Thomas Slunecko und Gerhard Benetka im Gespräch
Journal für Psychologie, 30(1), 6–25
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2022-1-6 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deAnlässlich des 30-jährigen Bestandsjubiläums des Journals für Psychologie thematisieren wir die uns aus heutiger Sicht wesentlichen und bleibenden Momente des seit der Wissenschaftskritik der Studentenbewegung schwelenden Diskurses der Psychologie-Kritik. Im Zentrum steht dabei die Frage, warum diese Kritik den Hauptstrom psychologischen Forschens und Lehrens nur wenig beeinflusst hat und worin sich der nachhaltige Erfolg der von dieser Kritik nur wenig berührten Psychologie begründet. Im Kontext der gegenwärtig die Praxis universitärer Wissenschaft prägenden Maßnahmen zur Qualitätssicherung erweist sich »erfolgreich« allerdings als ambivalenter Begriff. Dies gilt etwa in Hinblick auf Strategien der Dissemination, der Forschungsdokumentation und der öffentlichen Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Im Gespräch über die im Grunde restriktiven Bedingungen von Forschung und Lehre an der Universität wird zumindest in Ansätzen auch auf mögliche Nischen und Alternativen hingewiesen.
Schlüsselwörter: Psychologiekritik, Ambivalenz des Erfolges, Individuozentrismus, Naturalisierung, Epistemologie
Summary
On the Critique of Psychology
Thomas Slunecko and Gerhard Benetka in Conversation
In celebration of the 30th anniversary of the existence of the Journal of Psychology, we address the essential and persisting factors of the critique of psychology that has been smouldering since the criticism of science of the student movement. The central questions are why this critique has had little influence on the mainstream of psychological research and teaching and what the lasting success of mainstream psychology, which has been only slightly touched by this critique, grounds on. Within the context of the measures for quality assurance of science that currently shape the practice of academic research, »success« proves to be an ambivalent term. This holds true for strategies of dissemination, research documentation and public presentation of research outcomes. While discussing the currently restrictive conditions of research and teaching at the university, we also point out, to some extent, possible niches and alternatives.
Keywords: Critique of psychology, ambivalence of success, individuocentrism, naturalization, epistemology
Der vorliegende Text basiert auf einer von Gerhard Benetka angefertigten Transkription eines am 3. November 2021 geführten circa 90-minütigen Gesprächs, das von beiden Gesprächspartnern überarbeitet wurde. Aus einem im Zuge dieser Überarbeitung geführten Videotelefonat am 4. Februar 2022 ergaben sich zusätzliche Formulierungen, die in den Text aufgenommen wurden. Für die hier veröffentlichte Fassung wurden geschlechtsneutrale Formulierungen redaktionell hinzugefügt.
Thomas Slunecko: Unmittelbarer Anlass unseres Gesprächs ist das 30-jährige Bestandsjubiläum des Journals für Psychologie, das damals – 1992 – als Forum für kritische Gegenstimmen zum herrschenden Diskurs in der Psychologie gegründet wurde. Vielleicht steigen wir in das Gespräch damit ein, dass wir uns fragen, was aus dieser Kritik geworden ist und wie wir beide uns heute als Psychologen zu unserer Wissenschaft, zur Psychologie, positionieren. In einem unserer Texte (Benetka und Slunecko 2019) haben wir das ja einmal so ausgedrückt: Wir fühlen uns in der Psychologie wie in einer falschen Welt. Falsch in einem Fach, das sich so ganz von der kritischen Reflexion der Weltlage gelöst hat und dem Bestehenden zuarbeitet, in den meisten Fällen, ohne dass die Handelnden das bewusst so wollen und selbst so wahrnehmen.
Gerhard Benetka: Das ist ein Aspekt, der politische, wenn man so will: falsche Welt, weil a-politische Leute Herrschaftswissen erzeugen. Der andere Aspekt ist ein epistemischer: Psychologische Forschung trägt wenig dazu bei, zu verstehen, wie Menschen unter gegebenen Bedingungen ihren Alltag bewältigen, weil sie das Verhältnis von Individuum und Welt falsch denkt. Nicht ganz falsch, aber falsch doch insofern, als das, was in Ausnahmesituationen passiert, zur Regel und zur epistemischen Vorlage des Forschens gemacht wird: dass, wenn ein selbstverständlich ablaufender Lebensvollzug gestört wird, wir uns, um die Störung zu beheben, von der Situation, in der die Störung passiert ist, distanzieren, sie reflektieren, abstrahieren, repräsentieren. Ich habe also den Eindruck, dass in psychologischen Experimenten oft gerade die Störung alltäglicher Vollzüge untersucht wird und sich daraus folgerichtig wissenschaftliche Beschreibungen ergeben, die auf gestörten Weltbezügen basieren. Auf Störungen, die im realen Leben eigentlich kaum vorkommen. Auch die ganze künstliche Intelligenz wird auf diese Weise nach einem Vorbild modelliert, das lebensweltlich nicht existiert oder eben nur in Ausnahmemomenten. Im Alltag repräsentieren wir nichts, da sind wir einfach mittendrin. Auch deshalb fühlt man sich – zumindest fühlen wir uns – in der Psychologie wie in eine falsche Welt versetzt. Aber zurück zum politischen Aspekt. Diese Art Psychologie-Kritik, die aus der Wissenschaftskritik der Studentenbewegung hervorgegangen ist, gibt es nun schon seit mehr als 50 Jahren. Da stellt sich natürlich die Frage, warum diese Kritik, auf die Entwicklung des Faches bezogen, so wenig hat bewirken können. Was hat die Psychologie-Kritik falsch gemacht, dass sich heute kaum mehr jemand für sie interessiert?
Thomas Slunecko: Ich versuche einmal, das für mein Umfeld zu präzisieren: Es interessieren sich in jedem Jahrgang durchaus Studierende für die psychologiekritischen Fährten, die wir beide in unseren Einführungsvorlesungen an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien auslegen. Aber nur bei einigen wenigen kann sich dieses Interesse im Rahmen von »kritischen« Bachelorarbeiten stabilisieren und anschließend im Zuge von Masterarbeiten weiter entfalten, die sie bei mir schreiben. Für den Hauptstrom des Faches spielen diese paar Dissident*innen kaum eine Rolle. Nicht ganz egal sind sie für deine Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien (SFU) – insofern dort das akademische Personal zu einem nicht so geringen Teil aus ehemaligen Studierenden von mir besteht. So gehen diese Impulse nicht ganz verloren. Meine Studierenden haben aber relativ wenig Chancen, an die größeren Forschungsgelder heranzukommen, die im Hauptstrom der Psychologie fließen; diesbezüglich sind Selektionsmechanismen am Werk, die für einen kritischen Zugang nichts übrighaben.
Gerhard Benetka: Wir werden später noch Gelegenheit haben, über Gemeinsamkeiten und Differenzen der Psychologieausbildung an staatlichen und privaten Universitäten zu sprechen. Was die Drittmittelakquise betrifft, stellt sich mir die Situation durchaus etwas anders dar. Im Bereich kompetitiv eingeworbener Drittmittel sind wir vor allem mit kritischen, wenn man so will: mit »linken« Projekten erfolgreich. Aber du kennst ja das Buch von Boltanski und Chiapello (2003) Der neue Geist des Kapitalismus. Darin wird gezeigt, dass und wie der Kapitalismus die ursprünglich gegen ihn gerichtete Kritik aufzugreifen und zu seiner eigenen Legitimierung zu verarbeiten versteht. Denke an Begriffe wie »Empowerment«! Das ist etwas, das von ganz unten kommt, von einer kämpferisch emanzipatorischen Sozialarbeit; mittlerweile ist es im Managementtraining angekommen. Insofern ist es nicht ausgemacht, dass die kritischen Geister, die man da wachgerufen hat, nicht auch auf größeren Bühnen reüssieren. Und zwar deshalb, weil sie sich sehr gründlich jenen kritischen Jargon politischer Korrektheit angeeignet haben, ohne den heute gerade auch bei der Einwerbung von Drittmitteln gar nichts mehr geht. Etwas sarkastisch könnte man also durchaus sagen, dass das, was wir da machen, durchaus auch zeitgemäß, »zeitgeistig« ist.
