#seggs ohne Scham?

Eine objektiv-hermeneutische Fallanalyse von Schambewältigungsstrategien in Sexualaufklärungsvideos auf TikTok

Verena Pohl, Tobias Reuss & Aaron Lahl

Journal für Psychologie, 32(1), 117–139

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2024-1-117 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Der Artikel widmet sich Umgangsweisen mit Scham im Kontext von Sexualaufklärung auf der Social-Media-Plattform TikTok. Hierfür wird ein Video eines weitreichenstarken Sexualaufklärungskanals zum Thema weibliche Ejakulation/Squirting objektiv-hermeneutisch rekonstruiert. Als Strukturmoment wird die Ambiguität der Selbstdarstellung der Sexualaufklärerin herausgearbeitet, die unauffällig und auffällig, persönlich und unpersönlich, infantil und erwachsen, spielerisch und ernst, professionell und unprofessionell sowie wissenschaftlich und unwissenschaftlich erscheint. Im Umgang mit Sexualscham lässt sich ein spezifisches Verhältnis von Thematisierung und Dethematisierung rekonstruieren. Die Entschämung der weiblichen Ejakulation bzw. des Squirtens wird unter anderem durch Referenz auf statistische Normalität, das Bereitstellen einer wissenschaftlichen Sprache und eine vereinfachte Abgrenzung vom Urin bewirkt. Dabei bleibt die Ejakulation/das Squirten als eher passives Geschehen gerahmt, was die intendierte Aufwertung als Potenz unterläuft. Zudem zeigte sich hinter der manifesten Entlastung das Motiv eines latenten Zwangs zur Schamfreiheit.

Schlüsselwörter: Scham, Sexualaufklärung, Social-Media, TikTok, Objektive Hermeneutik, weibliche Ejakulation, Squirting

#seggs without shame?

An objectiv-hermeneutic analysis of shame management strategies in sex education videos on TikTok

The article is dedicated to ways of dealing with shame in the context of sex education on the social media platform TikTok. For this purpose, a video of a far-reaching sex education channel on the topic of female ejaculation/squirting is reconstructed with the method of objective hermeneutics. As a structural moment, the ambiguity of the sexual educator’s self-presentation is worked out, which appears inconspicuous and conspicuous, personal and impersonal, infantile and adult, playful and serious, professional and unprofessional as well as scientific and unscientific. In dealing with sexual shame, a specific relationship between thematization and dethematization can be reconstructed. The de-shaming of female ejaculation or squirting is achieved, among other things, through reference to statistical normality, the provision of scientific language and a simplified differentiation from urine. At the same time ejaculation/squirting remains framed as a rather passive event, which undermines the intended valorization as potency. In addition, behind the manifest relief, the motif of a latent compulsion for freedom from shame was revealed.

Keywords: shame, sex education, social media, TikTok, objective hermeneutics, female ejaculation, squirting

Einleitung

Im Zeitalter der Digitalisierung findet Aufklärung über sexuelle Themen zunehmend durch soziale Medien statt (BzgA 2011, 25). YouTube, Facebook, Instagram, X (ehemals Twitter) und TikTok scheinen klassische Aufklärungsinstitutionen (Familie, Schule, Vereine wie ProFamilia, Printmedien) zu ergänzen, teilweise sogar abzulösen. Die Vor- und Nachteile, die mit dieser Verschiebung der Orte sexueller Aufklärung einhergehen, werden kontrovers diskutiert (Döring und Conde 2021).

Als eines der beliebtesten sozialen Medien für sexuelle Aufklärung hat sich in jüngerer Vergangenheit TikTok herauskristallisiert. Die vom chinesischen Unternehmen ByteDance betriebene Applikation ist eine Plattform für Kurzvideos (meist unter zwei Minuten), welche algorithmisch selektiert ohne Pause nacheinander abgespielt werden. TikTok wird primär von Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zum Alter von 25 Jahren genutzt und ist die von Jugendlichen aktuell am drittmeisten verwendete App nach Instagram und WhatsApp (Feierabend, Rathgeb und Glöckler 2022, 27). Videos mit dem Anspruch der sexuellen Aufklärung haben teilweise einen viralen Erfolg. So haben die populärsten deutschsprachigen TikTok-Kanäle in diesem Kontext eine Follower:innenzahl von knapp einer Million; die Klicks einzelner Videos bewegen sich im zweistelligen Millionenbereich (Doktorsex o.D., Giannabacio o.D., Handsonv o.D., Wahrscheinlichpeinlich o.D.).

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der sexuellen Aufklärung über TikTok. Im Fokus steht dabei die bislang in der Forschung noch nicht thematisierte Frage, wie in entsprechenden Videos mit einem klassischen Problemfeld der sexuellen Aufklärung umgegangen wird: dem Erleben von Schamaffekten in Bezug auf Sexualität (bzw. in diesem Kontext: weibliche Ejakulation/Squirting).

Forschungsstand: sexuelle Aufklärung über soziale Medien

International gibt es inzwischen eine Reihe von Studien, die sich mit dem Thema der sexuellen Aufklärung über soziale Medien befassen und sich dabei der Verhandlung von Themen wie Schwangerschaftsverhütung (Döring, Lehmann und Schumann-Doermer 2023), sexuell übertragbare Krankheiten (Whiteley et al. 2020), geschlechtliche/sexuelle Identitäten (Sciberras und Tanner 2023) oder sexuelle Gewalt (Deal et al. 2020) widmen. Anhand eines systematischen Reviews konnten Döring und Conde (2021) zeigen, welche Akteur:innen sexuelle Gesundheitsinformationen in sozialen Medien verbreiten und welche Qualität diese Informationen haben. Als Contentcreator:innen treten insbesondere »Gesundheitslaien« in Erscheinung, wobei auch »Gesundheitsprofis« (z.B. Ärzt:innen) und seltener »Medienprofis« (z.B. populäre Zeitschriften) über sexuelle Gesundheitsthemen informieren (ebd.). Entsprechend dieser starken Präsenz von Laien verwundert es nicht, dass die Bezugnahme auf Erfahrungswissen (teilweise ergänzt um Faktenwissen) in sexueller Aufklärung über soziale Medien verbreiteter als der Rekurs auf reines Faktenwissen ist (ebd.).

Der Fokus auf individuelle Erfahrungen von Laien birgt Chancen und Gefahren: Er kann einerseits ein niedrigschwelliges Angebot für schwer erreichbare Gruppen sowie Identifikationsmöglichkeiten im Sinne des Empowerments bieten. Andererseits ist eine Verbreitung von fehlerhafter oder gezielt irreführender Information zu befürchten. Die Studienlage deutet darauf hin, dass die Sorgen hinsichtlich der Qualität des übermittelten Wissens nicht unberechtigt sind: Ein bedeutender Teil und in einigen Studien sogar die Mehrheit der Posts und Videos liefern unzuverlässige oder der Evidenzlage widersprechende Informationen (Döring und Conde 2021). Die von Gesundheitsprofis verbreiteten Informationen weisen dabei erwartungsgemäß eine höhere Qualität auf (ebd.).

