Was kann die phänomenologische Psychologie zur Gegenstandsfrage beitragen?

Hannes Wendler, Josh Joseph Ramminger

Journal für Psychologie, 31(1), 59–81

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2023-1-59 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Was ist der Gegenstand der Psychologie? Mit dieser Frage, der Gegenstandsfrage, ist die vielleicht grundlegendste Frage der theoretischen Psychologie bezeichnet. Der Beitrag der phänomenologischen Psychologie für ihre Untersuchung besteht angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes in der Erhellung der diskursiven Bedingungen, unter denen die Beantwortung der Gegenstandsfrage möglich wird. Zur wissenschaftstheoretischen Erörterung ihres Stellenwertes ist zunächst zu klären, ob die Standarddefinition der Psychologie als der Wissenschaft vom Erleben und Verhalten mit der Vorstellung eines einheitlichen Gegenstandes vereinbar ist. Innerhalb des psychologischen Diskurses sprach man primär über die Notwendigkeit einer Gegenstandsbestimmung und der hierfür geeigneten Grundlagendisziplin. Die methodologische Implikation der Behandlung der Gegenstandsfrage ist die Forderung nach Gegenstandsangemessenheit, welche die Ebene der Modellbildung betrifft. Es wird eine duale Konzeption der Gegenstandsangemessenheit vorgeschlagen, die eine Subjekt- und eine Objektorientierung in der Funktions- und Erscheinungspsychologie unterscheidet. Diese wird anhand der Forschungsdimensionen der methodischen Strenge, der ontologischen Voraussetzungen und der Ethik der Forschung expliziert. Es ergibt sich eine phänomenologische Fehlertheorie, die auf den gesamten logischen Raum möglicher Antworten auf die Gegenstandsfrage angewandt werden kann.

Schlüsselwörter: phänomenologische Psychologie, Gegenstandsfrage, Gegenstandsangemessenheit, Fehlertheorie

Summary
What Can Phenomenological Psychology Contribute to the Problem of Subject Matter in Psychology?

What is the object of psychology? The problem of subject matter in psychology (Gegenstandsfrage), is perhaps the most fundamental question of theoretical psychology. In view of the current state of research, the contribution of phenomenological psychology to its investigation consists primarily in illuminating the discursive conditions under which an answer to the question of psychology’s subject matter becomes possible. In order to discuss its significance in terms of theory of science, it is first necessary to clarify whether the standard definition of psychology as the science of experience and behavior is compatible with the idea of a uniform object. Within psychological discourse, the questions of the necessity of a definition of the subject matter as such and of the appropriate basic discipline for psychology were discussed above all. The methodological implications of the question of the subject matter become tenable in the treatment of the adequacy of the object (Gegenstandsangemessenheit), which concerns the level of modelling. A dual conception of adecquacy of the object is proposed that differentiates a subject- and an object-orientation for the psychology of appearances (Erscheinungspsychologie) and that of functions (Funktionspsychologie). This conception is explicated by discussing the research dimensions of methodical rigor, ontological presuppositions and research ethics. This results in a phenomenological error theory that can be applied to the entire logical space of possible answers to the question of psychology’s subject matter.

Keywords: phenomenological psychology, question of psychology’s subject matter, adequacy to the psychological object, error theory

Der vorliegende Beitrag widmet sich der Untersuchung der Gegenstandsfrage in der Psychologie aus einer phänomenologischen Perspektive. Im weiteren Sinne handelt es sich bei der phänomenologischen Psychologie um eine Einstellung in der Psychologie, welche durch den Diskurs der Phänomenologie informiert ist (Wendt 2022a). Sie ist folglich keine Teildisziplin der Psychologie. Stattdessen stellt sie eine Orientierung in der Psychologie dar, die diese als ganze betrifft (vgl. Métraux und Wendt 2022). Dementsprechend umfasst die phänomenologische Psychologie sowohl theoretische als auch empirische sowie klinische Beiträge (Herzog 1992). Ihr Anspruch ist es, den gesamten Forschungsprozess und damit auch den experimentalmethodischen Kern der empirischen Psychologie zu reflektieren und mithin zu gestalten. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht operiert sie sowohl im Rechtfertigungs- (context of justification) als auch im Entdeckungszusammenhang (context of discovery) wissenschaftlicher Theorien: Ihr »Ziel ist dabei den Gegenstandsbereich des Psychischen möglichst umfassend zu erschließen« (Wendt 2023, 66). Das »Psychische« ist jedoch keine direkte Antwort auf die Gegenstandsfrage der Psychologie, sondern zeigt vielmehr den Möglichkeitsbereich von Antworten an.

Die vorliegende Untersuchung ist als theoretischer Beitrag einzuordnen. Sie handelt in erster Linie von der psychologischen Methodologie und Wissenschaftstheorie sowie in phänomenologischer Hinsicht von dem Entdeckungszusammenhang (Wendt 2022a): Ihr Thema ist der Beitrag der phänomenologischen Psychologie zur Gegenstandsfrage. Das Erkenntnisinteresse besteht nicht darin, eine inhaltliche Antwort auf die Gegenstandsfrage zu formulieren und zum Beispiel Erleben und Verhalten, das Seelenleben oder den Menschen als den Gegenstand der Psychologie auszuweisen. Angesichts der Randständigkeit des zeitgenössischen theoretisch-psychologischen Diskurses (Oberauer und Lewandowsky 2019) gilt es zunächst, die Gegenstandsfrage in ihrer Frag-Würdigkeit auszuweisen. Die phänomenologische Psychologie kann hier die diskursiven Bedingungen erhellen, denen inhaltliche Antworten auf die Gegenstandsfrage in der Psychologie genügen müssen. Aus der Perspektive einer phänomenologischen Fehlertheorie entwickeln wir ein Ordnungsschema, welches es gestattet, den psychologischen Diskurs über die Gegenstandsfrage zu systematisieren und Kommensurabilität zwischen den heterogenen Antwortmöglichkeiten auf diese Frage herzustellen. So kann mithilfe der phänomenologischen Denkart ein Beitrag zur theoretischen Ausrichtung psychologischer Forschung entwickelt werden.

Hat die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten einen Gegenstand? Zur wissenschaftstheoretischen Stellung der Gegenstandsfrage in der Psychologie

Hat jede Wissenschaft einen Gegenstand? Indem die Wissenschaften ihr Untersuchungsgebiet bestimmen, beziehen sie Stellung zu der sogenannten Gegenstandsfrage. Diese minimale und scheinbar einfache Frage bereitet der Psychologie jedoch einige Schwierigkeiten. Anstelle einer prägnanten Antwort - wie zum Beispiel der, dass die Psychologie das Psychische erforsche, – steht ein anspruchsvoller und kontroverser Diskurs. Um diesen zu erschießen, ist es hilfreich, die am weitesten verbreitete Auffassung der Psychologie zu reflektieren, die sich aus beliebigen Lehrbüchern entnehmen lässt: »Die Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten« (z.B. Gerrig et al. 2018, 2).

Diese Standarddefinition der Psychologie wurde jedoch nicht aus einer systematischen Auseinandersetzung mit der Gegenstandsfrage in der theoretischen Psychologie gewonnen, vielmehr hat sie pragmatischen Charakter. Erleben und Verhalten stehen heute gleichberechtigt nebeneinander und gewährleisten so die Einheit der Psychologie, wo sie geschichtlich noch als Alternative aufgefasst wurden, die die Geister schied – so setzte etwa Bühler (1927) dem Behaviorismus eine Erlebnispsychologie entgegen. »Inzwischen sind aber diese Grabenkämpfe vorbei. Egal ob wir es begrüßen oder bedauern: Pragmatik hat Programmatik abgelöst« (Prinz et al. 2017, 6). Derartige pragmatische Ansichten geben den programmatischen Gegenstand, der »die Natur der Sache« bezeichnet, preis (Traxel 1976, 107). Stattdessen begnügen sie sich mit dem faktischen Gegenstand, das heißt mit der »Gesamtheit der Aufgaben, deren sich die Forschung tatsächlich annimmt« (Traxel 1976, 107). Ihr entspricht die operationale Definition der Psychologie: Psychologie ist, was die Psycholog:innen tun.

