Journal für Psychologie, 31(1), 3–20
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2023-1-3 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deAus dem lebendigen Strom der philosophischen Psychologie des 19. Jahrhunderts sind Experimentalpsychologie und Phänomenologie wie ungleiche Flussarme hervorgegangen. Versuchte jene als positive Wissenschaft das Welträtsel des menschlichen Bewusstseins durch Beobachtung und Messung zu lösen, so widmete sich diese demselben Rätsel mithilfe einer Strukturanalyse der Erfahrung. Im Prinzip schließen sich die beiden Ansätze nicht aus, sondern ergänzen sich. So ist es nicht verwunderlich, dass die Psychologinnen und Psychologen des späten 19. Jahrhunderts, unter ihnen Wilhelm Wundt als Begründer des ersten experimentellen Labors der Psychologie, sich selbst als Philosophinnen und Philosophen verstanden, da sie an philosophischen Fakultäten angestellt waren und ihre Arbeit in der Psychologie als Teilgebiet innerhalb des größeren Bereichs der Philosophie betrachteten. Außerdem fassten sie ihre experimentellen Arbeiten als einen innovativen Beitrag zur Geschichte der Philosophie auf. Dies passte jedoch nicht zu konkurrierenden Einstellungen, die diese neue Wissenschaft als Bedrohung für die intellektuelle Integrität der Philosophie ansahen. Dem neuen Ansatz wurde »Psychologismus« vorgeworfen, was im Allgemeinen bedeutet, dass sie versuchten, die Gesetze der Logik auf empirische Prozesse, wie zum Beispiel neuronale Vorgänge, zu reduzieren. Der Reduktionismusverdacht schien für die in der Tradition verankerte Philosophie nicht tolerierbar zu sein, sodass die Psychologismusdebatte die deutschsprachige akademische Welt dieser Zeit in Atem hielt. Anstelle einer Kooperation scheiterte die Verbindung von Philosophie und Psychologie am Absolutheitsanspruch, der auf beiden Seiten vorgetragen wurde.
Die Psychologismusdebatte führte zu wissenschaftssoziologisch beschreibbaren Geschehnissen wie dem Lehrstuhlstreit (vgl. Galliker 2016, 122–127): Im Jahr 1911 wurde eine informelle »Professorengewerkschaft« gegründet, die eine Petition an alle deutschen Kultusministerien richtete, um gegen die zunehmende Tendenz zu protestieren, Lehrstühle für historische oder reine Philosophie durch Lehrstühle für das neue Fachgebiet der experimentellen Psychologie zu ersetzen (Kusch 1995, 191). Das Ergebnis dieser Petition war die dauerhafte institutionelle Trennung der Psychologie von der Philosophie. Der wechselseitige Absolutheitsanspruch hat zum Schisma zwischen Philosophie und Psychologie geführt und ist das Schicksal des 19. Jahrhunderts als »Jahrhundert der Wissenschaft« (Schnädelbach 1983, 118) gewesen, das die Entwicklung des 20. Jahrhunderts vorzeichnet. Der psychologische Diskurs bewegte sich fortan auf die Naturwissenschaften zu, indem die Physik als Modellwissenschaft aufgefasst wurde, wohingegen der interdisziplinäre Bezug auf die Philosophie bevorzugt in Geschichts- und Kulturwissenschaften gesucht und methodisch in Richtung exegetischer Verfahren entwickelt wurde.
Auch Wilhelm Wundt beklagte das erzwungene Exil von der Philosophie, da er die einschränkende Bezeichnung »experimentelle Psychologie« ablehnte. Für ihn war es nicht wünschenswert, dass die Psychologie jemals von der Philosophie losgelöst würde, denn Wundt sah in der experimentellen Wissenschaft einen positiven Beitrag zur Philosophie. Für ihn stand die experimentelle Psychologie nicht im Gegensatz zur Philosophie. Vielmehr befürchtete er, dass die Psychologie, entkoppelt von der breiten intellektuell strengen Atmosphäre des philosophischen Diskurses, zu einer »philiströsen Kunst« verkommen würde. Hier drohte der Psychologe zu einem bloßen »wissenschaftlichen Handwerker zu werden, der nicht zu den Philosophen gehört« (Kusch 1995, 194; eigene Übersetzung). Mit dieser Haltung konnte er sich indes nicht durchsetzen: Seitdem haben sich Psychologie und Philosophie immer weiter voneinander entfernt – vor allem in Übersee, in Amerika. Es bleibt letztlich eine offene Frage, ob diese dauerhafte institutionelle Trennung die beste Lösung für einen vorübergehenden akademischen Revierkampf war. Es ist auch nicht klar, dass diese Scheidung langfristig für beide Fachgebiete von Vorteil ist. Psychologische Forschung kann in der intellektuellen Breite und Tiefe des Wissens schwerlich konkurrieren, die durch philosophischen Hintergrund geboten wird.