Thomas Slunecko: Dass emanzipatorische Potenziale gleich wieder geschluckt werden, dem kommt man wohl nicht aus. Der Kapitalismus ist wie ein schwarzes Loch, das alles ansaugt, weil es immer weitere Materie braucht, damit es sich erhalten kann. Kritik verpufft, wenn sie aber zur Kenntnis genommen wird, wird sie rasch in etwas gedreht, das das kapitalistische Narrativ überzeugender macht. Terry Eagleton (2017) hat das in seinem Buch Kultur sehr genau beschrieben: dass der Kapitalismus alles, was ihm aktiv gegenübersteht oder auch nur außen vor bleiben will – alles Kulturelle –, in sich hineinzerren muss und dass es kein deutlicheres Beispiel für diese Art und Weise des Assimilierens gibt als den Niedergang der Universitäten, das heißt ihr Verschwinden als unverzweckte Reflexionsräume und als Nischen für kritische und kreative Persönlichkeitsbildung – mit einem Wort: ihr Verschwinden als ein Ort der Kultivierung. An ihre Stelle sind Ausbildungsbetriebe getreten, deren Funktion an wirtschaftlich-technokratischen Kriterien bemessen wird – Anstalten, die nicht kritisches Denken, sondern vorgeblich an irgendeinem fantasierten Arbeitsmarkt orientierte Kompetenzen1 vermitteln sollen.
Gerhard Benetka: Kommen wir zu unserem Ausgang zurück. Was bedeutet das eigentlich: Kritik an der Psychologie? Man kann zunächst einmal sagen, dass die Kritik sich auf die Fragen bezieht, die sich die Psychologie stellt. Das ist ja immer auch der Vorwurf gewesen, dass die sogenannte Mainstream-Psychologie sich nicht um wirklich bedeutsame Fragen kümmert. Ein kognitiver Neurowissenschaftler zum Beispiel wird jetzt gleich fragen: Was soll denn das sein: eine bedeutsame Frage? Ich würde darauf etwa wie folgt antworten: Das, was mich als Psychologe interessiert, ist, warum Menschen mit niederem Einkommen heute mehrheitlich Parteien mit einem neoliberalen Wirtschaftsprogramm wählen – Parteien, die für einen Abbau des Wohlfahrtstaats eintreten und für Steuersenkungen für Reiche. Und ich glaube, dass die kognitive Neurowissenschaft zur Beantwortung dieser Frage bisher wenig beigetragen hat und möglicherweise das auch nie tun wird. Die meisten Psycholog*innen würden aber wohl finden, dass das eigentlich gar keine psychologische Frage ist, sondern eine Frage, die in die Politikwissenschaft gehört oder in die Soziologie. Was aber ist der Gegenstand der Psychologie? Auf die Schnelle gesagt lautet die gängige Antwort: Denken und Problemlösen, Emotion, Motivation etc. – und das aber immer als individuell Psychisches gedacht, als etwas, was in einem Individuum abläuft.
Thomas Slunecko: Es gab und gibt freilich auch gegenläufige Ansätze. Die ganze Kulturpsychologie ist letztlich eine Antithese zu diesem Individuozentrismus, zu diesem Eingesperrtsein des Psychischen in einen einzelnen Kopf, weil sie die grundsätzlich kollektive Lagerung alles und insbesondere alles sich sinnhaft vollziehenden Lebens, alles menschlichen Lebens also, betont und sagt, dass alle psychischen Funktionen immer Funktionen innerhalb von Regelkreisen sind, die die sozialen, ökologischen, ökonomischen und medialen Bedingungen mit einschließen. Damit ist eine, wenn nicht die zentrale Kritik am Hauptstrom der Psychologie identifiziert: dieses epistemische Eingesperrtsein in die Einzelperson, das dann auch, was die Methoden betrifft, dazu führt, dass alles durch das Nadelöhr der Ein-Person-Aufzeichnung gepresst wird. Hunderte Einzelpersonen bekommen einen Fragebogen, dann werden ihre Antworten aggregiert und als Ergebnis wird eine Charakterisierung einer statistischen Durchschnittsperson ausgespuckt.
Gerhard Benetka: Das lässt sich freilich allgemein festhalten: dass das Unbehagen an der Psychologie in dieser Zentrierung auf das Individuell-Psychische begründet ist und dass dann nur über nachträgliche Konstruktionen theoretisch völlig unbestimmt bleibende Größen wie »Kultur« oder »Gesellschaft« irgendwie eingeführt werden. Aber worin genau ist dieses Unbehagen begründet? Zunächst wohl einmal darin, dass dabei implizit behauptet wird, dass das, was zwischen zwei oder mehreren Menschen abläuft, im Grunde nicht etwas Psychisches, sondern etwas – was immer das dann sein soll – Soziales ist. Psychisch ist nur, was zum Beispiel der Einzelne in einer Kommunikation zu senden beabsichtigt und wie der andere, der Empfänger, diese Nachricht versteht oder nicht versteht. Aber denke im Gegensatz dazu zum Beispiel an Freud, der die Übertragung – also etwas, was gerade zwischen den Akteur*innen ist – als einen Tummelplatz der Gefühle bezeichnet. Psychisches ist dann etwas, was nicht im Kopf einer Person eigeschlossen ist, sondern etwas, das, weil es immer auf etwas bezogen ist, im Dazwischen ist: zwischen Personen, aber auch zwischen den Personen und den Dingen, mit denen sie umgehen.
Das ist der eine Aspekt. Der andere ist – damit wohl eng zusammenhängend – diese Tendenz zur Naturalisierung: Die Menschen leben, so wird behauptet, in verschieden Kulturen usw., aber egal in welchen Umwelten sie leben, haben sie Emotionen, Motive etc. Und sieht man von den Inhalten ab und betrachtet nur die psychische Funktion – zum Beispiel das Denken, das Fühlen, das Erinnern –, so ist das im Grunde stets für alle irgendwie dasselbe: ein Naturvorgang eben, ein Naturvorgang, wie alle anderen Vorgänge in der Natur eben auch.
Thomas Slunecko: Eine großartige Unterschätzung der Pluralität und Plastizität des Menschseins und eine, die ebenfalls wieder Konsequenzen für die Methoden hat, insofern sie naturwissenschaftliche Methoden und eine naturwissenschaftliche Methodologie nahelegt: das Experiment, ausgeführt von einem*einer neutralen, sich unbeteiligt gebenden Beobachter*in, der*die von sich selbst nichts erzählen muss, der*die »von sich selbst zu schweigen« hat, wie Bacon (1990 [lat. Orig. 1620]) das formuliert hat.2
Gerhard Benetka: Naturalisierung gibt es allerdings auch in der Psychoanalyse, so zum Beispiel beim Ödipuskomplex: Der wird als ubiquitär gedacht, nicht als psychischer Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche oder einer bestimmten kulturellen Lebensform, sondern umgekehrt als eine anthropologische Konstante, die jeder menschlichen Kultur zugrunde liegt.
