich bereits daran, dass es Schnittmengen der Gründungsfiguren gegeben hat. So lehrte Franz Brentano, der den phänomenologischen Schlüsselbegriff der Intentionalität für das 19. Jahrhundert wiederentdeckt hat, in Wien Psychologie. Sein Schüler Carl Stumpf, eine Schlüsselfigur der Phänomenologie, schuf in Berlin die Voraussetzungen für die Gestaltpsychologie. Doch auf der anderen Seite stehen die dezidierten Abgrenzungsbemühungen. So ist Psychologie in der phänomenologischen Transzendentalphilosophie lediglich Propädeutik einer eidetischen Wesensanalyse, weswegen in ihr die Anerkennung wissenschaftlich eigenständiger Experimentalforschung schwerfällt.

In dem, was Waldenfels die »Heterodoxie« (Waldenfels 1987, 47) innerhalb der französischen und damit auch der gesamten Phänomenologie nennt, sind auch verschiedene Formen des psychologisch-phänomenologischen Bezugs angelegt: »Ist für die Freiburger-Perspektive des späten Husserl die Psychologie blosses Durchgangsstadium zur transzendentalen Phänomenologie, so für die Münchener-Perspektive Pfänders und seiner Schüler die Phänomenologie nur eine Methode der Psychologie« (Herzog 1992, 272). Die Schlüsselfrage, die sich im Anschluss stellt, scheint mir, welche Spielart der Phänomenologie für die psychologische Forschung am fruchtbarsten ist. Die Denkart, die dem bereits erwähnten Hans Kunz nahegelegen zu haben scheint, ist wohl die sogenannte Gegenstandsphänomenologie, die charakteristisch mit Alexander Pfänder in Verbindung steht, dessen Arbeit auf eine »verstehende Psychologie« hinausläuft.

Die Antwort, die mir naheliegt, ist, dass die Stärke der Phänomenologie in ihrem Pluralismus besteht und sie durch ihn für die psychologische Theoriebildung attraktiv wird. Damit will ich sagen, dass ich es als Schwäche der Theorie in der zeitgenössischen Psychologie erachte, auf Vereinheitlichung der Erklärungsmuster hinauszulaufen. Dagegen könnte phänomenologische Psychologie ein Antidot sein. Mit einem Bild von Herbert Spiegelberg lässt sich der Beitrag der Phänomenologie als Rasierpinsel demjenigen von Ockhams Rasiermesser gegenüberstellen (Spiegelberg 1971, 657).

Was ich mit diesen Ausführungen sagen will, ist, dass die Ergänzung keine Last der Vermittlung sein muss, sondern auf beiden Seiten das Motiv der komplizierten Beziehung zwischen Phänomenologie und Psychologie sein könnte. Sowohl kann die phänomenologische Orientierung durch die weiteren Denkformen im psychologischen Diskurs ergänzt werden als auch andersherum. Aber das wird am besten an der Geschichte ihres Verhältnisses deutlich. Könnten Sie Ihre Ideen über das Ergänzungsverhältnis an einem weiteren Beispiel vertiefen und einige für Sie nach wie vor gültige Schlüsse daraus ziehen?

Alexandre Métraux: Gerne. Zuvor antworte ich auf Ihre soeben entwickelten Gedanken, ohne Tiefgang in die Geistesgeschichte seit Franz Brentano. Ich hatte keinerlei Ahnung, und habe keine Ahnung, welche Spielart der Phänomenologie die psychologische Forschung befruchten könnte. Die vorhin gestellte Frage beruht auf der Idee, dass die Phänomenologie (Husserls oder Pfänders oder Merleau-Pontys oder einer anderen schöpferisch-denkenden Person) die psychologische Forschung bereichern könne, wenn sie denn wirklich auf die Psychologie angewandt würde. Wäre die psychologische Forschung ein wirklich einheitliches Unterfangen, wären die Fragestellungen der Psychologie tatsächlich miteinander so zu verknüpfen, dass sie Einheitlichkeit der Problemstellungen und Einheitlichkeit der Zielsetzungen verrieten, wäre die Anwendungsidee abstrakt noch nachvollziehbar. Bei einem derart heterogenen Fach wie der Psychologie kann ich dem Anwendungsgedanken nur wenig abgewinnen. Vielmehr ist es angebracht, aus der Problemlage eines Forschungsprojekts heraus selbst nach Wegen und Mitteln zu suchen, die zur Problemlösung beizutragen vermögen. Diese Mittel können aus der Logik, der Methodologie, der Statistik, der Beschaffung von Instrumenten und Apparaturen usw. stammen, warum nicht auch aus blendenden Gedanken, die einer phänomenologischen Abhandlung, einem Abschnitt aus einer Arbeit Hilary Putnams oder einem Text Sigmund Freuds entnommen sind (sofern man nicht von Anfang an lieber Scheuklappen aufsetzt und im gewohnten Trott weitermacht). Um an dem von Ihnen erwähnten Bild Spiegelbergs anzuknüpfen: Rasierschaum überdeckt viel, wo es darauf ankäme, präzise zu sehen, was der Fall ist, um dann fallgerecht zu agieren, und dies unabhängig von der Denkrichtung und der Tradition, an der man sich orientiert.

Nun zu dem Beispiel, um das ich gebeten bin. In dem Beitrag von 1977 erwähnten Graumann und ich das Phänomen des Phantomglieds. Wenn man sich mit den unzähligen Fällen von Phantomgliedern auch nur ein wenig vertraut macht, eröffnet sich einem ein Forschungsbereich, der schon unter dem psychologischen Gesichtspunkt einige nicht unerhebliche Fragen aufwirft. Ich lasse den neuropathologischen Aspekt der Phantomglieder vollständig außer Acht und nehme nur den deskriptiven Aspekt der Phantomgliederphänomene in den Blick, und zwar so, wie sich diese Phänomene den klinisch untersuchten und medizinisch behandelten Personen sowie dem ärztlichen Personal darbieten. Das heißt: Die neurologischen und neuropathologischen Erklärungsversuche spielen in unserem Gespräch keine Rolle, es geht um Gelebtes und Beobachtetes.

