Gegenstand und Realität

Paul Ferdinand Linke als früher Wegbereiter einer phänomenologischen Psychologie

Uwe Wolfradt & Alexander Nicolai Wendt

Journal für Psychologie, 31(1), 151–172

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2023-1-151 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Paul Ferdinand Linke (1876–1955) war ein Philosoph und Psychologe an der Universität Jena, der angeregt durch Bernard Bolzano, Gottlob Frege und Franz Brentano eine fruchtbare Verbindung zwischen Psychologie und Phänomenologie suchte. Linke arbeitete selbst experimentell über Bewegungswahrnehmung und entwickelt eine eigene Wahrnehmungslehre. Er unterscheidet eine phänomenologische von einer empirischen Betrachtungsweise: Wahrnehmung ist aus der phänomenologischen Perspektive intentional strukturiert und ist in einem Akt gegeben. Demgegenüber gilt aus der empirischen Perspektive, dass Personen über eine dispositional strukturierte psychophysische Organisation verfügen, die es ihnen ermöglicht, Erfahrungsgegenstände zu konstituieren. Linkes Kernanliegen war es, den Subjektivismus in der Philosophie, und hier besonders in der Transzendental- oder Erlebnisphänomenologie Edmund Husserls, zu überwinden. Dieser setzt Linke seine Gegenstandsphänomenologie entgegen, die ontologisch verfährt und einen anderen Erlebnisbegriff entwickelt. Linke problematisiert insbesondere die transzendentale Egologie der Erlebnisphänomenologie. Ihr gegenüber entwickelt die Gegenstandsphänomenologie eine realistische Grundauffassung. Dieser Artikel möchte Linkes erkenntnistheoretischen Weg in der Unterscheidung von Beobachten und Schauen zu einer realistischen Psychologie nachzeichnen und diskutieren, welcher Stellenwert seiner Auffassung in der phänomenologischen Psychologie zukommt.

Schlüsselwörter: Gegenstandstheorie, Gegenstandsphänomenologie, Wahrnehmungslehre, phänomenologische Psychologie

Summary
Object and Reality

Paul Ferdinand Linke as an Early Pioneer of a Phenomenological Psychology

Paul Ferdinand Linke (1876–1955) was a philosopher and psychologist at the University of Jena who, inspired by Bernard Bolzano, Gottlob Frege, and Franz Brentano, sought a fruitful connection between psychology and phenomenology. Linke himself worked experimentally on motion perception and developed his own theory of perception. He distinguished a phenomenological from an empirical approach: Perception, from the phenomenological perspective, is intentionally structured and is given in an act. In contrast, from the empirical perspective, persons have a dispositionally structured psychophysical organization that enables them to constitute objects of experience. Linke’s core concern was to overcome subjectivism in philosophy and here especially in Edmund Husserl’s transcendental or experiential phenomenology. Linke opposes this with his so-called object phenomenology, which proceeds ontologically and develops a different concept of experience. Linke problematizes the transcendental egology of transcendental phenomenology. In contrast, object phenomenology has a realist foundation. This article wants to trace Linke’s epistemological path in the distinction between observing and looking to a realist psychology and to discuss which significance his conception has in phenomenological psychology.

Keywords: object theory, object phenomenology, theory of perception, phenomenological psychology

Einleitung

Die Phänomenologie galt Anfang des 20. Jahrhunderts nicht als eine rein philosophische Forschungsrichtung, denn auch in der Psychologie bemühte man sich, sie als erkenntnistheoretische Fundierung für die Untersuchung des Seelenlebens zu nutzen. In diesem Kontext können Franz Brentano (1838–1917), Theodor Lipps (1851–1914) und Carl Stumpf (1848–1936) als wichtige Ideengeber genannt werden, deren Wirken die Geistesströmung der Phänomenologie nachhaltig geprägt hat. Will man den Beitrag von Paul Ferdinand Linke zur phänomenologischen Bewegung verstehen, so ist zunächst die grundlegende Kritik an der Philosophie seiner Zeit nachvollzuziehen. In seinem posthum erschienenen Werk von 1961 Niedergangserscheinungen in der Philosophie der Gegenwart – Wege zu ihrer Überwindung bezieht er sich auf drei Philosophen, die ihn nachhaltig beeinflusst haben: Neben Brentano nennt er Bernard Bolzano (1781–1858) und Gottlob Frege (1848–1925). Diese Denker haben ihn bestärkt, nicht das Subjekt in den Vordergrund der philosophischen Forschung zu rücken, sondern das Objekt, das heißt den Gegenstand der Erkenntnis.

Vorarbeiten zu Linkes allgemeinem Werdegang finden sich insbesondere im Nachruf seines Schülers Hellmuth Dempe (1957) und in einem historischen Abriss mit besonderer Berücksichtigung seiner Beziehung zu Gottlob Frege bei Uwe Dathe (2000). Im vorliegenden Beitrag soll demgegenüber der spezifische Beitrag Paul Ferdinand Linkes zur Etablierung einer Gegenstandsphänomenologie dargestellt werden, die im Gegensatz zu Transzendentalphänomenologie eine realistische Orientierung auf die Psychologie als empirische Wissenschaft ermöglicht. Schwerpunkt dieser Untersuchung ist folglich Linkes Beitrag zur phänomenologischen Psychologie. Ganz grundsätzlich wird für ihn hierbei die Trennung von Akt und Gegenstand, welche von Bolzano und Brentano ausgehend in der Psychologie den Realismus als eine erkenntnistheoretische Perspektive ermöglichte. In der theoretischen Auseinandersetzung des beginnenden 20. Jahrhunderts zwischen Philosophie und Psychologie um den Erkenntnisgegenstand des Psychischen war die Gegenüberstellung von Idealität und Realität im diskursiven Spannungsfeld von Idealismus und Realismus von entscheidender Bedeutung (hierzu Frischeisen-Köhler 1912). Diese Grundfrage der Philosophie reicht an den Anfang des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus zurück. Während aus idealistischer Perspektive in Tradition von Immanuel Kants transzendentalem Idealismus der Psychologie ein theoretisches Erkenntnisvermögen aufgrund des Fehlens einer transzendentalen Selbsterkenntnis abgesprochen wurde, versuchte sein Nachfolger Johann Friedrich Herbart den Gegenstand des Psychischen mittels empirisch-methodischer Verfahren einer realistischen Erkenntnisgrundlage zu unterziehen.

Das Realitätsproblem steht im philosophischen Hintergrund von Linkes Wirken in der Psychologie. Schon Linkes Münchner Lehrer Theodor Lipps (1851–1914) galt als ein führender Vertreter des Realismus in der Psychologie. Seine Feststellung, dass Reales (Dasein) und Phänomenales (Bewusstsein) in der Psychologie auseinandergehalten werden müssen, führte zu der wesentlichen Erkenntnis, dass Inhalt und der in ihm gedachte Gegenstand sich unterscheiden müssen – ein Gedanke, der bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts konzeptuell durch Bolzano geprägt worden ist. Da der gemeinte Gegenstand ein objektiv Wirkliches darstellt, müsse er ein vom Bewusstsein unabhängiges Dasein aufweisen (Lipps 1907, 523ff.).

Im Zentrum der philosophischen und psychologischen Grundlagenforschung stehen für Linke das Problem, die Beziehung zwischen Inhalt und Gegenstand zu bestimmen, ferner das Verhältnis von Realität und Idealität, die Abgrenzung des Psychischen vom Physischen sowie die Bestimmung des phänomenalen, realen und ideellen Raums. Wesentlich ist für ihn außerdem die Überwindung des Psychologismus in der Psychologie, das heißt, Psychologie nicht als reine Subjektwissenschaft zu verstehen, sondern als eine objektive Wissenschaft, die basierend auf Logik und Mathematik zu Erkenntnissen des Psychischen kommt. Linke möchte der Psychologie eine klare begriffliche Grundlage geben, über welche die Naturwissenschaften bereits verfügen. Im Folgenden soll zunächst Linkes Biografie vorgestellt werden, ohne die ein tieferes Verständnis seines Denkens als Philosoph und Psychologe nicht möglich ist. Sodann wird der Beitrag Linkes zu Etablierung einer phänomenologisch bestimmten Psychologie nachgezeichnet.

