Kathrin Gärtner
Journal für Psychologie, 32(1), 95–116
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2024-1-95 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deScham tritt in sehr unterschiedlichen Situationen auf: wenn Normen und Werte verletzt werden, wenn Menschen gesehen werden, wie sie nicht gesehen werden wollen, aber auch bei Nacktheit und Sexualität. Wenn Sexualität mit strengen Moralvorstellungen belegt ist, überschneiden sich diese Schamfelder. Doch empfinden auch Menschen, die Sexualität grundsätzlich positiv bewerten, Scham in Bezug auf ihre Sexualität, und wenn ja wofür? Um diese Frage zu beantworten, wurden sieben Interviews mit Menschen aus sexpositiven Communities geführt, die mittels Thematischer Analyse nach Braun und Clark ausgewertet wurden. Dabei wurden sieben Themen herausgearbeitet: Bewertung, eigene moralische Maßstäbe, Körperscham, Sichtbarkeit von Sexualität, Ekel, Konstruktion und Dekonstruktion von Scham und Schamüberwindung. Es lässt sich eine Verschiebung von Normen identifizieren, grundsätzlich bleibt der sexuelle Akt, wenn er von unbeteiligten Personen wahrgenommen wird, aber schambehaftet. Es wird diskutiert, inwiefern der potenzielle Ekel der anderen hierbei eine zentrale Rolle spielt und inwiefern der sexuelle Akt selbst eine Möglichkeit zur Überwindung von Ekel und Scham bietet.
Schlüsselwörter: Scham, Sexualität, Sexpositivität, Körperscham, Ekel
Sexuality, sex positivity and shame
Shame occurs in diverse situations: when norms and values are suffocated, when individuals are seen as they don’t want to be seen, but also in the context of the naked body und sexuality. If sexuality is guarded by rigid moral norms, those fields overlap. But do people who value sex as something positive also experience shame and if so in which regard? To answer this question, seven interviews with people from sex-positive communities were conducted and analyzed via Thematic Analysis. Seven topics were worked out: evaluation, moral standards, body shame, sexuality being visible, disgust, construction and deconstruction of shame and elevation of shame. A shift of moral values in this community can be observed, however, the sexual act itself, if noticed by uninvolved others, is still experienced as shameful. I discuss if potential disgust of the other plays a role and if sexuality itself is a way to overcome shame und disgust.
Keywords: shame, sexuality, sex positivity, body shame, disgust
Scham kann in einer ganzen Reihe von Situationen auftreten: Wenn wir gesellschaftlichen Normen und Werten nicht entsprechen, wenn wir eigenen oder fremden Leistungsanforderungen nicht genügen, oder wenn andere ungewollt Einblicke in unsere private Lebenssphäre erhalten, wenn wir also von anderen gesehen werden, wie wir nicht gesehen werden wollen. Besonders eng verbunden scheint Scham aber mit Sexualität bzw. mit Nacktheit zu sein (und hier vor allem mit der Sichtbarkeit von Sexualorganen und bestimmten Sexualmerkmalen). So haben im Deutschen und auch in anderen Sprachen viele Sexualorgane die Scham bereits im Namen: Schamlippen, Schambein oder ganz allgemein Scham.
Aus einer Perspektive, die Scham als ein moralisches Gefühl beschreibt bzw. ein Gefühl, das auftritt, wenn Werte verletzt werden, ist es verständlich, wenn Menschen, die mit einer konservativen, restriktiven Sexualmoral aufwachsen, die dem Ausleben von Sexualität einen engen Rahmen vorgibt (z. B. dass Sexualität nur in der Ehe, nur zwischen Mann und Frau oder nur zur Reproduktion stattfinden darf), Sexualität in besonderer Weise mit Scham verbinden. Doch wie ist das bei Menschen, die konservative Normen von Sexualität für sich (inzwischen) ablehnen? Ein Beispiel dafür könnten Menschen sein, die sich selbst als sexpositiv beschreiben. In den letzten Jahren hat sich mit sexpositiven Partys und entsprechenden sexpositiven Orten zum Beispiel in Berlin und Wien eine neue Party-Kultur etabliert, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Sexualität in ihrem Rahmen offen ausgeübt werden darf. Doch der Begriff der Sexpositivität beschränkt sich nicht auf solche Orte und Communities, er kann zum Beispiel auch eine Haltung in Psychotherapie und Sexualforschung beschreiben (Harden 2014) sowie Menschen, die diese Grundhaltung vertreten. Eine generelle Definition von Sexpositivität zu geben fällt nicht leicht. Während der Sex-Educator Charlie Glickman (2000) Sexpositivität als Anti-Sex-Negativität beschreibt bzw. als ein Streben nach einer positiveren Beziehung zu Sexualität, fassen Ivansky und Kohut (2017) Sexpositivität »as an ideology that promotes, with respect to gender and sexuality, being open-minded, non-judgmental and respectful of personal sexual autonomy, when there is consent« (Ivansky and Kohut 2017, S. 2016).