Aus der Warte der phänomenologischen Psychologie wurde die Standarddefinition der Psychologie insbesondere durch Carl Friedrich Graumann untersucht. Diese setzt bei seiner Feststellung ein, dass die Standarddefinition der Psychologie eine Konjunktion enthält: »Die Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten.« Gefährdet diese Konjunktion die Einheit der Psychologie? Hat sie etwa zwei Gegenstände, das Erleben und das Verhalten?

In seinem früheren Denken liegt es Graumann daran, diese Konjunktion zu überwinden, indem ihre Glieder – das Erleben (bzw. das Bewusstsein) und das Verhalten – zuerst ideengeschichtlich bestimmt und schließlich theoretisch integriert werden.

  1. Seine ideengeschichtliche Betrachtung zeigt auf, dass die Umorientierungen, die innerhalb der Geschichte der Psychologie (im engeren Sinne, d.h. im Wesentlichen nach Wundt) stattgefunden haben, stets zwischen den beiden Polen von Erleben und Verhalten stattgefunden haben (Graumann 1984, 548). In dieser Leseweise wird die Konjunktion in der Standarddefinition als ein Brückenschlag zwischen faktischer und programmatischer Gegenstandsbestimmung aufgefasst.
  2. Von einer theoretischen Warte aus betrachtet stellt sich Frage, ob die Konjunktion als formale und logische Relation zu schwach ist, um das Gegenstandsgebiet, das durch die zwei Pole von Erleben und Verhalten aufgespannt wird, zu integrieren. Daher solle an die Stelle der Konjunktion zweier ein Gegenstand treten: die Handlung (Graumann 1984, 549). Im Handlungsbegriff konvergieren zwei Grundmotive Graumanns Denkens: die Intentionalität und die Situationalität. Mit Handlung meint er ein »Sich-zu-etwas-Verhalten«, das phänomenologisch anhand der »Intentionalität eines Person-Umwelt-Verhältnisses« bestimmt wird (ebd., 568). So wird die Handlung introspektiv-behavioral indifferent, das heißt indifferent gegenüber der Dichotomie Erleben – Verhalten, und wird somit Kandidat für eine Psychologie mit einem Gegenstand (ebd., 570).

Graumanns spätere Perspektive auf die Gegenstandsfrage fokussiert die Identität anstelle der Einheit der Psychologie. Zentral dafür ist das Begriffspaar der zentripetalen und zentrifugalen Kräfte in der Psychologie. Zentrifugale Kräfte meinen in diesem Kontext solche Kräfte, die von innerhalb der Psychologie nach außen hinwirken, etwa durch den Einfluss auf andere Disziplinen oder durch ein drohendes »Auseinanderdriften einzelner Teildisziplinen« in der Psychologie (Graumann 2001, 139–40). Dementsprechend bezeichnen zentripetale Kräfte solche, die vom Außenbereich der Psychologie in Richtung auf ihr Zentrum hin wirken, etwa durch eine Verfremdung der spezifisch psychologischen Disziplinstruktur (z.B. die Reduktion der Psychologie auf die Neurowissenschaften).

Diese Darstellung von Graumanns Position weist zwei zentrale Divergenzen zum bisher diskutierten, älteren Standpunkt auf:

  1. Anstelle der Einheit steht nun die Identität der Psychologie im Mittelpunkt. Diese Identität könne sowohl durch zentrifugale als auch zentripetale Kräfte gefährdet werden (Graumann 2001, 140, 143). Auf diese Weise kann die Konjunktion in der Standarddefinition als Identitätsfrage aufgefasst werden: »[I]st diese ›Und-Verbindung‹ auch ein Hinweis auf die Identität der Psychologie? Oder auf zwei, u.U. konkurrierende Identitäten, günstigenfalls eine duale Identität« (ebd., 141)?
  2. Anstelle einer Dichotomie steht nun die Dualität von Erleben und Verhalten in Graumanns Fokus. Die Beziehung zwischen Erleben und Verhalten wird nicht mehr als ein exklusives Entweder-oder, das heißt als Kontravalenz, sondern als inklusives Sowohl-als-auch, das heißt als Sonderfall der Adjunktion, aufgefasst. Erleben und Verhalten sind in dieser Interpretation zwei Aspekte desselben Gegenstandes, welche durch jeweils unterschiedliche, aber vereinbare Methoden zum Vorschein kommen und erforscht werden können.

Die Standarddefinition der Psychologie ist jedoch nicht die einzige dual strukturierte. In historischer Analyse erwägt Graumann (2001) selbst den Gedanken, dass der Unterschied von experimenteller und Völkerpsychologie, das heißt einer Psychologie des Individuums und einer der Gemeinschaft, nicht nur älter, sondern auch grundlegender als der zwischen erlebens- und verhaltenswissenschaftlicher Psychologie sei (siehe Graumann 1997). Duale Bestimmungen des Gegenstandes tragen außerdem Bedeutung in methodologischer Hinsicht, denn so können einstellige Antworten auf die Gegenstandsfrage, etwa Gehirn oder Seele, kontrastiert werden. Obwohl es sich bei der Gegenstandsfrage um eine offene und unbeantwortete Frage handelt (Galliker 2016, 217), ist festzustellen, dass der Rahmen des Diskurses um die Identität, etwa als übergreifende Einheit, durch die ideengeschichtlichen Gegensatzpaare aufgespannt und geordnet wird. Von dieser Perspektive konstituiert sich die Identität der Psychologie als unitas multiplex. In diesem Sinne versteht Fahrenberg (2015) die theoretische Psychologie als eine Systematik der Kontroversen.

Der psychologische Diskurs der Gegenstandsfrage

Im zeitgenössischen Diskurs der Psychologie spielt die Gegenstandsfrage eine nachgeordnete Rolle. Bei Wendt und Funke (2022 findet sich die Einschätzung, dass der phänomenologischen Einstellung in der Psychologie für die Bearbeitung der Gegenstandsfrage eine besondere Bedeutung zukommt. Vor diesem Hintergrund gilt es, den Ertrag der phänomenologischen Denkungsart für die Gegenstandsfrage in der Psychologie zu erarbeiten. Die Gegenstandsfrage kann nicht als beantwortet angesehen werden (Galliker 2016, 217), erschwerend kommt für die Frage nach ihrer Beantwortung hinzu, dass mit Wundt (1863) etwa die Frage nach einer Oberfläche-Tiefen-Struktur Einzug in den Diskurs der Gegenstandsfrage erhält:

»Müssen wir die einheitliche Seele auseinanderreißen in eine Unzahl einzelner Wesen, die unabhängig neben einander wirken? […] Die fortgeschrittene Wissenschaft sucht nach der Einheit. Und die Beobachtung selbst weist mit zwingender Nöthigung den Psychologen auf diese Einheit hin. Sie zeigt, daß zwischen all den einzelnen Erscheinungen, in die man das Seelenleben trennte, ein innerer Zusammenhang stattfindet. […] Aber so sicher hier ein innerer Zusammenhang existiert, so wenig liegt derselbe doch unmittelbar an der Oberfläche« (Wundt 1863, iv–v).