Thomas Slunecko: Seit Malinowski (1922) und seiner Beschreibung des sexuellen Verhaltens der Trobriander*innen hat man das auch in Teilen der Psychoanalyse wohl anders zu sehen begonnen. Aber im Prinzip hast du recht: Naturalisierung war auch in der frühen Psychoanalyse ein Geist, der nur wieder schwer in die Flasche zu bekommen war.
Gerhard Benetka: Gerade die kritisch-linke Psychoanalyse der 1920er und 30er Jahre hat Freud darin zugestimmt, dass die Psychoanalyse im Grunde eine Naturwissenschaft sei. Die passende Soziologie dazu war der Marxismus. Die materialistische Gesellschaftsanalyse braucht zu ihrer Ergänzung eine materialistische, das heißt eine streng naturwissenschaftliche Psychologie: eben die Psychoanalyse. So haben es jedenfalls Fenichel und Reich und andere linke Psychoanalytiker*innen gesehen. Und heute die Annäherung der Psychoanalyse an die kognitiven Neurowissenschaften. Und immer ist dann letztlich auch von der »Konstitution« die Rede, wenn man irgendwelche Auffälligkeiten nicht mehr mit psychologischen Begriffen erklären kann. Für uns im Grunde eine recht vertraute Denkfigur. Ich erinnere nur an die in unserer Studienzeit so beliebte Anlage-Umwelt-Problematik: Wie viel Prozent erklärt das eine und wie viel Prozent das andere?
Thomas Slunecko: Ich habe mir diesbezüglich vor ein paar Jahren bei Latour ein zuverlässiges Antidot angeeignet, um aus dieser Dichotomie von Anlage und Umwelt oder Natur und Kultur mit einer Art von Bonmot auszusteigen. Latour propagiert zwischen dem Entdecken und dem Erfinden einen dritten Modus, der – damit die Eselsbrücke leichter hält – im Deutschen auch mit »e« beginnt: das Entfalten. Man erhält damit zwischen dem Natur-Pol – man entdeckt etwas, so wie man einen noch nicht beschriebenen Käfer in Amazonien entdeckt – und dem Kultur-Pol – auf dem wir vorgeblich erfinden können, was immer wir wollen, das heißt, ohne auf die Natur Rücksicht nehmen zu müssen – einen dritten Wert, eben das Entfalten. Entfalten ist hier aber nicht im Sinn eines Ausfaltens einer immer schon prä-existenten Entelechie gemeint, sondern als Entfalten eines von der Natur gemachten Angebots durch menschliche Akteur*innen in einen je historisch-spezifischen, das heißt kontingenten Möglichkeitsraum hinein, in der dann auch ganz andere Prämien – »Menschensphärenprämien« nämlich – vergeben werden als in der alten »harten« Natur. Und das gilt eben auch für die psychischen Funktionen: auch sie entfalten sich ausgehend vor einem »Angebot«, von dem wir nicht in Abrede stellen müssen, dass man es das Natürliche nennen kann, auch wenn dieses Natürliche selbst auch wieder eine Geschichte hat, die mit uns verwoben ist. Und damit ist man aus dieser völlig unfruchtbaren Dichotomie wieder entkommen.
Gerhard Benetka: Halten wir als Art Zwischenbilanz einmal fest: Was aus kritischer Perspektive der Mainstream-Psychologie vorzuwerfen ist, ist also zweierlei: erstens diese Zentriertheit auf das Individuum und zweitens diese Tendenz zur Naturalisierung, diese Tendenz also, psychische Zustände und Abläufe als Naturvorgänge aufzufassen.
Thomas Slunecko: Beide Orientierungen sind wie Spiegelungen des neoliberalen Weltlaufs. Wissenschaft reagiert ja immer auf ihre Umwelt. Sie macht aus sich heraus meist mehrere Angebote, wie Sachen zu denken sind, von denen dann diejenigen in einen Aufwind geraten, die in die jeweilige Weltlage oder deren Rechtfertigung passen. Das gilt auch und vielleicht sogar besonders für die Psychologie. Sie wirft eine Reihe von – miteinander durchaus nicht kompatiblen – Perspektiven aus, von denen jene, die den Weltlauf affirmieren, am beherztesten aufgegriffen werden. Und am beherztesten aufgegriffen werden heute eben jene, die – im Namen der »Autonomie« – der Vereinzelung und, darauf aufbauend, der Selbstoptimierung der Vereinzelten das Wort reden – natürlich ohne dass man ihnen das direkt anhört. Systematisch gesprochen: Es sind diejenigen, die am effizientesten dazu beitragen, dass die Subjekte, die in den Bannkreis der Psychologie geraten sind, den herrschenden Verhältnissen zuarbeiten, dafür brauchbar werden und bleiben. Und »brauchbar bleiben« heißt heute: sich in Bezug auf Brauchbarkeit ständig steigern und sich als brauchbare Vereinzelte widerstandslos auf dem Raster der wirtschaftlichen Notwendigkeiten verschieben lassen. Seit der Jahrtausendwende hat unser Fach in Bezug auf dieses Nicht-Widersetzenlernen eine geradezu sektenhaften »Blüte« produziert – die Positive Psychologie, die uns beibringen will, wie wir das, was uns an die Kandare genommen hat, im Grunde selbst wollen und sogar noch dafür dankbar sein können.
Ich will aber nochmals auf etwas Prinzipielles zurückkommen, das du zuvor nur so nebenher erwähnt hast. Im Zusammenhang mit den Begriffen »Kultur« und »Gesellschaft« hast du von der Neigung unseres Faches gesprochen, theoretisch unterbestimmt, wenn nicht gar völlig unbestimmt bleibende Größen und Begriffe zu konstruieren. Man kann auch das verallgemeinern: Ausgeblendet wird, dass alle unsere Begriffe, weil sie stets in konkrete diskursive Formationen eingebettet sind, eine Geschichte haben und wir sie daher genau untersuchen müssen, wenn wir sie verwenden. Dass wir unsere begrifflichen Erkenntniswerkzeuge auch zu Erkenntnisgegenständen machen, wie es Bourdieu (1997) einmal gesagt hat, das heißt, dass wir uns die mit ihnen verbundenen Setzungen und Grenzen vergegenwärtigen müssen – dieses Basisverständnis für die Notwendigkeit metatheoretischer Arbeit oder von Arbeit am Begriff, das fehlt dem Hauptstrom der Psychologie fast völlig. Er ist viel zu schnell mit seinen Begriffen fertig, so bleiben sie bloß oberflächliche theoretische Bekannte ohne Scharniere zum lebensweltlichen Wissen derer, die sie verwenden (Slunecko 2017). Das Resultat ist, mit Adorno (1972) gesprochen, eine Art von giftiger Halbbildung.
Gerhard Benetka: Dazu gäbe es freilich viel zu sagen. Zum Beispiel zum schlampigen Umgang mit dem Begriff der Operationalisierung. Man versteht darunter zumeist nichts Weiteres als die Übersetzung theoretischer Begriffe in eine empirische Inszenierung. Worauf man zumeist aber vergisst, dass die Analyse den logisch korrekten Zusammenhang zwischen empirischen und theoretischen Begriffen erweisen muss. Daher bleiben so viele Begriffe der Psychologie so beliebig. Wenn zwei Psycholog*innen über ein und dieselbe Sache sprechen, ist nicht klar, ob sie tatsächlich auch dieselbe Sache meinen.