Wenn solche Menschen ihre Sexualität nun mit anderen sexpositiven Menschen und in sexpositiven Kontexten leben, wir also davon ausgehen können, dass sie zumindest dort nicht nach konservativen Maßstäben bewertet werden, erleben sie dann eine schambefreite Sexualität? Oder erleben sie trotzdem Scham? Mercer (2018) beschreibt in seinem Beitrag »Sex Positivity and the Persistence of Shame« genau das: Ausgehend von Beobachtungen auf einer sexualwissenschaftlichen Konferenz zeichnet er ein Bild von Scham als einer Emotion, die zwar abgelehnt, bekämpft und verleugnet wird, aber nichtsdestotrotz im Feld der Sexualität ubiquitär ist. Menschen schämten sich für ihre sexuelle Orientierung, für ihren Pornografiekonsum und dafür, Sexarbeit auszuüben oder zu konsumieren, aber auch ganz grundsätzlich für ihre Sexualität und dafür, sexuell aktiv zu sein, selbst dann, wenn sie eine sexpositive Grundüberzeugung teilen. Scham scheint also auch in sexpositiven Kontexten mit Sexualität eng verbunden zu sein.
Offen bleibt: Schämen sich Menschen hier aus ganz ähnlichen Gründen, aus denen sie sich in anderen Hinsichten schämen, z. B. weil sie soziale Normen verletzen oder in den Augen der anderen an Würde verloren haben? Oder gibt es etwas, was Scham und Sex tiefer verbindet, als Scham und andere Lebensbereiche?
Um diese Fragen zu beantworten, wurden Interviews mit sieben Personen aus sexpositiven Kontexten geführt. Methodik und Ergebnisse dieser Studie werden in Kapitel 4 und 5 dargestellt. Zuvor wird ein kurzer Überblick über die Rolle der Sexualität in verschiedenen Theorien über Scham und Konzeptionen von Sexualscham in der empirischen Literatur gegeben. In einem abschließenden sechsten Kapitel wird neben den Limitationen der Studie diskutiert, inwiefern sich Aspekte der behandelten Schamtheorien in den Interviews wiederfinden, aber auch welche neuen Verbindungslinien und Schwerpunkte herausgearbeitet werden können.
Theoretische Ansätze zu Scham legen ihren Fokus auf jeweils unterschiedliche Schamsituationen. Einige Schamtheorien beschreiben Scham als moralisches Gefühl, als eine Art kleine oder große Schwester des Schuldgefühls (siehe z. B. Lotter 2019, Deonna, Rodogno und Teroni 2011), was eine ganze Reihe von empirischen Studien zu den Unterschieden zwischen Scham und Schuld nach sich gezogen hat (siehe z. B. Chrdileli und Kasser 2018, Robertson et al. 2018). Scham in Bezug auf den Körper und Sexualität wird in diesen Theorien, wenn überhaupt, nur am Rande (z. B. bei Deonna, Rodogno und Teroni in einer Fußnote) erwähnt. Tangney und Tracy (2011) kritisieren die Auffassung von Scham als moralischem Gefühl, beziehen dabei die Körper- und Sexualscham aber ebenfalls nicht in ihre Argumentation mit ein.
In einer anderen Gruppe von Theorien wird Scham genereller als eine Emotion beschrieben, die auftritt, wenn wir unseren eigenen Ansprüchen an uns selbst nicht gerecht werden. Aus dieser Perspektive kann die moralische Scham als Unterform der Scham »angesichts auch anderen Versagens« (Tugendhat 1993, 58) beschrieben werden. Diese Auffassung findet sich häufig in psychologischen Theorien. So zählt etwa Mees (2006) Scham zur Gruppe der handlungsbezogenen bzw. Attributionsemotionen. Sie könne auftreten, wenn Menschen ihr eigenes Handeln missbilligten. Für Lazarus (1993) besteht das »Core Relational Theme« der Scham in ähnlicher Weise darin, dem eigenen Ego-Ideal nicht gerecht werden zu können und auch bei Neckel (1991) wird Scham als ein Gefühl der Unzulänglichkeit konzeptualisiert. Wie auch die oben beschriebenen Positionen, die Scham als moralisches Gefühl begreifen, schreiben diese Theorien der Sexualscham keine besondere Rolle zu. Eine Ausnahme stellt Thomason (2018) dar, die ebenfalls in Abgrenzung zu den Schuldscham-Theorien ein erweitertes Schamverständnis postuliert und dabei mit der sogenannten dunklen Scham argumentiert, zu der sie auch die Sexualscham und die Körperscham rechnet (und zwar sowohl die Scham für den nicht normschönen Körper als auch generell die Scham, nackt gesehen zu werden). Hier gebe es nichts, wofür man moralische Scham empfinden müsse, und auch nichts, was man durch eigene Handlungen beeinflussen könne. Scham trete vielmehr auf, wenn es zu Spannung zwischen Identität und Selbstkonzept komme. Damit ist Thomasons Beschreibung von Schamsituationen nochmals breiter als beispielsweise die von Mees, der mit dem Handlungsaspekt Machbarkeit und Veränderbarkeit und damit Versagen in den Mittelpunkt rückt.