Was liegt bei Phantomgliedern vor? Im Text von 1977 wiesen Graumann und ich auf ein Paradox der Phantomgliederfahrung hin. Nach Amputationen bildet sich unter Umständen ein phantomartiger Ersatz des amputierten Körperteils. Der nicht mehr anwesende Körperteil schmerzt oder kribbelt, wird (erlebnismäßig) in Bewegung versetzt. Man hat auch festgestellt, dass Personen mit einem Phantombein aufstehen und sich weg vom Bett bewegen wollen, dann aber stürzen. Paul Schilder berichtet sogar von Fällen, bei denen Körperteilphantome auch ohne vorherige Amputation entstanden sind (Schilder 1923, 66; ein Fall aus jüngerer Zeit Canavero et al. 1999).

Es existiert ein Gegenphänomen − die Nichtwahrnehmung der Amputation. Das führt bei Personen, denen ein Bein amputiert wurde, wiederum zum Sturz. Sie fallen hin, weil sie kein Fehlen des Beins mehr erleben.

Ich lasse, wie angedeutet, die Erklärungsversuche für diese Phänomene außer Acht. Es geht mir hier nur um die Erlebensweise. Fragt man Menschen mit Phantomgliedwahrnehmung, wie sich das Phantom anfühlt, berichten sie beispielsweise, dass der gespürte Unterarm direkt mit der Schulter verbunden ist. Oder sie berichten von einem gestreckten oder geknickten Finger. Im Fall der Anosognosie meinen sie, der Körper sei unversehrt. Entscheidend ist nun für unser Gespräch: Ohne die von den Betroffenen mitgeteilten Erlebnisse wüssten wir nichts von Phantomgliedern, wüssten wir nicht, wie sich solche Körpergespensterteile anfühlen, wüssten wir nicht, ob diese Phantome einfach lahm sind oder als bewegte empfunden werden. Und in jeder Einzelbeobachtung ist die amputierte Person selbst das Messinstrument. Wird mitgeteilt, der Phantomarm sei kleiner als der Arm vor der Amputation, dann ist damit eine Messung vollzogen worden, gleichviel, ob wir die Messung als grob, als subjektiv, als kaum verwertbar, ja sogar als Täuschung beurteilen. Und meint jemand, das Bein sei noch da, obwohl es weg ist, ist auch das eine Messung, auf einem niedrigen Skalenniveau, aber auf einem psychologisch unverzichtbaren Niveau.

Als Wahrnehmungen − man kann dazu auch »Sinneserfahrungen« sagen − in der Psychologie als Forschungsobjekte anerkannt wurden, ging es nicht nur um die klassischen fünf Sinne, sondern auch um Interozeption und Propriozeption. Man kann das auch so formulieren: Wer Gustav Theodor Fechners Psychophysik als eine der Hauptsäulen der modernen Psychologie auffasst, kommt nicht darum herum, Körperempfindungen (Schmerzen, Lageempfindungen, Juckempfindungen usw.) anzuerkennen, auch wenn der Autor der Elemente der Psychophysik im zweiten Band seines Werkes (Fechner 1860, 377ff.) nur allgemeine Prinzipien der inneren Psychophysik skizziert hat. Und wie in der äußeren Psychophysik ist und bleibt die Versuchsperson Teil der Messprozeduren insgesamt, denn ohne ihre Angaben lässt sich gar nicht feststellen, ob beispielsweise eine Lichtquelle im Vergleich zu einer anderen Lichtquelle als gleich hell, weniger hell oder heller gesehen wird, wobei wir jetzt das Verbum »sehen« nicht anders aufzufassen brauchen als im Alltagsleben. Oder: Ohne die Beteiligung der Versuchsperson als Teil der Messprozeduren lässt sich eben nicht eruieren, ob ein Körper von 500 Gramm im Vergleich zu einem Körper von 1.000 Gramm als doppelt so schwer beurteilt wird oder nur ungefähr als doppelt so schwer oder als um ein Drittel schwerer.

Alexander Nicolai Wendt: Und welcher Schluss lässt sich daraus ziehen oder welcher vorläufige Schluss?

Alexandre Métraux: Man könnte sich in Anbetracht der Tatsache, dass Versuchspersonen Teil der Messprozeduren sind, mit der Frage der Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses befassen, sozusagen nebenbei, als Herausforderung an das Nachdenken, oder an die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Psychologie, und nicht nur der phänomenologischen Orientierung in der Psychologie.