Paul Ferdinand Linke –
ein Leben zwischen Philosophie und Psychologie

Paul Ferdinand Linke wird am 15. März 1876 in Staßfurt (Preuß. Provinz Sachsen) als Sohn des Geometers Ferdinand August Linke geboren. Er wächst in Magdeburg auf, wo er von 1888 bis 1897 das Domgymnasium besucht. Zunächst studiert er 1897/98 Jura in München, um angeregt durch Theodor Lipps zur Philosophie zu wechseln. In München schließt sich Linke der phänomenologischen Bewegung an, indem er dem neu entstandenen »Akademischen Verein für Psychologie« beitritt. So wird er beispielsweise mit Max Ettlinger (1877–1929), Alexander Pfänder (1870–1941) und Felix Krueger (1874–1948) bekannt (Smid 1982). Lipps ist es auch, der Linke 1898 ein Studium der Psychologie bei Wilhelm Wundt (1832–1920) empfiehlt. In Leipzig legt er 1901 eine Dissertationsschrift mit dem Titel David Humes Lehre vom Wissen vor, deren Thema noch von Lipps angeregt worden war.

Da er sich bewusst ist, dass eine akademische Karriere unter den Bedingungen seiner Zeit schwierig ist und ausreichend finanzielle Möglichkeiten erfordert, absolviert er 1903 sein Staatsexamen als Lehrer (Philosophie mit den Nebenfächern Physik und Chemie) zum Broterwerb. Er nimmt Lehrerstellen in Leipzig (1904/05) und Bremerhaven (1905/06) an. Dennoch arbeitet Linke weiter im Leipziger Laboratorium, um sich in Jena 1907 mit der experimentellen Arbeit Die stroboskopischen Erscheinungen als Täuschungen des Identitätsbewusstseins und das Problem des Sehens von Bewegungen zu habilitieren. Wundt empfiehlt Linke die alma mater jenensis, da in Jena zu dieser Zeit erst wenige Privatdozenten in der Philosophie angestellt waren. Rudolf Eucken (1846–1926) als Professor für Philosophie unterstützte das Habilitationsverfahren von Linke langfristig.

Obgleich Linke als Privatdozent für Psychologie geführt wird, eröffnet ihm die Philosophische Fakultät, dass seiner Arbeit keine institutionellen Mittel für experimentelle psychologische Studien zur Verfügung stünden. Unter diesem Eindruck wendet er sich verstärkt der Phänomenologie zu, die er als eine philosophische Grundlagenwissenschaft für die empirische Psychologie versteht. Sicher ist es auch der durch Lipps gewonnene Gedanke gewesen, dass die Psychologie für die wissenschaftlich-philosophische Forschung unentbehrlich sei, die in ihm das Interesse am Verhältnis der Philosophie zur Psychologie weckte (Dempe 1957, 263).

Linke setzt sich nun intensiv mit der Phänomenologie Husserls und dessen »Logischen Untersuchungen« auseinander, zu denen er auch Lehrveranstaltungen in Jena anbietet. Thema war Husserl bereits im Münchner Lipps-Kreis, doch Linke hatte nicht die Gelegenheit zu persönlichem Kontakt mit ihm. Nichtsdestoweniger findet Linkes Sympathie in einem Brief von Eucken an Husserl aus dem Juli 1911 Ausdruck, der nach dessen Absage für einen Vortrag in Jena verfasst wurde: »Ganz besonders ist neben mir natürlich Dr. Linke betrübt, der Ihnen wissenschaftlich wie menschlich aufs treueste ergeben ist, und der hier schon einen Kreis jüngerer Leute für Sie gewonnen hat« (Husserl 1994c, 91).

Linke publiziert zwischen 1912 und 1918 verschiedene Arbeiten über seine Sicht der Phänomenologie. Von größerer Bedeutung für den phänomenologisch-psychologischen Diskurs ist dabei insbesondere eine Kontroverse, in der Linke auf einen 1915 in den Kant-Studien von Theodor Elsenhans (1862–1918) über »Phänomenologie, Psychologie, Erkenntnistheorie« geschriebenen Artikel reagiert (Elsenhans 1915). Indirekt wird dieser Austausch zum Anlass für Linkes Bruch mit Husserl, denn der Herausgeber Max Frischeisen-Köhler (1878–1923) bittet Husserl im Januar 1917 um Stellungnahme zur Kontroverse, weswegen sich Husserl mit Linkes Forschung auseinanderzusetzen beginnt (vgl. Husserl 1994b, 49). Aus dem Schriftverkehr von Husserls Mitarbeiterin Edith Stein (1891–1942) geht hervor, dass Husserl im folgenden Jahr verschiedene Stellungnahmen vorzubereiten beginnt, zu denen sein posthum veröffentlichter Aufsatz »Phänomenologie und Psychologie« gehört (vgl. Parker 2018). In einem Brief von Stein aus dem September 1919 ist auch die Rede von einer »Kritik von Linke« (Stein 2001, 87). Zu ihrer Veröffentlichung kommt es jedoch nicht.

In sachlicher Hinsicht weist Husserl Linkes Ansatz zurück, was indirekt aus Aussagen gegenüber Dritten hervorgeht (der Briefwechsel zwischen Husserl und Linke ist nicht erhalten). So schreibt Husserl polemisch an einen seiner Freiburger Schüler in einem Brief aus dem Juli 1918: »Herr Prof. L(inke) hat davon leider nichts verstanden, weil er es eben an der echten Vorurtheilsfreiheit hat fehlen lassen« (Husserl 1994a, 406). Tatsächlich vertritt Linke schon in den 1910er Jahren eine Interpretation von Husserls Phänomenologie, die keine bedingungslose Gefolgschaft bedeutet. So opponiert er Heinrich Hofmann (1883–1970), der 1913 bei Husserl eine phänomenologisch-psychologische Dissertation in Auseinandersetzung mit Jean Hérings Wahrnehmungslehre geschrieben hatte (vgl. 1929, 2–3; 146), und weist Husserls spätere Schrift Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie zugunsten früherer Arbeiten zurück (vgl. 1929, 94–95).

Enttäuscht nimmt Linke letztlich Abstand von der Phänomenologie Husserls, besonders von der egologischen Lehre vom absoluten Bewusstsein, die er als eine Richtung des transzendentalen Subjektivismus sensu Kant in der Philosophie sieht und als nicht zielführend betrachtet. Diese Abwendung von Husserl markiert den Übergang zwischen zwei Schaffensphasen – gewissermaßen zwischen einem frühen und einem späten Linke (auch Dathe sieht einen Bruch in Linkes Denken am Ende der 1920er Jahre mit der »grundsätzlichen Kritik an Husserl«, Dathe 2000, 234). Der Übergang artikuliert sich an verschiedenen Stellen, insbesondere im Nachwort zur zweiten Auflage seiner Grundfragen der Wahrnehmungslehre (1929). Ähnlich schreibt Linke 1921 in einer Selbstanzeige für eines seiner Bücher, dass er sich »Husserl zu Danke verpflichtet fühlt«, aber nicht vermag, »die seltsame Mystik des ›reinen Bewußtseins‹, in die dieser Forscher die – apriorische – Phänomenologie leider allmählich verwandelt, anzuerkennen« (Schuhmann 2004, 348). Am Ende seines Sinneswandels steht die Perspektive, die in den »Niedergangserscheinungen« zum Ausdruck kommt. Gadamer beurteilt sie als »von greise[m] Unmut diktierte Polemik gegen alles, was Linke für Irrationalismus hielt (den späteren Husserl, Scheler, Dilthey usw.)« (Gadamer 1963, 5).