Explizit berücksichtigt wird die Körper- und Sexualscham auch in den Arbeiten von Elias, Duerr, Velleman und Scheler. Elias postuliert in seiner Theorie vom Prozess der Zivilisation (Elias 2020 [1939]; Elias 2021 [1939]) eine im historischen Verlauf zunehmende Anhebung der Scham- und Peinlichkeitsschwelle. Dies beschreibt er anhand von allgemeinen Umgangsformen und Gewalt, aber auch für die Sexualität. Vor allem anhand der Darstellung von Sexualität in pädagogischen Texten und Elternratgebern argumentiert er, dass Menschen des Spätmittelalters deutlich freier über Sex geschrieben und gesprochen hätten als in seiner Zeit. Während aber in Bezug auf Aggression und Gewalt die Notwendigkeit der Hemmung im Prozess der Zivilisation und im Zuge immer stärker werdender Interdependenzen nachvollziehbar erklärt wird, bleibt Elias bezüglich der Verbindung zwischen Sexualität und Scham eine Erklärung schuldig. Es bleibt unklar, inwiefern die Scham in Bezug auf Sexualität wichtig für die gesellschaftliche Entwicklung ist, warum Sexualität mit Scham besetzt sein musste.
Hans Peter Duerr kritisiert Elias’ Theorie von der Anhebung der Scham- und Peinlichkeitsschwelle im Zuge des Zivilisationsprozesses, teilt aber die Auffassung von der zentralen Stellung der Sexualscham. In »Nacktheit und Scham« (Duerr 1992) beschreibt er die Scham, nackt gesehen zu werden, als universelle menschliche Konstante: »[E]s gehört zum Wesen des Menschen, sich seiner Nacktheit zu schämen, wie immer diese Nacktheit auch historisch definiert sein mag« (Duerr 1992, 12). Diese Nacktheitsscham habe in jeder Gesellschaft die Funktion, »die Aussendung sexueller Reize« zu hemmen und zu privatisieren, was zu einer Stärkung sexueller Zweierbeziehungen und einer Reduktion von möglichen Rivalitäten zwischen Sexualpartnern führe (Duerr 1995).
Mit dieser Scham angesichts der Sichtbarkeit von Sexualorganen beschäftigt sich auch David Velleman (2001), wenn er anhand der biblischen Sündenfallgeschichte die These aufstellt, dass wir uns dann schämen, wenn es uns nicht gelingt, einen inneren Zustand, den wir nicht nach außen kommunizieren wollen, verborgen zu halten. Er schreibt: »[M]atters of privacy are merely the primal locus of shame« (2001, 31). Sein Argument geht dabei wie folgt: Adam und Eva schämen sich nach dem Sündenfall nicht etwa deswegen für ihre Nacktheit, weil sie sie als sündig erkannt hätten. Sondern im Gegenteil, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, wissen sie, dass sie sich auch gegen Gottes Gebote entscheiden können, auch gegen das Fruchtbarkeitsgebot, das Gebot, Sex zu haben. Ein nackter Körper, der über Erektion und Lubrikation Erregung verrät – hier bedient sich Velleman einer Idee von Augustinus –, konterkariere aber die kommunizierte Entscheidung, keinen Sex haben zu wollen, zumindest »›not here‹ and ›not now‹« (Velleman, 2001, 31). Wir schämen uns nach Velleman also deswegen für unseren nackten Körper, weil er private Regungen verrät, die wir eigentlich nicht öffentlich nach außen kommunizieren wollen.