Denn zuallererst waren Lichteindrücke, Gewichtseindrücke, Härteeindrücke, Farbeindrücke, Entfernungseindrücke gegeben, bevor man Metriken, Maßstäbe, Skalen entwickelte. Wie lange hat es denn gedauert, bis ein Gelehrter auf den Gedanken kam, Lichtempfindungen nicht als Kontinuum aufzufassen, sondern als Einzelreizungen der Retina, die eine gewisse Dauer aufweisen, also auch einander überlappen, wenn Lichtstrahlen in rascher Folge auf die Netzhaut treffen? Es dauerte, bis der im Alter von nicht einmal 25 Jahren in die Akademie der Wissenschaften zu Paris als Mitglied aufgenommene Patrice d’Arcy (1768) die Frage aufwarf, warum er an einem Rad, an das mehrere Lichtquellen angebracht waren, bei Stillstand des Rades abzählend genauso viele Lichtquellen sah, wie an dem Rad angebracht waren, bei Drehung des Rades ab einer bestimmten Drehzahl jedoch einen leuchtenden Ring. Das Rad hatte sich ja physisch nicht verändert, die brennenden Fackeln (das waren die Lichtquellen) hatten sich gegenseitig nicht verbrennen können (was ja mühelos festzustellen war, nachdem das Rad wieder in seine anfängliche Ruhelage gebracht worden war). Hätte sich d’Arcy diesen Fragen nicht gestellt, hätte er die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Rades nicht miteinander verglichen, also auch beurteilt und in mitteilbarer Form sich gemerkt, hätte er die Dauer von Lichteindrücken auch gar nicht messen können, oder messen wollen. Wie man solche Feuer- oder Lichtringe produzierte, das war den Bühnentechnikern des 16., des 17. und auch des 18. Jahrhunderts bekannt. Das heißt, die Bühnentechniker, gewiefte Handwerker mit umfassenden pyrotechnischen Kenntnissen, wussten, dass es sich bei der Wahrnehmung von Lichtringen nicht um optische Täuschungen einzelner Personen handelte, sie unterhielten sich ja über das Phänomen, sie gaben Wissensbestände weiter, es gab sogar Handbücher für Pyrotechnik (Feuerwerke, leuchtende Bühneneffekte und so weiter), es ging also um ein intersubjektiv bestätigtes Phänomen, für das es keine Erklärung gab − oder von einer solchen ist mir nichts bekannt, jedenfalls habe ich in den Primärquellen keine Erklärung für die von der Retina verursachte Überlappung rasch aufeinander folgender Lichtreizungen gefunden.

Wie bei diesem Fall ging es, und geht es nach wie vor, in der psychologischen Forschung zu. Getestet oder gemessen wird nicht die durchschnittliche Schrittgeschwindigkeit von Versuchspersonen, bei denen es keine Rolle spielt, was sie sehen und wie sie sich fühlen, sofern man keine unabhängige Variable nebst der reinen Lokomotionsaufgabe mituntersucht. In der Psychologie wird ja auch nicht getestet und gemessen, wie lange eine bestimmte Menge markierter Flüssigkeit bei 1.000 zufällig ausgesuchten Probandenpersonen im Körper bleibt, bis die Flüssigkeit erstmals im ausgeschiedenen Urin feststellbar ist. Vielmehr werden Gefühle und Urteile und Wahrnehmungen und ich weiß nicht was alles untersucht, Phänomene also, deren Existenz oder Erlebensdimensionen von Versuchspersonen irgendwie signalisiert oder mittelbar kundgetan werden müssen (durch Drücken eines Hebels oder eines Gummiballens oder sonst einer geeigneten Vorrichtung, selbst wenn diese Vorrichtung das Mundwerk ist). In jedem Einzelfall ist die Versuchsperson dann Teil der ganzen Mess- oder Testprozedur.

Folglich kann man nicht nur bei Phantomgliedern und der Dauer optischer Empfindungen, sondern auch bei Emotionen, Erinnerungen, Absichten und so fort auf den Umstand hinweisen, dass es zuerst, originär, einer Kundgabe durch Personen bedarf, und zwar vor der Bestimmung der unabhängigen Variablen, auf die man es forschungshalber abgesehen hat.

Dass gerade die originäre Vorgegebenheit von Gefühlen, Absichten, Erinnerungen, Beurteilungen, Empfindungen, Wahrnehmungen stillschweigend hingenommen, weil unterstellt wird, ist kaum überraschend. Sie ist längst in das Repertoire allgemeiner Voraussetzungen der Psychologie eingegangen. Seitdem die Dauer optischer Netzhautreizungen durch einfallende Lichtstrahlen als Forschungsgegenstand bestimmt wurde, braucht man die zuvor gemachten Erfahrungen der als Kontinuum wahrgenommenen getrennten Lichtquellen ab einer bestimmten Frequenz der Reizungen nicht mehr zu thematisieren. Wenn jedoch die Forschung es mit neuen Fragestellungen zu tun hat, oder wenn sie frühere Fragestellungen revidiert und umformuliert, dann scheint mir das Innehalten und die Reflexion auf die Rolle der Erfahrungen der Versuchspersonen (aber auch der Versuchsleiterinnen und -leiter) unumgänglich zu sein.

Alexander Nicolai Wendt: Dass die Erfahrung der Versuchspersonen als Erfahrung und nicht nur als vermeintlich naturkausales Geschehnis ernst genommen wird, scheint mir Kernbotschaft der Phänomenologie an die Psychologie zu sein. Doch diese Botschaft zu vermitteln ist keine triviale Aufgabe.

Eine der letzten größeren Veröffentlichungen zur phänomenologischen Psychologie ist mittlerweile 30 Jahre alt. Ich spreche von dem bei Asanger herausgegebenen Band Sinn und Erfahrung, den Herzog und Graumann (1991) zusammengestellt haben. In seinem Aufsatz über das »problematische Verhältnis« zwischen Phänomenologie und Psychologie schreibt Graumann über die damalige Lage in der Wissenschaft, die sich bis heute in gewisser Hinsicht noch nicht wesentlich verändert hat:

»Inzwischen hat sich die Psychologie nach ihrem eigenen Verständnis erneut gewandelt, vom ›behavioralen‹ zum ›kognitiven‹ Paradigma, und bietet vor allem mit der Konzeption mentaler Prozesse als Informationsverarbeitungsvorgänge der Diskussion mit der nach wie vor am Bewußtsein interessierten Phänomenologie neue Themen und neue Angriffsflächen« (Graumann 1991, 26).