Aus dem Forschungsstand ergeben sich drei Desiderate in der Beforschung von sexueller Aufklärung in sozialen Medien:

  1. Obwohl TikTok inzwischen zu den bedeutendsten sozialen Medien insbesondere bei Jugendlichen zählt, widmen sich nur wenige Studien der sexuellen Aufklärung über diese Plattform (Fowler et al. 2022; Döring und Lehmann 2022). Diese Forschungslücke gilt speziell für den deutschsprachigen Raum, wo insgesamt wenige Studien zu sexueller Aufklärung über soziale Medien (Töpper 2022) und in Bezug auf TikTok vornehmlich Untersuchungen zur Qualität der Informationen zu Verhütung und Schwangerschaftsabbrüchen vorliegen (Döring und Lehmann 2022; Döring, Lehmann und Schumann-Doermer 2023; Döring und Kubitza 2023). Die bestehenden Befunde deuten darauf hin, dass TikTok- im Vergleich mit YouTube-Videos weniger zuverlässige Informationen liefern und verhältnismäßig mehr Kommentarreaktionen aufweisen – was möglicherweise auf die Kürze der Videos zurückzuführen ist (Döring, Lehmann und Schumann-Doermer 2023). TikTok scheint mitunter als erste Anregung für vertiefte Recherchen von Interessierten zu fungieren (ebd.).
  2. Quantitative und qualitative Untersuchungen zur Sexualaufklärung in sozialen Medien fokussieren bislang auf Inhaltsanalysen. Eine qualitativ-rekonstruktive Forschung, die die manifest vermittelten Informationen in ihrem spezifischen Spannungsverhältnis zur latenten Sinnebene herausarbeitet, liegt unseres Wissens bislang nicht vor.
  3. Der Umgang mit Scham zählt zu den elementaren Aspekten der sexuellen Aufklärung/Bildung (Jannink und Witz 2017). Die Digitalisierung der sexuellen Aufklärung ermöglicht es, diesen Umgang neu zu gestalten. Schon allein durch die Anonymität der Rezeption entsprechender Angebote können Schambarrieren, die etwa bei der Sexualaufklärung im Klassenzimmer auftreten (von der Heyde 2022), umgangen werden. Zugleich stellt sich die Frage, ob die Digitalität der Angebote neue Formen von Scham produziert. Unseres Wissens liegt bislang keine Studie zum Umgang mit Scham in der sexuellen Aufklärung über soziale Medien vor.

Mit der objektiv-hermeneutischen Untersuchung zur Verhandlung von Scham in einem Sexualaufklärungsvideo auf TikTok möchten wir diesen Forschungsdesideraten nachkommen.

Scham: ein psychoanalytischer Blick

»Die Scham ist Scham über sich selbst, sie ist Anerkennung des Tatbestandes, daß ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere sieht und aburteilt« (Sartre 1974, 348). Jean-Paul Sartre nimmt in seinen phänomenologischen Betrachtungen zur Scham bereits wesentliche Punkte eines psychodynamischen Verständnisses der Scham vorweg, das auch für unsere Untersuchung leitend ist. So zeigt das Zitat prägnant die Dialektik von Subjekt und Objekt, Selbst und Anderem, die für die Scham konstitutiv ist. Neben Liebe und Schuld zählt Scham zu den zentralen »Beziehungsaffekte[n]« (Tiedemann 2022, 32), die auf ein Gegenüber hin orientiert sind und die Beziehungsgestaltung zum Anderen, aber auch zu sich selbst, markieren. Die Scham verweist darin auf die Bedeutsamkeit der anthropologischen Grundsituation der Subjektgenese, in der erst durch die anerkennende Zuwendung der primären Bezugsperson das Individuum psychisch geboren wird (Winnicott 1971) – eine Abhängigkeit vom Anderen, die sich im Schamerleben als schmerzhaftes Mangelempfinden reaktualisiert (Tiedemann 2022, 34ff.).

In Anlehnung an Sigmund Freud (1923b) kann die Scham zunächst als grundlegender Ausdruck einer Differenz zwischen Ich und Ich-Ideal (als Teil des Über-Ichs) verstanden werden. Die Scham ist jedoch weit davon entfernt, in ihren Erscheinungsweisen ein einheitliches Bild abzugeben. Léon Wurmser (1993) etwa differenziert zwischen dem aktuell erlebten Schamaffekt, der zeitlich vorgelagerten Schamangst und Formen der Reaktionsbildung, die dem Auftreten von Schamaffekt und -angst vorbeugen sollen. Die Scham kann dabei sowohl als abgewehrter Affekt ins Unbewusste verwiesen werden, als auch zur Verschleierung unbewusster Konflikte im Sinne der Verdeckung des »noch Schlimmeren« psychisch wirksam sein (Löchel 2019, 34f.). Mit Wurmser (1993) gesprochen, ist die Scham potenziell sowohl Maske als auch Maskiertes. Welche Funktionen Schamdynamiken haben, lässt sich individuell oder kulturanalytisch rekonstruieren, nicht jedoch allgemein benennen.

Die Seins- und Erlebnisbereiche Sexualität und Körper sind besonders bedeutsam für Schamerleben und -konflikte (Gerisch 2019; Günter 2010; Hauch 2010). Ihre Besonderheit gründet im Ich, das ohne Körper und Sexualität nicht zu begreifen ist. Diese leiblichen Dimensionen des Ichs sind assoziiert mit Vulnerabilitäten, die zwar psychisch integriert, jedoch nicht aufgelöst werden können. Sie stehen diametral den im Ich-Ideal wirkenden Wünschen und Ansprüchen entgegen und markieren so eine lebenslange Differenz. Dieser konstitutive Zusammenhang zwischen Scham und Sexualität/Körper wird darüber hinaus durch historisch variable Prozesse gesellschaftlicher Normierung überformt (Link 1997). Mit Körper- und Sexualnormen wird das Individuum einerseits früh im Rahmen der Interaktion mit nahen Bezugspersonen (Schuhrke 1999), andererseits im Rahmen sekundärer Sozialisationsprozesse konfrontiert. Dabei erfolgt die Sozialisierung von Schamaffekten auf eine vergeschlechtliche Weise, wie etwa die immer noch geläufige umgangssprachliche Bezeichnung des weiblichen Genitals als »Scham« vor Augen führt. Anhand der sich wandelnden Inhalte des Schamerlebens (z.B. Scham über den Verlust der Jungfräulichkeit in vergangenen und Scham über mangelnde sexuelle Erfahrungen in heutigen Zeiten) lassen sich Normen und Zwänge einer Epoche aufzeigen.

Scham und weibliche Ejakulation/Squirting

Auf den Gegenstand des von uns analysierten Videos vorgreifend, möchten wir den Aspekt der Sexualscham kurz in Bezug auf das Thema der weiblichen Ejakulation bzw. des Squirting erörtern. Unter der weiblichen Ejakulation wird dabei die typischerweise beim Höhepunkt sexueller Erregung auftretende Absonderung einer weißlichen Flüssigkeit von den sog. Skene-Drüsen verstanden (vgl. Pastor und Chmel 2018). Beim Squirting (engl. für »spritzen«) handelt es sich um die infolge sexueller Stimulation auftretende Ausstoßung einer größeren Menge wasserähnlicher Flüssigkeit aus der Harnröhre (ebd.). Die abgegebene Flüssigkeit ist dabei »similar to or identical to urine« (ebd., 627), wird aber von den Frauen1 als klarer und geruchsärmer als sonstiger Urin beschrieben. Die Differenzierung zwischen weiblicher Ejakulation und Squirting (und die Unterscheidung beider von vaginaler Lubrikation infolge sexueller Erregung und koitaler Inkontinenz) hat sich erst in den vergangenen zehn Jahren wissenschaftlich etabliert (ebd.). Im medialen Diskurs werden Ejakulation und Squirting häufig noch in eins gesetzt (Spika 2023). In Anlehnung an unser Datenmaterial, in dem die Begriffe synonym gebraucht werden, verwenden wir im Folgenden häufig Ejakulation und Squirting als gemeinsames Begriffspaar, um damit einerseits nah am Material zu bleiben und andererseits den unterschiedlichen Bedeutungskreisen Rechnung zu tragen.

In der Forschungsliteratur wird auf die verschiedensten Affekte hingewiesen, die für Frauen mit weiblicher Ejakulation/Squirting einhergehen können. Diese reichen von Scham und Unwohlsein über Indifferenz bis hin zu Begeisterung und Stolz (Påfs 2023) – wobei Frauen, die das Ejakulieren/Squirten als Bereicherung ihrer Sexualität empfinden, im globalen Norden deutlich in der Überzahl sind (Wimpissinger, Springer und Stackl 2013). Gründe für die Schamempfindungen sind dabei die Empfindung eines Kontrollverlusts, (antizipierte) negative Reaktionen der Partner:innen sowie die Assoziation der abgegebenen Flüssigkeit mit Urin (Påfs 2023) – eine Assoziation, die nicht für die Ejakulation, wohl aber fürs Squirting sachlich begründet ist. Das Schamerleben scheint hier also bedingt durch (geschlechtsspezifische) Ansprüche der Selbstkontrolle und Reinlichkeit.