In dieser Hinsicht gibt es aber keinen Grund zu Häme. Wir »Kritischen« sind diesbezüglich natürlich alles andere als frei von Fehl und Tadel. Vielleicht eine kleine Geschichte dazu: In bin im September des letzten Jahres bei einer kleinen Zusammenkunft von Philosoph*innen und Psycholog*innen gewesen. Es sind einige Impulsreferate gehalten worden, in der Diskussion ist dann diese alte Frage wieder aufgetaucht: Was ist eigentlich der Gegenstand der Psychologie? Den Älteren unter uns ist das recht vertraut, weil es zu den Kernerzählungen der kritischen Psychologie gehört: Der »desolate« Zustand der »bürgerlichen« Psychologie hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie eigentlich nicht recht zu sagen weiß, wovon oder worüber sie eigentlich handelt. Und damit, dass sie diese Unterbestimmtheit, dieses Theoriedefizit letztlich pragmatisch aufzulösen versucht: Der Gegenstand der Psychologie ist eben das, was man mit den in der Psychologie anerkannten empirischen Methoden untersuchen kann. Die alte Debatte also, Mitte der 1970er Jahre, zwischen Theo Herrmann (1976) und Robert Kirchhoff (1976). Sehr vorsichtig habe ich dafür plädiert, dass diese Gegenstandsfrage letztlich auch negative Implikationen haben kann. Und zwar, weil sie letztlich negativ bloß Abgrenzungen impliziert: Was ist der Gegenstand der Psychologie, wodurch ist er vom Gegenstand der Soziologie oder von dem der Politikwissenschaft unterschieden? Diese negativen Abgrenzungen scheinen mir aber gerade das zu fördern, was wir zuvor kritisch thematisiert haben: Wodurch unterscheiden sich Soziologie und Psychologie? Eben dadurch, dass sich die Psychologie mit dem Individuum befasst. Außerdem klingt im »Gegenstand« zu sehr die Substanzialisierung an. Die Psychologie ist sowieso anfällig für solche Substanzialisierungen, man denke nur an die Geschichte der Intelligenzforschung. Aber natürlich dann auch an die kognitiven Neurowissenschaften, die Psychisches – individuell Psychisches – durch die Zuordnung zu Hirnvorgängen zu materialisieren, zu naturalisieren versuchen. Vielleicht sollten wir uns daher davon verabschieden, vom Gegenstand der Psychologie zu reden. Weil es uns möglicherweise in die Irre führt.
Thomas Slunecko: An meiner Fakultät wird gerade an einer Reform des Curriculums des Bachelorstudiums gearbeitet. In der Präambel wird sofort eine »Gegenstandsbestimmung« der Psychologie gegeben. Es wird dabei auf etwas zurückgegriffen, was wir alle gut kennen: Die Psychologie ist die Wissenschaft von Erleben und Verhalten. Ich habe vorgeschlagen, den Begriff des Handelns mit aufzunehmen. Aber es war nicht möglich. »Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten und Punktum!« – das ist noch genauso eingespurt, wie wir das auch schon vor 30 oder 40 Jahren im Studium gehört haben.
Gerhard Benetka: Handeln war tatsächlich für lange Zeit bloß ein Begriff in der Soziologie, Hans Werbik hat dann in Erlangen sich darum bemüht, eine psychologische Handlungstheorie zu begründen (Werbik 1978; vgl. auch Straub und Werbik 1999).
Thomas Slunecko: »Handeln« verweist auf ein Wesen, das in sinnhaft verfassten Welten, also in kulturellen Welten agiert, in von Bedeutungen strukturierten Welten, all das transportiert der Verhaltensbegriff nicht, ihm ist die »Umwelt« adäquat, behavioristisch gefasst als Konglomerat von für das Lebewesen biologisch relevanter Reize. Im Grunde ist der Verhaltensbegriff bzw. die Verengung des Gegenstandes der Psychologie auf das Verhalten schon eine Stellungnahme gegen die Kulturpsychologie.
Gerhard Benetka: Mehr noch! Der Horror der Psycholog*innen vor dem Handeln ist auch noch aus einer weiteren Perspektive verständlich. Handeln bedeutet, etwas Neues zu schaffen in dem Sinne, dass der Ausgang des Handelns nicht von den Bedingungen, unter denen die Handlung beginnt, determiniert ist. Der Begriff macht nur Sinn, wenn man ihn so verwendet, dass sich etwas nicht nur aus den Bedingungen, die vorher herrschen, ergibt. Wundt (1897) hat von einer »schöpferischen Synthese« gesprochen und in diesem Zusammenhang auf die Problematik der Übertragung des Begriffs der Kausalität aus der Physik in die Psychologie verwiesen. Mit dem Begriff des Verhaltens hingegen kann man sich alle Kalamitäten mit dem Kausalitätsbegriff ersparen und damit auch die Unerträglichkeit des Schöpferischen für ein deterministisches Weltbild. Für eine Wissenschaft, die sich von Anfang an so sehr an der Physik orientiert hat wie die Psychologie, ist das entlastend. Und tatsächlich ist das Verhalten dann auch einer der wenigen gut definierten Begriffe in der Psychologie: »Verhalten« ist all das, was ich an einem Organismus aus der Perspektive der dritten Person registrieren kann. Vom Nestbau von Ameisen bis hin zu den bioelektrischen Erscheinungen, die die Hirntätigkeit begleiten.
»Erleben« ist dagegen ein weitaus problematischerer Begriff. Erleben ist immer nur dem Erleben selbst zugänglich, wenn man so will, etwas exklusiv Privates. Während wissenschaftliches Wissen seinem Wesen nach öffentliches Wissen ist: Wissen, das für die Kommunikation mit anderen produziert wird. Das ist die Voraussetzung dafür, damit die Form von der Überprüfbarkeit wissenschaftlichen Wissens einen Sinn ergibt. Jetzt kann man natürlich fragen, wie in diesem Sinne öffentliches Wissen von so etwas exklusiv Privatem wie das Erleben überhaupt möglich ist. Das ist eine geradezu paradoxe Ausgangssituation. Man kann im Übrigen sehr viel über das Erleben als Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens lernen, wenn man sich mit der Philosophie des Wiener Kreises beschäftigt. Der frühe Carnap und dann Schlick hatten damit überhaupt kein Problem, das Erleben wissenschaftlich zugänglich zu machen. Über das eigene Erleben kann man insofern Protokollsätze formulieren, als Erleben sich artikuliert. Das muss ja irgendwie möglich sein, schließlich ist jede Beobachtung eines Vorgangs zunächst nichts anderes als ein Erleben in dem*der Beobachter*in, das erst durch andere überprüfbar wird, wenn der*die Beobachter*in es für andere festhält. Selbiges gilt dann auch für Sätze über Fremdpsychisches. Man braucht nur vorauszusetzen, dass das, was jemand über sein Erleben artikuliert, vom Standpunkt der dritten Person aus registriert und nachvollzogen werden kann. Freilich muss man dann aber zwischen Erleben und Artikulation unterscheiden. Nur die Artikulation des Erlebens kann Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein.
Aber kommen wir auf das zurück, von dem wir ausgegangen sind: auf den Begriff der Kritik. Wir haben bereits kurz über kompetitiv eingeworbene Drittmittel gesprochen. Wie du weißt, wird vom FWF3 jeweils für die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen getrennt der prozentuale Anteil der bewilligten Gelder an den insgesamt beantragten ausgewiesen. Die Psychologie streitet da immer um die letzten Plätze mit: Das letzte Mal, als ich mir das angesehen habe, lag der Anteil der bewilligten Summe etwa bei sieben Prozent. Wenn man damit Kollegen und Kolleginnen konfrontiert, so bekommt man gelegentlich zu hören, dass das eben der besonders strengen Qualitätssicherung auf dem Gebiet der Psychologie geschuldet ist. Wissenschaftlich arbeitende Psycholog*innen sind also doch irgendwie besonders kritische Geister, so kritisch, dass sie sogar in Kauf nehmen, die materielle Grundlage der Forschung in ihrem eigenen Fach zu unterlaufen. Gutachter*innen im Fach Psychologie neigen jedenfalls dazu, zu erwähnen, was man auch anders machen könnte. Daher gibt es weniger eindeutig affirmative Gutachten als bei naturwissenschaftlichen Projektanträgen und entsprechend geringere Erfolgsquoten von Forschungsanträgen.