Das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Kognitivismus scheint mir die psychologiehistorische Gretchenfrage für das Schicksal der phänomenologischen Psychologie zu sein – und auch für den Erfolg der oben genannten Botschaft. Die Kritik der Phänomenologinnen und Phänomenologen erster und zweiter Generation, sei es Husserl oder Merleau-Ponty, hat sich logischerweise auf die damals verfügbaren Ansätze psychologischer Forschung beschränkt. Die kognitive Wende fällt hingegen in einen Zeitraum, in dem sich der psychologische Diskurs bereits – insbesondere methodologisch – vom philosophischen entfernt hatte. Mein rekonstruktives Verständnis dieser Lage ist, dass die Phänomenologie in ungeklärtem Verhältnis zum Kognitivismus stand. Ein Zeugnis dieser Ambivalenz gibt der Bericht des psychologisch interessierten spanischen Phänomenologen Javier San Martin (1995). Er spricht von seinen Hoffnungen, die er auf die Befreiung vom Behaviorismus durch den Kognitivismus vereint hatte, um bei genauerer Betrachtung entsprechende Ansätze wegen ihrer konstruktivistischen Tendenzen ablehnen zu müssen (vgl. Mercado Vásquez und Wendt 2021).

Der bahnbrechende Erfolg der kognitiven Wende ist das entscheidende psychologiehistorische Ereignis gewesen, das eine Konsolidierung der phänomenologischen Forschung in der Psychologie – also insbesondere die von Ihnen erwähnte Berücksichtigung der Versuchspersonenerfahrung – verhindert hat. Man denke an die prophetische Gewissheit, mit der Allen Newell und Herbert Simon (1972) die Simulierbarkeit des menschlichen Verhaltens behauptet haben. Die Fortschrittsprognose der kybernetischen Ideen ist als attraktive Alternative zur verhältnismäßig schwerfälligen – weil gewissenhaften und gründlichen – phänomenologischen Analyse verfügbar gewesen. Dass sich die Durchschlagskraft des Informationskonzeptes letztlich als geringer herausgestellt hat, ist eine Lektion, die in den Jahren, in denen die Weichen gestellt worden sind, also in den 1960er und 1970er Jahren, nicht geahnt werden konnte.

Wenn wir auf den schwachen Stand der Phänomenologie in der Psychologie der Gegenwart blicken, scheint mir dieser Rückblick zur Erklärung unerlässlich: Es ist der phänomenologischen Psychologie weder gelungen, sich für die Öffentlichkeit der Disziplin klar genug vom Kognitivismus abzugrenzen, noch konnte sie ihm ein vergleichbar aussichtsreiches Gegenangebot an die Psychologinnen und Psychologen entgegensetzen. Weil die kognitivistische Verheißung bisher allerdings weitgehend ausgeblieben ist und Erscheinungen wie die Replikationskrise vielmehr auf eine Krise hindeuten, könnten sich die Voraussetzungen für die Phänomenologie in der Zwischenzeit geändert haben – aber das ist nur mein persönlicher Hoffnungsschimmer.

Alexandre Métraux: Welche Perspektiven sehen Sie, die diese Hoffnung rechtfertigen?

Alexander Nicolai Wendt: In der jüngeren Auseinandersetzung der philosophischen Phänomenologie mit den sogenannten Kognitionswissenschaften finden wir den Versuch, neue Wege für die gegenseitige Beeinflussung zu eröffnen. Ob dieser Versuch gelingt oder vielmehr alte Wege neu entdeckt werden, ist eine strittige Frage. Gallagher (2003) unterscheidet drei Formen, einen phänomenologischen Beitrag zur Psychologie zu leisten. An erster Stelle nennt er die sogenannte Neurophänomenologie. Dabei handelt es sich, um es grob zusammenzufassen, um eine durch den Chilenen Francisco Varela angeregte qualitative Forschungsmethode, in der Probandinnen und Probanden in der Selbstbeschreibung geschult werden. Sie werden daraufhin wiederholt durch die Beschreibung eines ihrer Erlebnisse begleitet, wobei kontinuierlich detaillierte Selbstanalysen angestrebt werden. Diese immer wieder mit der Arbeit der Würzburger Denkpsychologie verglichene Forschungsart ist eng mit der sogenannten Naturalisierung der Phänomenologie (naturalizing phenomenology) verbunden.

Gallagher (2003) spricht zweitens von indirekter Phänomenologie (indirect phenomenology), die Ergebnisse der Psychologie inhaltlich auswertet. Das bedeutet, dass sie keinen direkten Einfluss auf den Forschungsprozess nimmt, sondern alternative Interpretationsangebote erzeugt. Es muss kaum ergänzt werden, dass diese Form der Beziehung peripher bleibt. Dementsprechend verhält sich auch Gallagher skeptisch zu ihr.

Die dritte Option ist, was Gallagher front loading nennt. Damit ist gewissermaßen das Gegenteil zur indirekten Phänomenologie gemeint. Nicht sollen Ergebnisse interpretiert, sondern Theorien generiert werden. Gleichsam wird die Phänomenologie der empirischen Forschung vorangestellt, um sie zu komplementieren. Eine echte Verzahnung findet allerdings nichts statt, was mir der kritische Punkt zu sein scheint: Die Experimentalmethodologie bleibt einzige Aufgabe der Phänomenologie.

An meinen letzten Worten lässt sich schon erkennen, dass ich dieser Aufteilung skeptisch gegenüberstehe. Ich denke, dass Phänomenologie mehr beitragen kann als theoretische Vorarbeit. Wer den psychologischen Diskurs der Gegenwart kennt, weiß, dass dieser der Theoriebildung, insbesondere aber der Begriffsbestimmung weniger Bedeutung zukommen lässt, als es aus der Warte der Philosophie für Gallagher scheinen mag (vgl. Fiedler 2018). Deswegen denke ich, dass es zur Weiterentwicklung phänomenologischen Denkens in der Psychologie auch der konstruktiven Gestaltung der Methodologie bedarf.