Scham im Kontext von Digitalisierung und Social Media

Die Digitalisierung als grundlegende Neustrukturierung alltäglicher Prozesse der Kommunikation und Interaktion, die sich entlang kapitalistischer Logiken entfaltet (Zuboff 2018), ist, sozialpsychologisch betrachtet, überfrachtet mit Verheißungen und Wünschen, aber auch mit Ängsten und Zweifeln. Die Ambivalenz zwischen glücksversprechenden und bedrohlichen Potenzialen setzt sich bis in die Zeitdiagnostik fort und eröffnet dort ein Spannungsverhältnis zwischen kulturpessimistischen (Balzer 2012) und affirmativen Entwürfen (Altmeyer 2013). Auch hinsichtlich einer möglichen neuen Bedeutung von (Sexual-)Scham im digitalen Zeitalter gehen die zeitdiagnostischen Einschätzungen weit auseinander. Wahlweise wird dabei eine neue Schamlosigkeit moniert (Sigusch 2019, 176), die Aufhebung von Schamgrenzen als progressiver Schritt begrüßt (Bolding et al. 2007) oder vor neuen Kulturen des shamings gewarnt (Löchel 2019).

Vermutlich haben alle Einschätzungen ihren Wahrheitsgehalt. So hat das Internet diverse Orte geschaffen, in denen erotische Inhalte scheinbar schambefreit genossen, präsentiert und kommuniziert werden (z.B. in sexuellen Chats), was insbesondere Personen mit abweichenden Begehrens- und Identitätsentwürfen die Chance bietet, Erfahrungen von Bestätigung und Spiegelung zu machen und so internalisierte Schamkonflikte durchzuarbeiten (Lemma 2019; Lemke 2020). Zugleich kann die Nutzung von schambefreiten sexuellen Onlineräumen auch mit starkem Erleben von Sexualscham offline einhergehen und dieses sogar verstärken. Für viele anonyme Rezipient:innen von Pornografie, die sich ihrer Rezeption schämen, scheint dies zuzutreffen (Lahl 2023).

Dass die Digitalisierung gleichzeitig zu einer Suspension und Intensivierung von Scham beitragen kann, zeigt sich besonders deutlich in den sozialen Medien. Hier manifestieren sich neue Praxen des »Sich-Zeigens« (King 2019, 82), die durch die Imperative des Vergleichens und Vermessens bestimmt sind und ein Konkurrenzverhältnis zu den anderen User:innen aufrufen. Dies kann je nach biografischer Disposition als lustvolles Spiel der Selbstdarstellung erlebt werden, aber auch Angst vor Beschämung durch den virtuellen Anderen evozieren (ebd.) bzw. zu realen Erfahrungen des Beschämt-Werdens führen. Die Enthemmung der digitalen Kommunikation bringt auch neue Formen der Diskriminierung und des Cybermobbings mit sich.

Vor diesem Hintergrund glauben wir, dass Zeitdiagnosen, die auf eine Zu- oder Abnahme von Scham rekurrieren, zu kurz greifen. Das Internet bietet gleichermaßen neue Gelegenheiten für Praktiken des Sich-Zeigens und des Sich-Verbergens. Zu bedenken ist dabei, dass die schamfreie Selbstpräsentation selbst der Maskierung von Schamaffekten und -konflikten dienen kann. In Anlehnung an Reiche (2013) gehen wir deshalb davon aus, dass sich die Grenzen der Scham vor dem Hintergrund neuer technischer Möglichkeiten und kultureller Anforderungen immer wieder neu konfigurieren. Die Untersuchung von digitalen sexuellen Aufklärungsformaten kann möglicherweise einen Einblick bieten, wie diese neuen Formen der Scham sozialisatorisch eingeübt werden.

TikTok und digitalisierte Sexualaufklärung

In der Vermittlung von »Informationen, Fähigkeiten und positive[n] Werte[n]« (BzgA 2011, 25) hinsichtlich Sexualität und sexueller Selbstbestimmung muss Sexualaufklärung einen Umgang mit den Schamkonflikten der zumeist jugendlichen Zielgruppe finden. Dabei kann sie einerseits selbst Entschämungspraxis sein und andererseits Möglichkeiten des Umgangs mit evozierter Scham aufzeigen. Anliegen dieses Artikels ist es, diese sozial strukturierten Angebote anhand eines exemplarischen Aufklärungsvideos herauszuarbeiten. Die Analyse stützt sich auf die Methode der Objektiven Hermeneutik, mit der die spezifische »gestaltgebende Sinnstruktur« (Wernet 2021, 21) des Umgangs mit Schamkonflikten in ihrer Verschränkung von manifester und latenter Sinnebene rekonstruiert werden kann. Das Video wird darin als Objektivation sozialer Praxis verstanden und die Frage der »Ausdrucksgestalt« (Oevermann 1983, 234) sozial strukturierter Bearbeitung von Schamkonflikten verfolgt. Damit ist auch die Limitation der Analyse benannt: Trotz der kommunikativen Einbettung des Materials über die Kommentarfunktion, ist es in unseren Augen zunächst sinnvoll, das Video als eigenständiges Artefakt zu analysieren. Die Kommentare und die Interaktion zwischen den User:innen untereinander und mit der Contentcreaterin verstehen wir als spezifische interaktionelle Reaktion auf die Ausdrucksgestalt des Materials, die in nachfolgenden Arbeiten untersucht werden müsste.

Gegenstand der nachfolgenden Analyse ist die Schambearbeitung in der TikTok-Sexualaufklärung über weibliche Ejakulation/Squirten. Exemplarisch wird hierfür das circa einminütige Video »Können auch Frauen spritzen?«2 des TikTok-Kanals »giannabacio« objektiv-hermeneutisch analysiert. Die Auswahl des Videos erfolgte vor dem Hintergrund der großen Reichweite des Kanals, der hohen Diskursivität und großen Schamaffinität des Themas weibliche Ejakulation/Squirting (Haerdle 2024; zur Nieden 2009) sowie der manifesten Verhandlung von Scham in diesem Video.

Objektive Hermeneutik

Die von der Forschungsgruppe um Ulrich Oevermann (1993) entwickelte Methode der Objektiven Hermeneutik zielt auf die Rekonstruktion der Sinnstrukturen sozialer Praxis. Grundlegende Annahme ist die textlich-sprachliche Manifestation der sinnstrukturierten Welt in und durch ihre Artefakte (Wernet 2009, 11ff.). Dabei ist diese Manifestation nicht auf den eigentlichen Schrifttext beschränkt, sondern umfasst alle textlichen »Objektivation[en] sozialer Praxis« (Maiwald 2018, 447).

Regel- und prinzipiengeleitet vorgehend (Wernet 2009, 21ff.), interpretiert die Objektive Hermeneutik den Text sequenziell und rekonstruiert für die einzelnen Sequenzen manifest-intentionale und latente Sinnstrukturen in ihrem spezifischen und sich reproduzierenden Spannungsverhältnis. Während dabei unter »manifest« das intentional Gesagte verstanden wird, wird mit der latenten Ebene eine Sinnstruktur abseits »des Selbstverständnisses und Selbstbildes« (Wernet 2009, 18) der Sprechenden/Handelnden rekonstruiert. Die sequenzielle Sinnrekonstruktion wird im Laufe der Interpretation zu einer Fallstruktur verdichtet und als solche expliziert. Im Explikationsprozess wird die latente Struktur mit den manifesten Repräsentanzen konfrontiert und das spezifische Spannungsverhältnis von manifest und latent in seiner Wiederholung als »Ausdrucksgestalt« (Oevermann 1983, 234) herausgearbeitet.