Auch bei Max Scheler (Scheler 2000 [1957]) stellen Körper und Sexualität ein zentrales Schamfeld dar. Grundbedingung für Scham, die nur der Mensch empfindet, sei seine Körperlichkeit, die ihn mit dem Tier verbinde, verbunden mit einem Bewusstsein (das ihn mit Gott verbinde), durch das er sich seiner eigenen Körperlichkeit bewusst werden könne. Da die Sexualität eng mit dem Körper und seinen Funktionen verknüpft ist, stellt sie entsprechend einen besonders prominenten Schamanlass dar. Die Sexualscham wird von Scheler jedoch nicht nur als Sonderform dieser Körperscham beschrieben. Ihr wird darüber hinaus die Funktion zugeschrieben, eine bewusste Wahl bei der geschlechtlichen Fortpflanzung zu begünstigen, weshalb Frauen sich auch eher schämten. Damit ist das die einzige der hier vorgestellten Theorien, die Geschlechterverhältnisse thematisiert.
In den bisher beschriebenen Theorien wird Scham als eine beschränkende Kraft in Bezug auf die Sexualität beschrieben. Die Rolle von Scham als gesellschaftliches Regulativ thematisiert auch Irvine (2009). Er arbeitet aber noch einen zweiten Aspekt heraus, indem er die These aufstellt, dass es gesellschaftliche Beschränkung und Scham sind, die Sex überhaupt erst spannend und erregend machen. Er bezieht sich dabei auf Simon und Gagnon (1968), die schreiben:
»In one sense we are saying little more than the old sociological cliché, that […] where the fondest dreams of the sexual utopian were fulfilled – the stripping of the bonds of social constraint from mankind – the outcome might not be an enlarged capacity for joyous and passionate copulation but the experience of utmost banality« (174–175).
Wenn es sexuelle Scham nicht gäbe, wenn sie in der Gesellschaft nicht beständig erzeugt würde, verkäme Sex zu einer Banalität, was ihn kaum erstrebenswert mache.
Eine dritte Form der Beziehung zwischen Scham und Sexualität wird schließlich von Katz (2020) hergestellt. Katz argumentiert mit Hegel, dass sexuelle Intimität eine Möglichkeit zur Aufhebung von Scham darstelle. Scham sei für Hegel ein essenzieller Affekt: Der Mensch strebe nach Selbstbestimmung, sei aber aufgrund seiner Körperlichkeit abhängig, bedürftig und schwach (ähnlich wie bei Scheler). Vermindert werden könne diese Scham zum Beispiel durch das Verstecken von schamhaften Elementen, aufgehoben werden könne sie jedoch in der Ehe, entweder durch die gegenseitige Anerkennung oder eben im intimen Akt, bei dem sich Liebende auf körperliche und damit vertrauenswürdige Art gegenseitig bestätigten.
Empirische Studien aus den letzten Jahren fokussieren mit wenigen Ausnahmen auf spezifische Schamanlässe im Kontext von Sexualität wie Scham für Pornografiekonsum (Floyd et al. 2022), Scham in Bezug auf die eigene sexuelle Orientierung, wie zum Beispiel »gay shame« (Irvine 2009; Sævik und Konijnenberg 2023), Scham für die weibliche Ejakulation (Squirting; Påfs 2023), Scham bei Opfern sexuellen Missbrauchs (Kilimnik und Meston 2021; MacGinley, Breckenridge und Mowll 2019; Pulverman und Meston 2020), Menstruationsscham (Schooler 2004) und Scham für Sexting bei jungen Frauen (siehe z. B. Ringrose und Harvey 2015). Auch in Skalen zur sexuellen Scham wie der Sexual Shame and Pride Scale (SSPS) (Rendina 2019), der Male Sexual Shame Scale (Gordon 2018) und dem Kyle Inventory of Sexual Shame KISS 9 (Lim 2019) finden sich neben einigen wenigen Beispielen, die Sexualscham an sich wie z. B. das Sprechen über Sex adressieren, hauptsächlich Items zu spezifischen sexuellen Fähigkeiten, Praktiken oder Vorlieben, für die man sich schämen könnte. Allgemein lässt sich also schließen, dass in der Forschungsliteratur Scham im Kontext von Sexualität meist als Verstoß gegen spezifische Werte und Normen konzeptualisiert wird, nicht jedoch als grundsätzliche Scham, sexuell aktiv zu sein, sexuelle Wünsche zu haben und Sexualität nach außen sichtbar werden zu lassen.
Um Schamerleben in Bezug auf Sexualität in sexpositiven Communities besser zu verstehen, wurden semi-strukturierte Interviews mit sieben Personen aus sexpositiven Kontexten geführt. Der Begriff sexpositiv wird hierbei in einer breiten Bedeutung verwendet und bezeichnet Menschen, die sich selbst als sexpositiv betrachten, die das Ausleben von (konsensueller) Sexualität grundsätzlich als etwas Positives ansehen, oder die Teil von sexpositiven oder anderen sexuellen Communities sind. Das Sampling erfolgte über Schlüsselpersonen aus entsprechenden Szenen, die den Interviewaufruf jeweils an Bekannte aus der Szene weitergeleitet haben
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die teilnehmenden Personen und die »Art ihrer Sexpositivität«. Alle Namen wurden geändert.