Thomas Slunecko: Das ist richtig und es kommt noch dazu, dass Kritik, wie sie im Hauptstrom der Psychologie verstanden und praktiziert wird, auf eine ganz spezielle Weise gelagert bzw. verengt ist. Nora Ruck, Julia Riegler und ich haben das einmal so formuliert, dass es sich bei »Kritik« und »Psychologie« um ein »verschlungenes Verhältnis« handelt (Ruck et al. 2010). Verschlungen bedeutet dabei nicht nur und nicht in erster Linie, dass dieses Verhältnis kompliziert ist, sondern dass die kritischen Impulse, so wie wir sie verstehen als gesellschaftskritisch oder politisch, verschlungen im Sinn von »aufgegessen« werden – und zwar von einer anderen Art von Kritik. Im Hauptstrom der Psychologie besteht doch eine geradezu auffällig hohe Bereitschaft zu immanenter Kritik. Man kann eine wissenschaftliche Karriere durchaus damit bestreiten, dass man einen Fragebogen reliabler gemacht oder auf Rasch-Homogenität überprüft hat – bei gleichzeitiger Ausblendung der Frage, welche gesellschaftlichen Effekte mit diesem Fragebogen als Dispositiv einhergehen. Mit anderen Worten: Bereitschaft zu »kritischer Arbeit« wird im Hauptstrom der Psychologie geradezu hochgezüchtet, allerdings einseitig als immanente Kritik; Wissenschaftler*innen, die darin – das heißt in immanenter Kritik – geeicht sind, können oft nicht einmal den Ansatz eines Verständnisses dafür entwickeln, was mit exmanenter Kritik in Bezug auf das, was sie tun, überhaupt gemeint sein könnte. Dass die klinisch-diagnostische Psychologie Normalitäts- und Herrschaftsdiskurse befördert, ist für sie ein Argument von einem anderen Stern. Die Metapher von der verschlungenen Kritik will also sagen, dass durch dieses Scharf- und Immer-schärfer-Machen der immanenten Kritik alle kritische wissenschaftliche Energie in Binnenprobleme und -problemchen kanalisiert wird und dass das dazu beiträgt, dass exmanente Kritik letztlich außen vor bleibt. Institutionssoziologisch ist das gar nicht unlogisch: Das System schließt sich nach außen ab und antwortet nur mehr auf seine eigenen Zurufe.
Diese Kritikabgeschlossenheit des Faches hängt wohl auch damit zusammen, dass es so erfolgreich war und mittlerweile so groß ist. Die Psychologie hat schon seit den 1970er Jahren einen zunehmenden Erfolgslauf innerhalb der Universität, aber in den letzten Jahrzehnten ist sie förmlich explodiert. Als wir beide in Wien in den 1980er Jahren studiert haben, hatte das damalige Institut für Psychologie an der Universität Wien vielleicht zwei Dutzend Mitarbeiter*innen, jede und jeden hat man namentlich gekannt. Heute sind es an meiner Fakultät für Psychologie – dieses Upgrade von Institut auf Fakultät ist im Übrigen ein weiteres Indiz für den Erfolgslauf – schon hunderte. Einen vergleichbaren Run haben andere Sozialwissenschaften nicht vorzuweisen.
Gerhard Benetka: Wir können auf die Gründe für diesen Erfolgslauf hier nicht näher eingehen. Jedenfalls gibt es eine gesellschaftliche Nachfrage nach Psychologie, gar nicht so sehr nach dieser mit sich selbst beschäftigten Mainstream-Psychologie, sondern nach alltagstauglicher, leicht verdaulicher Psychologie. Gerade daran zeigt sich auch, wie ambivalent der Begriff »Erfolg« ist. Denke an die Dissemination wissenschaftlicher Erkenntnisse, das ist ein wichtiger Punkt zum Beispiel bei der Antragstellung um Drittmittel geworden. Wir müssen uns dazu verpflichten und auch diesbezüglich einen Plan erstellen, dass und wie wir die Resultate unserer Forschung öffentlich kommunizieren, das heißt letztlich: in die Presse oder ins Fernsehen bringen oder auf eigens eingerichteten Internetportalen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Und zwar in leicht verständlicher Form, dass jede*r sie nachvollziehen kann. Viele von uns haben diese Erfahrung gemacht – zum Beispiel in Fernsehinterviews, die aufgezeichnet werden –, dass jemand hinter der Kamera sagt: »Das ist wirklich interessant, was Sie da sagen, können Sie das bitte wiederholen, vielleicht etwas einfacher, weniger kompliziert.« Schon der Satz, dass das interessant ist: Von welchem Standpunkt aus wird das festgestellt? Und was ist, wenn die Sache selbst kompliziert ist, ist sie dann per se schon uninteressant? Kurz und gut: Man unterwirft sich einem der Wissenschaft eigentlich gänzlich fremden Sprachspiel. Die Regeln lauten: Was gesagt wird, soll leicht verständlich sein, soll niemandem wehtun, niemanden aufregen, soll in das Format der Sendung passen etc. Erfolgreich bist du, wenn du dieses Sprachspiel beherrschen lernst. Denke zum Beispiel an unsere Kolleg*innen aus der kognitiven Neurowissenschaft, die im Nachtfernsehen auftreten und Gott und die Welt erklären.
Thomas Slunecko: Bei allem Verständnis für die Ambition, Wissenschaft und Forschung einem größeren Publikum zu vermitteln: Es ist oft wirklich fantastisch zu sehen, wie diese Leute über ihre Verhältnisse leben in dem Sinn, dass sie über Probleme der Lebenswelt, die überhaupt nichts zu tun haben mit ihrer tatsächlichen Forschung im Labor, als Expert*innen dahinplaudern. Mit diesem Habitus: Mein Wissen ist, weil ich eben Neurowissenschaftler*in bin, per se fundiertes Wissen …
Gerhard Benetka: Ich möchte unsere Kolleg*innen aber ein wenig in Schutz nehmen. In dem Moment, in dem sie ins Fernsehen gehen, müssen sie akzeptieren, dass Details ihrer Forschung etc. nicht mehr interessieren. In dem Moment sind sie fremdbestimmt, den Kriterien des Journalismus unterworfen: Was kommt beim Publikum gut an? Was hat Neuigkeitswert? etc. In dem Augenblick, in dem du dich vor eine Kamera hinsetzt, wirst du in das hineingezogen. Bourdieu (1998) hat das in seinem kleinen Büchlein über das Fernsehen eindrucksvoll demonstriert, dass du da nicht mehr Herr deiner Sprache bist. Aber für gemeinhin gelten solche Leute, die sich das zutrauen, als erfolgreich. Andererseits kann man das jetzt auch selbstkritisch oder als Chance sehen. Sehr oft sind es nicht die Spitzenforschenden, sondern eher universitäre Außenseiter*innen, die sich als Medienintellektuelle inszenieren. Leute, die in ihrem wissenschaftlichen Feld aus bestimmten Gründen, die ganz unterschiedlich sein mögen, nicht ganz an die Spitze gekommen sind.