Das dem Artikel zugrunde liegende Video gehört als Datenmaterial zu den natürlichen Daten, da es nicht in einem Forschungskontext produziert wurde. Ferner kann es als »editierte[r] Text« (Oevermann 1997, 13) betrachtet werden, da es sich um eine fixierte und intentional präsentierte soziale Praxis handelt.

Zu beachten ist die Multidimensionalität des beforschten Materials: So bildet die mimische und gestische Modulation eine zum Sprachlichen komplementäre Sinnebene, die jedoch auch als divergent zur »sprachlichen Ausdrucksmaterialität« (Loer 2023, 372) zu verstehen ist. Folglich muss in der Rekonstruktion zwischen der transkribierten sprachlichen Ebene und der auditiv-visuellen Ebene getrennt werden. Spezifisch für den Forschungsgegenstand des TikTok-Videos ist zudem eine zweite visuelle Ebene, die im Nacheditierungsprozess hinzugefügte Kommentare und Ergänzungen (z.B. in Form von Emoticons, Bildern oder Textfeldern) beinhaltet.

Rekonstruktion des Videos »Können auch Frauen spritzen?«

Wir begreifen das zu Beginn des Videos zu sehende und auch den Titel desselben zeigende Bild als erste Sequenz, mit deren Analyse wir beginnen.

Das Bild zeigt eine Frau in halbnaher Einstellung, die in einem abgeschrägten Zimmer steht. Im Hintergrund sind ein gräulicher Laminatboden, ein bläulicher Teppich, eine schwarze Lampe mit ausrichtbarem, goldenem Schirm und ein blaues Sofa mit einem schwarz-weiß-gemusterten Kissen zu erkennen. Das Interieur entspricht dem eines aufgeräumten Wohnzimmers. Zugleich wirkt der Raum steril; explizit auf Persönliches verweisende Dekorationen fehlen gänzlich. Diese Gleichzeitigkeit, die auch die Einrichtung von Ferienwohnungen oder Gästezimmern auszeichnet, lässt sich in der spannungsreichen Figur der persönlichen Unpersönlichkeit zusammenfassen.

In Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext der Praxis der Sexualaufklärung hebt sich der dargebotene Raum von klassischen Räumen der Sexualaufklärung (Beratungsstelle, Klassenzimmer) ab und ist dem Äußerungskontext von sozialen Medien oder Zoom-Konferenzen zuzuordnen. Insbesondere seit der Corona-Pandemie ist es üblich geworden, Privaträume für öffentliche Präsentationen auf ähnliche Weise herzurichten. Das hier gebotene gepflegte und helle Arrangement verweist dabei auf eine professionelle Aufnahme des Videos.

Die zentral in die Kamera schauende Person ist eine schlanke, ca. Mitte 30-jährige, braungebrannte Frau mit brustlangem, offenem, braunem, etwas gewelltem Haar, welche ein ihre Körperform betonendes, türkises T-Shirt, eine Jeanshose mit ebenfalls türkisem, dünnem Gürtel und dezenten Schmuck (ein goldenes Armband) trägt. Die rein wirkende Haut und der Teint der Frau legen nahe, dass sie Make-up aufgetragen hat. Ihre Augenbrauen sind gezupft, ihre Augen unscheinbar mit Wimperntusche geschminkt und sie trägt leicht roten Lippenstift. Insgesamt ist ihr Styling orientiert am Ideal von Natürlichkeit und Unauffälligkeit und eben genau dadurch auffallend – ein Eindruck, der sich in der Figur der auffallenden Unauffälligkeit bzw. unnatürlichen Natürlichkeit zusammenfassen lässt. Bei dem an ihr T-Shirt geklemmten Gegenstand könnte es sich um ein Mikrofon handeln, was nochmals auf die Professionalisierung der Videoproduktion verweisen würde.

Auf der editierten Ebene sehen wir zwei übereinanderstehende Textkästen, deren oberer in weißem Schriftzug auf blauem Grund den Text »Sexualpädagogin erklärt« enthält, während der darunterliegende, deutlich größere, in schwarzem Schriftzug auf weißem Grund die Frage »Können auch Frauen spritzen?« stellt. Der blaue Kasten verweist auf den Kontext von Lehrbüchern, die komplexe Inhalte durch visuelle Übersichtlichkeit darstellen. Der darunterliegende Textblock wäre wegen der Emoticons im Kontext der Chatkommunikation zu situieren. Schon optisch reproduziert diese zweideutige Positionierung des Titels zwischen Lehrbuch und Privat-Chat die Figur der unpersönlichen Persönlichkeit bzw. erweitert sie zur Figur der professionellen Unprofessionalität.

Fahren wir mit der Rekonstruktion der sich als Titel ausweisenden Textsequenz fort. Das obere Textfeld tituliert die Figur im Video als »Sexualpädagogin«, die etwas »erklärt«. Im bisher skizzierten Spannungsfeld ist dieses Textsegment eindeutig auf der Seite des Professionellen und Unpersönlichen zu verorten. Die Sexualpädagogin wird nicht beim Namen genannt (nicht: »Gianna erklärt« oder »die Sexualpädagogin Gianna Bacio erklärt«) und bleibt insofern unnahbar. Die Tätigkeit des Erklärens positioniert sie zudem als Expertin: Wenn Sexualpädagog:innen etwas erklären (z.B. den weiblichen Zyklus), bedienen sie sich wissenschaftlicher Theorien und vornehmlich nicht persönlichen Erfahrungswissens. Das »erklärt« ist zudem implizit transitiv. Intransitiv bedeutet »erklären« ein (menschheitsgeschichtlich) erstmaliges Verständlich-Machen eines bis dato unverstandenen Phänomens; eine Sexualpädagogin erklärt immer jemandem etwas. Der intransitive Gebrauch verweist hier auf die Anonymität des Publikums. Vergleichbare Objektivationen wären in Zeitschriftenkolumnen zu finden, die mit »Expertin erklärt« übertitelt sein können.

Der darunterliegende, als Haupttitel identifizierbare Text irritiert in mehrfacher Hinsicht: Zunächst fehlt das Interpunktionszeichen zwischen beiden Textblöcken. Kann als manifestes Motiv deren Zusammenhang identifiziert werden, erscheinen beide latent als disparat. Darüber hinaus ist mit dem Spritzen der Frauen ein Phänomen benannt, das eine Expertin, die etwas »erklärt«, als (weibliche) Ejakulation oder als Squirting bezeichnen würde. Doch statt dem wohlgeformten »Sexualpädagogin erklärt die weibliche Ejakulation« findet ein mehrfacher Bruch statt. Den Regeln des Sprachgebrauchs widersprechend, wird kein Phänomen, sondern eine Frage »erklärt«. Zudem wechselt das Sprachregister von einer abstrakten zur leicht vulgären Umgangssprache (»spritzen«). Die Verwendung von Emoticons drückt ferner ein spielerisches und affektives Moment aus (Logi und Zappavigna 2021). Dergestalt reproduzieren die disparaten Titelelemente zusammengenommen die Ambiguität von Professionalität/Unprofessionalität.

Der Titel »Können auch Frauen spritzen?« stellt die weibliche Ejakulation/das Squirting im Kontext des Vergleichs zu Männern zur Disposition. Das zeigt sich am Satzbau: So ist über die syntaktische Position des »auch« (in Differenz zu »Können Frauen auch spritzen?«) der Vergleich zu anderen Fähigkeiten von Frauen ausgeschlossen. Dass Männer als Vergleichsfolie dienen, ist dabei naheliegend, insofern die männliche Ejakulation umgangs-/vulgärsprachlich als (Ab-)Spritzen bezeichnet wird.