Wundt identifiziert nämlich das Einheitsstreben einer Wissenschaft als Maß für ihren Reifegrad (Wundt 1863, v). Die Einheit der Psychologie als Wissenschaft hängt in dieser Perspektive insbesondere von der Frage danach ab, ob diese einen einheitlichen Gegenstand hat. Wundt zufolge liegt der »innere Zusammenhang des Seelenlebens« jedoch »nicht an der Oberfläche«. Zur Beantwortung der Gegenstandsfrage gilt es demgegenüber zu der tieferliegenden Schicht der Konstitutionsbedingungen jener oberflächlichen »Thatsache[n] des Bewußtseins« vorzudringen, die »im dunkeln Hintergrund der Seele das bewußte Leben vorbereiten« (ebd., iv–v). Hierzu sei »das Experiment in der Psychologie das Hilfsmittel« (ebd., v) von der größten Wichtigkeit.

Indes lässt der Stand der Forschung nichts anderes übrig, als die »tiefe Gegenstandsfrage« als offene Frage anzuerkennen und bestehen zu lassen. Dieses Eingeständnis bedeutet jedoch nicht, dass die Auseinandersetzung mit der Gegenstandsfrage ohne Wert wäre. Ihre wissenschaftstheoretische Funktion besteht darin, zur Kontroverse zu animieren und somit konkurrierende Selbstausrichtungsversuche der Psychologie zu ordnen. Eine »Systematik der Kontroversen« wendet sich den Zeugnissen solcher Kontroversen zu. Es gilt für uns daher erstens die Hermann-Kirchhoff-Kontroverse sowie zweitens Wendts Vorschlag, diese Kontroverse im Rahmen einer psychologischen Anthropologie zu rekonstruieren.

  1. Die Kontroverse zwischen Theo Hermann und Robert Kirchhoff fand in den 1970er Jahren statt und umfasst mehrere Beiträge der beiden Autoren sowie von kommentierenden »Beobachter:innen« (Eberlein und Pieper 1976; Kirchhoff 1975). Der grundsätzliche Widerstreit besteht darin, dass es Hermann »unnütz [erscheint], Wissenschaften nach ihrem ›Gegenstand‹ bestimmen bzw. unterscheiden zu wollen« (Herrmann 1976, 40). Stattdessen seien diese »bevorzugt als Problemzusammenhänge [zu] betrachte[n]« (Herrmann ebd., 40). Für Kirchhoff gilt, dass die Gegenstandsbestimmung für Wissenschaften unerlässlich sei: »Die Preisgabe des Gegenstandsbereichs bedeutet den Verlust der Vollzugsgrundlage wissenschaftlichen Handelns« (Kirchhoff 1976, 50). Im Hintergrund von Hermanns Auffassung stehen ein Essentialismus- und Apriorismusverdacht gegenüber der Gegenstandsbestimmung. Wissenschaften orientierten sich anhand von Problemzusammenhängen, welche historisch kontinuierlich entwickelt werden. Kirchhoff ist wiederum nicht davon überzeugt, dass es Hermann gelingt, die Gegenstandsfrage zu überwinden, denn auch die Probleme einer Wissenschaft handeln von etwas, das heißt von einem Gegenstand, dessen Bestimmung folglich zu ihren Aufgaben gehört. Die Psychologie entwickle ihren Anfangsgegenstand (Bühler) zu ihrem Endgegenstand, mit Traxel: Der faktische wird zum programmatischen Gegenstand entwickelt. Der Endgegenstand fungiere dabei wie eine kantianische regulative Idee, das heißt, er komme ohne essentialistische Gegenstandsbestimmung aus (Wendt 2022b). In seinem Kommentar auf die Kontroverse spricht Schmid (1978, 130) von einer »offenkundige[n] Unergiebigkeit«. Für Schmid hätten die Fronten sich nicht verhärten müssen, da seines Erachtens Hermann eine »wissenschaftslogisch[e]«, Kirchhoff hingegen eine »kommunikationspragmatisch[e]« Antwort auf die Gegenstandsfrage sucht (ebd., 130). Die Kontroverse scheiterte in dieser Interpretation daran, dass sie die eigentlich bestehende, sachliche Komplementarität der Argumente nicht explizit machen kann. Es ist jedoch zweifelhaft, ob Kirchhoffs Position als kommunikationspragmatisch adäquat charakterisiert ist.
  2. Überzeugender ist Wendts (2022b) Analyse, der die Komplexität des Sachverhalts anerkennt, welcher eine differenzierte Urteilsbildung erfordert. Auch wenn die Hermann-Kirchhoff-Kontroverse gescheitert ist, weist sie Erträge auf, etwa da »die Redlichkeit, die Rechtfertigung der eigenen Disziplin zu vollziehen, und eine wissenschaftstheoretische Begründung für die Geltung der eigenen Prämissen« vorzutragen, »ein Ideal von Wissenschaftlichkeit als rationale Autarkie« darstellt (Wendt 2022b, 61).
  3. Zudem hat die Hermann-Kirchhoff-Kontroverse den Diskurs der Gegenstandsfrage in der Psychologie verfügbar gemacht. Dies ermöglicht die kontrafaktische Frage zu stellen: Was hätte geschehen müssen, um eine gemeinsame Argumentationsebene zu erschließen? Wendt schlägt zu diesem Zweck vor, die Gegenstandsfrage von einer allgemein gefassten psychologischen Anthropologie her in den Blick zu nehmen, welche nach der Psychizität des Menschen fragt. Dies soll der Psychologie dazu dienen, »die Thematisierung ihres Gegenstandes zu fördern. Gleichsam opponieren sie [die betreffenden Absätze] Hermann, ohne dabei jedoch Kirchhoff Recht zu geben« (Wendt 2022b, 61). Nach Wendt ist die Gegenstandsfrage die »Voraussetzung für die paradigmatische Integration von Forschung« (ebd., 62). Ferner gilt es anzumerken, dass eine Antwort auf die kontrafaktische Frage auf die Erhellung der Bedingungen, unter denen die Gegenstandsfrage gewinnbringend diskutiert werden kann, abzielt. Wendts Vorschlag, die Gegenstandsfrage in der psychologischen Anthropologie als »Rahmen der Forschung« (ebd., 62) zu verhandeln, zielt daher nicht primär auf eine Antwort, sondern auf die »Rechtfertigung der Frage [der Gegenstandsfrage] selbst« ab (ebd., 62). Die psychologische Anthropologie soll diesen Rechtfertigungsdiskurs strukturieren und somit seine systematische Entwicklung ermöglichen. Wendt hat also nicht eine psychologische Anthropologie im engeren Sinne vor Augen, die einen Beitrag zur empirischen Anthropologie darstellt. Stattdessen geht es um eine psychologische Anthropologie im weiteren Sinn, die als psychologischer Beitrag zur philosophischen Anthropologie aufzufassen ist. Diese »[bestimmt] das Wesen des Menschen, insofern, als er psychisch ist, also die Psychizität des Menschen« (ebd., 62). Als »konzeptuelles Fundament der psychologischen Erkenntnislehre« (ebd., 62), kann sie als grundsätzlicher Selbstverständigungsversuch der Psychologie aufgefasst werden.

Die Fundierung der Psychologie in der psychologischen Anthropologie zielt nicht darauf ab, psychologische Einsichten aus der philosophischen Anthropologie zu deduzieren. Vielmehr erschließt sie den Diskurs, »indem das Menschenbild der Psychologie verhandelt wird« (Wendt 2022b, 63). Wie »jede Form psychologischer Forschung« operiert auch die Hermann-Kirchhoff-Kontroverse mit einer »implizite[n] Anthropologie« (Zurhorst 1991, 9), das heißt, sie kann im Diskurs der psychologischen Anthropologie verortet werden. Dies gilt, da die psychologische Anthropologie nicht auf eine inhaltliche Antwort auf die Gegenstandsfrage abzielt, sondern auf die Freilegung einer Diskursebene, von der alle denkbaren inhaltlichen Antworten auf die Gegenstandsfrage abhängig sind, weil sie implizit auf diese rekurrieren (Wendt 2022b, 63). Auf diese Weise soll die Psychologie dazu in die Lage versetzt werden, sich über die ihr möglichen Fehler zu verständigen und sich dementsprechend ihnen gegenüber zu feien, das heißt, dass die Idee der psychologischen Anthropologie innig mit der einer Fehler- bzw. Idoltheorie der Psychologie (vgl. Wendt 2022a, 66) verbunden ist:

Verbunden mit der psychologischen Anthropologie leistet die Idoltheorie einen Beitrag zur Ausrichtung der Psychologie durch die Gegenstandsfrage.