Eine andere Art von Kompensation kann sein, dass man universitäre Macht anhäuft, als Dekan zum Beispiel oder als Senatsvorsitzender. Oder eben umgekehrt, wie Bourdieu es so schön zeigt, dass man die fehlende wissenschaftliche Autorität kompensiert durch symbolisches Kapital, das man sich in der Welt des Journalismus erwirbt, als Fernsehintellektuelle*r. Oder, das trifft dann eher auf uns beide zu, dass man Psychologie-Kritiker*in wird, der*die dem Mainstream vorhält, was er alles nicht kann, oder mehr in der Tradition der Linken gesprochen: dass die Mainstream-Psychologie politisch reaktionär ist. Wie kann man dem entgehen?
»Erfolg« ist einfach eine ambivalente Kategorie. Ich bin Dekan einer Fakultät für Psychologie, die vor jetzt 13 Jahren als ein kleines Institut mit drei halben Stellen, eine davon eine Sekretariatsstelle, und mit rund 15 Studierenden begonnen hat und mittlerweile über 1.000 Studierende und nochmals etwa 1.000 außerordentliche Hörer*innen hat mit Niederlassungen in Berlin und Mailand. Was für eine Erfolgsgeschichte! Aber betrachte das in dieser Ambivalenz: Was ist da gelungen? Man hat mitgeholfen, zu demonstrieren, dass Privatuniversitäten auch mit Studienangeboten, die mit langer Tradition an staatlichen Universitäten etabliert sind und zu Abschlüssen mit einer Berufsberechtigung führen, funktionieren können. In diesem privatwirtschaftlichen Kontext haben wir etwas aufgebaut, und wir haben vermutlich mehr psychologiekritische Mitarbeiter*innen im fixen Lehrkörper als irgendein anderes staatliches Psychologieinstitut im deutschen Sprachraum. Ich finde das wirklich amüsant. Das ist genau das, was wir ganz zu Beginn thematisiert haben. Diese alles aufsaugende Macht der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Man behauptet sich in einer Gesellschaft, die man eigentlich im Grund seines Herzens als völlig herzlos ablehnt.
Thomas Slunecko: Wir beide haben in diesen Gründungsjahren der SFU gemeinsam über die Chancen der neu geschaffenen Studiensituation für kulturpsychologische Anliegen nachgedacht (Przyborski et al. 2007). Wir hatten das Gefühl, an der SFU ist unbebautes Terrain und da kann man in einem völlig neuen Psychologie-Curriculum viel Kulturwissenschaftliches, Qualitatives, Geisteswissenschaftliches, Interdisziplinäres machen. Das ist dann auch zunächst so passiert. Aber jetzt sehe ich, dass diese Freiheitsgrade sich zunehmend eingeengt haben: zum einen durch diese regelmäßig wiederkehrenden Akkreditierungsverfahren, die darüber entscheiden, ob diese Studiengänge weiter bestehen dürfen; zum anderen werden sie davon eingeengt, ob deine Absolvent*innen aus dem Bachelorstudiengang anschlussfähig sind an weiterführende Studienangebote insbesondere deutscher Universitäten; ob der Masterabschluss an der SFU die formalen Voraussetzungen für postgraduelle Ausbildungen verschafft; ob er darauf hinführt, in Deutschland Psychotherapeut*in werden zu können. Kurz und gut, Prozesse, die prüfen, ob da auch genug Mainstream drinnen ist in den Studienprogrammen. Wodurch sich auch die zunächst sehr eindeutig kulturpsychologischen Studienprogramme der SFU peu à peu verändert und an den Mainstream angepasst haben.
Gerhard Benetka: Du hast vollkommen recht. Und du hast beide Seiten richtig angesprochen. Die eine Seite ist die Logik der Akkreditierung. Sie bedeutet, dass fachspezifische Gutachter*innen die Studienprogramme beurteilen. Die Gutachter*innen kommen aus der Mainstream-Psychologie, wo sollen sie denn sonst herkommen. Das haben wir oft erlebt, dass Gutachter*innen gekommen sind, die uns gefragt haben: »Warum gibt es da kein Labor für experimentelle Psychologie? Eine mehr kulturwissenschaftlich orientierte Psychologie – das ist alles wirklich sehr interessant, aber ein experimentalpsychologisches Labor braucht ein Institut, das die Psychologie in Lehre und Forschung zu vertreten beansprucht, trotzdem!« Ich habe in einer Stellungnahme zu einem dieser vielen Fachgutachten einmal geschrieben – wir hatten als Fachgutachter einen kognitiven Neurowissenschaftler aus Oldenburg, der monierte, dass wir keine international anerkannte neurowissenschaftliche Forschung betreiben –, dass dieses Argument eigentlich genauso viel wert ist, wie wenn ich Oldenburg vorwerfen würde, dass die dort keine Kulturpsychologie machen. Natürlich ist diese Umkehrung im Kontext der Mainstream-Psychologie völlig grotesk. Der Kollege wird, falls er die Stellungnahme überhaupt gelesen hat, sich vermutlich gedacht haben, dass das ein Scherz ist. Im besten Fall, vielleicht aber hat er sich auch gedacht, dass das Argument völlig schwachsinnig ist. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die: Die größte Studienplanreform, die wir gemacht haben, war gleich zu Beginn, als sich nämlich herausgestellt hat, dass Absolvent*innen unseres damals noch sehr deutlich kulturwissenschaftlichen Bachelorprogramms keine Chance haben, in ein Masterprogramm aus Psychologie an einer deutschen Universität aufgenommen zu werden. Und zwar deswegen, weil wir im Curriculum keine Differenzielle Psychologie, auch keine Testtheorie usw. angeboten haben. Tatsächlich haben wir das sofort geändert und dann jede*n einzelne*n Studierende*n, der*die mit einem Bachelorabschluss bei uns in ein Masterstudium in Deutschland übergewechselt ist, als großen Erfolg für unser Studienprogramm aufgefasst. Das, obwohl wir damit eigentlich Geld verlieren, wenn jemand anderswo weiterstudiert. Da hast du wieder diese Ambivalenz von »erfolgreich«. Erfolgreich sind wir, weil uns die Mainstream-Psychologie dann doch anzuerkennen begonnen hat: So auf die Art: Ja, wir nehmen zur Kenntnis, dass SFU-Studierende auch halbwegs ordentlich ausgebildet sind. Unter diesen gegebenen Spielregeln ist es tatsächlich schwer, etwas Neues zu machen. Entweder du hältst dich an die Regeln und wirst konservativ – oder du forderst die Regeln heraus und nimmst in Kauf, dass das ganze Unternehmen nicht erfolgreich ist, was dich wieder in Konflikt mit der privatwirtschaftlichen Struktur der Universität bringt.
Thomas Slunecko: Lass uns in diesem Zusammenhang noch der Frage nachgehen, auf welche Weise »Erfolg« innerhalb des universitären Wissenschaftssystems eigentlich organisiert, garantiert, gesichert wird. Reden wir also darüber, worüber heute in allen möglichen Zusammenhängen geredet wird: über Qualitätssicherung an der Universität und in der Wissenschaft.
Gerhard Benetka: Das etablierte System scheint eben nicht gute wissenschaftliche Praxis zu fördern, sondern das genaue Gegenteil von dem, was es vorgibt zu befördern: schlechte – weil pointilisierte, journalförmige, kleinstteilige Wissenschaft. Wissenschaft unter Produktionsdruck. Der wissenschaftliche Output ist allein eine Frage der Quantität. Man kann das heute überall nachlesen, welche geradezu perversen Anreize das System schafft: Man hat das System nicht verstanden, wenn man das ganze Material auf einmal publiziert. Trivial gesprochen: Wer hindert dich daran, dass du, wenn du vier verschiedene Stichproben hast, die du miteinander vergleichen willst, dass du das hübsch portionierst, sagen wir jeweils nur zwei miteinander für jeweils eine Publikation vergleichst. Du steigerst deinen Output an Publikationen (drei statt einer), was die statistischen Verfahren betrifft, wird die Sache dadurch vielleicht auch einfacher. Jedenfalls brauchen dich so Sachen wie der kumulierte Alpha-Fehler nicht zu kümmern. Aber wen kümmert ein kumulierter Alpha-Fehler, wenn bei fMRI-Untersuchungen zum Beispiel 70.000 t-Tests gerechnet werden, und du von Vornherein weißt, dass davon 3.500 falsch sein werden – aber welche, das weißt du freilich nicht. Aber nach so was fragt man nicht, und dieser Umstand, dass man nicht danach fragt, macht eben schlechte Wissenschaft aus.