Eine Ambiguität impliziert dabei der Ausdruck »können«: Können kann (1) eine Möglichkeit (»es kann passieren, dass …«), (2) eine Fähigkeit (»ich kann einen Handstand machen«) oder (3) eine Erlaubnis implizieren (»kann ich Kekse haben, Papa?«). Die Ambiguität zwischen den ersten beiden – in diesem Äußerungskontext wahrscheinlicheren – Lesarten ist dabei durchaus relevant: Die erste Lesart macht das Spritzen tendenziell zum unabhängig vom Willen des Subjekts stattfindenden »Ereignis«, die zweite tendenziell zum gewünschten Ziel einer Praxis. Zwar kann auch das unfreiwillig-passiv erlebte Ereignis als positiv empfunden werden, für das gezielt Erstrebte ist das aber wahrscheinlicher. Anders gesagt: Die Lesart der Möglichkeit (1) schließt auch die Möglichkeit ein, dass das Ejakulieren/Squirten als passiv erlittenes Ereignis negativ empfunden wird; z.B. kann es zu Schamempfindungen kommen, weil das »Ereignis« als Kontrollverlust erlebt wird. Die Lesart der Fähigkeit (2) weist hingegen eine Affinität zum Affekt des Stolzes (dem dynamischen Gegensatz zur Scham) über das gelingende Ausüben dieser Fähigkeit auf.

Der Titel als Ganzer lässt beide Lesarten zu. Für die Lesart der Potenz (2) spricht der Ausdruck »spritzen«, der einen Vorgang bezeichnet, bei welchem Flüssigkeit »durch Druck in Form eines Strahls aus einer engen Öffnung […] hervorschießt« (Duden o.D.). Damit liegt ein gewisses Maß an Aktivität oder gar Intentionalität des spritzenden X nahe; Kontrastbeispiel hierzu wäre der Ausdruck »auslaufen«. In Bezug auf die männliche Ejakulation ist der Ausdruck »spritzen« zudem mit Bedeutungen der Lust und Potenz versehen, zumal es sich häufig um eine Übertreibung handelt, denn oft tropft Ejakulat eher, als dass es spritzt. Affirmative Literatur zur weiblichen Ejakulation macht sich dementsprechend diesen lustbesetzten Begriff zu eigen (Haerdle 2024). Für die Lesart des Spritzens als Möglichkeit (1) und damit als potenziell unangenehmes Ereignis spricht hingegen vor allem der Smiley zum Ende, der Überraschung und Scham ausdrücken kann. Kurzum: Das fragliche Spritzen der Frau schillert zwischen stolzer Potenz (in der sich Frauen mit Männern »messen« können) und potenziell schambesetztem Kontrollverlust. Die angekündigte Erklärung durch die Sexualpädagogin kann möglicherweise eine Antwort auf diese Ambivalenz liefern.

Formulierung einer Fallstrukturhypothese: Das Video behandelt die weibliche Ejakulation/das Squirten als ein Thema, das potenziell mit lustvoller Potenz oder mit schamvollem Kontrollverlust assoziiert ist, und in dem die männliche Ejakulation als Vergleichsgröße gilt. Eine Erklärung zu diesem Phänomen erfolgt durch die abgebildete Sexualpädagogin. Diese ist als spannungsreiche Figur positioniert, die (un)natürlich, (un)auffällig, (un)persönlich und (un)professionell ist.

Bitte alle unter achtzehnjährigen einmal weiterscrollen (1)

Der Aufruf der Sexualpädagogin wird mit freundlichem, leicht schmunzelndem Gesichtsausdruck artikuliert und durch eine rasche Wischbewegung mit beiden Händen vorgeführt. Dieses Vorführen findet in vergrößertem Format statt (nicht mit einem Finger, sondern mit beiden Händen und durch Beugung der Arme), sodass es wirkt, als ob die Sexualpädagogin »unseren« Bildschirm wischt.

Auf manifester Ebene reklamiert die Sexualpädagogin die Einhaltung des Jugendschutzes, wobei der Grund für die von ihr errichtete Altersbarriere nicht genannt wird. Im Anschluss an die vorherigen Sequenzen könnte es sich hierbei sinnlogisch um sexuell explizite Inhalte im Zusammenhang mit weiblicher Ejakulation/Squirting handeln. Ein vergleichbarer Jugendfilter findet sich beispielsweise auf Pornoseiten, wo die Rezipient:innen nur mit Versicherung ihrer Volljährigkeit zu entsprechenden Inhalten gelangen. Die Antwort auf die Frage, ob auch Frauen spritzen können, wird damit mit Inhalten »nur« für Erwachsene verbunden.

Auffallend ist dabei die Form der Durchsetzung des Jugendschutzes: Sie erfolgt ex negativo über eine Handlungsanweisung, mit deren Erfüllung das nicht benannte Verbot eingehalten wird. Ein Gedankenexperiment macht dies deutlich: Sind bei einem Verkehrsunfall Passant:innen polizeilich dazu angehalten, »bitte weiterzugehen«, um nicht stehenzubleiben, sind hier Jugendliche aufgefordert »weiterzuscrollen«, um das Video nicht weiter anzusehen. Die Durchsetzung eines Verbots erscheint also als höflich-direktive Aufforderung, etwas anderes zu tun. Die manifeste Handlungsanweisung erweist sich damit auf latenter Ebene als Anweisung der Handlungsunterlassung. Der Vergleich mit Polizist:innen zeigt dabei jedoch das geringe Wirkungspotenzial dieser Anweisung: Anders als eine Polizistin verfügt die verbotssprechende Figur im Video über keine Autorität, um das Verbot durchzusetzen; ihre Autorität ist auch nicht (z.B. durch eine Uniform) symbolisch repräsentiert. Dadurch wird die Artikulation des Verbots auf eine Weise unterlaufen, dass sie latent eine gegenteilige Botschaft vermittelt: Hier gibt es für Jugendliche »Verbotenes« zu sehen, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Diese Ambivalenz bildet sich auch gestisch ab: Denn einerseits setzt die Sexualpädagogin hier das Verbot durch (zeigt uns das Weiterscrollen), andererseits unterlaufen ihre freundliche Zugewandtheit, das Schmunzeln und der in der Ausführung der Gestik implizierte Perspektivwechsel (sie scrollt »unseren« Bildschirm) eine wirksame Artikulation eines Verbotes. Das manifeste Verbot im Sinne des Jugendschutzes erscheint damit latent als Einladung an die unter 18-jährigen Personen, sich das Video anzusehen.

weiterscrollen ja (1) nicht schummeln (1)

Die Sexualpädagogin wiederholt dazu die Geste der Wischbewegung, kommt der Kamera näher und lächelt.

In der Sequenz reproduziert sich die vorher entwickelte Lesart: Die Wiederholung der Aufforderung – und damit die Durchsetzung eines Verbots – erfolgt in Verbindung mit »nicht schummeln«. Die Doppelbödigkeit von gleichzeitiger Ein- und Ausladung zeigt sich sofort durch Weiterführung des vorherigen Gedankenexperiments: Im Falle eines Verkehrsunfalles würden Polizist:innen analog fordern »weitergehen ja (1) nicht schummeln (1)«. Die Absurdität dessen liegt auf der Hand: Schummeln bezeichnet eine Form des Regelbruchs, die keine realitätswirksamen Konsequenzen nach sich zieht und verweist auf den Kontext von lockeren Karten- und Gesellschaftsspielen mit Kindern. Die Zuschauer:innen werden also nicht nur als potenzielle Adoleszente (unter 18), sondern auch als Kinder adressiert, d.h. spielerisch in Form des angeblichen Ausschlusses eingeladen. Auf gestischer Ebene reproduziert sich dies, so wird der Ton nicht etwa ernster, im Gegenteil, die zugewandte und einladende Haltung steigert sich.

und jetzt da wir unter uns sind

Die Sexualpädagogin vollzieht dazu eine öffnende Geste mit beiden Händen, während über ihrer linken Schulter die Maus aus der »Sendung mit der Maus« erscheint und uns zuzwinkert.