Die Gegenstandsfrage und die Gegenstandsangemessenheit

Das Problem der Gegenstandsangemessenheit betrifft die Logik der Forschung. Wie bereits im Begriff angedeutet, geht es darum, Maß am Gegenstand zu nehmen. Es mag naheliegen, das Problem der Gegenstandsangemessenheit daher der Messtheorie zuzuordnen, jedoch muss davor gewarnt werden, sich von der Sprache zu einer Äquivokation verleiten zu lassen. Die Frage danach, was Messung überhaupt ist bzw. welche Kriterien Messungen erfüllen müssen, hat eine lange Tradition (z.B. Hölder 1901). Die Frage nach der Möglichkeit von Messungen im Phänomenbereich des Psychischen wurde und wird kontrovers verhandelt, mit befürwortenden und ablehnenden Stimmen (z.B. Michell 1999; Buntins 2014).

Weiterführend könnte sich die Frage stellen, ob das Problem der Gegenstandsangemessenheit, wenn es darin besteht, Messverfahren zu entwickeln, die die Gegenstände psychologischer Forschung bzw. Eigenschaften derselben adäquat abzubilden (Borsboom et al. 2004), in das Problem der Validität aufgelöst werden kann.

In der Tat besteht hier eine Verbindung, doch das Problem der Gegenstandsangemessenheit ist allgemeinerer Art als das der Validität und nimmt anders als dieses nicht die Debatte um die Dichotomie von Geltung und Genese als seinen Ausgangspunkt. Gleichzeitig finden sich neben dezidiert gegenstandsorientierten Konzeptionen der Validität (Borsboom et al. 2004) auch solche Positionen, die sich explizit agnostisch zu der Frage verhalten, ob eine psychologische Eigenschaft für ihre Messung existieren müsse (Buntins et al. 2017) und anstatt valider Messverfahren theoriebasiertes Messen fordern (Borgstede und Eggert 2023). Es erfordert also einige Vermittlungsschritte, um das Problem der Gegenstandsangemessenheit auf das der Validität zu beziehen. »Maß am Gegenstand« kann nur dann genommen werden, wenn es erstens einen Gegenstand gibt und zweitens dieser vor seiner empirischen Untersuchung zumindest minimal bekannt ist – Kriterien, die es im Diskurs der Gegenstandsfrage zu berücksichtigen gilt. Es stellt sich sodann die Frage, ob sich die Untersuchungsverfahren dann aber nach einem unwissenschaftlichen Alltagsverstand richten. Buntins et al. (2017) haben der Applikation des Konzeptes der Validität einen analogen Vorwurf entgegengebracht:

»The aim of science should be to find out new things about the world we live in – not to rephrase our common-sense beliefs. Therefore, psychometricians should not try to model their tests after common-sense psychology, but after substantial scientific theory« (Buntins et al. 2017, 708).

Im wissenschaftlichen Sinn Maßnehmen bedeutet in diesem Zusammenhang, die vorwissenschaftliche Struktur des Erkenntnisfeldes methodisch zu prüfen und in gesichertes Wissen zu überführen. Folglich ist Messung etwas anderes als ein gesicherter Zugriff auf ein empirisches Relativ, nämlich in ihrer Bedeutung theorieabhängig (Borgstede und Eggert 2023). Mit ihrer Einstellungslehre kann die phänomenologische Psychologie einen konstruktiven Beitrag leisten, um die Abhängigkeit der psychologischen Messverfahren vom common sense zu überwinden (Staiti 2009). Darüber hinaus ermöglicht der Rückblick von der phänomenologischen auf die wissenschaftliche Einstellung, diese philosophisch zu fundieren und als strenge Wissenschaft zu etablieren. Die Reflexion auf die Gegenstandsangemessenheit führt die phänomenologische Psychologie also dahin, ihre Auseinandersetzung mit den Gütekriterien psychologischer Forschung auf die Validität auszuweiten (Wertz 1986). Das gemeinsame der verschiedenen Validitätsvarianten darzulegen und dieses mit einer phänomenologischen Bestimmung der »Geltung« selbst zu vermitteln und in einer des »Messens« schlechthin zu begründen, macht somit eine wesentliche Forschungsperspektive für die Methodologie und Metrologie der phänomenologischen Psychologie aus (siehe Wendt 2022a).

Die Gegenstandsangemessenheit wurde im psychologischen Diskurs in der Münch-Mack-Kontroverse verhandelt. Wie Wundt nehmen Münch und Mack an, dass die Einheit der Psychologie mit der ihres Gegenstandes zusammenfällt.

Münchs Bearbeitung der Gegenstandsfrage ist wie Wendts dezidiert anthropologisch, jedoch vertritt er anders als Wendt eine inhaltliche Antwort auf die Gegenstandsfrage: »Gegenstand der Psychologie [ist] in erster Linie der Mensch«, und zwar »mit seinem Verhalten, seinen Erlebnissen und seinen Sinngebilden« (Münch 2002a, 46).

Der Hintergrund der Kontroverse liegt dabei in einer Unterscheidung, die Münch von Roderick Chisholm übernimmt. Es handelt sich dabei um die Unterscheidung zwischen methodistisch und partikularistisch eingestellten Forschenden:

»Der Methodist geht vom Primat der Methode aus. Er wird nur das als Erkenntnis gelten lassen, was bestimmten methodischen Standards entspricht, die zuvor festgelegt wurden. Der Partikularist beginnt demgegenüber bei Wahrheiten, an die zu zweifeln er keinen vernünftigen Grund hat. Er beginnt bei evidenten Urteilen, wie etwa dem, daß es eine reale Welt gibt« (Münch 2002a, 43–44).

Münchs Einschätzung nach ist eine Entwicklung zum Methodismus kennzeichnend für die Psychologie, weshalb die Psychologie »ihrem Gegenstand nicht mehr angemessen« operiere (Münch 2002a, 41). Es bedürfe einer »Umorientierung hin zu einem Primat der Gegenstandsangemessenheit« (ebd., 40). Der Erkenntniswert selbst der exaktesten Methoden bemesse sich schlussendlich daran, ob und inwiefern sie ihrem Gegenstand angemessen sind. Der Anthropologie als Rahmenmodell der Psychologie falle dann die Aufgabe zu, »die Prinzipien und die Kategorien zu bestimmen«, die dem Gegenstand der Psychologie »angemessen sind« (ebd., 45).

Wolfgang Mack kommt mit Münch überein, dass »man sich über einen einheitsstiftenden Gegenstand in der Psychologie wenig Gedanken [macht]« (Mack 2002, 90). Auch für ihn droht das Primat der Methode die Psychologie in einen unzusammenhängenden Pluralismus von Teildisziplinen zu zersplittern (zentrifugale Kräfte). Diese Überforderung stellt zugleich die Weichen für den Einfluss zentripetaler Kräfte, die Mack vor allen Dingen in der analytischen Philosophie des Geistes und den kognitiven Neurowissenschaften sieht (ebd., 90). Obgleich Mack »eine gewisse Methodenfixierung« der akademischen Psychologie anerkennt, sieht er eine Gefahr darin, »eine Dichotomisierung von ›Gegenstandsangemessenheit‹ und ›Methodenprimat‹ herzustellen« (ebd., 91).