Die notwendige Voraussetzung ist es allerdings, zuvor eine gemeinsame Sprache von Philosophie und Psychologie zu finden. Gallaghers Bemühungen um das front loading scheinen mir also nicht nur wegen der mangelnden Bezugnahme auf Methodologie unzureichend, sondern auch, weil die Disparitäten zwischen den Diskursen unterschätzt werden. In der Regel warten Psychologinnen und Psychologen nicht darauf, von vermeintlich überkomplexen philosophischen Theorien korrigiert zu werden. Daher denke ich, dass ein erster Schritt zur Fortsetzung des Projektes einer phänomenologischen Psychologie darin bestehen muss, die Argumentationsweise auf den Stand der empirischen Kognitionswissenschaften auszurichten, ohne dabei die Erkenntnispotenziale der Phänomenologie zu verwässern.

Alexandre Métraux: An Ihren Ausführungen fällt mir auf, dass Sie einerseits von der philosophischen Phänomenologie oder rundweg von der Philosophie sprechen, und andererseits vom Stand der empirischen Kognitionswissenschaft − vom jeweils gegebenen Stand dieser Fachrichtung. Nach meinem Verständnis umfasst die Psychologie etliches mehr als die Kognitionswissenschaft. Die uns beschäftigende Frage − die Funktion der Phänomenologie insgesamt oder einer Richtung dieses manchmal schwer durchschaubaren Geflechts von Theoremen − müsste konsequenterweise auch auf die übrigen Subdisziplinen und Subsubfächer der Psychologie gemünzt werden. Nehmen wir dennoch nur die empirische Kognitionswissenschaft in den Blick.

Ich habe verschiedene Artikel aus dem Bereich der empirischen Kognitionswissenschaft daraufhin untersucht, was von den Erfahrungen der Versuchspersonen selbst mitgeteilt ist. In etwa der Hälfte der Artikel war Shaun Gallagher, in den übrigen Marc Jeannerod als Autor oder Mitautor genannt. Ausgegangen bin ich von zwei Beiträgen Gallaghers, in denen er sich für eine innovative Phänomenologie stark gemacht hat. Gallagher (Gallagher 2003; Gallagher und Sørensen 2006) erwähnte in diesen Artikeln einige für ihn positive Beispiele der, wie man sagen könnte, phänomenologisch reformierten Kognitionswissenschaft (in Gestalt der Neuropsychologie). An diesen als paradigmatisch erklärten Beiträgen war Jeannerod als Autor beteiligt. Ich habe mich somit eng an den Rahmen gehalten, in dem sich Gallagher mit seinen Ausführungen zu Jeannerods Untersuchungen bewegt hat.

Im Kontext des front loading, auf das Sie zuvor als die dritte Möglichkeit der Reform der Kognitionsforschung hingewiesen haben, stellte sich Gallagher der Frage, wie die aus Selbsterfahrung und Beschreibung erhaltenen Daten im Hinblick auf die Formulierung eines Forschungsproblems zu verwenden seien. Sollen die Äußerungen von Personen, die auf ihre Erlebnisse reflektieren, unverändert übernommen und verwertet werden? Sollen die Personen, deren Äußerungen verwertet werden, geschult werden, damit sie wirklich das mitteilen, was sie erlebt haben? Wie geht man mit alltagspsychologischen Deutungen um, die sozusagen hinterrücks in die Äußerungen der Personen eingehen, die über ihre inneren Zustände berichten? Doch diese Frage, auf welche die methodologischen Überlegungen hinauslaufen, bleibt unbeantwortet (Gallagher und Sørensen 2006, 131), wodurch der Eindruck entsteht, es werde fleißig gedroschen, nur weiß man nicht, was.

Ich vermisse bei Gallagher gerade dort, wo es um die Beschreibung von Bewusstseinsinhalten, also (untechnisch gesprochen) um die Beschreibung von Dingen geht, die einem im Kopf stecken oder plötzlich auffallen, auch nur ein einziges Beispiel einer derartigen Bewusstseinsbestandsaufnahme; ich vermisse Hinweise auf die Vorgehensweise bei der Schulung von Personen, die zu beschreiben dann die Aufgabe haben, was ihnen gerade durch den Kopf geht; ich vermisse Hinweise darauf, ob die Berichte von mehreren Personen gedeutet werden oder nur von einer Person, sagen wir: vom Versuchsleiter. Und was das Erleben von Versuchspersonen während eines von Jeannerod und Mitarbeitenden durchgeführten Experiments angeht, so reduziert es sich auf das Ausfüllen eines Fragebogens, also auf das Ankreuzen vorgegebener Antworten. Das ist im Grunde das Gegenteil dessen, was Gallagher fordert. So teile ich auch Ihre Bedenken, sofern sie Gallagher betreffen.

Indes, auch Ihr Ansatz scheint mir ergänzungsbedürftig. Sie beklagen, wenn ich Sie richtig verstehe, den Umstand, dass die heutigen Zustände in der Psychologie nicht mehr so sind wie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als das Fach für die Philosophie noch ein offenes Ohr hatte. Belehrungen aus der Ecke der Philosophie sind nutzlos − das ist Ihre Diagnose, die sich in Anbetracht der Sympathiestufe 0 der Psychologie für das andere Fach stellen lässt. Eine Änderung der Argumentationsweise könnte etwas Positives bewirken. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass ein von der Psychologie getrennter Diskurs existiert, in dem Themen der Phänomenologie (als einer philosophischen oder quasi-philosophischen Richtung) verhandelt werden − ein Diskurs, der dann an den Diskurs der akademischen Psychologie angeschlossen wird. Wäre dem nicht, bräuchte doch die Frage nicht gestellt zu werden, ob die Argumentationsweise (ich nehme erneut an: der Phänomenologie) auf den Stand der empirischen Kognitionswissenschaft gehoben werden möchte.