Der scheinbare Ausschluss der Unter-18-Jährigen wird nun theatral validiert, womit minderjährige Zuschauer:innen, die nicht weitergescrollt haben, manifest zu Voyeur:innen gegenüber der Erwachsenenwelt gemacht werden. Der unernste Charakter des Ausschlusses wird dabei nochmals mithilfe der zwinkernden Maus markiert. Diese Maus stammt wiederum aus der Kinderwelt, die durch das laszive Zwinkern mit sexueller Bedeutung aufgeladen wird. Die zwinkernde Maus steht also für genau die Form der kindlichen und doch auf die Erwachsenensexualität verweisenden Verführung, die zuvor schon durch die doppeldeutige Botschaft der Sexualpädagogin (manifest: Ausschluss Minderjähriger, latent: infantil-spielerische Einladung) inszeniert wurde. Insofern kann die Maus auch als Symbol für die Sexualpädagogin selbst gelesen werden, denn beide (Maus und Sexualpädagogin) agieren verführerisch, kindlich und versprechen dem Publikum eine Aufklärung/Erklärung. Darüber hinaus baut das Video durch eine »unter uns«-Geste eine Intimität auf, die an die oben beschriebene Ambiguität von Persönlichkeit/Unpersönlichkeit anschließt.

Modifizierung der Fallstrukturhypothese: Zu den obigen Bestimmungen der Sexualpädagogin treten noch die Ambiguitäten von (un)ernst und (un)erwachsen hinzu. Dies betrifft auch das behandelte Thema der weiblichen Ejakulation, das manifest als angemessen für Erwachsene, latent aber spielerisch und infantil bearbeitet wird.

ist die eigentliche Frage ja (.) gibt’s das eigentlich wirklich oder ist das nur n Gerücht?

Während des »das« zeigt die Sexualpädagogin auf den sich immer noch vor ihr befindlichen Textblock zur Frage, ob auch Frauen spritzen können, der kurz darauf verschwindet. Sie reißt während ihrer Frage die Augen leicht auf.

Neben der nochmaligen Bekräftigung, dass durch Ausschluss der Minderjährigen sich nun den »eigentlichen« Themen zugewandt werden könne – ein Punkt, dessen latent widerläufiger Sinn bereits ausgearbeitet wurde –, stellt diese Äußerung manifest den Bezug zum Titel und damit zu weiblicher Ejakulation/Squirting her. Bedeutsam erscheint dabei die Verschiebung von »Können auch Frauen spritzen« zu »Gibt es das eigentlich wirklich oder ist das nur n Gerücht?«. In Differenz zum Titel bleibt die zu erwartende Benennung des zur Rede stehenden Themas aus (womit die Intention des Erklärens unterlaufen wird). Insofern dabei auf den Aktivität und Lust implizierenden Ausdruck »spritzen« verzichtet wird, das Geschehen zudem als Ereignis (»gibt es« statt »können Frauen«) gerahmt wird, verliert die Ejakulation/das Squirten den Charakter einer lustbesetzten Potenz.

Darüber hinaus unterstellt die neue Frageform den Zuschauer:innen – in deren Namen die Sexualpädagogin die Frage formuliert – ein Vorwissen. Weibliche Ejakulation/Squirting wird zum »Gerücht« oder Mythos; beides setzt zwingend Vorwissen voraus, welches die Klärungsbedürftigkeit erst evoziert. Mögliche Szenarien, in denen eine solche vorherige, aber Fragen offen lassende Konfrontation mit dem Thema aufseiten der Zuschauer:innen stattgefunden haben könnte, wären: Pausenhofgespräche, Rezeption von Pornografie (der misstraut wird) oder Aufschnappen aktueller Diskussionen rund um den viralen Song »Wet Ass Pussy« der US-amerikanischen Rapperinnen Cardi B und Megan Thee Stallion. All dies sind eher jugendliche Topoi. Die Frage »Gibt’s das eigentlich wirklich?« mutet zudem kindlich-naiv an. Es bestätigt sich also nochmals die vorher herausgearbeitete generationelle Ambiguität, dass jugendlich-kindliche Fragen in einem Erwachsenengespräch »unter uns« geäußert werden.

Also alle Studien, die ich dazu kenne, die deuten sehr stark darauf hin, dass es das gibt

Die Sexualpädagogin schaut dabei schräg nach oben rechts und wackelt dann lustig mit dem Kopf und den Armen. Parallel dazu erscheint ein editierter Doktorhut auf ihrem Kopf, der sich wild dreht. Die ganze Sequenz ist in einem ironischen Tonfall gesprochen.

Es reproduziert sich die grundlegende Figur des unernsten Ernstes, die hier in Gestalt der unwissenschaftlichen Wissenschaftlichkeit auftritt. Die Sexualpädagogin positioniert sich als Erklärende – leitet also zum »Sexualpädagogin erklärt« über –, ironisiert dabei aber ihre eigene Position, indem sie sich einen fiktiven Doktorhut aufsetzt. Statt in objektiver Wissenschaftssprache zu erklären: »Die Studienlage hierzu ist eindeutig«, bleibt sie persönlich (»ich […] kenne«). Zudem wiederholt sich die Unterlassung der Aussprache des Wortes »spritzen«.

Modifizierung der Fallstrukturhypothese: Die Sexualpädagogin ist auch ambig im Sinne von (un-)wissenschaftlich.

und es wird auch als weibliche Ejakulation bezeichnet. Die Flüssigkeit, die dort abgesondert wird, ist übrigens kein Urin, da ist man sich heutzutage auch einig (.) nein.

Parallel vollführt die Sexualpädagogin erklärende Gesten und schließt ihre Hände zu einer Rautenform zusammen. Während »weibliche Ejakulation« erscheint dabei ein Textblock mit »Oder auch bekannt als ›Squirting‹«. Das »kein Urin« wird mit dem Einblenden eines »nope.« in kursiv-schräger Schrift kommentiert.

Wir sind nun gänzlich im Register der wissenschaftlichen Sprache und der nüchternen Erklärung angekommen. Hier wird nicht mehr gespritzt, sondern ejakuliert und Flüssigkeit »abgesondert«. Signifikanterweise findet sich dabei der Ausdruck »Squirting«, der nicht eindeutig der Wissenschaftssprache zugeordnet werden kann, weil er bspw. auch in der Sphäre der Pornografie verwendet wird, wieder auf die editorische Ebene verwiesen. Es reproduziert sich also, dass das Video auf verbaler Ebene verhältnismäßig gehemmt über seinen Gegenstand spricht: Es gibt hier nur »das«, »es« und die wissenschaftlich neutrale »weibliche Ejakulation«. Gespritzt und gesquirtet wird im Text der editierten Ausdrucksebene. Zuvor hatte sich auch schon der manifeste Verweis auf einen Schamaffekt (das Emoticon im Titel) lediglich in der nachträglich editierten Textebene gefunden.

Wiederum reproduziert sich zudem die Figur der unwissenschaftlichen Wissenschaftlichkeit. Einerseits positioniert sich die Sexualpädagogin hier als Erklärende und verweist dafür auf einen wissenschaftlichen Konsens. Andererseits bleibt aber auch hier die Bezeichnung vage: »ist man sich heutzutage auch einig«. Quellenverweise liefert das Video nicht.

Als ein wesentlicher Zug des Umgangs mit der weiblichen Ejakulation wird in dieser Sequenz nun eine Abgrenzung vom Urin vorgenommen, der durch verbale Wiederholung (»nicht… nein«) Nachdruck verliehen und durch den editierten Zusatz »nope.« eine Note von Lässigkeit verliehen wird. Dass diese Abgrenzung sowie die Ineinssetzung von Ejakulation und Squirting vor dem Hintergrund des derzeitigen Forschungsstandes (siehe oben) nicht haltbar sind, soll für unsere immanente Rekonstruktion nur eine Nebenbemerkung sein.3 Hinsichtlich der Verhandlung von Scham in diesem Aufklärungsvideo bietet sich jedenfalls eine manifest-inhaltliche Erklärung an: Die Schamquelle der möglichen Urinabgabe im Kontext der weiblichen Ejakulation/des Squirting wird im Video implizit angesprochen und soll durch nachdrückliche, wissenschaftlich anmutende Beteuerung der Differenz der abgegebenen Flüssigkeit zum Urin gebannt werden.