Kürzel | Name | Geschlecht | Alter | sexpositive Haltung/Erfahrung |
A | Anne | Weiblich | Mitte 40 | in offener Beziehung, Erfahrungen mit Swinger2-Clubs und sexpositiven Partys |
B | Bertram | Männlich | Mitte 20 | in offener Beziehung, Erfahrungen mit Sex mit mehreren Personen gleichzeitig |
C | Christopher | Männlich | Mitte 30 | beschreibt sich selbst nicht unbedingt als sexpositiv, sieht sexpositive Grundhaltung aber als Ideal |
E | Emma | Weiblich | Mitte 40 | offene Beziehungen, verschiedene Sexual-Partner*innen, positive Grundhaltung zur eigenen Sexualität, Begriff der Sexpositivität aber nicht wirklich geläufig |
F | Fabia | Weiblich | Mitte 40 | BDSM3, Swinger- und Gangbang4-Szene |
G | Gerhard | Männlich | Mitte 50 | BDSM-Szene und Swinger-Szene; lehnt die Zuschreibung sexpositiv für sich ab, verbindet das mit Partys und Orten für »Anfänger« |
H | Hannah | Weiblich | Anfang 40 | Organisatorin von sexpositiven Events |
Tabelle 1: Interviewpartner*innen
Die Interviews würden als teilstrukturierte Interviews geführt, fanden zwischen Oktober 2022 und Januar 2023 und in fast allen Fällen per Videokonferenz5 statt, dauerten zwischen 50 und 80 Minuten und wurden mit dem Handy aufgenommen. Der Gesprächsleitfaden enthielt dabei Fragen zu Erlebnissen von Scham beim Sex oder nach dem Sex, zu Scham im weiteren Kontext von Sex z. B. gegenüber anderen Personen, bezüglich der eigenen Sexualität und den eigenen sexuellen Vorlieben und Handlungen, sowie ggf. zu Scham im Kontext sexpositiver Veranstaltungen. In einigen Interviews (der Leitfaden wurde nach einem Teil der Interviews angepasst) wurden auch Fragen zu hypothetischen schamauslösenden Situationen und Verhaltensweisen von Schamzeugen gestellt.
Auf Basis der Transkripte wurde eine Thematische Analyse nach Braun und Clark (2006) durchgeführt. Diese sieht vor, dass man sich in einem ersten Schritt durch intensive Lektüre zunächst mit dem Material vertraut macht, bevor dann in einem zweiten Schritt initiale Codes am gesamten Material vergeben werden. Ich habe diese Schritte teilweise überlappend durchgeführt. Dabei entstanden insgesamt 37 Codes, die auf 304 Textstellen angewendet wurden.
Anschließend, in Schritt 3, wurden anhand der Codes erste Themen gebildet: »Körperscham«, »Sexualscham«, »Moral und Normen«, »Ekel« sowie »Konstruktion und Dekonstruktion von Scham«. Außerdem wurden in diesem Schritt Codes wieder gelöscht, die als nicht relevant für die Beantwortung der Forschungsfrage erschienen oder die sich auf Themen bezogen, die nur am Rande erwähnt wurden (wie z. B. »Menstruation«). In Schritt 4 und 5 werden die Themen anhand des Materials überprüft, ggf. revidiert, definiert und in Form einer thematischen Karte dargestellt. In Schritt 6 erfolgt die Verschriftlichung, wobei ich die Schritte 4 bis 6 ebenfalls teilweise verschränkt durchgeführt habe. Bei der Bildung von Kategorien wurde eine Kombination aus einem deduktiven Ansatz und einem induktiven Ansatz gewählt. Als deduktiv kann betrachtet werden, dass bestimmte theoretische Postulate aus der Literatur, wie etwa die Nähe von Scham und Schuld oder der Zusammenhang zwischen Scham und Normen, Eingang in die Themenbildung gefunden haben. Gleichzeig sollte die grundsätzliche Offenheit bewahrt werden, die der induktive Ansatz ermöglicht. So wurden die Themen Konstruktion und Dekonstruktion von Scham sowie Ekel allein auf Basis des Interviewmaterials entwickelt. Insgesamt wurden schließlich sieben Themen herausgearbeitet, die im folgenden Kapitel dargestellt werden.