Will man irgendetwas in der Psychologie bewirken, sind Fachkenntnisse allemal erforderlich. Und da aus der Psychologie heraus nach Korrekturen gesucht wird, weil das Fach enttäuscht oder ein X für ein U vormacht oder was auch immer, hält man sich innerhalb des psychologischen Diskurses auf. Dann ist es unerheblich, was Leute, die nicht in der Psychologie arbeiten, über das Verhältnis des Subjekts zu den Bewusstseinsobjekten so alles gemeint haben. Natürlich kann man außerhalb der Psychologie nach klugen Anregungen Ausschau halten. Und hat man solche Anregungen gefunden, dann integriert man sie in Forschungsprojekte, schaut, ob sie etwas taugen oder nicht; wenn sie nichts taugen, sucht man nach anderen Anregungen − oder man findet Anregungen im eigenen Kopf. Ist es dann noch wichtig, ob in Übereinstimmung mit einem Philosophem Husserls oder mit dem irgendeines abtrünnigen Phänomenologen operiert wird? Und ist denn der Name, das Etikett, das einem Vorschlag, einem Einfall, der Übernahme eines Gedankens, eines Arguments, einer Methode auferlegt wird, entscheidend? Ich habe mit (und von meinem Freund) Anselm Strauss gelernt, dass es bei teilnehmender Beobachtung in einem Krankenhaus ratsam ist, die Ergebnisse der Beobachtung durch mehrere forschende Personen deuten zu lassen, um nach etlichen Durchgängen der deutenden Bearbeitung zu Kernkategorien zu gelangen, die der Theoriebildung zugrunde liegen. Aber diese Prozedur ist nicht generalisierbar, wenn es beispielsweise um Körperempfindungen nach schwerwiegenden Herzproblemen geht. Und wenn es um solche Körperempfindungen geht, ist der Gang durch die Schule guten Beobachtens vollends absurd.

Alexander Nicolai Wendt: Ich erkenne in Ihrer Argumentationsweise eine phänomenologische Intuition. Während ich mich darauf eingelassen habe, metapsychologisch über wissenschaftstheoretische Verhältnisse zwischen Forschungsarten nachzudenken, besinnen Sie sich auf die Sachen – und die Sache der Psychologie entscheidet in letzter Instanz über die Frage, die uns hier beschäftigt. Das bedeutet für mich, dass der Beitrag der Phänomenologie sich daran bemisst, ob das Verständnis des psychologischen Phänomenbereichs vertieft oder präzisiert wird. Dafür können philosophische Theoriegebäude keine Gewähr geben. Der Besinnung auf die Sachen selbst kann ich folglich nur beipflichten.

Konkret möchte ich daraus schlussfolgern, dass phänomenologische Psychologie eben Psychologie sein muss. Es reicht nicht aus, philosophische Reflexionen über die Psyche anzustellen. Zugleich muss allerdings gefragt werden, was es denn überhaupt bedeutet, dass diese Disziplin »Psychologie« heißt. Sie sprachen von einem »Geflecht von Theoremen«. Jetzt müssen wir mit Blick auf die alte Frage nach der »Einheit der Psychologie« allerdings fragen, ob es sich um ein zusammengehöriges Geflecht handelt oder um Wildwuchs unterschiedlicher Forschungstraditionen.

Ich will daher eine Idee von Dieter Münch in Erinnerung bringen, die er 2002 im Journal für Psychologie zum Thema der Einheit der Psychologie veröffentlicht hat. Ähnlich wie schon Vygotskij vor ihm schlug Münch in seinem Aufsatz eine »konkrete Psychologie« vor. Dazu nur zwei kleine Textfragmente: »Die konkrete Psychologie orientiert sich an den Anforderungen des Alltags. Dort interessiert das Verhalten von Menschen, ihre Emotionen, Ansichten und Probleme, die erklärt und verstanden sein wollen« (Münch 2002, 56). Dann:

»In einem ersten Zugriff läßt sich sagen, daß das Ziel der konkreten Psychologie darin besteht, daß ein Mensch ein Verhalten, ein Problem, eine Emotion usw. in sein natürliches kognitives Klassifikationssystem bringt. Falls es dort nicht untergebracht werden kann, muß ein neues Kategoriensystem aufgebaut werden« (ebd., 57).

Münchs Vorstoß ist leider Entwurf geblieben, weswegen ich seine Methodologie hier nicht weiter vorstellen kann. Doch es geht mir um etwas anderes. Münch spricht nämlich davon, dass die konkrete Psychologie die Einheit der Disziplin durch eine anthropologische Fundierung gewährleisten kann. Diese Fundierung ordnet er nun aber in den phänomenologischen Diskurs ein. Sie sehen, worauf ich hinauswill. Phänomenologie muss meines Erachtens nicht anstreben, eine Subdisziplin zu sein, sondern einen konstruktiven Beitrag zur theoretischen Psychologie zu leisten. Sie kann dabei helfen, den Überblick zu behalten. Mit ihrer Hilfe begreifen wir, welche Flechten da verflochten sind. Dass das nicht ohne Fachkenntnis gelingen kann, sehe ich genauso wie Sie.

Vielleicht betone ich wissenschaftstheoretische Konflikte zwischen vermeintlich einheitlicher »Kognitionspsychologie« und alternativer Forschung mehr, als Sie es tun würden. Doch darüber lässt sich streiten – und das ist gut! Denn die Phänomenologie ist pluralistisch und der »phänomenologische Streit« (Scheler 1986, 391ff.) ist eine epistemische Stärke, keine Schwäche.