Inhaltliche Ergänzung der Fallstrukturhypothese: Die weibliche Ejakulation bzw. das Squirting werden durch eine (wissenschaftlich fragwürdige) Distanzierung vom Urin entschämt. Das verbale Sprechen über die weibliche Ejakulation ist zudem gehemmt, wogegen auf der editierten Ebene affektivere Bezüge hergestellt werden.

Sie weist Ähnlichkeiten mit dem männlichen Ejakulat auf (.) zum Beispiel enthält sie Glukose was wiederum männliche Spermienzellen stark machen kann und dabei unterstützen kann eine Eizelle zu befruchten (.) und diese Flüssigkeit kommt aus den sogenannten Skene-Drüsen (.) die liegen in der Nähe von der Harnröhrenöffnung und wenn die anschwellen und gut durchblutet werden (.) können die eben eine Flüssigkeit absondern und die wird dann weibliches Ejakulat genannt (.)

Auf visueller Ebene wechseln dabei Erklärungs- und Rauten-Geste einander ab. Das »stark machen« veranschaulicht die Sexualpädagogin durch Anspannen beider Bizepse, wobei ihre sonst gleichbleibende, bestimmte Mimik von einem kurzen Lächeln unterbrochen wird. Auf editorischer Ebene werden die Ausführungen mit folgenden Elementen kommentiert: eine gelbe Sonne, auf der in roten Lettern »SWEET« steht (ergänzend zu »Glukose«); ein durchtrainierter Comic-Delphin in Badehose, der seine Bizepse anspannt (ergänzend zu »Spermienzellen stark machen«); ein Textfeld mit »Wird so geschrieben: ›Skene-Drüsen‹« (ergänzend zu »Skene-Drüsen«) und ein Tropfen-Emoticon (ergänzend zu »Flüssigkeit absondern«).

Der Abschnitt setzt den wissenschaftlich erklärenden Diskurs der Sexualpädagogin fort und bekräftigt damit die Lesart, dass (Scham-)Konflikte rund um die weibliche Ejakulation auf Ebene der wissenschaftlichen Erklärung bearbeitet werden. Die Zuschauer:innen erhalten eine wissenschaftlich korrekte, fachsprachliche Erörterung der weiblichen Ejakulation (nicht des Squirting). Die schammildernde Funktion dieser Darlegung besteht darin, dass die biologische Normalität und Funktionalität dieses Vorgangs und seine Unterschiedenheit vom Urinieren vertieft dargelegt werden. Die Abgrenzung von Urin wird sogar noch durch den Hinweis auf den hohen Glukosegehalt gesteigert: Statt als abstoßende Ausstoßung wird das weibliche Ejakulat spielerisch als süß und lecker apostrophiert. Auf einer geschlechtlichen Ebene wird die weibliche Ejakulation dergestalt nicht nur als fortpflanzungszuträglich aufgewertet, sondern auch eine Vereinbarkeit mit herrschenden kulturellen Weiblichkeitsbildern (Süß sein) angedeutet.

Darüber hinaus thematisiert die Erörterung noch den im Titel (latent) angesprochenen Vergleich mit der männlichen Ejakulation. Assoziativ bleibt die männliche Ejakulation hier aber deutlich stärker mit Bildern der Potenz verknüpft. Verlagert aufs Feld der Biologie übernimmt das weibliche Ejakulat eine Ernährungs- und Unterstützungsfunktion für das männliche. Die männliche Potenz bekommt auch eine starke bildliche Repräsentation (den Delphin), wogegen das weibliche Ejakulat nur in seiner Süße editorisch bebildert wird.

Modifizierung der Fallstrukturhypothese: Die weibliche Ejakulation wird auch durch ihre natürliche Funktionalität und Vereinbarkeit mit Weiblichkeitsvorstellungen entschämt. Die männliche Ejakulation bleibt dabei das unerreichte Vergleichsmaß der Potenz.

es muss aber nicht passieren ja (.) also ungefähr fünfzig Prozent aller Frauen können das erleben (.) und du bist absolut normal wenn es dir passiert und auch wenn es dir nicht passiert (.) so.

Diese Schlusspassage des Videos wird gestisch, mimisch und paraverbal mit Vehemenz vorgebracht. Das »muss« wird betont und laut gesprochen, während dazu beide Hände mit zusammengeführten Zeigefingern und Daumen nach vorne geführt werden. Das anschließende »ja« wird in überprüfendem Tonfall gesprochen. Die Opposition »wenn […] und auch wenn« wird gestisch untermauert, indem die Sexualpädagogin zwei unsichtbare Gegenstände links und rechts von sich hinstellt. Während der Aussprache des Wortes »passiert« setzt sie zwei Anführungsstriche in die Luft. Das abschließende »so« wird vornübergebeugt, in die Kamera blinzelnd, die eigenen Hände reibend und im Tonfall der Erleichterung gesprochen. Auf der editierten Ebene werden die »ungefähr fünfzig Prozent« mit einem Textblock »50% aller Frauen laut Studien« begleitet. Beim »wenn es dir passiert« erscheint ein Textblock mit dem Inhalt »braucht dir also absolut nicht peinlich sein!!!«.

Die Passage beginnt manifest mit einem Ausräumen einer möglichen Fehlinterpretation der vorherigen Ausführungen. Wurde die weibliche Ejakulation/Squirting zuvor durch wissenschaftliche Erörterung normalisiert und aufgewertet, wird nun der möglichen Schlussfolgerung auf einen Zwang oder eine (Leistungs-)norm in Bezug auf Ejakulation/Squirting widersprochen. Auch dies geschieht im Modus einer wissenschaftlichen Normalisierung, die wiederum Züge von Unwissenschaftlichkeit trägt (vager Verweis auf »Studien« im editierten Textfeld). Die Betonung, dass 50% aller Frauen das erleben »können«, verdinglicht dabei das Potenzial zu Ejakulation/Squirting zu einer nicht änderbaren, lebensgeschichtlich konstanten und biologisch anmutenden Gegebenheit.4 Ein möglicher Zusammenhang der weiblichen Ejakulation oder des Squirtings mit Stimulationstechniken oder psychogenen Momenten wird dabei übergangen.

Die weibliche Ejakulation wird zudem wieder als passives Geschehen beschrieben. Der Ausdruck »erleben können« ist dabei noch verhältnismäßig positiv konnotiert: Erleben kann man schöne und unschöne Dinge. Das dreimal im Text auftauchende »passieren« hingegen verweist auf Ungeschick und Unangenehmes. Das Spiel mit der lustvollen Potenz des »Spritzens« zu Anfang des Videos ist nun zu einem »Passieren« heruntergekommen, von dem sich die Rednerin selbst distanziert (Geste der Anführungsstriche). Man kann sagen, dass die anfangs in Aussicht gestellte Aufwertung des weiblichen Spritzens im Sinne von Potenz und Stolz final revidiert wird.

Hinsichtlich der Frage der Verhandlung von Scham ist zunächst zu bemerken, dass die Thematisierung derselben wieder nur auf der editorischen Ebene erfolgt, was die Hypothese bekräftigt, dass hier affektivere Themen verhandelt werden. Dass es Scham in Bezug auf dieses Thema geben kann, wird also nicht ausgesprochen – eine Auslassung, die selbst als Ausdruck von Scham gelesen werden kann. Bemerkenswert ist auch der gewaltige Nachdruck, mit dem Schamaffekte ausgeräumt werden sollen (drei Ausrufezeichen). Die (auch gestische) Resolutheit, mit der die Normalität (»absolut normal«) und der Imperativ des Nicht-Schämens formuliert werden, macht die Überwindung von Schamgefühlen nicht zu einer Frage der Lockerheit, sondern baut einen Gegenzwang auf. Das manifeste Entlastungsmotiv erscheint auf der latenten Ebene als Belastung mit einem Zwang zur Abwesenheit von Schamgefühlen, d.h. als »Zwang zur Ungezwungenheit« (Wouters 1994, 214).