Im Jahr 1918 wird Linke zum außerordentlichen Professor in Jena ernannt. Basierend auf seinen experimentellen Untersuchungen in der Wahrnehmungspsychologie schreibt er 1918 seine Wahrnehmungslehre (zweite Auflage 1929). Er wendet sich nun verstärkt den Philosophen Bernard Bolzano und Franz Brentano zu, die als Vertreter des 19. Jahrhunderts das Objekt (Gegenstand) gegenüber dem Subjekt in den Fokus der Philosophie gerückt hatten. Ebenso wurde Gottlob Frege, den er noch aus Jena kannte, mit seiner Logik und objektivistischen Wahrheitslehre, zu einem Gewährsmann für die Ablehnung des Relativismus in der Philosophie, besonders in ethischen Fragen.

Beeinflusst durch die Ethikvorlesungen von Lipps in München entwickelt sich Linke nach dem Ersten Weltkrieg zu einem politischen Menschen, er tritt 1919 in die SPD und die Liga für Menschenrechte ein und macht einen sozialen Humanismus zu seiner Lebensmaxime, der die Freiheit des Einzelnen in den Vordergrund stellt (Dempe 1955, 266). Er wendet sich in dieser Zeit gegen den Subjektivismus und »Irrationalismus« in der Philosophie und entwirft eine eigenständige »Gegenstandsphänomenologie«, die er der Erlebnis- und Aktphänomenologie Husserls entgegensetzt (1930). 1925 erhält er eine planmäßige außerordentliche Professur in Jena. Außerdem heiratet er 1930 Catina Ploner.

Die Zeit des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg sind für einen sozial-ethischen Menschen wie Linke eine schwierige Zeit, die er trotz innerer Konflikte an der Universität Jena übersteht. Hierbei passt er sich den zeithistorischen Realitäten an, indem er auch um Mitgliedschaften in NS-Organisationen (auch eine Anwärterschaft in der NSDAP, allerdings ohne Erfolg) nachsucht, ohne dabei seine sozial-humanistischen Grundüberzeugungen aufzugeben. Auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – zunächst in der sowjetischen Besatzungszone und der neu gegründeten DDR – ist durch eine Auseinandersetzung mit dem nun in der Philosophie vorherrschenden dialektischen Materialismus gekennzeichnet. Zwar erhält er 1946 eine ordentliche Professur in Jena und wird in die SED aufgenommen, doch sind die Bedingungen schwierig nach dem Weggang zahlreicher Kollegen in den Westen. 1952 wird Linke offiziell Emeritus und führt bis 1954 als kommissarischer Institutsdirektor die Abteilung für Geschichte der Philosophie an der Universität Jena weiter. Linke verstirbt auf einer Reise am 19. Juni 1955 in Brannenburg am Inn (Bayern).

Zu den Wurzeln des philosophischen und psychologischen Denkens Paul Ferdinand Linkes

Linkes Phänomenologie und Psychologie sind ideengeschichtlich durch das Realitätsproblem geleitet. Als Grundfrage der modernen Philosophiegeschichte bestimmte es auch den innerphänomenologischen Diskurs. Dessen opponierende Lager lassen sich als »Antithese Freiburg-München« (Avé-Lallemant 1975) differenzieren. Als Lipps-Schüler stand Linke dem realistischen Münchner Flügel nahe, versuchte jedoch bis in die späten 1910er Jahre seine Forschung an Husserl auszurichten. Diese immanente Diskursspannung charakterisiert Linkes Denken. Es inkorporiert den Konflikt zwischen der zur transzendentalen Reflexion neigenden Phänomenologie Husserls mit der Gegenstandsphänomenologie, die sich gegenüber der Empirie offener verhält. In diesem Sinne ist Linkes Schaffen ein Wandeln zwischen Welten und droht angesichts der immanenten Widersprüche heimatlos zu werden.

Linke hat für seine realistische Orientierung wichtige Impulse in seinem Denken zugunsten der Etablierung einer auf den Gegenstand bezogenen Philosophie von Bernard Bolzano, Franz Brentano und Gottlob Frege erhalten. In seiner Wahrnehmungslehre stellt Linke den Beitrag von Bolzano zu einer objektiven Philosophie heraus, der die grundlegende Trennung zwischen Akt und Gegenstand vornimmt. In der Kritik an dem Anschauungsbegriff von Immanuel Kant formuliert Bolzano eine »Vorstellung an sich« als eine »objektive Vorstellung«, die er im Gegensatz zur »gedachten« oder »subjektiven« Vorstellung sieht (1929, 81). Die subjektive Vorstellung setzt sich ihm zufolge aus den Erscheinungen des Sehens, Hörens, Fühlens, Wahrnehmens, Denkens und Sich-Einbildens zusammen und entspricht dem eigentlichen Akt der Erkenntnis, der stets wirklich ist. Subjektive Erkenntnisinhalte stellen hierbei die wirklichen und psychischen Erscheinungsweisen von Gegenständen dar, die wiederum für objektive Sätze stehen, die Beziehungen von Vorstellungen (z.B. Logik und Mathematik) reflektieren. Anders verhält es sich mit subjektiven Sätzen, die als Aussagen, wenn auf Wahrheit bezogen als Urteile (z.B. das Kunstwerk ist schön), bezeichnet werden (vgl. Neemann 1972, 256). Der Gegenstand der Vorstellung (z.B. ein Kunstwerk) kann sowohl real (z.B. ein existierendes Bild eines bekannten Malers) wie nicht real (imaginär, z.B. ein vorgestelltes Bild, das tatsächlich nicht existiert) sein. Der Inhalt (z.B. die Komposition) ist vom Gegenstand (z.B. dem Bild) unabhängig, da dieser außerhalb der Realität sowie außerhalb des Psychischen liegt. Gegenstand und Akt sind folglich getrennt. Linke (1929) schreibt in Übereinstimmung mit Bolzano:

»[D]er Akt ist stets real, (d.h. ein psychisch-real Wirkendes und Bewirktes), der Inhalt ist nie real (d.h. weil ohne feste Zeitstelle, auch ohne jede Möglichkeit Wirkungen auszuüben und zu empfangen), der Gegenstand ist bald real, bald ist er es nicht« (83).

Dieser Grundauffassung von der Realität des Psychischen folgt auch die systematische und anschließende strukturelle Erkenntnis der Bewusstseinspsychologie: Erst erfolgt die Erkenntnis der anschaulich gegebenen Gegenstände, dann das Erkennen begrifflicher Strukturen (Neemann 1972, 258).

Gegenüber Brentano verhält sich der späte Linke (1953, 1961) kritisch. Dabei hebt er nichtsdestoweniger die wissenschaftliche Strenge Brentanos in der Begriffsbildung bei Etablierung einer deskriptiven Psychologie hervor: Ihm, Brentano, ging es um »die Denaturalisierung der Psychologie, die Herausarbeitung der Eigenart des Bewußtseins, die Hervorhebung der Unmöglichkeit der geistig-seelischen Tatsachen mittels naturwissenschaftlicher Kategorien« sowie »nicht zuletzt die erfolgreiche Auffindung anderer, dem Bewußtsein wirklich adäquater Kategorien, die er wie vor ihm kein anderer verständlich und logisch einwandfrei beschrieben hat« (1961, 48).