Versuche der konstruktiven Integration beider Forschungsarten, Phänomenologie und Experimentalpsychologie, hat es jedoch gegeben. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich entsprechende Spuren. Ein Beispiel ist Moritz Geigers Beitrag zum vierten Kongress für experimentelle Psychologie im April 1910, auf dem der Münchner Phänomenologe über »das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung« (Geiger 1911) gesprochen hat. Sein Münchner Freund und Kollege, der Phänomenologe Alexander Pfänder, veröffentlichte sogar eine an den seelischen Phänomenen orientierte Einführung in die Psychologie (1904). Ein von der anderen Seite, also von der Psychologie, entgegenkommender Fall ist das Lehrbuch des Denkpsychologen August Messer (1908) mit dem Titel Empfindung und Denken, das sich auf die Einsichten des Phänomenologen Edmund Husserl zu stützen versuchte, während ein weiterer Denkpsychologe, nämlich Otto Selz, dessen Wirkung in der Problemlösungsforschung bis in die Gegenwart anhält, eine Probevorlesung in Mannheim über »Husserls Phänomenologie und ihr Verhältnis zur psychologischen Fragestellung« (vgl. Seebohm 1970) gehalten hat. Diesen Kooperationsversuchen zum Trotz konnte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein interdisziplinärer Diskurs etablieren. Im Gegenteil hat sich die Sezession beider Forschungsarten durch den Zusammenbruch der europäischen Psychologietraditionen, etwa der Gestaltpsychologie, und den Aufstieg des Behaviorismus nur vergrößert. Aus der objektivistischen Perspektive des neuen Wissenschaftsideals schien Phänomenologie zu dieser Zeit auf der Seite der alten Kräfte zu stehen, die Psychologie als ausschließliche Geisteswissenschaft deklarierten und sich dem Fortschritt der naturwissenschaftlichen Empirie in den Weg stellten. Besonders hartnäckig ist dabei der unzutreffende Vorwurf des naiven Introspektionismus, der – neben weiteren Missverständnissen – die Entwicklung der phänomenologischen Psychologie erschwerte (vgl. Giorgi 1983; Herzog 1992, 496–497).
Mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich unterdessen neue Formationen (vgl. Giorgi 2010; Wendt 2021). An verschiedenen Orten kam es zu dem Versuch, phänomenologische Psychologie zu konzeptualisieren oder sogar zu systematisieren. Genauer besehen lassen sich fünf Zentren der phänomenologischen Psychologie in den 1950er und 60er Jahren benennen:
Unter den vier europäischen Ansätzen besteht lediglich die Kopenhagener Schule bis in die Gegenwart fort, doch bereits vor einigen Jahrzehnten ließ sich sagen, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter »mit Husserls Arbeiten zwar vertraut waren, ihm aber nicht streng gefolgt sind« (Giorgi 2010, 159; eigene Übersetzung). In jüngerer Zeit wird dort unter dem Einfluss von Bjarne Sode Funch, Simo Køppe und Tone Roald vermehrt phänomenologisch geforscht. Ein kontinuierlicher Diskurs über die Möglichkeit phänomenologischer Arbeit in der Psychologie existiert seit dem Ende des letzten Jahrhunderts also vornehmlich in den Vereinigten Staaten. Die europäischen Traditionen konnten sich nur rudimentär in der Philosophie erhalten oder sind Einzelschicksale geblieben (methodologisch verwandte, wenn auch nicht im engeren Sinne phänomenologische Strömungen sind z. B. Gestaltpsychologie und psychologische Morphologie). Dieser Umstand wird mit dem exemplarischen Blick in die Schweizerische phänomenologische Psychologie deutlich: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten in Helvetien vielfach phänomenologische Forscherinnen und Forscher in der Psychologie. Prominente Namen sind Wilhelm Keller und Detlef von Uslar in Zürich, Ludwig Binswanger in Kreuzlingen oder Hans Kunz in Basel. Spätestens seit der Emeritierung von Uslars 1987 finden sich allerdings keine entsprechenden Ordinarien mehr in der Schweiz und die letzten deutschsprachigen Veröffentlichungen im Geiste der phänomenologischen Psychologie datieren auf die 1990er Jahre, sodass Max Herzogs umfangreiche Habilitation von 1992 zur phänomenologischen Psychologie (Herzog 1992) heutzutage wie ein Nachruf wirkt, obwohl sie auch ein Anfangspunkt hätte sein können.