Es ist wirklich bemerkenswert, dass in Deutschland gerade ein Preis für gute Wissenschaft ausgelobt wurde – ich meine diesen Einstein Foundation Award für die Qualitätssicherung in der Forschung. Wenn es also notwendig ist, gute Wissenschaftspraxis zu prämieren, ist wohl davon auszugehen, dass die normale Praxis weniger gut, also eigentlich schlecht ist. Also kurz und gut: Das System der Qualitätssicherung in der Wissenschaft gibt sehr klare, wenn auch sehr problematische Kriterien dafür vor, was als erfolgreich zu gelten hat. Nachdenklichkeit kannst du dir in diesem System nicht leisten, weil die Nachdenklichen einfach zu langsam sind, das heißt, zu wenig publizieren oder keinen Zitationskartellen beitreten. Jede*r, der*die da kundig mitspielt, ist dazu gezwungen, Studierende oder Mitarbeiter*innen auszubeuten, um seine*ihre eigenen Kennziffern für wissenschaftlichen Erfolg zu erhöhen. Das sind im Grunde kapitalistische Produktionsbedingungen, die da auf das Schaffen an der Universität übertragen werden. Denke zum Beispiel an die Herausgeber*innen von Journals mit hohem Impact-Faktor. Ihre Leistung wird selbst wieder daran gemessen, ob es ihnen gelingt, den Impact-Faktor hoch zu halten oder weiter nach oben zu entwickeln. Letztlich erzwingt das ein Agieren, das dem von Fondsmanager*innen im Spiel der Finanzkapitalist*innen nicht unähnlich ist.
Thomas Slunecko: Wir müssen uns da natürlich auch unsere eigene Position bedenken. Von der biografischen Lagerung her sind wir beide von diesem Wettbewerbssystem lange nicht so beherrscht wie die, die heute 25 oder 30 Jahre alt sind. Etwas selbstironisch könnte man sagen, dass unser eigener Erfolg in diesem System darin liegt, dass wir an diesem Spiel nicht mehr mitspielen oder nur mehr am Rande mitspielen müssen. Freilich trage ich aber alle meine Publikationen, Vorträge und eingeworbene Drittmittel brav in die Forschungsdokumentationsdatenbank der Universität Wien ein. Oder denke an ResearchGate4, auf dem wir beide vertreten sind, und zwar auf der Basis von Einträgen, die wir dort »freiwillig« machen. Und ich kann nicht sagen, dass mich das gar nicht interessiert, wie viele Punkte ich gerade erreicht habe. Und ich merke das auch bei anderen Leuten, mit denen ich arbeite, die registrieren auch meinen Punktestand, selbst wenn sie Philosoph*innen sind oder wahlverwandte kritische Geister. Das ist alles nicht so einfach abzuweisen.
Gerhard Benetka: Diese Dokumentationssysteme für Forschungsaktivität, die du ansprichst, sind wie ein Experiment, bei dem wir selbst Versuchspersonen sind. Das ist eine wichtige Erfahrung. Man erfährt am eigenen Leib, wie man sich in dieses Kalkül des Sich-ständig-mit-anderen-Vergleichens selbst verstrickt. Wir spielen da alle mit, und nur, weil alle oder die meisten mitspielen, funktioniert es auch.
Thomas Slunecko: Ich bin gerade an einem Forschungsprojekt beteiligt, in dem wir zwei solcher Forschungsdokumentationssysteme dispositivanalytisch durchbuchstabieren. Diese Systeme funktionieren, weil sie an etwas anschließen, was die Forschenden selbst wollen oder zu wollen gewohnt sind: alle Publikationen, alle Vorträge etc. zu sammeln, sodass das ganzes Œuvre übersichtlich vorliegt – für einen imaginierten Anderen, der sich dafür interessieren könnte. Sie appellieren also an eine Mischung aus Narzissmus und Ordnungssinn, ohne die wissenschaftliche Karrieren selten auskommen. Jedenfalls hat dieses Forschungsdokumentationssystem – an der Universität Wien wird es als u:cris gebrandet, aber es steht ein Konzern dahinter, der das international vertreibt –, eine Benutzeroberfläche für dich als Forscher*in, über die du deine Daten eingeben kannst. Aber es hat auch noch eine zweite Seite, eine Benutzeroberfläche für den Dekan und für Positionen vom Dekan aufwärts. Und die können dann blitzschnell allerlei individuelle Leistungsparameter abfragen: Wie viele Drittmittel wurden eingeworben, wie viele Drittmittelanträge sind gescheitert, steigt der Prozentsatz der erfolgreich eingeworbenen Mittel an den beantragten Gesamtsummen oder fällt dieser Wert, wie schneiden einzelne Mitarbeiter*innen im Vergleich mit den anderen Mitarbeiter*innen der Abteilung ab. Das Forschungsdokumentationssystem, in das ich seit Jahren meine Daten eingebe, dient also letztlich dem Controlling, das heißt konkret dazu, einzelne Abteilungen und einzelne Mitarbeiter*innen gegeneinander auszuspielen. Das läuft zum Beispiel in England schon seit Jahren mit voller Kraft: Wenn du als Professor*in nicht soundsoviel 100.000 Euro im Jahr an Drittmitteln einwirbst, wirst du zum Rektor zitiert und in letzter Konsequenz fliegst du raus; davon sind wir zwar noch einen Schritt entfernt, aber die Systeme, die das ermöglichen, sind schon vorbereitet.
Gerhard Benetka: Wie kann man in einem solchen System überleben? Wie kann das ohne Illusionen gehen und ohne Zynismus? Und – um zum Ausgang unseres Gesprächs zurückkehren – wie kann man unter diesen Bedingungen lehren und in dieser Lehre kritische Inhalte vermitteln? Wir haben schon darüber gesprochen, wie groß der strukturelle Anpassungsdruck gerade auch für eine Privatuniversität ist. Dazu kommt aber noch, dass auch einige der Ideen, die wir für ein alternatives Studienprogramm entwickelt haben, nicht so funktionieren, wie wir uns das vorgestellt haben. Ein Beispiel dafür ist die Interdisziplinarität, wie wir sie in den Studienplänen für die SFU verankert haben. Mir war vor allem wichtig, dass angehende Psycholog*innen in ihrem Studium Soziologie lernen. Wenn man von Anfang an mitbekommt, dass es da größere, eben gesellschaftliche Zusammenhänge gibt, dann wirkt das, so hab ich gedacht, wie eine Art Korrektiv in einem Fach, das für gesellschaftliche Zusammenhänge so blind ist wie die Psychologie. Tatsächlich ist das aber nicht so einfach. Es gibt zwar bei uns noch immer eine Lehrveranstaltung zu Soziologie. Aber ich glaube nicht, dass jemand, der bei uns Klinische Psychologie studiert, wenn er*sie hört oder liest, dass – ich weiß nicht – jede*r vierte Europäer*in irgendwann einmal in seinem oder ihrem Leben an einer psychischen Störung leidet, automatisch daran denkt, dass solche Zahlen immer auch von der Menge der Expert*innen, der Zahl der Klinischen Psycholog*innen abhängig sind, die solche Diagnosen stellen. Das meine ich, wäre so ein soziologischer Gedanke, der der Psychologie guttun würde.