Alexandre Métraux: Selbstredend gibt es außer der phänomenologischen Orientierung, um die Formulierung aus dem Artikel von 1977 erneut zu verwenden, einige Ansätze, die das übliche Prozedere der akademischen Psychologie unbesehen hinzunehmen nicht bereit sind. So zum Beispiel die Psychologik Jan Smedslunds (1997, ix und passim). Dieser erfahrene Psychologe − ich bin es seit Langem nicht mehr, was in Erinnerung gerufen werden muss − hat etliche Theorien daraufhin untersucht, inwiefern sie alltägliches Erfahrungswissen nicht etwa auf dessen Wurzeln oder Entstehungsbedingung zurückführen, sondern experimentell nur nachentdecken, doch dabei so tun, als handele es sich um wirklich neue Erkenntnisse in Gestalt methodisch abgesicherter Forschungsergebnisse.

Smedslunds Ausgangspunkt ist denkbar einfach. Es wird in den Wissenschaften gemeinhin unterschieden zwischen zufälligen, empirisch bedingten, synthetischen Aussagen einerseits und notwendigen, analytischen, apriorischen Aussagen andererseits. Wird beispielsweise ausgesagt, dass krankhafte Zustände pathologisch sind, handelt es sich um eine Aussage des zweiten Typs: Man braucht kein Medizinstudium hinter sich zu haben, um solche Aussagen zu treffen, denn sie spiegeln allgemein verfügbare, bereits bestehende Wissensbestände wider. Nicht anders verhält es sich bei der Aussage, in Armut lebende Menschen besäßen meistens kein Bankkonto oder bestenfalls eins, mit dem sie aufgrund des niedrigen Stands nicht viel auszurichten vermöchten. Man braucht wiederum kein Studium in Volkswirtschaft hinter sich zu haben, um die Aussage zu treffen. Somit wäre es unnütz, eine Untersuchung über den Besitz von Bankeinlagen in Armut lebender Menschen zu initiieren. Bei zufälligen, empirisch bedingten, synthetischen Aussagen dagegen handelt es sich um solche, die zwischen zwei voneinander unabhängigen Variablen eine nicht bekannte Kausalbeziehung bilden. Da die Kausalbeziehung unbekannt ist, lässt sie sich auch nicht aus allgemein verfügbaren Wissensbeständen ableiten. Fragt man dagegen − um das Beispiel der in Armut lebenden Menschen zu ergänzen −, wie häufig armutsbedingte Austritte aus Kirchgemeinschaften in einem europäischen Land oder in einer bestimmten Gegend innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu verzeichnen sind, ergibt sich die Antwort auf diese Frage erst durch eine entsprechende Analyse, die den Zusammenhang zwischen den beiden Variablen aufklärt.

Die von Smedslund getroffene elementare Unterscheidung ist weder etwas Neues noch erheischt ihre Einsicht anhaltende Anstrengungen. Sie scheint aber unter ausgebildeten, in der psychologischen Forschung tätigen Personen nicht immer beherzigt zu werden. Das ist übrigens auch der Grund, warum Smedslund vor sinnlosen Forschungsvorhaben warnt:

»Erstens müssen wir die Verschwendung von Zeit, Mühe und Geld vermeiden, die in die pseudo-empirische Forschung fließt, das heißt, Versuche, empirisch zu testen, was sich nach begrifflicher Klärung als nicht-empirische Beziehungen herausstellt. […] Zweitens muss die konzeptionelle Analyse ein fester Bestandteil jeder Wissenschaft sein. Die Phänomene, die wir untersuchen, erscheinen uns durch unsere konzeptuelle Brille gesehen, und der wissenschaftliche Fortschritt besteht nicht nur aus der Masse empirischer Daten, sondern auch in der Verbesserung des konzeptuellen Apparats zur Organisation und Interpretation von Daten« (Smedslund 1992, 438; Übers. A.M.; Herv. im Orig.).

Nehmen wir als Beispiel eine unlängst veröffentlichte sozialpsychologische Untersuchung, auf die ich zufällig gestoßen bin. Die Leitthese (oder Hypothese) lautet (ich übersetze so eng wie möglich aus dem psychologischen Globish unserer Zeit):

»Es gibt starke Hinweise darauf, dass Menschen sich schlecht fühlen, wenn sie gegen ihren Willen einer Gruppe zugewiesen werden […]. Folglich können Gruppenmitglieder negative Gefühle über ihre Gruppenzuweisung erfahren. Wahrgenommene Unterschiede zwischen Selbst und anderen Gruppenmitgliedern verursachen psychisch als unangenehm erlebte Spannungen […], und negative Ereignisse, die sich auf das Selbst beziehen, sind Ursache für negative Gefühle« (de Vreeze und Matschke 2019, 81; Übers. A.M.).

Semantisch betrachtet, entpuppt sich die Verkettung dieser Sätze als a priori wahre, im Sinne der Logik als analytische Aussagen über bereits Bekanntes. Widerwillig Erlebtes erzeugt ungute Gefühle (es sei denn, wir sprechen von Masochisten), und ungute Gefühle erzeugen als unangenehm erlebte Spannungen. Das weiß man bereits, und man weiß es, bevor die Untersuchung in Gang gesetzt wird. Dass in dem Artikel die Ausgangslage zudem nicht aus persönlichen Beobachtungen oder aus Befragungen von Mitmenschen heraus geschildert, sondern aus früheren Untersuchungen aus dem Bereich der experimentellen Psychologie hergeleitet wird, verdeutlicht den Abstraktionsgrad, den dieses akademische Fach inzwischen erreicht hat − und dies letztlich in konformistischer Angleichung an den Mainstream. Bezeichnend dafür ist übrigens auch der Umstand, dass ein Bezug gerade auch auf Nico Frijdas (1988) Standpunkt hergestellt wird − auf einen Standpunkt, den Smedslund (1992) mit gutem Grund abgewiesen hat mit folgendem Argument: Werden die von Frijda formulierten Gesetze hinsichtlich ihrer Form untersucht, erweisen sie sich nicht als empirisch auf Kausalitäten zurückgeführte Gesetzmäßigkeiten, denn sie beschreiben keine Beziehungen zwischen logisch unabhängigen Variablen.