Insbesondere die Abkehr Brentanos vom Begriff »Urteilsinhalt« (dem Gegenstand des Urteilens) nach 1870 problematisiert Linke indessen, da er wesentlich für den Kampf gegen den empirischen wie transzendentalen Subjektivismus in der Philosophie sei. Für Brentano konnten nur reale Objekte vorgestellt werden, nicht jedoch die entia rationis (wie Relation, Gleichheit, Verschiedenheit). Der Urteilsinhalt kann aber einen objektiven Gehalt haben, der unabhängig vom Subjekt des Urteilenden besteht, auch losgelöst davon, ob sie wirklich oder nicht-wirklich sind. Es war die »objektivistische« Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins, die Linke als bedeutsamen Beitrag Brentanos herausstellt (1953, 95), die um 1905 eine gewisse Neuformulierung erfahren hat: Intentionale Objekte können ebenso wirklich sein wie nicht-intentionale, das heißt, mental und intentional bezeichnen nicht mehr dasselbe: »Intentionale Gegenstände haben durchweg keine mentale Inexistenz« (1953, 95). Zentral für Linke ist die innere Wahrnehmung und das Evidenzerleben in der Lehre Brentanos. Er schreibt: »Jeder psychische Akt ist nicht nur wie ein realer Vorgang der physischen Welt einfach da, sondern er ist ein ›Bewußtseinsvorgang‹, d.h. ein Vorgang dessen wir uns, indem er da ist, zugleich bewußt sind: werden seiner unmittelbar inne; sein Sein ist zugleich sein Wahrgenommensein« (1953, 96). Die innere Wahrnehmung ist real und das Objekt kann als existent erkannt werden (evidentes Urteil). Linke (1961) erkennt im Evidenzbegriff Brentanos aber auch ein grundlegendes Defizit, da die innere Wahrnehmung einseitig überschätzt würde, wenn Formen der intersubjektiven Erkenntnis und Kontrolle in der Wissenschaft ausgeschlossen wären. Insbesondere Husserl habe mit seiner Methode der »Wesensschau« die Evidenz unnötig überhöht (66).

Zentral für das Denken Linkes ist im stärkeren Maße Frege, der, wie bereits Bolzano und Brentano, eine Wendung zum Objekt erstrebte und eine enge Verbindung zwischen Subjektivismus und Relativismus postulierte, welche die Objektivität der Wahrheit in Zweifel zog. Nur eine Seinssphäre des objektiv Nicht-Wirklichen kann zur Überwindung des Relativismus beitragen. Die Logik und Erkenntnistheorie, und hier die logischen Sachverhalte als Seinsgesetzlichkeiten fundamentaler Art, waren bei Frege die Felder, in denen sich die Wendung zum Objekt vollzieht (Linke 1930, 72). Linke unterschied Frege folgend zwischen zwei Arten von Logik: formale Logik (mathematische Logik), welche Gesetze des Ableitens untersucht, und philosophische Logik (allgemeine Gegenstandstheorie), welche die allgemeinen Gesetze des Wahrseins untersuchten (Linke 1926; Dathe 2000, 233). Frege leistete, nach Linkes Einschätzung, einen wesentlichen Beitrag zum funktionalen Charakter des Begriffs und beeinflusste bei einigen Neukantianern, wie Ernst Cassirer und Bruno Bauch, eine Wendung zum Objekt.

Grundlegend wird für Linke seine Kritik am Immanenzbegriff, wie er im »Satz des Bewußtseins« von Nicolai Hartmann (1882–1950) zum Ausdruck kommt: Das Bewusstsein könne nur seine eigenen Inhalte (wie Ideen) erfassen und kann daher niemals aus seiner eigenen Sphäre heraustreten. Selbst eine unabhängige Realität ist als dem Bewusstsein äußerlich erfasst und damit gedacht und bleibt daher in einem Zirkel des Denkens. Linke betont demgegenüber, dass alles Gedachte, Erinnerte oder Wahrgenommene, unabhängig davon, ob es wirklich ist, (logisch) außerhalb des Bewusstseins bestehe. Er stellt heraus, dass aufgrund der Trennung zwischen Akt und Gegenstand alles vom Bewusstsein Erfasste (das intentional Gegebene) von diesem unabhängig sei (vgl. Konrad 1962, 241).

Der Entwurf einer Gegenstandsphänomenologie

Linke verwendet den Begriff des Gegenstandes nicht nur epistemologisch, denn »Phänomenologie ist eine ontologische Disziplin« (1929, 384). Was ein Gegenstand ist, verhandelt Linke, indem er zum Diskurs über das Inhalt-Gegenstands-Problem seiner Zeit Stellung nimmt. Es handelt sich dabei um eine bewusstseinsphilosophische Frage, die von Brentanos Konzept der intentionalen Inexistenz ihren Ausgang nimmt. Brentano hatte die physischen als Gegenstand von psychischen Phänomenen bestimmt und beide durch die Intentionalität verbunden. Physische Phänomene sind folglich für Brentano mental inexistent, sie existieren nicht im Geiste, etwa als Repräsentation, sondern sind als physische intentional gegeben. Unter dieser Voraussetzung kommt den Akten des Vorstellens, die für Brentano alle Aktarten fundieren, die entscheidende Eigenschaft zu, ihren Gegenstand zu meinen bzw. zu geben. Folglich gilt, »daß das Gegenständliche dieses Aktes außerpsychisch ist, und zugleich ist klar, daß dieses Außerpsychische notwendig zu dem Psychischen des Aktes in irgendwelcher Beziehung stehen muß« (1929, 3). In dieser realistischen Antwort ist selbst beim frühen Linke der Bruch mit Husserls Transzendentalphilosophie und somit die Behauptung einer eigenständigen Gegenstandsphänomenologie angelegt.

»Die Brentanosche Scheidung erfreut sich einiger Beliebtheit« (1929, 78), erkennt Linke an, schließt sich ihr jedoch sodann nicht an, sondern verweist auf die Kritik, die etwa von Husserl geäußert worden ist. Das bedeutet, dass der Intentionalitätsbegriff in der phänomenologischen Bewegung nicht einheitlich verwendet wird und somit auch das Konzept des Gegenstandes problematisch wird. Eine eigene Antwort sucht Linke unter Zuhilfenahme der gegenstandstheoretischen Tradition, etwa von Alexius Meinong (1853–1920), die er jedoch seinen phänomenologischen Betrachtungen subsumiert, »weil der Begriff der Phänomenologie ein wesentlich weiterer zu sein scheint als der der Gegenstandstheorie« (1929, 6).

Linke konstatiert in der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Rückwendung auf den Gegenstand, zum Objekt, zu einem Objektivismus im Sinne des kritischen Realismus von Oswald Külpe (1862–1915) oder der Grundwissenschaft von Johannes Rehmke (1848–1930). Diesen Objektivismus fasst Linke wie folgt: »die Betonung von irgend etwas, das ›an sich‹, will sagen vom Sein oder wenigstens vom Dasein (vom realen Dasein) eines denkenden oder erkennenden Subjektes unabhängig besteht« (1930, 66). Objekte solcher Art sind ihm zufolge Wahrheiten und Sachverhalte, die in Form von Ideen und Wesen oder auch Beziehungen oder Gestalten auftreten. Linke unterscheidet hierbei wirkliche von unwirklichen Gegenständen. Der Gegenstand der Fantasie ist unwirklich und entbehrt dennoch nicht seiner gegenständlichen Verfassung. Die Differenz zwischen dem Wirklichen und Nicht-Wirklichen entwickelt Linke dabei unter Bezugnahme auf Individualität, die er auch Diesartigkeit (vgl. 1929, 97) nennt.

Zugleich fällt die Unterscheidung von Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit nicht mit derjenigen von physischen und psychischen Phänomenen oder von Außen- und Innenwelt zusammen. Im Gegenteil: »[D]ie Begriffe wirklich und nicht-wirklich kreuzen sich mit denen des Physischen und Psychischen, des Außenseins und Erlebnisseins« (1929, 120). Dieses Kreuzungsverhältnis ist das Herzstück in Linkes eigener Lösung des Inhalt-Gegenstands-Problems; er bezeichnet die Kreuzung der Dichotomien als »völlig unbezweifelbar« und den alleinigen »Ausgangspunkt« (1929, 385) seiner Forschung. Sie lässt sich in einer Vierfeldertafel darstellen (Tabelle 1). Dabei zeigt sich, dass Linke im Anschluss an Stumpf drei Seinsbereiche unterscheidet. So gilt für das Beispiel der geometrischen Körper, dass Linke mit Stumpf »weder den wirklichen oder ›objektiv-realen‹ noch den phänomenalen ›Raum‹ als Gegenstand der Geometrie anerkennt, sondern ihnen beiden noch einen dritten Raum gegenüberstellt« (1929, 147). Dieser dritte Seinsbereich ist das intentional Gegebene, das neben Außenwelt und Erlebnisstrom tritt. In diesem Seinsbereich allein findet sich die endgültige Bestimmung des Gegenstandes, denn »[e]s kann nämlich jeder Gegenstand als in gewisser Weise ›unabhängig‹ vom Bewußtsein angesehen werden« (1929, 124).