Solch eine Dichotomisierung lege den Fehlschluss nahe, dass gegenstandangemessene Methoden nicht exakt sein könnten. Dementsprechend plädiert Mack dafür, Exaktheit und Adäquatheit der Methode zusammen zu denken: »Methoden und Verfahren sind kein Problem, sondern deren Interpretation und Rechtfertigung. […] Eher ist der akademischen Psychologie vorzuwerfen, daß sie wenig gegenstandsadäquate Meßmodelle hat« (Mack 2002, 92). Hieraus resultiert der wesentliche Divergenzpunkt gegenüber Münch, da für Mack »[d]ie Frage nach der Gegenstandsangemessenheit eine grundlegend methodologische Frage [ist], denn Gegenstände sind immer nur unter Rücksicht einer bestimmten Methode gegeben« (ebd., 92). Die »Phänomenanalyse« (ebd., 92), als welche Mack die phänomenologische Methode versteht, bildet für ihn hierbei keine Ausnahme.

In seiner Replik auf Macks Kommentar unterscheidet Münch (2002b) drei Bedeutungen der Gegenstandsangemessenheit, die drei verschiedene Fragen betreffen: 1) die »Frage nach der korrekten Anwendung der Methode«, 2) die »Frage nach der Interpretation der Ergebnisse« und 3) die wissenschaftstheoretische Frage nach dem Verhältnis von Methode, Modell und Gegenstand (ebd., 96). Während Mack vor allen Dingen die Fragen 1 und 2 thematisiert hat, liegt es Münch in erster Linie an der fundamentaleren, wissenschaftstheoretischen Frage 3. Bezüglich ihrer gilt, »daß die Anwendung von Methoden durch Modelle vermittelt wird« (ebd., 96). Der Gegenstand selbst kann nicht ohne Weiteres gemessen werden, sondern muss anhand eines theoretischen Modells messbar gemacht werden.

»Faßt man das Licht als eine Welle auf, dann kann man etwa quantitativ die Frequenz der Welle eines Lichtphänomens bestimmen. Die Anwendung von Meßmethoden wird in diesem Fall erst durch das Modell ermöglicht. Insofern kann man sagen, daß Modelle einen Gegenstand konstituieren« (Münch 2002b, 97).

Im Sinne der dritten, wissenschaftstheoretischen Frage betrifft das Problem der Gegenstandsangemessenheit die Ebene der Modellbildung. Dementsprechend verwandelt sich Münchs Kritik am Primat der Methode zu einer Kritik daran, dass »[d]as treibende Motiv für die Entwicklung von Modellen dabei häufig das Ziel der Anwendbarkeit exakter Methoden [ist]« (ebd., 97). Hinsichtlich Münchs Rede von Messbarmachung gilt es zu bedenken, dass Messbarkeit eine Eigenschaft ist, die bestimmten Bedingungen (z.B. Hölder 1901; Buntins 2014) unterliegt, Messbarmachung in die Gefahr gerät, etwas Messbares für etwas nicht Messbares auszugeben. Sofern zwei Gegenstände unterschiedliche Eigenschaften aufweisen, sind sie begrifflich zu unterscheiden. Anders gesagt: Begriffe dürfen nicht im Sinne einer besseren Messbarkeit umgedeutet werden (siehe Michell 1999 für eine kritische Position zur Messbarkeit psychologischer Attribute).

Die Münchs Ansicht zugrunde liegende wissenschaftstheoretische Weltanschauung steht in der Tradition der Neuzeit, wo der Gedanke entspringt, dass »das Meßbare zu messen, und das Nichtmeßbare meßbar zu machen« ist (Münch 2002b, 97). Ferner habe sie Einzug in die Psychologie gefunden, was sich etwa am Black-Box-Modell des Behaviorismus zeige: »Dieses Modell legitimiert sich allein über die Anwendbarkeit exakter Methoden« (ebd., 97), auch wenn das Anwendbarkeitsprimat (potenziell) auf Kosten einer Verkürzung des modellierten Gegenstandes erreicht werde. Nach Münch genügt die Exaktheit der Methode für die Vertreterin der Gegenstandsangemessenheit nicht, da für sie der theoretische Gehalt der Messung davon abhänge, wie adäquat das Modell den Gegenstand abbildet.

Dies ist der Punkt, an dem Macks Einwurf, dass auch die »Phänomenanalyse« (Mack 2002, 92) lediglich eine Methode unter anderen sei, ausgewertet werden kann. In der Tat verkennt dies die Eigentümlichkeit der Phänomenologie, da diese die Ebene der Modellbildung betrifft, genauer gesagt, einen paradigmatischen Rahmen für die Bewertung der Gegenstandsangemessenheit von Modellen liefert. So stellt sich die Frage, ob es eine für die Psychologie spezifische Form der Gegenstandsangemessenheit gibt.

Die Orientierungen der Gegenstandsangemessenheit und ihre Idole

Die Fragwürdigkeit des Gegenstandes verweist auf die Beantwortbarkeit der Gegenstandsfrage. Sämtlichen Vorschlägen, sei es die Seele, das Gehirn oder den Menschen zu untersuchen, liegt eine epistemische Struktur zugrunde, die phänomenologisch aufgezeigt werden kann. Der philosophische Diskurs seit Kant adressiert diese Struktur als Verhältnis von Subjekt und Objekt, das in dogmatischen Weltanschauungen vorausgesetzt, ab dem späten 18. Jahrhundert aber kritisch hinterfragt wird. Auch die philosophische Phänomenologie hat sich der Bestimmung von Subjektivität und Objektivität gewidmet, wobei sie beispielsweise das Konzept der Intentionalität etablierte, um das Verhältnis zu verstehen. Somit bietet sie für die Auseinandersetzung mit der Gegenstandsfrage einen begrifflichen Horizont, der es gestattet, alle erdenklichen Antwortversuche zu analysieren, zu klassifizieren und zu vergleichen.

Der Ausgangspunkt hierfür ist die besondere Schwierigkeit für das Konzept der Gegenstandsangemessenheit in der Psychologie herauszustellen: das Problem der Dualität. Die Vereinfachung des Gegenstandes in der Modellbildung folgt in der Psychologie einer eigentümlichen Logik, aufgrund derer es fraglich wird, ob sie Orientierung bei Modellwissenschaften finden kann. Erinnern wir uns zu diesem Zweck an Münchs Beispiel des Lichts, das erst anhand seiner Modellspezifikation messbar wird. Denn anders als bei dem Licht oder sonst einem naturwissenschaftlichen Gegenstand ergibt sich für die Gegenstandsbestimmung der Psychologie die Problematik der Dualität nicht fakultativ, insofern Subjektivität und Objektivität in einem begrifflichen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Es ist etwas grundsätzlich anderes, das Licht als naturwissenschaftlichen Gegenstand gegenstandsunangemessen zu modellieren, zum Beispiel, es nur als Welle oder nur als Teilchen aufzufassen, als den psychologischen Gegenstand gegenstandsunangemessen zu modellieren, zum Beispiel als Nervensystem, dessen Struktur sich auf äußerliche Beziehungen beschränkt. Das Teilchenmodell entspricht dem Objekt-Sein des Lichts nicht und es fällt in den Aufgabenbereich der Physik, ihr Modell entsprechend anzupassen. Doch der Neuroreduktionismus entspricht dem Objekt-Sein des psychologischen Gegenstandes nicht, weil es sein Subjekt-Sein nicht abbildet.