Kurzum, ob man in Anlehnung an phänomenologische Prozeduren sich kritisch mit der Ausgangslage psychologischer Forschungsprojekte befasst, ob man Smedslunds Psychologik beherzigt, ob man die Methoden der Grounded Theory und ihrer Weiterentwicklung durch Anselm Strauss, und in der nachfolgenden Generation durch Kathy Charmaz oder Adele Clarke (Clarke et al. 2022), nutzt oder ob man einen anderen kritisch-reflektierenden Ansatz wählt, wie beispielsweise den von Jürgen Straub verteidigten (Straub 1999; siehe hierzu auch das Gespräch mit Jürgen Straub in diesem Heft, 26–47), spielt letztlich keine entscheidende Rolle − die Betonung liegt jetzt auf entscheidend. Wirklich entscheidend ist vielmehr die längst von Adorno getroffene und nach wie vor geltende Erkenntnis: »[Es] hat sich herumgesprochen, wohin die wissenschaftliche Arbeitsteilung in Schächtelchen führt: zur Verwechslung des methodisch Veranstalteten mit der Sache selbst, der Verdinglichung« (Adorno 1973, 397).

Alexander Nicolai Wendt: Ich verstehe Ihre abschließende Aussage als ein Plädoyer für Gegenstandsangemessenheit, dem ich mich vorbehaltlos anschließe. Allerdings finde ich darin erneut den Ausdruck einer phänomenologischen Einstellung. Die Phänomenologie ist auch in der Philosophie oftmals eher als Haltung oder geistige Einstellung denn als Methode beschrieben worden. Das Adorno-Zitat konvergiert frappanterweise mit einem der drei Punkte, die für Max Herzog als »unabdingbare methodologische Voraussetzungen« (Herzog 1992, 508) der phänomenologischen Forschung in der Psychologie gelten, nämlich mit der Losung: »die Sache bestimmt über die Methode« (ebd.). Es ist sicherlich richtig, dass sich diese Haltung nicht nur in der Phänomenologie findet. Selbstverständlich ist es allerdings nicht, dass Psychologinnen und Psychologen heutzutage mit methodologischer Flexibilität arbeiten. Wenn ich von »Haltung« spreche, dann denke ich an Diltheys Idee der Weltanschauung, die die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit formt. Für Dilthey waren es Materialismus sowie subjektiver und objektiver Idealismus, die sich unvereinbar und schicksalshaft gegenüberstanden. Dabei will ich mit Blick auf den gegebenen Zusammenhang auf einen Unterschied hinaus, der von Roderick Chisholm (1973) mit den Begriffen »methodism« und »particularism« zum Ausdruck gebracht worden ist. Münch gibt ihn folgendermaßen wieder:

»Der Methodist geht vom Primat der Methode aus. Er wird nur das als Erkenntnis gelten lassen, was bestimmten methodischen Standards entspricht, die zuvor festgelegt wurden. Der Partikularist beginnt demgegenüber bei Wahrheiten, an die zu zweifeln er keinen vernünftigen Grund hat. Er beginnt bei evidenten Urteilen, wie etwa dem, daß es eine reale Welt gibt. Zur Rechtfertigung dieser Urteile benötigt er keine besondere Methode, vielmehr wird er umgekehrt die Methoden auf der Grundlage solcher Urteile entwickeln. Selbstverständlich ist der Partikularist kein Methodenfeind, er bestreitet lediglich, daß die Methode das erste Wort hat« (Münch 2002, 43f.).

Zwischen diesen beiden Haltungen, Methodismus und Partikularismus, liegen psychologische Welten. Die methodologische Freiheit steht im klaren Kontrast zum Formalismus, der gar den Gegenstand aus den Augen zu verlieren droht. Mir scheint nun, dass es einiger Überzeugungsarbeit braucht, um die Psychologie partikularistisch zu betreiben – zumal, weil der Gegenstand der Disziplin streitbar ist, also die »Grundlagen«, von denen Münch spricht, nicht trivialerweise gegeben sind.

Nach meiner Einschätzung kommen wir letztlich darin überein, dass die phänomenologische Art, Psychologie zu betreiben, weder einen Methodismus durch einen anderen ersetzen sollte noch kann. Zugleich sehen wir aber auch, dass die phänomenologische Forschungsweise dort, wo es dem Gegenstand der psychologischen Forschung angemessen ist, einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Das gilt einerseits für deskriptive und verstehende, andererseits für die theoretische Psychologie und ihre epistemologischen Hintergründe. Ob es gelingen kann, dieses Potenzial zu realisieren, wird die Zukunft erweisen müssen.

Anmerkung

[1]
Für eine Abbildung siehe: https://wellcomecollection.org/works/qb73n5gb?wellcomeImagesUrl=/indexplus/image/L0058974.html (Zugriff 09.05.2022).

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Der Autor

Alexander Nicolai Wendt, Dr., ist Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg und Promotionsstipendiat an der Universität Verona. Arbeitsschwerpunkte: Denkpsychologie, phänomenologische Psychologie, Psychologiegeschichte, philosophische Psychologie.

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