Tabelle 1: Die Kreuzung der Dichotomien WirklichNicht-wirklich und Psy­chischPhy­sisch nach Linke

Der Gegenstand hat einen ideellen Kern, er ist also nicht-individuell und daher nicht zeitlich einmalig. Das Verständnis eines Gegenstandes ist an das Nicht-Wirkliche gebunden, das heißt, alle Gegenstände sind ideell (überwirklich), und damit gehört der Gegenstand nicht in das Gebiet des Wirklichen. Nach Linke gehört der Gegenstand nicht zur wirklichen Außenwelt, da sich hier nur Individuelles befindet.

Das Grundproblem ist ein Zirkelschluss: »Der Gegenstand konstituiert sich in dem, was ihn selbst schon voraussetzt: er konstituiert sich letzten Endes in sich selbst. Das Etwas wird durch das Etwas möglich gemacht« (1930, 69). Es ließe sich auch sagen, das Bewusstsein konstituiere sich im Gegenstand. Aber der Gegenstand ist identisch mit dem Etwas, so Linke. Es sind die empirisch erfahrbaren Gegenstände, die sich in einer allgemeinen gegenständlichen Gesetzmäßigkeit konstituieren, während diese Gesetzmäßigkeit unabhängig von den Gegenständen ist. Ist die allgemeine Gesetzlichkeit nun Teil des Wirklichen (durch die Konstituierung des Gegenstandes) oder nicht? Hier kommt Linke zu der entscheidenden Feststellung: Die Wirklichkeit ist »absolut« und bedarf weder zu ihrem Sein noch zu ihrer Erkenntnis eines Außerwirklichen und insbesondere nicht eines »reinen Bewußtseins« (1930, 71).

Der intentionale Gegenstand ermöglicht den Inhalt des Aktes, bleibt jedoch selbst eigentlich »aktfremd« (1929, 124). Analog zu Husserls Unterscheidung von Aktmaterie und -qualität entspricht der Gegenstand dem »Aktstoff«, zu dem eine »Aktform« hinzutritt, insofern ein Akt »bald als Wahrnehmen, bald als Vorstellen auftritt« (1929, 158). Um dieses Verhältnis der »Entsprechung« zu erklären, bedient sich Linke eines Spiegel-Gleichnisses: »[D]ie Vorgänge auf der Fläche entsprechen dem Aktstoff, die Vorgänge ›hinter‹ ihr dem Gegenstande« (1929, 159). Weil Linke den Repräsentationsgedanken ablehnt, gibt es in seinem Gleichnis jedoch kein Original diesseits des Spiegels. Das heißt, dass der ideelle Gegenstand keine bloße Abbildung der real-objektiven Wirklichkeit ist. Vielmehr ist die materielle Wirklichkeit eine bloße kausalgenetische Voraussetzung für das Verhältnis zwischen Gegenstand und Akt. Bloße Voraussetzung seien gleichfalls die psychogenen Kausalprozesse, sodass Linke zu der Losung gelangt, der intentionale Gegenstand »ist nicht in der Seele, aber durch die Seele« (1929, 387).

Linke wendet sich gegen den kritischen Realismus, der in der empirischen Methode die einzige Forschungsmethode postuliert (1930, 72). Demgegenüber empfiehlt er eine Methode, die weder deduktiv-axiomatisch noch apriorisch ist. Logik und Mathematik gehören in Orientierung an Frege der Schicht des objektiven Nicht-Wirklichen an, da sie weder individuell noch dem hic et nunc folgen. So sagt Linke: »Alles Seiende – das Logische mit ihm und mit ihm auch das Wirkliche als Spezialfall des Seienden – ist, weil an die Region des Nichtwirklichen gebunden, Bewußtseiendes« (1930, 73). Linke wendet sich gegen die Zweiteilung von allem Seienden in Bewusstsein (Inhalte, Akte, Gegenstände) und reale Außenwelt und damit gegen eine Trennungslinie zwischen den beiden Gebieten. Diese naive Position setze kategoriale Kriterien voraus, die sich allerdings aus dem phänomenal Gegebenen nicht rechtfertigen ließen.

Am Beispiel gesprochen: In der Einstellung der Physik als Naturwissenschaft wissen wir von dem Grün der Wiese, dass diese Eigenschaft nicht Teil der realen Außenwelt ist. Der Philosoph würde es allerdings für einen Irrtum halten, das Grün dem Bewusstsein zuzuordnen und nicht der Wiese. Vielmehr haftet das Grün an der Wiese als etwas Ausgedehntem und damit an der Außenwelt, das heißt, Farben sind notwendigerweise an räumlich Ausgedehntes gebunden. Dennoch ist Farbe keine objektiv-reale Beschaffenheit. Es scheint Gegenstände zu geben, die einerseits nicht real sind, aber auch nicht in das Gebiet der Bewusstseinszustände (Gefühle, Empfindungen, Hoffnungen) und ihrer Veränderungen fallen (1930, 75). So ist die Farbe eines Gegenstandes kein Bewusstseinszustand (eines Ichs), auch wenn es das Resultat der psychophysischen Bedingungen meines Ichs ist, steht es mit den Empfindungsakten keineswegs auf einer Stufe:

»Er gehört nicht dem Ich zu […], sondern dem Nicht-Ich. Und er ist gewiß nicht real: er befindet sich in der [›hic et] nunc‹ bestehenden Welt individueller Gebilde nicht in Wahrheit, sondern, wie wir schon sagten, nur dem Anschein nach: der Zusammenhang zwischen dieser individuellen Welt und dem Fleck ist mir aufsuggeriert (vorgetäuscht)« (1930, 75).

Linke unterscheidet folglich methodologisch zwischen zwei grundlegenden Betrachtungsweisen:

Phänomenologische Einstellung gegenüber etwas unter Nichtberücksichtigung des betrachteten Gegenstandes in seinem Verhältnis zur Welt (und damit dem Wirklichen), ohne Kriterien vorauszusetzen, die zunächst gewonnen werden müssen. Die phänomenologische klammert die konkrete Individualität und damit die Wirklichkeit aus (eine Fläche, die eben erscheint, wird als eben bezeichnet). Bei der phänomenologischen Betrachtungsweise geht es nach Linke um vorempirische Feststellungen von Gegebenem.

Empirische Einstellung gegenüber etwas, das sich in der wirklichen Welt befindet, unter Einbeziehung kategorialer Kriterien mit feststehender Bedeutung (eine Fläche, die eben erscheint, wird als uneben bezeichnet, da sich empirisch zeigt, dass die Wirklichkeit keine perfekte Geometrie enthält).

Die intentionalen Gegenstände sind nach Linke nicht immanent, sondern können unmittelbar erfasst werden. Selbst in der Vorstellung kann ein Gegenstand aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen Gegenstand als Abbild empfunden werden, ohne der Gegenstand zu sein, der vorher wahrgenommen wurde. In der phänomenologischen Sphäre des intentional Gegebenen gibt es Wirkliches und Unwirkliches, wie es in der Sphäre des Wirklichen Intentionales und Nicht-Intentionales gibt (1930, 79). Gleichsam postuliert er drei Seinsschichten: erstens den Erlebnisstrom mit den Erlebnissen, zweitens die reale Außenwelt und drittens die intentionalen Gegenstände. Linke zufolge sind diese Schichten voneinander unabhängig. Diese Unabhängigkeit ist die Voraussetzung für die Trennung von Akt und Gegenstand (Gesetz der Schichtenunabhängigkeit, vgl. 1929, 58ff.).