Gesellschaftliche Normen und Bewertungen durch andere werden in fast allen Interviews thematisiert. So schämt sich Emma, Sex mit einem deutlich jüngeren Mann zu haben und für einen Dreier gemeinsam mit einer guten Freundin; Hannah, wenn sie einem Sexualpartner sexuelle Vorlieben offenbart hat, die dieser nicht teilt und vielleicht sogar »oag« findet; und Gerhard für seine passive Rolle bei Gangbangs. Emma macht sich dabei auch Gedanken, ob hier Slut Shaming eine Rolle spielen könnte.
Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass Scham als etwas beschrieben wird, das dann entsteht, wenn man sich mit den Augen der anderen betrachtet, gesehen wird, wie man nicht gesehen werden will, wie zum Beispiel wenn Gerhard berichtet: »Und da habe ich mich anderen gegenüber geschämt oder den Männern gegenüber geschämt: habe ich von denen jetzt eigentlich noch eine Achtung, wenn i derjenige bin, der meine Frau ficken lasst« (Interview G, Pos. 150).
Oft werden Situationen mit Bewertungen von außen aber berichtet, ohne dass tatsächlich (intensive) Scham empfunden wird. So berichtet Bertram eher von der Angst vor Bewertung durch andere, die ihn dazu bringt, seinen Kollegen nichts von seiner neu entdeckten Bi-Neigung zu erzählen. Zunächst vermutet er, dass es mit Scham zu tun hat, ist sich dann aber nicht mehr so sicher: »Ich glaube, beschämen ist ein zu großes Wort, aber da sind Schamanteile dabei« (Interview mit B, Pos. 41). Und Emma erzählt, dass sie manchmal daran denkt, wie es wäre, wenn ihre Mutter das jetzt sähe. Scham empfindet sie aber dann nicht.
In den Interviews werden aber nicht nur Bewertungen von außen thematisiert, sondern auch vereinzelt Situationen, in denen Personen wegen der Verletzung eigener moralischer Maßstäbe Scham erleben (oder in denen zumindest schuldrelevante Kontexte beschrieben werden) – prominent bei Anne, die gleich zu Anfang des Interviews die folgende Situation beschreibt:
Da habe ich mich mit einem sehr jungen Mann getroffen […] und vor lauter Aufregung konnte der ganz schlecht … hm… Konsens formulieren und ich konnte ganz schlecht rausfinden, was er denn möchte. Möchte der jetzt wirklich noch drei Stunden spazieren gehen oder denkt der nur, das müsste er machen? Wäre er eigentlich schon mit mir nach oben kommen oder überfordere ich ihn, wenn ich ihn mitnehme? Und dann war da, waren da immer so kleine Schritte. Am Ende habe ich ihn mit nach oben genommen und wir hatten Sex und danach habe ich mich aber irgendwie geschämt oder zumindest hatte ich so ein blödes Gefühl, weil ich dachte: das war ich glaub kein klares ›Ja‹ und dann hätte ich es eigentlich nicht mit ihm machen dürfen (Interview mit A, Pos.12).
Anne hält für sich die Norm für verbindlich, Konsens über das, was da passieren soll, einzuholen. Dies gelingt hier nicht, und als es dann zu Sex kommt, ohne dass ein expliziter verbaler Konsens hergestellt wurde, schämt sich Anne, vielleicht weil sie den aktiven Part übernommen hat (»hab ich ihn mit nach oben genommen«) oder auch, weil sie als die Ältere sich für den Konsens in besonderer Weise verantwortlich fühlt (das sagt sie später so auch im Interview). Was hier adressiert wird, ist also die potenziell gewaltsame und damit in Bezug auf den möglichen Schaden für die andere Person moralisch relevante Seite von Sex.
Auch Bertram beschreibt diese als Schamanlass, zum Beispiel in Bezug auf Situationen, in denen er von unbeteiligten Personen beim Outdoor-Sex gesehen werden könnte: »Dass ich mich selber als Aggressor in dem Moment sehe, weil ich meine Sexualität auslebe. Und ich fühle mich dann in dem Moment dafür verantwortlich, dass andere Personen vor mir geschützt sind« (Interview mit B, Pos. 154).
Immer wieder zeigt sich in den Interviews aber auch, dass Scham- und Schuldgefühle gemeinsam auftreten, sodass sie kaum auseinandergehalten werden können. So mischen sich bei Bertram Schamgefühle und Schuldgefühle bezüglich seiner Eifersucht in Situationen, in denen er es seiner Partnerin gerne ermöglichen würde, Sex mit anderen Männern zu haben. Schuldgefühle eher gegenüber seiner Partnerin, die durch seine Eifersucht im Ausleben ihrer Sexualität eingeschränkt wird, Scham eher, weil es ihm viel schwerer fällt, diese Beziehungsform zu leben, als andere glauben. Was also zunächst aussieht wie eine Form von Schuldscham, lässt sich bei näherer Betrachtung in zwei Emotionen zergliedern: einem Schuldgefühl gegenüber der Partnerin und einem Schamgefühl, selbst freier zu erscheinen, als man es tatsächlich ist.