In Nordamerika hat sich die phänomenologische Psychologie als widerstandsfähiger erwiesen. Im Gegensatz zu Graumann und Thinès hat Giorgi eine weitere Generation Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit seinem phänomenologischen Ansatz zu neuer Forschung inspirieren können. Die Gründe für diesen kontinentalen Unterschied sind historisch noch nicht ausreichend untersucht worden. Bei Giorgi selbst finden sich wiederholt Vermutungen. 1996 blickte er auf die Entstehungsgeschichte des Journal of Phenomenological Psychology zurück, das er knapp drei Jahrzehnte zuvor ins Leben gerufen hatte. In der Hoffnung auf eine interkontinentale Kooperation phänomenologischer Psychologie hatte er ursprünglich Graumann und Thinès als Co-Editoren gewonnen, musste jedoch letztlich feststellen, dass der »Strom an Artikeln« (Giorgi 1998, 165; eigene Übersetzung) aus Europa, den er sich versprochen hatte, ausblieb. Dass die Forschungsprogramme seiner europäischen Kollegen »keine phänomenologische Forschung gefördert« hätten, brachte Giorgi letztlich mit einer offenkundigen Resignation zu der Einschätzung: »Ich habe nie verstanden weswegen« (Giorgi 2010, 163; eigene Übersetzung). Eine abschließende Erörterung der Entwicklung muss Gegenstand zukünftiger psychologiehistorischer Forschung sein. Vorläufig lassen sich drei bedeutsame Unterschiede feststellen:
Mögen die Ursachen für den Abbruch der europäischen Traditionen auch weiterhin frag- und denkwürdig bleiben, so ist aus der Geschichte zu lernen, dass in Zukunft die internationale Kooperation besser gelingen sollte. Die Sympathie zwischen Giorgi, Linschoten und Graumann, die sich in den 1960er Jahren entwickelt hatte, hat keine langfristige transatlantische Vernetzung hervorbringen können. Die phänomenologische Psychologie des 21. Jahrhunderts wird versuchen, diesen Mangel zu beheben. Ziel dieses Heftes ist deswegen ein Brückenschlag. So ergibt sich gleichermaßen eine internationale Autorinnen- und Autorenschaft sowie ein mehrsprachiges Heft. Allerdings beschränken wir uns nicht auf den bilateralen Austausch. Phänomenologisches Denken findet sich in allen Teilen der Welt. Ein Beitrag aus Südamerika (San Martin und Mercado Vásquez) trägt dazu bei, die Vielstimmigkeit dieser Forschungsart zum Ausdruck zu bringen.
Die europäische Tradition der phänomenologischen Psychologie in Erinnerung zu rufen, führt nicht zwingend dazu, sie fortzusetzen. Sinnvoller ist es außerdem, aus ihren Schwierigkeiten zu lernen. Dementsprechend sind Impulse der Weiterentwicklung vonnöten, die die Gelegenheit der internationalen Zusammenführung für kreative Erneuerung nutzen. Die Beiträge dieses Heftes stehen deswegen nicht lediglich unter dem Vorzeichen, dem deutschsprachigen Publikum bereits Bekanntes vorzustellen, sondern Entwicklungsperspektiven zu generieren.
Wie sich mit einer bekannten Wendung Husserls sagen lässt, findet sich in der Phänomenologie als »Prinzip aller Prinzipien« die Annahme, dass alle Rationalität, Logik und Wahrheit in unmittelbarer Erfahrung erfasst wird (Berghofer 2020). Diese Auffassung kommt auch in Merleau-Pontys »Primat der Wahrnehmung« zum Ausdruck (Giorgi 1977). Trotz der Vielfalt an Positionen in diesem Diskurs ist es die Theorie der unmittelbaren Erfahrung, die die phänomenologischen Ansätze erkenntnistheoretisch koordiniert. Die phänomenologische Psychologie zielt auf dieses Feld von Phänomenen und versucht Methoden zu entwickeln, die diesem Prinzip der Verwurzelung in der unvermittelten, unmittelbar intuitiven Erfahrung entsprechen. Allerdings wird nicht einfach ein Begriff der Erfahrung vorausgesetzt, wie zum Beispiel das lebensphilosophisch interpretierte »Erlebnis«. Vielmehr ist die Phänomenologie selbst ein Diskurs, in dem bestimmt wird, was Erfahrung ist. Aus diesem Grund wäre es falsch, davon auszugehen, dass phänomenologische Forschung immanentistisch ist. Was sich bei Wilhelm Dilthey als »Satz der Phänomenalität« findet, also die Auffassung, dass alle Gegenstände für mich seien und deswegen die Untersuchung des Bewusstseins die ursprünglichste Forschung sei (spezifischer bei van Kerckhoven 1992), gilt nicht ohne Weiteres in der Phänomenologie. Im Gegenteil gibt es sogenannte egologische Positionen in der Phänomenologie, die diese Rolle des Bewusstseins affirmieren, und andere, nämlich nicht-egologische, die sie ablehnen. Aus diesem Grund ist davon zu sprechen, dass die Phänomenologie der Diskurs ist, der die Bestimmung der Erfahrung schlechthin anstrebt.