Psychologische Phänomenologie als Grundwissenschaft der Psychologie

Bereits in seiner frühen Arbeit von 1912 Die phänomenale Sphäre und das reale Bewußtsein – Eine Studie zur phänomenologischen Betrachtungsweise beschreibt Linke Bewusstseinserlebnisse (wie Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Wollungen, Urteilsakte), die unmittelbar gegeben sind, und konzipiert die Psychologie als Wissenschaft von diesen Erlebnissen (1912, 4–5). Im gleichen Geiste formuliert er einige Jahre später: »Eigentlicher Gegenstand der Psychologie als empirischer Wissenschaft ist natürlich nur das psychisch Wirkliche« (1929, 128). Auf Grundlage seiner Gegenstandsphänomenologie versucht er, die empirische Psychologie, die sich zum Beispiel konkreten Erfahrungen annimmt, von der intentionalen Sphäre, in deren Zentrum die Bedeutungen von Gegenständen stehen, zu trennen. Ein kritisches Untersuchungsgebiet, an dem der Unterschied ersichtlich wird, sind Linkes eigene Arbeiten zur kinematografischen Bewegung bei Filmen (gleichmäßige Betrachtung von aufeinander bezogenen Einzelbildern), die mit dem Wissen wahrgenommen wird, dass es sich um Schein oder Täuschung handele. Wahrnehmbarkeit, wie das Beispiel der optischen Täuschungen zeigt, kann daher kein Realitätskriterium sein.

Linke ist bemüht, in seiner Wahrnehmungslehre die begriffliche Abgrenzung zwischen Konzepten wie Wahrnehmung, Vorstellung, Empfindung, Gefühl, Subjekt, Erlebnis, Inhalt usw. als Grundlage der Psychologie vorzunehmen. Seine begriffsanalytische Vorgehensweise ist dabei in der Phänomenologie begründet und dient der Fundierung experimentalpsychologischen Vorgehens: »Die Einbeziehung von Untersuchungen, die wir […] als ›begriffsanalytisch‹ bezeichneten, die aber in Wahrheit (eidetisch-)phänomenologische sind […] ist einfach eine Notwendigkeit, wenn man über eine Reihe von wichtigen psychologischen Problemen überhaupt zu einer wissenschaftlichen Klarheit gelangen will« (1929, 4–5).

In dieser Auffassung über das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie zeigt sich Linkes Prägung durch Husserl in seiner ersten Schaffensphase. Der Phänomenologie die Aufgabe zuzuweisen, eine philosophische Grundlage für die empirische Forschung zu erschaffen, entspricht einer Geisteshaltung, die sich etwa in Husserls anlässlich der Elsenhans-Linke-Kontroverse geschriebenem Aufsatz »Phänomenologie und Psychologie« findet. Dort spricht Husserl von der »Parallelisierung der reinen Phänomenologie mit der reinen Geometrie« (Husserl 1987, 114). Damit ist gesagt, dass der Phänomenologie eine Rolle bei der Grundlegung der Psychologie zukomme, die derjenigen der Geometrie für die Naturwissenschaften entspreche. Dieserart epistemologischer Fundamentalismus ist charakteristisch für den anti-positivistischen Diskurs der kontinentalen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber nicht alternativlos. Andere Mitglieder der phänomenologischen Bewegung wie beispielsweise Alexander Pfänder oder die Vertreter der Philosophischen Anthropologie wie Nicolai Hartmann haben eine moderate Position bezogen, die den Wissenschaften die Autonomie darin eingesteht, ihre Grundlagen selbst zu reflektieren, ohne dabei in einen Szientismus umzuschlagen.

In seinen methodologischen Reflexionen fragt Linke, ob Selbstbeobachtung oder Experiment verlässliche Erkenntnisquellen bieten können: »Experiment sowohl wie Beobachtung setzen beide voraus, daß ich durch sie etwas erfahre, was nicht bereits im Sinne des gegebenen Tatbestandes enthalten ist« (1929, VII). Beobachten wird als ein Erfassen des individuellen Gegenstandes unter Verwendung von bisher bekannten »ideellen« Merkmalen verstanden, um ihn richtig zu beschreiben. Ferner spezifiziert Linke: »[A]lle Selbstbeobachtung, die Feststellungen zum Ziele hat, die diese Seele betreffen, kann man seelische oder psychologische Beobachtung nennen oder auch, wiewohl weniger gut, Selbstbeobachtung« (1929, 129).

Als Problem ergibt sich hieraus, dass die individuellen Merkmale des Gegenstandes gegenüber den ideellen Merkmalen als bloße Unterlage zurücktreten, es findet eine gedankliche Loslösung als ein Erschauen der ideellen Merkmale statt: »Die individuellen Gegenstände werden also nunmehr als solche gleichgültig: Es kommt nicht darauf an, ob sie als das, was sie tatsächlich sind, vorliegen oder durch beliebige ›Fiktionen‹ ersetzt sind« (1929, X). Es geht also hier nicht darum, ob das individuelle Gebilde nun tatsächlich eine bestimmte Farbe oder bestimmte Form besitzt, sondern allein um die ideellen Merkmale Form und Farbe, so wie sie unmittelbar (selbstgegeben) vorliegen, unabhängig davon, wie sie scheinbar real oder gar als Selbsttäuschung vorliegen. Hinter den ideellen Merkmalen werden Gesetzmäßigkeiten vermutet, die ihren Sinn konstituieren. Mit dieser Auffassung affirmiert der frühe Linke Husserls Unterscheidung von Wesens- und Tatsachenwissenschaften als Grundlage seiner Metapsychologie. Mit dem Seitenblick auf andere Vertreterinnen und Vertreter der phänomenologischen Bewegung, zum Beispiel Max Scheler, lässt sich indessen sagen, dass diese dualistische Konzeption der Idealität bzw. des Wesensbegriffes nicht alternativlos gewesen ist (vgl. Janssen 1994).

Wie könnte nun eine Beschreibung eines individuellen Gebildes bezüglich seiner räumlichen Merkmale aussehen? Hierzu müssen nach Linke zwei Bedingungen vorausgesetzt werden:

  1. Es gilt den Gegenstand zu kennen, auf den sich die Beschreibung bezieht, indem ich die Merkmale verstehe, wie sie mir hic et nunc erscheinen, und sie nicht mit anderen, etwa ähnlichen Merkmalen zu verwechseln.
  2. Mir müssen die zur Verfügung stehenden Merkmale »rein als solche, ihrem Sinne nach bekannt« (1929, XI) und die Begriffe bezüglich ihrer ideellen Bedeutung verständlich sein (z.B. achtflächig).

Dies aber ist nicht ausreichend: Es bedarf einer experimentellen Behandlung des Gegenstandes, indem ich ihn unter verschiedenen Bedingungen wiederholt und aus der Perspektive mehrerer Untersucherinnen und Untersucher beobachte und der Untersucher oder die Untersucherin sich von der »Unzulänglichkeit des Gegenstandes« bezüglich seiner subjektiven und egozentrischen Beschreibungen zu befreien versucht.

Die Psychologie hat als eine quantitative Wissenschaft den Anschluss an die Mathematik gesucht. Diese Entwicklung erkennt Linke als Fortschritt an, wenn er sagt, »daß die eigentlich großen Leistungen der experimentellen Psychologie vorzüglich in denjenigen ihrer Zweige zu finden sind, in denen dem quantitativen Verfahren in irgendeiner Form die ausschlaggebende Rolle zuteil wurde« (1929, XV). Dennoch gibt es viele Teilgebiete der Psychologie, in denen es schwierig ist, ideelle Merkmale mit Klarheit für die Beschreibung zu gewinnen. Es lassen sich nämlich ebenso wie Gegenstände der Außenwelt mit ideellen Merkmalen wie rund, kubisch, gelb auch Erlebnisse als wahrnehmende, vorstellende, empfindende, fühlende und wollende etc. unterscheiden. Auch hier bieten die individuellen Erlebnisse die Möglichkeit, diese als Unterlage schauend und vergleichend zu Merkmalen einer ideellen Struktur zu gelangen. Somit können allgemeine Gesetzmäßigkeiten für bestimmte Gegenstandsbereiche erfasst werden.