Schuldscham, also Scham, wenn man eigene moralische Maßstäbe verletzt hat, kommt somit in den Interviews vor, aber nur in vereinzelten Beispielen. Wenn sie in diesem Zusammenhang berichtet wird, so wird häufig eine nicht-konsensuelle, möglicherweise gewaltvolle Seite von Sexualität adressiert.
Fast alle Interviewpartner*innen berichten von Körperscham im sexuellen Kontext, besonders häufig von Scham für einen nicht normschönen Körper oder Körperstellen, die ihnen nicht gefallen. So berichtet Anne, sich nach Schwangerschaften für ihren Körper geschämt zu haben, Hannah von der Scham, nicht einem durch Fitness geprägten Körperideal zu entsprechen, und Gerhard über Scham für einen alternden Körper. Auf der anderen Seite betonen Emma und Fabia explizit, dass sie sich nicht für ihren Körper schämen. Dafür schämt Fabia sich für das, »was so mit Reinheit zu tun hat« (Interview F, Pos. 5), also für Gerüche und die mögliche Sichtbarkeit von Kotspuren im sexuellen Kontext. Diese Scham für Ausscheidungen findet sich in anderer Form auch bei Bertram: »Ich schwitze relativ schnell, relativ viel. Dafür schäme ich mich manchmal so ein bisschen« (Interview mit B, Pos. 144).
Gemeinsam ist diesen Formen der Körperscham, dass es besondere Aspekte des Körpers sind, für die sich die Personen im sexuellen Kontext schämen. Eine generelle Körperscham gegenüber Sexualpartner*innen wird in den Interviews hingegen nicht thematisiert. Anders sieht es hinsichtlich des nicht-sexuellen Kontextes aus. Obwohl ich nicht explizit danach gefragt habe, haben drei Personen die Sichtbarkeit von Sexualorganen im nicht-sexuellen Kontext als schamauslösend beschrieben. Anne schildert einen Besuch bei einem Gynäkologen, dem sie lieber nicht ihre Brüste gezeigt hätte, Bertram berichtet von Unwohlsein am FKK-Strand in jüngeren Jahren und Christopher beschreibt sein Unbehagen in Bezug auf Orte, an denen man nackt sein muss, wie zum Beispiel die Sauna im Thermalbad: »Da könnte ich erregt sein oder eine Erektion kriegen. Das wär total unangenehm und genauso aber auch ein Ding von: Ich will nicht irgendwie abgecheckt werden und ich will auch bestimmte Sachen nicht zu zeigen« (Interview mit C, Pos. 97). Hier finden wir wieder, was Velleman (2001) beschreibt: Nacktheit wird als schambehaftet wahrgenommen, weil eigene sexuelle Reaktionen offenbar werden könnten, die nicht offenbar werden sollen.
Scham wird in den Interviews nicht nur in Hinblick spezifischer sexuelle Handlungen, Ausdrucksformen, Wünsche etc. thematisiert (wie in Thema 1), Interviewpartner*innen berichten auch von Scham, wenn generell Sexualität öffentlich wird, zum Beispiel wenn Personen den sexuellen Akt mitbekommen, die nicht Teil des sexuellen Geschehens sind. So überlegt Fabia, warum sie sich für Gangbangs schämt, nicht aber dafür, dass sie BDSM praktiziert, und führt das darauf zurück, dass es beim Gangbang (im Gegensatz zu BDSM, das auch mit nicht-sexuellen Aspekten wie Schmerz und Unterwerfung in Verbindung gebracht wird) tatsächlich und offensichtlich um (penetrativen) Sex geht: »Witzig. Ich schäm mich nicht, weil ich Gangbangs mache. Ja. Ich schäme mich einfach, wenn, wenn es, die Sexualität öffentlich wird« (Interview F, Pos. 93–94).