Das Problem der Dualität besteht darin, dass im Konzept der Gegenstandsangemessenheit einer Subjekt- und einer Objektstelle Rechnung zu tragen ist. Selbst der Psychophysik geht es mindestens um die »Beziehung zwischen einer Empfindung und einem Reiz« (Straus 1936/1978, 53); dasselbe gilt aber auch für jede andere Psychologie, die keine einstellige Antwort auf die Gegenstandsfrage formuliert, das heißt, die sich zum Beispiel nicht allein auf die Objektstelle fokussiert und beispielsweise das Verhalten ohne sein erlebnismäßiges Korrelat zu erforschen anstrebt. Die von der phänomenologischen Psychologie vorgeschlagene Konzeption der Gegenstandsangemessenheit hilft dabei, verhaltens- und erlebenswissenschaftliche Ansätze zu vermitteln, indem ihre postulierten Entitäten auf der Subjekt- und Objektstelle reflektiert werden können. Dabei handelt es sich für die phänomenologische Psychologie aber noch immer um eine Aufgabe für die Zukunft:

»Die phänomenologische Psychologie muss ihre eigenen Ansätze und Errungenschaften kritisch prüfen. Dazu gehören insbesondere die bloß erlebniswissenschaftlichen Vorgehensweisen phänomenologischer Psychologie[.] Das Erleben zu thematisieren, darf keinen Rückfall in naive Selbstbericht-Forschung bedeuten. Zur Ausarbeitung einer zur Kontroverse fähigen Methodologie ist beispielsweise erforderlich, als markanten Kontrapunkt eine ›radikale Phänomenologie des Verhaltens‹ zu diskutieren, um ›den Gegensatz zwischen ›klassischem‹ Behaviorismus und Introspektionismus zu überwinden‹ (Kvale & Genness 1967, 261)« (Wendt 2022a, 246).

Selbst im fiktiven Extremfall einer einseitigen Untersuchungsrichtung auf das Verhalten bleibt diese so lange unvollständig, bis sie Kenntnis davon nimmt, dass es immer auch ein Subjekt dieses Verhaltens gibt, welches dieses auf eine Weise von innen her durchdringt, die sich gleich wenig in rein äußerliche Zusammenhänge auflösen lässt, wie es umgekehrt sinnvoll wäre, die Fiktion einer Psychologie zu unterhalten, die alles Objektive von sich streift und sich in die Privatheit einer reinen Erlebnissubjektivität abschotten würde. Solche Fixierungen des Gegenstandes sind problematisch, weil ein isolierter Verhaltens- und Erlebensbegriff nur abstrakt gefasst werden kann. Die immanente Begriffsstruktur enthält eine Spannung, die phänomenologisch zu untersuchen ist, nämlich die geistesgeschichtlich beständig reflektierte Dualität von Subjekt und Objekt.

Dem Problem der Dualität Rechnung zu tragen, bedeutet, eine duale Konzeption der Gegenstandsangemessenheit zu entwickeln. Diese unterscheidet die Objekt- und Subjektorientierung als zwei in ihrem Zusammenhang für die Psychologie spezifische Orientierungen für die Modellbildung. Die phänomenologische Psychologie bietet mit Stumpfs (1907) Unterscheidung von Erscheinungs- und Funktionspsychologie einen wichtigen Anschlusspunkt, der terminologisch verallgemeinert und systematisch mit verschiedenen Fehlerquellen der Modellbildung in Verbindung gebracht werden kann (siehe Tabelle 1). Hierbei zeigt sich, dass einige der Ideale psychologischer Forschung eine Kehrseite als Idole aufweisen (siehe Tabelle 2). Die Aufgabe der Psychologie besteht stets darin, weder das Objekt- noch das Subjekt-Sein ihres Gegenstandes zu privilegieren.

Tabelle 1: Je nachdem, ob Objekt- und Subjektorientierung gegeben oder nicht gegeben sind, resultieren das objektivistische Idol (z.B. Neuroreduktionismus) oder das subjektivistische Idol (z.B. immanentistische Erlebnispsychologie). Die Gegenstandsunangemessenheit bezeichnet den äußersten Fall misslungener psychologischer Forschung (z.B. Parapsychologie).

Die Objektorientierung in der Erscheinungspsychologie: Die Erscheinungspsychologie handelt zum einen von den »Inhalte[n] der Sinnesempfindungen«, das heißt den »Erscheinungen erster Ordnung«, wie zum Beispiel Seh- oder Hörempfindungen, und zum anderen von den »gleichnamigen Gedächtnisbilder[n], [den] ›bloß vorgestellten‹ Farben, Töne[n] usw.«, die »als Erscheinungen zweiter Ordnung« aufgefasst werden (Stumpf 1907, 4). Die »rein phänomenalistische Anschauung« (Stumpf 1907, 6), dass einzig die Erscheinungen unmittelbar gegeben sind, kam insbesondere in der Assoziationspsychologie zum Ausdruck, die die Erscheinungen zweiter Ordnung auf Assoziationsregeln zurückführt. Es besteht eine enge Verquickung zwischen den Erscheinungen und den sinnlich wahrnehmbaren Reizen, welche entweder als copy principle, nach dem nichts zu Bewusstsein kommt, das nicht erst in den Sinnen war, oder als Konstanzannahme, der zufolge gleichen Reizen gleiche Empfindungen entsprechen, artikuliert wurde (Gurwitsch 1976). Dementsprechend ist ein erscheinungspsychologisches Verständnis der Gegenstandsangemessenheit objektorientiert, da die psychologische Modellbildung anhand der Analyse von Reizkonstellationen ausgerichtet werden kann. Dies geht jedoch mit dem objektivistischen Idol einher, das dann auftritt, wenn das subjektive Erleben der Erscheinungen ausgeklammert oder auf objektive Zusammenhänge reduziert wird. Von einer derartigen Idolisierung der Erscheinungen sind nach Stumpf (1907, 6) insbesondere experimentelle, physiologische und psychiatrische Ansätze in der Psychologie gefährdet.

Die Subjektorientierung in der Funktionspsychologie: Die Funktionspsychologie beschäftigt sich mit den »psychische[n] Funktionen (Akte, Zustände, Erlebnisse)«, womit »das Bemerken von Erscheinungen und ihren Verhältnissen, das Zusammenfassen von Erscheinungen zu Komplexen, die Begriffsbildung, das Auffassen und Urteilen, die Gemütsbewegungen, das Begehren und Wollen« bezeichnet wird (Stumpf 1907, 4–5). Der Unterschied zwischen Erscheinungen und Funktionen ist »der schärfste, den wir kennen«, das heißt, dass »kein Prädikat der Erscheinungswelt (es sei denn die Zeit) den psychischen Funktionen zu[kommt]« (ebd., 11). Vielmehr besteht eine Dissoziierbarkeit, insofern psychische Funktionen sich verändern können ohne Veränderungen in den Erscheinungen und umgekehrt. Dieser Funktionsbegriff ist nicht zu verwechseln mit dem des zeitgenössischen Funktionalismus oder Kognitivismus, sondern ist der Erlebnis- oder der Aktpsychologie zuzuordnen (Wendt 2022a). Da die Funktionspsychologie von der unmittelbaren Gegebenheit des bewussten Erlebens ausgeht, kann ihre Modellbildung immer auf das Subjekt dieses Erlebens bezogen werden, ist also subjektorientiert. Demgemäß ist die funktionspsychologische Gegenstandsangemessenheit von einem subjektivistischen Idol gefährdet, das in der Ausklammerung objektiver Reizkonstellationen und der Erscheinungswelt besteht. Diese Idolisierung liegt insbesondere bei geisteswissenschaftlichen, psychologistischen oder immanentistischen Ansätzen der Psychologie nahe.

Die Explikation der dualen Orientierungen der Gegenstandsangemessenheit kann anhand zweier zentraler Dimensionen psychologischer Forschung erfolgen (siehe Tabelle 2):

  1. Die Idole methodischer Strenge: Zu Recht gilt die methodische Strenge als ein Ideal der Forschung. Doch aus einer einseitigen objekt- oder subjektorientierten Konzeption der Gegenstandsangemessenheit ergeben sich zwei Idole der methodischen Strenge.