Linke fragt sich: Was macht die sinnliche Wahrnehmung aus? Begriffsanalytische und phänomenologische Arbeit muss in der Psychologie von der empirischen Beschreibung der vorliegenden Phänomene und psychologischen Tatsachen deutlich unterschieden werden. Logische Gesetze wie der Satz vom Widerspruch wie auch mathematische Operationen und die sich daraus ergebenden Sachverhalte können sekundär Forschungsgegenstand der empirischen Psychologie sein, die eine Wissenschaft von den Bewusstseinsgeschehnissen ist: »Es kann also der genannte Akt empirisch-psychologisch untersucht werden: alles psychologisch ›aktualisierte‹ Logische läßt sich unter diesem Gesichtspunkte zum Gegenstande der empirischen Forschung machen – nur auf diese Weise können wir überhaupt zu einer Psychologie der Denkvorgänge gelangen« (1929, 3).

Nach Linke ist Phänomenologie keine bloße Beschreibung von Beobachtungsergebnissen, sondern eine Sinnwissenschaft oder Sinntheorie. Das heißt, dass sie die Bedeutung ideeller Merkmale und gegenständlicher Merkmalseinheiten untersucht, die für eine Beschreibung notwendig sind. Damit wird das Verhältnis zwischen Bewusstseinsinhalt und Außerpsychischem angesprochen. Die sinnliche Wahrnehmung ist nach Linke als Wahrnehmung nicht-psychischer individueller Gegenstände zu verstehen. Ihr Inhalt muss vom Akt geschieden werden. Allerdings kann das Erlebnis oder der Akt selbst Gegenstand einer Analyse sein.

Von wesentlicher Bedeutung ist für Linke die Unterscheidung zwischen Beobachten und Schauen. Linke (1917/18) betrachtet Beobachtung als Spezialfall der Wahrnehmung, die sich wiederum auf Empfindungen gründet, also Erlebnisse, die durch Vermittlung der Sinnesorgane hervorgerufen werden können. Die Wahrnehmung selbst sagt noch nichts über das Vorhandensein eines Gegenstandes aus, dennoch ist sie der Ausgangspunkt für Wirklichkeitsfeststellungen. Beobachtung und Wirklichkeitsfeststellung sind aufeinander bezogen: »Ich kann nämlich nur solche Gegenstände beobachten, die entweder wirklich sind oder die doch ihrer Natur nach wirklich sein könnten« (1917/18, 49). Derartige »individuelle Gegenstände« sind Teil einer wirklichen wie auch einer nicht-wirklichen Welt (z.B. fiktive Märchenfiguren).

Zahlen oder Farben werden nach Linke den nicht-individuellen oder ideellen Gegenständen zugerechnet, die nicht einer Beobachtung unterzogen werden können. Individuelle Gegenstände sind beobachtbar, wenn sie als Ding eine räumliche Zuordnung haben und sich durch ideelle Eigenschaften (z.B. Farbe, Ausdehnung etc.) auszeichnen, die unabhängig voneinander sind. So können sich ideelle Eigenschaften verändern (z.B. Farbnuancen) und damit der individuelle Gegenstand: »Ich beobachte einen (individuellen) Gegenstand dann, wenn ich ihn wahrnehme mit der besonderen Intention auf die Feststellung von Veränderungen, die er innerhalb einer bestimmten Zeit erfährt oder doch erfahren kann« (1917/18, 50).

Beschreibung und Feststellung von Eigenschaften und deren Beziehungen untereinander sind somit möglich. Ferner sollen durch induktive Verallgemeinerung individuelle Gegenstände kategorisiert werden können. Wahrnehmung kann hierbei als eine Vorstufe der Beobachtung verstanden werden, da sie nicht auf individuelle Gegenstände bezogen sein muss. Schauen, ein Begriff von Husserl, ist nun die Erfahrungsform für die ideellen Gegenstände (Farbe, Gestalt) und gehört als Methode zur phänomenologischen Psychologie. Linke (1917/18) schreibt:

»Wer empirische Untersuchungen, also Beobachtungen – in diesem Falle vor allem Selbstbeobachtungen – und Experimente über Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle usw. anstellt, muß zuerst einmal volle Klarheit über den genauen Sinn dessen erlangt haben, was er durch diese Worte bezeichnen will« (55).

Während das Schauen als apriorische Methode bei der Analyse von Vorstellungen (Erinnerungsbilder) bei der Selbstbeobachtung wie der inneren Wahrnehmung zur Anwendung kommt, bezieht sich die Beobachtung auf das Erkennen von individuellen realen Gegenständen. Beim Schauen geht es Linke um das Erfassen von Ideen und damit um eine Sinnbedeutung (z.B. die Einsicht von Relationen von Begriffen wie Zahlen in der Mathematik): »Erst die Einsicht, daß es sich auch hier um an konkreten Gebilden erschaubare Ideen handelt, macht alles begreiflich« (54). Später trifft er die etwas deutlichere Unterscheidung zwischen Verstehen und Erkennen: Verstehen ist das schlichte Erfassen (z.B. das Erleben der Farbe Blau als Farbempfindung). Demgegenüber bedeutet nach Linke Erkennen die Gewinnung der Sicherheit, dass ein Gegenstand auch wirklich bestehe (z.B. »Ist die Farbe Blau wirklich vorhanden?«) (Linke 1936, 43/44). Insgesamt legt Linke den methodologischen Entwurf für eine komplementäre Beziehung zwischen experimenteller und eidetischer Forschung vor, wobei er diese als Fundament auffasst. Ist jene auf sich selbst gestellt, handelt es sich um »klägliche Halbheit« (1929, XVI). So stimmt er Kurt Koffka (1886–1941) zwar im Allgemeinen zu, wenn dieser die Unersetzlichkeit der psychologischen Forschung behauptet (vgl. 1929, 32), doch betont Linke die propädeutische Notwendigkeit der Phänomenologie. Von der psychologischen Beobachtung heißt es etwa: »[D]em Beobachter stehen die Eigenschaften und Beziehungen gedanklich nicht zu Gebote, mit deren Hilfe er die sich ihm an sich deutlich gegebenen Eigenschaften eines psychischen Tatbestandes hätte charakterisieren können« (1929, 7), sofern die phänomenologische Begriffsklärung nicht zur Verfügung stehe. Deswegen stellt er der Psychologie im engeren Sinne, die sich dem wirklichen Innenleben widmet, eine »erweiterte Psychologie« zur Seite, die »das gesamte individuelle Seinsgebiet zum Gegenstande hätte außer dem wirklichen Außensein: also das ganze ›außerphysische‹ Sein, wie man es nennen könnte« (1929, 134).

Konklusion – Zur Möglichkeit einer phänomenologischen Psychologie

Linke leistet einen bedeutsamen Beitrag zum Dialog zwischen Phänomenologie und Psychologie. Sein Werk beinhaltet metapsychologische Reflexionen zur wissenschaftstheoretischen Ordnung psychologischer Erkenntnisse, methodologische Überlegungen zum Verhältnis von eidetischer und experimenteller Forschung sowie theoretische und empirische Einsichten über den Gegenstand der Psychologie, insbesondere den Phänomenbereich der Wahrnehmung. Linke gehört damit zu den phänomenologischen Psychologen seiner Zeit. Er folgt grundsätzlich seinem Lehrer Theodor Lipps, der in seinem Leitfaden zur Psychologie (1906) schrieb:

»Man kann experimentierender Psychologe sein nur in dem Maße, als man vorher ohne das Experiment zum Psychologen geworden ist, oder in dem Maße, als man die Kunst der Selbstbeobachtung und des Schließens aus ihren Ergebnissen, kurz das psychologische Beobachten und Denken gelernt hat« (45).