Im Allgemeinen ist kaum zu bestreiten, dass Erfahrung auch Thema der Psychologie ist. Zwar ist der Begriff selbst genauer phänomenologisch zu bestimmen, aber grundsätzlich besteht kein Zweifel daran, dass die Versuchspersonen, die in der Psychologie untersucht werden, Erfahrungen machen. So ergibt sich der Ausgangspunkt für die phänomenologische Psychologie: Sie untersucht mit wissenschaftlichen und nicht nur philosophischen Mitteln Aufbau, Zusammenhang und Entstehung der Erfahrung, also die Bedeutung der Erfahrung. Was alle Beiträge mit diesem weitläufigen Erkenntnisanspruch verbindet, ist der gemeinsame Bezug auf einen Diskurs. Dieser phänomenologische Diskurs bietet einen Rahmen für Theoriebildung und Methodenkritik, der die Schwächen anderer Paradigmen thematisieren kann. Am Beispiel gesprochen: Aus phänomenologischer Perspektive lässt sich gleichermaßen ein naturalistischer Reduktionismus wie ein rationalistischer Transzendentalismus identifizieren und hinterfragen. Daher beinhaltet phänomenologische Psychologie immer einen kritischen Standpunkt, der die Voraussetzungen der empirischen Arbeit im Blick behält. Zugleich ist sie zu konstruktiven Ansätzen imstande, wie der Hinweis auf die zuvor erwähnten Traditionen belegt. Um klar zu sehen, welchen Beitrag die Phänomenologie zur Psychologie im Besonderen zu leisten imstande ist, soll im Folgenden das Verhältnis zur phänomenologischen Philosophie sowie zur lebensweltlich-kulturwissenschaftlichen, experimentellen und theoretischen Psychologie dargelegt werden.
Zwar haben einflussreiche Phänomenologinnen und Phänomenologen der Vergangenheit wie Edith Stein oder Jean-Paul Satre vielfach zur empirischen Forschung und auch zur Psychologie Stellung genommen, doch handelte es sich in der Regel um philosophische Reflexionen. Zwischen phänomenologischer Philosophie und Psychologie besteht ein struktureller Unterschied, der nicht nur methodologisch gefasst werden kann. Grundsätzlicher ist die Unterscheidung von Philosophie und Wissenschaft im Allgemeinen, die etwa von Merleau-Ponty formuliert worden ist:
»Die Philosophie ist nicht Wissenschaft, denn die Wissenschaft glaubt ihr Objekt überschauen zu können und hält die Wechselbeziehung zwischen Wissen und Sein für gesichert, während die Philosophie der Inbegriff jener Fragen ist, bei denen der Fragende durch sein Fragen selbst in Frage gestellt wird« (Merleau-Ponty 1986, 47).
Beim phänomenologischen Übergang von Philosophie zu Psychologie handelt sich um einen fundamentalen epistemologischen Perspektivwechsel, der den Erkenntnisgegenstand unter anderen Voraussetzungen erscheinen lässt: Während die philosophische Phänomenologie nach dem Seins- und Erkenntnisgrund fragt, der die Perspektive der Psychologie ermöglicht, beschäftigt sich die Psychologie selbst mit der Analyse von bereits gegebenen Sachverhalten und Strukturen, ohne ihre Möglichkeit grundsätzlich zu hinterfragen. Es gibt folglich eine philosophische »Phänomenologie des Psychischen« (Scheler 1986, 388), die deswegen noch nicht phänomenologische Psychologie ist.