Das Idol der Exaktheit besteht in dem Fehler, zu glauben, dass die Berücksichtigung der Subjektstelle des psychologischen Gegenstands die Strenge der Psychologie beeinträchtigen würde. Von diesem Idol gefährdete Ansätze sind unter anderem Machs Phänomenalismus, Herbarts naturwissenschaftliche oder Wundts physiologische Psychologie.

Dabei sind zwei Perspektiven zu unterscheiden.

  1. Die Perspektive, der zufolge allererst auszuhandeln sei, ob das den mathematisch fundierten Naturwissenschaften entstammende und in der Experimentalpsychologie beliebte Exaktheitskriterium auf eine Psychologie, die nicht auf die Subjektstelle in ihrer Gegenstandsbestimmung verzichten möchte, übertragen werden sollte. Innerhalb der phänomenologischen Psychologie hat insbesondere Straus solch eine Übertragung als »Irrtum der objektiven Psychologie« kritisiert, die in der »Täuschung, daß sie eine der Physik vergleichbare kausale Forschung treibe«, resultiere (Straus 1936/1978, 52). Anstatt kausale Verknüpfungen in der Erscheinungspsychologie als Assoziationsgesetze nachzubilden, sei sich einer grundsätzlicheren Intentionalanalyse zuzuwenden.
  2. Bühler prägt in einem ähnlichen Zusammenhang das Konzept des Ausgangsgegenstandes. Er spricht von einem aus der »Methodik« anstatt der »Axiomatik« stammenden »Grundsatz, dass die Theorie der Empfindungen im Anschluss an die Physiologie der Sinne und mit den Mitteln des Experimentes aufgebaut werden müsse« und nach dem die Empfindungen »das unmittelbar Gegebene und als solches der gemeinsame Ausgangsgegenstand für die Physik und die Psychologie [sind]« (Bühler 1927, 3–4).
  3. Die andere Perspektive bekennt sich zu den aus den Natur- oder Formalwissenschaften entstammenden Exaktheitskriterien und sieht vor allem die Dateninterpretation in der Rolle, eventuellen Verkürzungen des Gegenstandes aufgrund methodologischer Exaktheitserwägungen Rechnung zu tragen. Ferner ist anzumerken, dass frühere phänomenologische Ansätze in der Psychologie den Exaktheitskriterien nicht immer zufriedenstellend nachgekommen sind (Wendt 2022a, 2023, 60). Sie kommt darin mit Feger überein, dass es »keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen phänomenologischer und formalisierender Psychologie der Art gibt, daß beide unvereinbar wären« (Feger 1983, 292). Daher: Das Ideal methodischer Strenge ist zentral für die phänomenologische Psychologie, insbesondere um ihre Anschlussfähigkeit an die Experimentalpsychologie herzustellen. Ein solcher Perspektivenpluralismus innerhalb der phänomenologischen Psychologie hilft dabei, möglichen Fehlerquellen vorzubeugen.

Wer die Eigenständigkeit der Subjektorientierung und ihrer Methoden für die Psychologie dadurch sicherzustellen sucht, sie durch einen kategorialen Hiatus von der objektorientierten Psychologie zu trennen, regrediert im Wesentlichen auf das Niveau der Wissenschaftsauffassung des methodischen Dualismus. Ihr entspricht das Idol der Reinheit, welches in dem Glauben besteht, die strenge Erforschbarkeit der Subjekt- könne nur durch eine Ausklammerung der Objektstelle gewährleistet werden. Von diesem Idol sind unter anderem Brentanos und Diltheys deskriptive Psychologie sowie Husserls transzendentalphänomenologische Psychologie gefährdet.

Im Gebiet der phänomenologischen Psychologie ist etwa Brentanos immanentistische Aktpsychologie durch dieses Idol gefährdet. Trotz der vielstimmigen Forschungslage legen Konzepte wie der methodologische Phänomenalismus, demzufolge Physisches und Psychisches gleichermaßen nur als Phänomene untersucht werden können, oder die These der Unfehlbarkeit der inneren Wahrnehmung, die die Irrtumsmöglichkeit in der Erfassung mentaler Zustände ausschließt, eine Unterordnung der Objekt- gegenüber der Subjektstelle in seiner Psychologie nahe (Fisette et al. 2020).

Das Idol der Reinheit wurde auch an Husserls methodischen Vorschlag der Reduktion als Reinigungsverfahren bemängelt (Spiegelberg 1973). Die Methode der Reduktion sollte von allen naiv vollzogenen Stellungnahmen zur Welt auf ein ursprünglicheres Stratum der Erfahrung zurückführen (lat. re-ducere), indem die mundanen (d.h. weltlichen) Anteile der Erfahrung in der natürlichen und wissenschaftlichen Einstellung methodisch ausgeschaltet werden. Aufgrund dessen wurde sie als Idealismus wahrgenommen, denn die objektive Seite der Erfahrung erschien bloß noch als Korrelat einer leistenden Subjektivität, zu deren transzendentalen Sphäre eine mundan verunreinigte Psychologie vorzudringen außerstande sei. Eine auf diese Weise einseitig subjektorientierte Psychologie droht den Kontakt mit der Realität der Welt zu verlieren, auf dessen Grund allein die Psychologie als positive Wissenschaft gegründet werden kann.

  1. Die Idole ontologischer Voraussetzungen: Die Frage danach, ob die Psychologie als exakte Wissenschaft konstituiert werden kann, ist innig mit der Vorstellung verbunden, dass sie als Naturwissenschaft verstanden und an der Physik als Modellwissenschaft ausgerichtet werden kann. In der Idee einer psychologischen Kausalforschung kündigt sich bereits eine ontologische Vorannahme an, die ihren äußersten Ausdruck im Credo der objektiven Psychologie erfährt. Dies exemplifiziert der Glaubensartikel des Hixon Symposium, welchem zufolge »alle Phänomene des Verhaltens und des Geistes letzten Endes einmal in den Begriffen der Mathematik und Physik beschrieben werden könnten und müßten« (Straus 1936/1978, 112–113). Die Deutungen dieses Credos kulminieren in den verschiedenen Spielweisen des materialistischen Idols, welche die Existenz, die Wirksamkeit, die Erforschbarkeit, die Irreduzibilität oder die Zeitgemäßheit der Annahme des Bewusstseins und damit des Subjekt-Seins des psychologischen Gegenstands verneinen. Ontologische Voraussetzungen spielen sich auf der Ebene nicht falsifizierbarer Aussagen ab. Der phänomenologischen Psychologie geht es gerade »nicht um eine endgültige Beantwortung metaphysischer und epistemologischer Aporien« (Wendt 2022a, 126).

Die Korrektur der Übelstände der objektiven Psychologie kann jedoch nicht einfach dadurch erwirkt werden, ihr Pendant in einer nunmehr subjektiven Psychologie zu veranschlagen, die schlussendlich denselben Radikalismus bloß in die entgegengesetzte Richtung verkehrt. Es ist nämlich gleichermaßen ein Fehler zu meinen, die Erforschung der sinnstiftend wirkenden Subjektivität wäre toto coelo von den erwirkten Sinnerzeugnissen zu scheiden, als ob jedwede objektive Feststellung zum Preis einer Verkürzung des psychologischen Gegenstandes erkauft werden müsse. Deshalb kann die Kontrastierung des Kausalnexus und seiner Ursache-Wirkungs-Verhältnisse für die Naturwissenschaften durch einen Motivationsnexus mit ihm eigentümlichen Grund-Folge-Verhältnissen für die Geisteswissenschaften letztlich nicht befriedigen. Von der Warte der wissenschaftlichen Psychologie gilt es jedoch auf eine grundlegende Asymmetrie hinzuweisen. Denn die sich im 19. Jahrhundert neu begründende Psychologie näherte ihre Ontologie an den naturwissenschaftlichen Materialismus an, dem die philosophischen Psychologien keine konkurrenzfähige idealistische Ontologie entgegensetzen konnten.