Zur Einordnung von Linkes Leistung in der phänomenologischen Psychologie bieten sich einige Vergleiche an:

  1. Die Ähnlichkeit zwischen seiner eigenen Arbeit und derjenigen des Denkpsychologen August Messer (1867–1937) erkennt der frühe Linke selbst an, »weil er als stark beeinflußt von Husserl uns selbst sehr nahe steht« (1929, 74). Messer hatte sich in seiner Einführung in der Psychologie unter dem Titel Empfindung und Denken (1908) um den direkten Anschluss an Husserl bemüht. Somit zeigt sich, dass Linkes methodologischer Ansatz eine gewisse Nähe zu dem der Phänomenologie gegenüber offenen Flügel der Denkpsychologie (Bühler, Lindworsky, teilweise Selz) besitzt. Bezeichnenderweise wurde auch Messer, so wie Linke, jedoch – aus durchweg analogen Gründen – von Husserl selbst zurückgewiesen (vgl. Wendt 2019, 205). Diese Gründe sind es, auf die Linke mit einer bitteren Polemik reagiert: »Indessen Husserl wird hier das sagen, was er bekanntlich sehr oft seinen Gegnern zu sagen pflegt: wir […] hätten ihn mißverstanden« (1929, 379). Dessen ungeachtet ist zu ergänzen, dass Linke selbst kein Vertreter der denkpsychologischen Schule gewesen ist. Im Gegenteil weist seine Arbeit inhaltlich auch Abgrenzungsbemühungen auf.
  2. Hinsichtlich seiner phänomenologischen Auffassung steht Linke Pfänder nicht fern, doch dieser hat die von Husserl stammende methodologische Dichotomie von Wesens- und Tatsachenwissenschaften weniger reproduziert als Linke. Deswegen bietet sich vielmehr der Vergleich mit Stephan Strasser (1905–1991) an, der ebenso wie Linke sowohl den bloßen Subjektivismus und Psychologismus als auch den radikalen Objektivismus ablehnte – eine kritische Perspektive, die von Linkes Schüler Andreas Konrad weitergeführt worden ist (Konrad 1962). Entscheidend ist dabei die Zurückweisung der wechselseitigen »Kontamination« (Boudier 1991, 740) von Wesens- und Tatsachenwissenschaft. Strasser entwickelt stattdessen eine hermeneutische Phänomenologie des Verstehens, die jedoch bei Linke keine Entsprechung hat (vgl. Wendt 2022, 189–190).
  3. Als Wahrnehmungspsychologe hat Linke größere Verwandtschaft mit der Utrechter Schule und insbesondere mit Johannes Linschoten (1925–1964), der sich experimentell mit der Tiefenwahrnehmung beschäftigt hat. Gleichsam kann die Beurteilung, Linschotens Dissertation sei eine Art von phänomenologisch inspiriertem Empirismus gewesen (Van Hezewijk und Stam 2008, 185), auch auf Linke übertragen werden. Mit seiner methodologischen Reflexion unter dem Titel Auf dem Wege zu einer phänomenologischen Psychologie (Linschoten 1961) liegt außerdem ein Zeugnis von Linschotens grundsätzlichen Auffassungen vor.

Zusammenfassend darf der phänomenologische Ansatz von Linke als eigenständig betrachtet werden, auch wenn er systematische Parallelen zu weiteren Ansätzen in der phänomenologischen Bewegung aufweist. Entscheidend ist abschließend die Frage, ob Linkes Forschung Impulse für eine Weiterentwicklung der phänomenologischen Psychologie zu bieten vermag.

Einschränkend ist zu sagen, dass Linke, ähnlich wie Stumpf – und hier ist Husserls Invektive in gewisser Weise gerechtfertigt –, das philosophische Reflexionspotenzial der Phänomenologie nicht vollständig ausschöpft. Der neuralgische Punkt dieser Problematik ist die Innen-Außen- bzw. Bewusstsein-Welt-Differenz, die Linke als absolute Präsupposition seiner Forschung konzediert. Anders gesagt, Linkes realistischen Standpunkt zu rechtfertigen, wäre innerhalb der Reichweite der phänomenologischen Besinnung möglich gewesen, doch Linke setzt ihn weitgehend unhinterfragt voraus. Der Diskurs der realistischen Phänomenologie reicht folglich weiter und ist beispielsweise von Max Scheler oder Roman Ingarden (1893–1970) geführt worden.

Linkes Beitrag liegt auf dem Gebiet der psychologischen Forschung und ihrer methodologischen Reflexion. Dies findet im 1919 ausgesprochenen Urteil Schelers Ausdruck, der Linke mit direktem Bezug auf die »Grundfragen« attestiert, er habe »die Phänomenologie für die Experimentalpsychologie fruchtbar zu machen gewußt« (Scheler 1973, 312) – eine Anerkennung, die Linke ein Jahrzehnt später in seinem Nachruf auf Scheler erwidern würde (vgl. Linke 1928). Scheler hat, wenn er von Linkes Experimentalpsychologie spricht, allerdings Linkes konstruktive Bezugnahme auf die Gestaltpsychologie seiner Zeit vor Augen, die in seinen Untersuchungen zum kinematografischen Sehen zur Anwendung gekommen sind. Eine Übertragung auf jüngere Diskurse der psychologischen Methodologie ist nicht ohne Erweiterung möglich. Linke fasste die Phänomenologie als Propädeutik der Psychologie auf, die Beobachten und Beschreiben in begrifflicher Strenge erst ermögliche. So verstanden besitzt die Phänomenologie als Standpunkt der theoretischen Psychologie eine direkte Wirkmächtigkeit für die empirische Psychologie und ihre Forschungsmethodik. Nach dem Bruch mit Husserl hat Linke indes seine empirischen Forschungen nicht vorangetrieben und allenfalls wissenschaftstheoretische Kommentare entwickelt. Unter diesen Bedingungen ist die Gegenstandsphänomenologie als Grundlage psychologischer Forschung letztlich Skizze geblieben. Sie zeigt vor dem Hintergrund der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Realitätsproblem auf, dass die Phänomenologie auch unabhängig von Husserls transzendentaler Perspektive der Psychologie Orientierung geben kann.

Linke forderte die grundständige theoretische Vorarbeit in Form einer Begriffsanalyse und Sprachkritik für die empirische Experimentalpsychologie (z.B.: Was bedeuten Begriffe für die Experimentatorin oder den Experimentator sowie für die Versuchspersonen?). Ergebnisse dieses Wirkens sind etwa die theoretische Umgestaltung des in der Psychologie zentralen Reizbegriffes (Linke 1929, 324f.) sowie die Kritik an der Bildertheorie der Vorstellungen bzw. dem Repräsentationalismus (Linke 1961, 96). Somit ist Linke theoretischer Psychologe, der in Zeiten der Theoriekrise in der Psychologie (vgl. Brachem et al. 2022) Orientierung verschaffen kann, sowie Pionier einer »phänomenologischen Experimentalpsychologie« (Wendt 2022), zu deren Realisierung es jedoch einer weiteren Ausgestaltung bedarf.

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Die Autoren

Uwe Wolfradt, Prof. Dr. rer. nat., Dr. phil. habil, Dipl.-Psych., ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Psychologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er wurde in Psychologie und Ethnologie promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Kulturpsychologie, der Werte- und Religionspsychologie und der theoretischen und historischen Psychologie.

Kontakt:
Prof. Dr. Dr. Uwe Wolfradt,
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Psychologie,
Emil-Abderhalden-Str. 26-27, 06108 Halle (Saale),
E-Mail: uwe.wolfradt@psych.uni-halle.de

Alexander Nicolai Wendt, Dr. phil., ist Habilitand am Psychologischen Institut der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Promovend am Philosophischen Institut der Università degli Studi di Verona. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Denkpsychologie, der theoretischen Psychologie und der phänomenologischen Psychologie.

Kontakt:
Dr. Alexander Nicolai Wendt,
Psychologisches Institut der Universität Heidelberg,
Hauptstraße 47-51, 69117 Heidelberg;
E-Mail: alexander.wendt@psychologie.uni-heidelberg.de