Der Übergang zwischen phänomenologischer Philosophie und Psychologie ist in der Geistesgeschichte unterschiedlich aufgefasst worden. Die philosophischen Klassiker sprechen von einem Fundierungsverhältnis. Wenn die Eigenständigkeit der Psychologie als Wissenschaft betont wird, kann hingegen davon gesprochen werden, dass beide eine grundsätzliche Einstellung teilen. Für diesen phänomenologischen Zugang finden sich verschiedene Darstellungen, zum Beispiel bei Max Scheler. Er spricht von einer »Einstellung des geistigen Schauens, in der man etwas zu er-schauen oder zu er-leben bekommt, was ohne sie verborgen bleibt: nämlich ein Reich von ›Tatsachen‹ eigentümlicher Art« (Scheler 1986, 380). Die Eigenheit dieser Tatsachen liegt in ihrer epistemischen Gestalt: »Das Er-lebte und Er-schaute ist ›gegeben‹ nur in dem er-lebenden und er-schauenden Akt selbst, in seinem Vollzug: es erscheint in ihm, und nur in ihm« (ebd.). Abstrakt formuliert wählen phänomenologische Philosophie wie Psychologie einen epistemischen Zugang zum Phänomenbereich des Geistig-Seelischen, der nicht mit den empirischen Operationen des Messens und Beobachtens zusammenfällt. Auf diese Weise komplementieren sie andere Forschungsarten.
Eine klassische Unterscheidung zwischen phänomenologischer Philosophie und phänomenologischer Psychologie findet sich bei Husserl. Während Husserls Phänomenologie zweifellos aus seiner Kritik am »Psychologismus« erwuchs, hat er auch die Entwicklung einer nicht-naturalistischen Psychologie unterstützt. Seine Philosophie artikuliert eine transzendentale Einstellung, die auf Grundlage der Epoché die Aufhebung des naiven Realismus in der alltäglichen »natürlichen Einstellung« anstrebt, sodass strenge philosophische Beschreibungen möglich werden. Ferner skizziert er allerdings auch eine phänomenologisch »psychologische« Einstellung, die prä-transzendental ist.
In Husserls Ansatz können auf dieser prä-transzendentalen Ebene der Forschung einzelne Personen als verkörperte in Raum und Zeit der Lebenswelt bestimmt werden. Im Gegensatz zur transzendentalphilosophischen Forschung, die die individuelle persönliche Erfahrung aufhebt, ist die phänomenologisch-psychologische Forschung genau auf persönliche Erfahrungen innerhalb der »natürlichen Einstellung« selbst gerichtet (vgl. Wertz und Morley 2023). In diesem Ansatz nimmt die Epoché oder Aufhebung der natürlichen Einstellung eine strategisch mehrdeutige Form an. Auch wenn sie die Grundannahmen der Naturwissenschaft suspendiert, erschließt die Epoché einen bidirektionalen zirkulären Prozess. Hier tritt die phänomenologische Psychologie sowohl in die naiv geglaubte persönliche Welt der alltäglichen natürlichen Einstellung ein als auch systematisch aus ihr heraus, um Reflexionen und Beschreibungen durchzuführen. Die kausaltheoretischen Präsuppositionen des Naturalismus werden aufgehoben, aber im Gegensatz zur vollständig transzendentalen Position stehen die Besonderheiten und die konkrete Situiertheit des psychologischen Subjekts im Fokus der beschreibenden Forschung.
Da eine Figur-Grund-Dynamik zwischen der transzendentalen und der psychologischen Sichtweise besteht, begründet Husserl die Untersuchung des Personalen letztlich immer noch in der transzendentalen Quelle des Bewusstseins. Die späteren Existenzphänomenologie (wie z. B. Merleau-Ponty) verfolgt demgegenüber einen weniger transzendentalen Ansatz und neigt zu einer weltlichen Verkörperung sowie zu einem eher psychologisch orientierten Ansatz der Phänomenologie. Auf diese Weise könnte man sagen, dass sich die existenziell orientierte Phänomenologie seit Husserl in eine Richtung entwickelt hat, die sich zunehmend der psychologischen Forschung annähert.
Den Ausgangspunkt der psychologischen Forschung in der im Lebensumfeld von Personen situierten individuellen und sozialen Erfahrung zu suchen, ist ein Grundgedanke der qualitativen Sozialwissenschaft und entsprechender Ansätze in der Psychologie (vgl. Mey und Mruck 2020). In diesem vielfältigen Umfeld spielt die phänomenologische Orientierung mit ihrer Akzentuierung intentionaler Bedeutung in einer immer auch über den Leib vermittelten Lebenswelt von Akteurinnen und Akteuren eine gewichtige Rolle. Auch im Rahmen einer Kulturpsychologie, welche menschliches Handeln und Erleben im Kontext der Sinnbezüge und der Strukturmerkmale von Kulturen zu verstehen sucht, nimmt die phänomenologische Perspektive einen zentralen Stellenwert ein (Wendt 2022). Der zentrale methodische Ansatz des Sinnverstehens in der qualitativen und kulturwissenschaftlichen Forschung rückt die Phänomenologie in die Nähe der Hermeneutik (Sichler 2020). Mit Blick auf die Entwicklung der Existenzphilosophie im 20. Jahrhundert gibt es hier allerdings auch vielfältige, kritische Querverbindungen im Zusammenhang mit der phänomenologisch-psychologischen Theorienbildung und Forschung.