Inhaltlich verweist der Aufruf zur Entschämung durch das kausallogische »also« auf die vorherigen Ausführungen zur statistischen Durchschnittlichkeit der Ejakulation. Weil Ejakulieren/Squirten verbreitet ist, »braucht« es den Zuschauer:innen nicht peinlich sein. Es bestätigt sich also das Motiv der Entschämung durch wissenschaftliche Normalisierung. Der dramatische Höhe- und Schlusspunkt des Kurzvideos bietet sodann eine Normalitätserklärung aller Frauen. Frauen werden in solche, die ejakulieren/squirten, und solche, die nicht ejakulieren/squirten, unterteilt und beide als »absolut normal« bewertet. Der Sache nach wird durch diese Generalisierung der Normalität die Differenzierung von normal und nicht-normal ad absurdum geführt; so setzt deren Inanspruchnahme das Nichtnormale voraus.

Fazit

Als strukturierendes Moment des hier analysierten Falles wurden spezifische, sich reproduzierende Konfigurationen der Ausdrucksgestalt der Ambiguität herausgearbeitet. Die im Video agierende Sexualaufklärerin erscheint zugleich als natürlich und unnatürlich, als persönlich und unpersönlich, als infantil und erwachsen, als spielerisch und ernst, als professionell und unprofessionell sowie als wissenschaftlich und unwissenschaftlich. Es steht rezeptionspsychologisch zu vermuten, dass diese Ambiguität an die Gefühlslagen der Zielgruppe der Jugendlichen anzudocken vermag: Die Sexualaufklärerin bietet sich ihnen zugleich als Identifikationsfigur und als milde (Wissens-)Autorität an.

Auf dieser Grundstruktur des Sexualaufklärungsvideos bauen verschiedene Bearbeitungsweisen von Scham auf. Dabei ist zunächst zu konstatieren, dass eine manifeste, anerkennende Thematisierung individueller Scham als probates Mittel des Umgangs oder der Entlastung weitgehend fehlt. Lediglich auf der editorischen Ebene, anfangs durch eine Andeutung in Form eines Emoticons, dann gegen Ende als manifester Entschämungsimperativ, wird Scham thematisch. Während im Kontext der Dethematisierung lediglich naheliegt, diese als Umgangsweise mit Scham zu verstehen (insofern z.B. die infantil-spielerische Lockerheit potenzielle Schamempfindungen überspielen kann), ist dies für die Thematisierung offensichtlich. Bei letzterer wird Scham über die Figur der Normalisierung im Sinne einer Entschämungspraxis bearbeitet.

Trotz der überwiegenden manifesten Dethematisierung von Scham lassen sich unterschiedliche Äußerungen als spezifische Entschämungspraxen in Bezug auf die weibliche Ejakulation/Squirting interpretieren: Die Referenz auf statistische Normalität (50% aller Frauen), das Bereitstellen einer wissenschaftlich neutralen Sprache (»Ejakulation«) und eines Erklärungsmodells (Skene-Drüse, Nutzen für die Fortpflanzung), die »Reinigung« der Ejakulation/des Squirtings durch (wissenschaftlich fragwürdige) Abgrenzung vom Urin sowie das Herstellen einer Assoziation zur »Süße« (was wiederum eine Integration in herrschende Weiblichkeitsbilder gestattet). Zudem wird die Gefahr einer Scham infolge Nicht-Erfüllens einer Ejakulations-/Squirtnorm in einem ähnlichen Normalisierungsmodus (Verdinglichung der Fähigkeit zu Ejakulation/Squirten) zu bannen versucht.

In drei Punkten scheint die Entlastung allerdings nicht zu gelingen. Erstens zeigt sich, dass die Verknüpfung der Ejakulation/des Squirtings mit Empfindungen von Stolz, Lust und Potenz, wie sie im anfangs eingeführten Ausdruck »spritzen« und dem kontinuierlichen Vergleich mit der männlichen Ejakulation anklingt, nicht wirksam umgesetzt wird. Das weibliche Spritzen wird letztlich als passives Geschehen gerahmt und auf nicht-beeinflussbare körperliche Vorgänge reduziert. Zweitens bleibt das verbale Sprechen schamhaft: Es kommen hier lediglich der wissenschaftlich-neutrale Name »Ejakulation« und das deiktische »das« zum Ausdruck. Drittens erweist sich die entlastende Normalisierung latent als Zwang zur Schamfreiheit.

Einleitend haben wir erörtert, dass Scham nicht einfach aufgehoben wird, sondern sich Schamgrenzen lediglich neu konfigurieren können. Auch Sexualaufklärung im digitalen Raum ist hiervon nicht ausgenommen. So bilden sozial strukturierte Körper- und Sexualnormen nach wie vor die Grundlage wirksamer Schamgrenzen. Ihre spezifische ambigue Ausdrucksgestalt im Material lässt sich als Oszillieren zwischen einer Suspendierung von Scham bei gleichzeitigem Festigen von und Rekurrieren auf bestehende Normen und darin evozierte Schamkonflikte verstehen. Ob diese Oszillation jedoch von den User:innen als Entlastungsangebot, als Beschämung oder als Stütze der Abwehr eigener Schamkonflikte erlebt wird, lässt sich an dieser Stelle nicht klar benennen. Die Frage der psychischen Wirkung des Videos oder weiterer digitaler sexualpädagogischer Angebote für die Schamdynamik der Konsument:innen ließe sich letztlich nur subjektfokussiert und qualitativ-forschend befriedigend beantworten.

Anmerkungen

[1]
Da wir hier auf Vorgänge bei Personen mit weiblichem Körpergeschlecht eingehen, sprechen wir vereinfacht – und der Forschungsliteratur sowie dem von uns analysierten Video folgend – von »Frauen« bzw. »weiblicher« Ejakulation. Selbstverständlich können auch Personen, die sich als trans oder nicht-binär identifizieren, in dem oben beschriebenen Sinne squirten oder ejakulieren.
[2]
Giannabacio. (o.D.). [TikTok-Profil]. Zugriff 14.9.2023. https://www.tiktok.com/@giannabacio/video/7192587077148609798?lang=de-DE
[3]
Andere Online-Aufklärungsformate (Lilli o.D.) sind in der Darstellung von Ejakulation und Squirting genauer.
[4]
Wahrscheinlich haben die Studien, auf die sich die Sexualpädagogin bezieht, nicht das Potenzial, sondern die Prävalenz der weiblichen Ejakulation bzw. des Squirting erhoben. Da die Forschung insb. seit der Differenzierung von Ejakulation und Squirting verhältnismäßig neu ist, ist es schwer, valide Daten zur Prävalenz anzugeben. Die Prävalenzen in Studien, die nicht differenzieren, reichen von ca. 5 bis 55% (Pastor und Chmel 2018). In einer aktuellen repräsentativen US-Erhebung, die sich auf Squirting fokussiert, betrug die Prävalenz 40%; drei Viertel dieser Frauen verwendeten aktiv Techniken, um zu squirten (Hensel et al. 2023).

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Die Autor:innen

Verena Pohl, Master (Empirische Bildungsforschung & Psychologie), Lehrbeauftragte an der IPU Berlin und der Leibniz Universität Hannover, Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse, Qualitative Sozialforschung, sexuelle Aufklärung.

Kontakt:
Verena Pohl,
IPU Berlin, Stromstr. 3b, 10555 Berlin
E-Mail: verena.pohl@ipu-berlin.de

Tobias Reuss, Master (Soziologie & Psychologie), Lehrbeauftragter an der IPU Berlin, Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse, Qualitative Forschung, Bisexualität.

Kontakt:
Tobias Reuss,
IPU Berlin, Stromstr. 3b, 10555 Berlin
E-Mail: tobias.reuss@ipu-berlin.de

Aaron Lahl, Master (Psychologie), wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychologischen Hochschule Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse, Sexualforschung, Masturbation.

Kontakt:
Aaron Lahl,
Psychologische Hochschule Berlin, Am Köllnischen Park 2, 10179 Berlin
E-Mail: a.lahl@phb.de