Tabelle 2: Die Objekt- und Subjekt-Orientierung in der psychologischen Gegenstandsfrage legen eine Reihe von Fehlerquellen frei, die nach Forschungsdimensionen aufgeschlüsselt und einander paarweise zugeordnet werden können. Diese Tafel der phänomenologische Idoltheorie kann dabei helfen, zu erkennen, dass die Ideale psychologischer Forschung vom Psychologieverständnis abhängen, mit diesem rückvermittelt werden müssen und unter ungünstigen Bedingungen in Fehlerquellen umschlagen können.

Die Unterscheidung einer Objekt- und einer Subjektorientierung hat weitreichende Folgen dafür, wie die Gegenstandsangemessenheit in der Psychologie zu konzeptualisieren ist. Gegenstandsangemessene Modelle sind in der phänomenologischen Psychologie dazu angehalten, die Einseitigkeiten der Erscheinungs- und Funktionspsychologie zu überwinden. Die Unterscheidung von Objekt- und Subjektorientierung als Affirmation der Unterscheidung von innen und außen oder von physisch und psychisch zu verstehen, hieße den Ansatz der phänomenologischen Psychologie falsch zu charakterisieren, hat diese sich doch seit ihren Anfängen William Sterns Konzept der psychophysischen Neutralität zu eigen gemacht (Herzog 1992). Dies zielt darauf ab, eine Analyseebene zu erschließen, die derartigen Dichotomien logisch vorausgeht und auf welcher tieferschürfende Probleme verhandelt werden können. So sind Objekt- und Subjektorientierung als unselbstständige, rein analytische Momente der Gegenstandsangemessenheit zu bestimmen. Sie terminologisch zu fixieren, diente dazu, eine duale Konzeption der Gegenstandsangemessenheit zu entwickeln, die über Münchs und Graumanns (2001) Perspektive hinausweist. Welche inhaltliche Antwort die phänomenologische Psychologie zur Beantwortung der Gegenstandsfrage auch bereitstellen mag, sei es der Mensch, die Person, das Seelenleben, der Leib oder der Ausdruck, sie wird sich anhand dieser Dimensionen ordnen und diskursiv auswerten lassen.

Welchen Bedingungen muss eine inhaltliche Antwort auf die Gegenstandsfrage in der Psychologie genügen?

Es gibt drei grundlegende Möglichkeiten, wie sich die Psychologie zu der Gegenstandsfrage verhalten kann: 1) Die Gegenstandsfrage kann als beantwortbare Frage aufgefasst werden. Dies entspricht ihrer erkenntnisoptimistischen Interpretation. 2) Sie kann als bestimmbar unbeantwortbare Frage aufgefasst werden. Dies ist die Position des Kritizismus. 3) Sie kann als unbestimmbar unbeantwortbare Frage aufgefasst werden, was einer skeptischen Haltung entspricht. Angesichts der eingangs angemerkten, marginalisierten Lage der theoretischen Psychologie ist eine Entscheidung für eine und wider der anderen Interpretationsmöglichkeiten der Gegenstandsfrage zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ratsam. Bis weiterführende Studien vorliegen, ist es das Wertvollste für die Psychologie, alle drei Interpretationsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten (unitas multiplex) und sich anhand ihrer Kontroversen auszurichten.

Das Erkenntnisziel der vorliegenden Untersuchung bestand darin, den Diskurs der Gegenstandsfrage zu aktualisieren, indem einige der in ihm vertretenen Positionen rekonstruiert, aufeinander bezogen und interpretiert wurden. Darüber hinaus wurde insbesondere der Ertrag fokussiert, den die phänomenologische Psychologie für ihre Bearbeitung erbringen kann.

Aus der Warte der phänomenologischen Psychologie konnten sieben Bedingungen identifiziert werden, die für die Beantwortung der Gegenstandsfrage erfüllt sein müssen.

  1. Eine solche Antwort muss die Notwendigkeit für die Gegenstandsbestimmung in der Psychologie erweisen, das heißt ein Argument vortragen, welches erklärt, weshalb historisch kontinuierliche Problemzusammenhänge für das Projekt der Psychologie nicht hinreichen.
  2. Eine solche Antwort muss die entgegengesetzten Pole von Erleben und Verhalten berücksichtigen. Dies kann auf drei Weisen stattfinden:
  3. indem die Dichotomie überwunden und durch einen neuen Gegenstand ersetzt wird,
  4. indem ein einheitlicher Gegenstand identifiziert wird, der beide als komplementäre Aspekte mitumfasst, oder
  5. indem dafür argumentiert wird, weshalb eine einstellige Antwort die Psychologie nicht verfremde.
  6. Eine solche Antwort muss die Einheit der Psychologie als Wissenschaft sicherstellen (und sei es als unitas multiplex) um die (noch zu bestimmende) Identität der Psychologie gegenüber zentripetalen und zentrifugalen Kräften zu behaupten.
  7. Eine solche Antwort muss eine Grundlagendisziplin für die psychologische Forschung spezifizieren, die ihr einen Rahmen bietet, um zu entscheiden, was in und was außerhalb ihres Bereichs fällt. Eine mögliche Anwärterin hierfür ist die psychologische Anthropologie.
  8. Eine solche Antwort musseinen Begriff der Gegenstandsangemessenheit entwickeln, welcher die Verhältnisse von Gegenstand, Modell und Methode erhellt. Genauer gesagt, spezifiziert die Gegenstandsangemessenheit die Bedingungen, unter denen ein Modell seinen Gegenstand adäquat abbildet. Eine solche Antwort muss die für die Psychologie spezifische Dualität Objekt- und Subjektorientierung berücksichtigen.
  9. Eine solche Antwort muss eine Idoltheorie der Gegenstandsfrage entwerfen und aufweisen, inwiefern sie die so spezifizierten Fehlerquellen vermeidet. Zu den bereits identifizierbaren Idolen zählen unter anderem die philosophische Patronage der Wissenschaften, die Verabsolutierung der eigenen Weltanschauung, der disziplinäre Relativismus sowie das objektivistische und das subjektivistische Idol in ihren vier Varianten
  10. Eine solche Antwort muss anhand der Gegenstandsfrage eine Auseinandersetzung mit der spezifisch psychologischen Form von Wissenschaftlichkeit vornehmen. Die phänomenologische Psychologie muss sowohl für den philosophischen als auch für den experimentalpsychologischen Diskurs anschlussfähig bleiben. Ihre Aufgabe und ihr Potenzial liegen darin, integrierende Beiträge von distinktem Ertrag für beide Gebiete vorzulegen.

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Die Autoren

Hannes Wendler, M.A., M.Sc., Universität zu Köln. Hannes Wendlers Arbeitsschwerpunkte betreffen die axiologische Psychopathologie, das Mensch-Tier-Übergangsfeld und die Empathie.

Kontakt:
Hannes Wendler,
Universität zu Köln, Philosophische Fakultät,
Aachener Str. 217, 1.B13, 50931 Köln;
E-Mail: hwendler@uni-koeln.de

Josh Joseph Ramminger, B.Sc., Universität Marburg und Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitschwerpunkte betreffen die konzeptuellen Grundlagen der Psychometrie und psychologischen Metrologie, sowie Metatheorie-Methodologie-Beziehungen in psychologischer Forschung.

Kontakt:
Josh Joseph Ramminger,
Humboldt-Universität zu Berlin, Lebenswissenschaftliche Fakultät,
10099 Berlin;
E-Mail: ramminger@phi-psy.de