Dass phänomenologische Psychologie der Experimentalpsychologie strukturlogisch entgegengesetzt wäre, ist ein Missverständnis. Zwar ist die Phänomenologie gegenüber den positiven Wissenschaften nicht unkritisch und stellt Reduktionismen infrage, doch ergibt sich daraus keine pauschale Verurteilung aller experimentellen Forschung als reduktionistisch. Im Gegenteil erforscht auch die phänomenologische Psychologie empirische Sachverhalte, wobei sie durch ihren spezifischen epistemischen Zugang Aspekte der Experimentalsituation in den Blick bringt, die sich unter anderen epistemologischen Voraussetzungen nicht zeigen. Das bedeutet, dass die phänomenologische Orientierung der Experimentalpsychologie dazu dienen kann, ihre eigenen wissenschaftslogischen Ansätze zu kritisieren oder zu validieren.
Über das konkrete Verhältnis zwischen Experimentalforschung und Phänomenologie ist verschiedentlich diskutiert worden. Bei Shaun Gallagher (2003) findet sich eine dreifache Verhältnisbestimmung: erstens die Neurophänomenologie – eine qualitative Forschungsmethode zur geschulten Selbstbeschreibung von Versuchspersonen –, zweitens die indirekte Phänomenologie – die bloße Interpretation von unabhängig gewonnenen empirischen Einsichten – und drittens das sogenannte Front-Loading – die phänomenologische Theoriebildung, die dem empirischen Forschungsprozess vorausgehen. Auch wenn Gallagher mit diesem Ansatz einen nützlichen Vorstoß für das Verhältnis von experimenteller und phänomenologischer Psychologie macht, sollte es selbst weiter reflektiert werden. Eine wichtige Perspektive für die dynamische Beziehung zwischen beiden Forschungsarten ist die Methodologie: Aufgrund phänomenologischer Argumente lassen sich nicht nur bestehende Experimentalparadigmen interpretieren oder durch Theoriebildung ergänzen, sondern auch selbst gestalten. Diese Möglichkeit ist ein wichtiges Anliegen für die phänomenologische Psychologie des 21. Jahrhunderts.
Als proto-phänomenologische Psychologie hat Gallaghers Ansatz noch immer das Problem, Paradigmen in einer Weise zu amalgamieren, die eine beträchtliche Kluft zwischen Philosophie und Wissenschaft aufrechterhält. Aber trotz dieses Vorbehalts gibt es vielversprechende methodische Möglichkeiten für eine dynamische Beziehung zwischen beiden Forschungsarten. Bestehende experimentelle Paradigmen können nicht nur durch phänomenologische Reflexion interpretiert oder ergänzt werden, sondern sie können auch selbst durch diese Ideen geprägt werden. Dies bietet vielversprechende Forschungsmöglichkeiten sowohl für die naturalistische als auch für die phänomenologische Psychologie im 21. Jahrhundert.
Nicht erst die sogenannte Replikationskrise hat gezeigt, dass die Krisendiagnose (Bühler 1927; dazu Friedrich 2018) für die Psychologie dauerhaft Geltung hat. Vermehrt ist jüngst dafür argumentiert worden, dass die Schwächen der empirischen Psychologie aus einem Theoriedefizit resultieren (Dege und Sichler 2018; Eronen und Bringmann 2021; Oberauer und Lewandowsky 2019). Theoriebildung und -kritik ist allerdings kein trivialer Diskurs, der sich voraussetzungslos ergeben kann. Die theoretische Psychologie ist mehr als die Summe an psychologischen Theorien. Es bedarf eines wissenschaftstheoretischen Fundaments. Der Diskurs über die Gründe für unzuverlässige experimentelle Ergebnisse oder verwandte Probleme der empirischen Forschung erfordert einen Standpunkt, der die Experimentalsituation epistemologisch und anthropologisch reflektiert und somit ihre Veränderung gestattet (vgl. Münch 2002).