Was ich aber schon sagen kann, ist, dass wir zumindest in der praktischen Ausbildung unserer Absolvent*innen einiges anders und, wie ich meine, auch besser machen als in herkömmlichen Studienprogrammen. Tatsächlich lernen Studierende bei uns viel über Zeigen und Imitieren, wie es bei Wittgenstein (2010 [1953]) heißt, in der psychologischen Ambulanz und im kinderpsychologischen Zentrum. Das scheint mir gerade in Bezug auf die psychologische Diagnostik wichtig zu sein: dass die Studierenden da von Anfang an vorgelebt bekommen, dass das eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit ist, derer man sich nicht einfach durch das Abarbeiten eines vorgegebenen Schemas entledigen kann.
Thomas Slunecko: Wie groß die institutionellen Spielräume sind, die man hat, die man auch in der Lehre hat, hängt natürlich auch von den Verträgen ab, über die man an der Universität angestellt ist. Ein Dauervertrag als Universitätsprofessor – wie in meinem Falle – ist eine Basis dafür, sich außerhalb des Konsenses der Kolleg*innen an der Fakultät aufzuhalten oder sogar – wie wir beide das jetzt gerade tun – von der Misere des Faches nach außen zu berichten. Aber wenn man mit 25 in das System einsteigt und eine akademische Karriere in der Psychologie machen will, ist das eine ganz andere Lage. Für die jungen Kolleg*innen bedeutet es ohnehin, dass sie sich auf eine sehr unsichere Karriere einlassen, wenn sie an der Universität tätig werden wollen, auch wenn sie keine kritische Agenda haben. Die flächendeckende Befristung von Uni-Jobs, über die so viel diskutiert wird, erzeugt einfach Angst, Abhängigkeit – und letztlich prekäre Lebenssituationen. Und natürlich Gehorsam oder zumindest eine Bereitschaft, sich in seinem wissenschaftlichen Tun und Lassen anzupassen. Die Angstindizes in der universitären Welt sind gestiegen, aufseiten der Lehrenden und Forschenden wie auch auf der der Studierenden.
Gerhard Benetka: Natürlich war früher an den Universitäten, für die, die fix angestellt waren, der Handlungsspielraum dadurch, dass mit der Habilitation die Verbeamtung verknüpft war, erheblich größer, als er heute ist. Ich habe viele Leute gekannt, die sich habilitiert haben und dadurch unkündbar geworden sind, die sich dann an der Universität eine Art von Nischenexistenz haben aufbauen können. Da waren sehr eifrige und sehr gute Leute dabei, die zum Beispiel jedes Semester eine neue Vorlesung vorbereitet haben, ohne sich dabei an irgendwelchen Erfolgskriterien zu orientieren.
Thomas Slunecko: Die waren damals natürlich auch noch nicht so ausgeprägt bzw. transparent. Es hat ja damals die per Knopfdruck abrufbaren Leistungsüberprüfungen und -vergleiche zwischen einzelnen Professor*innen oder einzelnen Abteilungen nicht gegeben. Jedenfalls spielt bei all diesen Veränderungen, die an der Universität in den letzten beiden Jahrzehnten sich vollzogen haben, die Digitalisierung der Kontrollmechanismen eine große Rolle. Sobald die Instrumente der neuen Steuerung ins Spiel kommen, dieses große Mehr an auszufüllenden Excel-Sheets und Formularen, Dokumentations-, Qualitätssicherungs- und Verwaltungspflichten aller Art, verschließen sich die lebendigen Reflexionsräume und auch die Räume potenziell widerständiger Praxis vor Ort. Kritische Energie verpufft in Eingabemasken, selbst wenn die Masken versprechen, der Kritik zuarbeiten zu wollen. Neben dem Umstand, dass die politische Kritik, wie zuvor erwähnt, von immanenter Kritik verschlungen wird, ist das ein weiteres Puzzleteil zur Klärung der Frage, warum es Kritik so schwer hat dieser Tage. Diese mehr oder weniger subtile Form der Entpolitisierung durch Steigerung der organisatorischen Pflichten – denn es sind natürlich echte Pflichten; sie zu verweigern bedeutet für die allermeisten eine totale Exklusion aus dem System. Diese immens gesteigerten Möglichkeiten des Controllings, das ist auch an den Universitäten der Motor der neoliberalen Mobilmachung; die Coronapandemie hat solche Tendenzen noch mal verstärkt.
Gerhard Benetka: Dazu kommt, dass wir an der Universität junge Menschen schließlich auch so ausbilden müssen, dass sie nach ihrem Abschluss einen Job finden. Wie ist diese Verantwortung wahrzunehmen? Was kann, was soll man den Leuten, die Psychologie studieren, beibringen, wenn man eine kritische Perspektive im Hintergrund hat?
Thomas Slunecko: Die Ausbildung in Psychologie, wie sie sich an den meisten Unis vollzieht, läuft an dem, was Psycholog*innen in der Lebenswelt oder in ihrem Leben brauchen werden, ohnehin weitgehend vorbei, insofern ist die Latte in Bezug auf Verantwortung nicht hoch gelegt. Meine Seminare mit den am weitesten fortgeschrittenen Studierenden, die an ihren Abschlussarbeiten schreiben, haben demgegenüber fast etwas Psychotherapeutisches. Sie ähneln streckenweise Selbsterfahrungs- oder Selbsthilfegruppen, die sich anhand von eingebrachten, das heißt von den Studierenden verfassten Texten oder Projektskizzen entfalten. Die Haltung, die dabei eingeübt wird: sich miteinander kultiviert über bestimmte Weltausschnitte auseinanderzusetzen und die eigenen Aufladungen dabei nicht aus dem Auge zu verlieren. Das geht manchmal, weil man sich als Schreibende*r exponiert, auch sehr ins Persönliche hinein. Wobei ich das Persönliche zwar einlade, aber nicht zu sehr forciere; manche wollen die Auseinandersetzung mehr auf der Textebene halten, andere lassen sich persönlich weiter auf Prozesse ein. Aber insgesamt eröffnet sich ein Raum, in dem sich in Resonanz mit anderen Betroffenen eine oft jahrelange frustrane Erfahrung mit dem Psychologiestudium doch noch unerwartet zu einer halbwegs sinnvollen Gestalt schließt. Sich das Ressentiment bezüglich des bildungsmäßigen Unfalls, den dieses Psychologiestudium für einen oder eine bedeutet hat – insofern das Leben selten Zeit für ein weiteres Studium lässt –, abbauen kann. Sich vielleicht sogar umbauen kann zu einem umfassenderen, auch über die Psychologie hinausreichenden Verständnis der kontingenten Gewordenheit von Wissenschaft und der ökonomischen und sozialen Kontexte, die sie antreiben. Einige erleben das wie ein Erwachen aus der Matrix.
Anmerkungen
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Thomas Slunecko, ao. Univ.-Prof. Dr., lehrt und forscht an der Abteilung für Kognition, Emotion und Methoden der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Kulturpsychologie, qualitative Methoden und Psychotherapie. Zudem leitet er das Institut für Kulturpsychologie und qualitative Sozialforschung (IKUS) in Wien, ist Psychotherapeut und Mitglied des österreichischen Psychotherapiebeirates.
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Prof. Dr. Thomas Slunecko,
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Gerhard Benetka, Univ.-Prof. Dr., ist Dekan der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte der Psychologie und der Kulturpsychologie.
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