In Psychology as a Human Science aus dem Jahr 1970 erläutert Giorgi die Dreieinheit von theoretischem Ansatz, Gegenstand und Methodik, wobei jeder Teil die anderen beeinflusst. Er macht deutlich, wie die gewählte Methodik das behandelte Thema bestimmt und wie diese Einschränkung wiederum die Theorie prägt. Wenn sich Forscherinnen und Forscher hauptsächlich auf experimentelle Methoden stützen, bleibt ihre Untersuchung auf Phänomene beschränkt, die zu dieser Methode passen, was die Umwandlung des Themas in quantifizierbare Begriffe erfordert, um eine kausale Beziehung zwischen zwei messbaren Variablen herzustellen. Diese Einsicht erklärt nicht nur, warum die Phänomenologie in der Psychologie noch nicht Fuß gefasst hat; sie macht auch deutlich, dass eine neue phänomenologisch fundierte Methode benötigt wird, die die bestehenden experimentellen Methoden transzendiert und die Auffassung des Begriffs »empirisch« in der Psychologie auf qualitative Phänomene ausweitet.
Dass der phänomenologische Diskurs in der Regel ohne Wirkung auf die Psychologie geblieben ist, liegt an seiner Beschränkung auf philosophische Analyseformen. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die psychologische Forschung kontinuierlich von der Berücksichtigung dieser Denkart entfernt. Um diese Lücke zu schließen, ist ein konzertierter Aufwand erforderlich. In der phänomenologischen Psychologie finden sich unterdessen methodologische Ansätze, die einen eigenständigen und einzigartigen Beitrag zur empirischen Erkenntnis leisten:
An erster Stelle ist der auf Giorgi zurückgehende Ansatz der Verbaldatenanalyse zu erwähnen (Giorgi 2009; Giorgi et al. 2017). Es handelt sich um ein fünfstufiges Verfahren zur Gewinnung von Bedeutungseinheiten, das die Teil-Ganzes-Beziehung analysiert. Das Erkenntnisziel dieser Methode sind holistische Invariaten der lebensweltlichen Erfahrung von Versuchspersonen, also die Struktur im sinnhaften Aufbau des Lebensvollzugs anstelle von bloß elementaren Mechanismen.
Gemeinsam mit Pierre Vermersch schlug der Neurobiologe Franciso Varella ein neues Feld der »Neurophänomenologie« vor, das die Neuropsychologie und die phänomenologische Philosophie in einer Art »gegenseitiger Aufklärung« formell miteinander verbinden sollte. Im Anschluss ist in den letzten Jahrzehnten eine Forschungsmethode entstanden, die Mikrophänomenologie bzw. das mikrophänomenologische Interview (z. B. Bitbol und Petitmengin 2017), die die Achtsamkeits- und Meditationsforschung mit der enaktivistischen Phänomenologie verbindet.
Ein eklektischer Ansatz ist als Interpretative Phenomenological Analysis (IPA) bekannt, wobei Elemente der Hermeneutik mit qualitativer Empirie verbunden werden. Dieser Ansatz wird als idiografisch, induktiv und interrogativ beschrieben (vgl. Smith 2008).
Die Aufgabe der phänomenologischen Psychologie ist es, diese Beiträge kritisch zu beleuchten, um einen verlässlichen und wissenschaftlich strengen Beitrag zum psychologischen Diskurs zu leisten. Ansätze wie die IPA, die verschiedene Theorietraditionen amalgamieren, drohen das Potenzial des phänomenologischen Denkens nicht voll auszuschöpfen. Die Eigenheit der phänomenologischen Methoden ist es, ihre Kraft und ihre Perspektive aus der Tiefe des philosophischen Diskurses abzuleiten. Um Fortschritte zu machen, ist es erforderlich, auch selbstkritisch auf die bisher verfügbaren Ansätze zu blicken. Eine weitere Aufgabe besteht darin, neue Methoden zu entwickeln, die jenseits der Dichotomie von quantitativen und qualitativen Verfahren liegen können. Auf diese Weise wird sich die Phänomenologie als nützlicher Beitrag zum gesamtpsychologischen Forschen erweisen.
Während über Wert und Nutzen von Projekten wie der Neurophänomenologie debattiert werden kann, ist es doch offenkundig, dass ein echtes Bedürfnis angesprochen wurde – die Rückkehr zu einer engeren akademischen Beziehung zwischen phänomenologischer Philosophie und akademischer Psychologie. Wir erleben auch eine Verbreitung neuer und konkurrierender qualitativer Methoden, von denen viele aus phänomenologischen Einflüssen hervorgegangen sind, aber leider stehen sie nicht in engem Kontakt mit der phänomenologischen Philosophie. In dieser Hinsicht könnte der Bedarf an einer Klärung nicht größer sein. Es lässt sich fragen, ob sich an dieser Stelle der Kreis schließt. Auch wenn es nicht möglich ist, zum ursprünglichen institutionellen Kontext der Psychologie innerhalb der philosophischen Fakultäten zurückzukehren, könnte es dennoch an der Zeit sein, die Kluft zu überwinden, die diese beiden Bereiche getrennt hat. Die phänomenologische Psychologie befasst sich mit dieser Kluft. Und während sie sich im vergangenen Jahrhundert in anderen Ländern gewiss verändert und weiterentwickelt hat, fehlte sie in ihrem angestammten deutschen akademischen Kontext. Wir laden die Leserinnen und Leser dieser Ausgabe des Journals für Psychologie ein, über die Rückgewinnung dieser vergessenen Tradition und ihren Wert nachzudenken.
Die aktuelle Ausgabe des Journals für Psychologie versammelt zehn Beiträge zur phänomenologischen Psychologie:
Zum Gelingen dieses Themenschwerpunkts haben neben unseren Autorinnen und Autoren viele substanziell hochwertige, kritische Reviews beigetragen. Den Gutachterinnen und Gutachtern Lars Allolio-Näcke, Peter Ashworth, Athena Colman, Eugene DeRobertis, Erik Norman Dzwiza-Ohlsen, Joachim Funke, Steffen Kluck, Carlos Kölbl, Peter Mattes, Daniel Niesyt, Brent Robins, Stephan Schleim, Matthias Schloßberger, Terje Sparby, Frederick Wertz, Martin Wieser und Fynn Ole Wöstenfeld (in alphabetischer Reihenfolge) möchten wir für ihren wertvollen Beitrag besonders danken. Für die wie gewohnt professionelle Kooperation beim Lektorat und der Edition der Texte danken wir Christian Flierl und seinem Team sowie Kylie Suarez für die sprachliche Überarbeitung eines englischen Textes.
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Wendt, Alexander Nicolai. 2021. »Auf dem Rückweg zu einer phänomenologischen Psychologie«. In Historische Entwicklung und aktuelle Perspektiven des Verhältnisses von Philosophie und Psychologie, hrsg. v. Hans Werbik, Uwe Wolfradt, Andrea Lailach-Hennrich und Lars Allolio-Näcke, 159–178. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Wendt, Alexander Nicolai. 2022. »Die phänomenologische Perspektive«. In Kulturpsychologie. Eine Einführung, hrsg. v. Uwe Wolfradt, Lars Allolio-Näcke und Paul Sebastian Ruppel, 51–61. Heidelberg: Springer.
Wertz, Frederick J. und James Morley. 2023. »Special edition: Husserl on the psychological reduction«. Journal of phenomenological psychology 54 (1).
Alexander Nicolai Wendt, Dr. phil., ist Habilitand am Psychologischen Institut der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Promovend am Philosophischen Institut der Università degli Studi di Verona. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Denkpsychologie, theoretische Psychologie und phänomenologische Psychologie.
Kontakt:
Dr. Alexander Nicolai Wendt,
Psychologisches Institut, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg,
Hauptstraße 47–51, 69117 Heidelberg;
E-Mail: alexander.wendt@psychologie.uni-heidelberg.de
Ralph Sichler, Dr., Univ.-Doz., Dipl.-Psych., ist 1960 geboren und Leiter des Instituts für Management und Leadership Development an der Fachhochschule Wiener Neustadt (A) und langjähriger Mitherausgeber des Journals für Psychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die neue Arbeitswelt, Organisations- und Personalpsychologie, Kulturpsychologie, philosophische Grundlagen der Psychologie und qualitative Sozialforschung.
Kontakt:
Dr. Ralph Sichler,
Fachhochschule Wiener Neustadt, Institut für Management und Leadership Development,
Schlögelgasse 22–26, 2700 Wiener Neustadt, Österreich;
E-Mail: ralph.sichler@fhwn.ac.at
James Morley, Dr., Professor für klinische Psychologie am Ramapo College in New Jersey und Chefherausgeber des Journal of Phenomenological Psychology sowie Präsident der Interdisciplinary Coalition of North American Phenomenologists (ICNAP). Seine Forschungsschwerpunkte sind phänomenologische Psychologie, klinische Psychologie und qualitative Forschungsmethoden.
Kontakt:
Dr. James Morley,
Ramapo College, School of Social Science and Human Services,
505 Ramapo Valley Rd, Mahwah, NJ 07430, USA;
E-Mail: jmorley@ramapo.edu