Sex kann dann öffentlich werden, wenn unbeteiligte Personen mitbekommen, dass man Sex hat. So schämt sich Bertram beispielsweise vor Hotelpersonal, das denken könnte, er werde im Hotelzimmer Sex haben, und vor Menschen, die ihn beim Outdoorsex überraschen könnten. Sex kann aber auch dadurch öffentlich werden, dass über ihn gesprochen wird. Christopher beschreibt das in Bezug auf ein Seminar, das er besucht hat, so: »Also, dass ich vorher gesagt hätte: Ja, ich bin da total offen und ich habe kein Problem damit, darüber zu sprechen. Und wenn man dann aber in diesem Seminar sitzt und dann auf einmal Wörter benennen soll […] oder Dinge beschreiben soll, dann merkt man: Es ist doch ganz schön schwierig« (Interview mit C, Pos. 17). Verbunden ist mit der Sprachscham bei Christopher aber auch, dass er sich über das Sprechen (auch im partnerschaftlichen Kontext) als sexueller Mensch zu erkennen gibt, was er teilweise als schamvoll erlebt.
Dass es mit Scham verbunden sein kann, Sex haben zu wollen, erregt zu sein, sexuelle Wünsche zu haben, zeigt sich auch in anderen Interviews, und zwar sowohl bei Interviewpartnerinnen als auch bei Interviewpartnern. Wie oben beim Thema Bewertung schon gesehen, wird von Frauen hier manchmal die Befürchtung thematisiert, als »Schlampe« beschimpft zu werden, wenn sie viel und ausgefallenen Sex haben. Interessanterweise scheint es die Norm, nicht zu oft und zu viel Sex haben wollen zu sollen, auch bei Männern zu geben. So beschreibt Christoph, dass er sich schämt, über bestimmte Dinge zu sprechen, weil er dieses Bild nicht vermitteln möchte: »Ich will nicht der sein, der andauernd Sex möchte oder mit so vielen«. Und Bertram beschreibt, sich angesichts der eigenen sexuellen Wünsche zu schämen, weil es beim Sex darum gehen sollte, die Frau zu befriedigen, und nicht die eigenen Wünsche.
Scham wird teilweise auch gegenüber der/dem eigenen Sexualpartner*in empfunden, vor allem dann, wenn diese*r im Moment keinen Sex möchte. So berichtet zum Beispiel Gerhard, sich dann für seinen nackten Körper zu schämen, wenn seine Annäherungsversuche abgewiesen werden. Damit wird er im Grunde wieder zum Unbeteiligten. Scham für Sexualität an sich zeigt sich also dort, wo die Intimität des sexuellen Geschehens verlassen wird, ob diese Intimität ein Paar umfasst, das Sex miteinander hat, oder eine Gruppe, die sexuell interagiert (samt erregten Zuschauer*innen), oder auch nur eine einzelne Person, die gerne Sex hätte, deren Partner*in ihrer Einladung zum Sex aber momentan nicht folgen möchte.
Um herauszufinden, was es genau ist, das den penetrativen Sex beim Gangbang zu etwas macht, wofür man sich schämen konnte (im Gegensatz zu nicht penetrativen BDSM-Praktiken) haben ich Fabia gefragt, was am Gangbang unbeteiligte Personen sagen müssten, um bei ihr Scham auszulösen. Moralische Verurteilung oder Pathologisierungen (»das ist ja krank«) hätten keinen beschämenden Effekt, wohl aber der Ekel der anderen:
»Ich habe jetzt schon ganz stark auch dieses: Wie schaut denn die aus? Ma das stinkt! So! So, also schon wieder dieser Reinlichkeitsaspekt, der mir da jetzt wieder einfallt. Ma das ist grauslich! […] wenn das andere ekelt, genau […] Genau, das ist es! Weniger die Moral, die ärgert mich mehr. Nein, wenn die sagen: mir wird richtig schlecht, wenn ich das sehe. […] Wenn andere sich vor einem ekeln. Was ja eigentlich Sinn macht, weil ich mein … Ja. [Pause] Das trifft es schon sehr genau. Weil wenn sie nur kommen: Das kann man ja nicht machen oder so, ja, dann kann man anfangen zu diskutieren, das zu erklären, kann man Argumente bringen, aber Ekel ist einfach eine körperliche Reaktion« (Interview F, Pos. 230-238).
In anderen Interviews wurde zwar Ekel nicht explizit thematisiert, eine Analyse der Transkripte auf diesen Aspekt hin zeigte aber, dass viele Schamsituationen tatsächlich als Situationen verstanden werden können, in denen sich andere ekeln könnten. So beschreibt zum Beispiel Bertram, sich dafür zu schämen, beim Sex zu schwitzen und Anne berichtet davon, dass Menschen in sexpositiven Clubs sich schämen, wenn sie pupsen. Hannah schließlich erwähnt Ekel explizit, als sie erzählt, sich bei einem sexuellen Spiel mit Urin geschämt zu haben, weil sie nicht wusste, ob ihr Partner sich nicht doch davor ekeln könnte.
Quer zu den bisher ausgearbeiteten Themen, bei denen es um verschiedene Schamanlässe geht, liegt eine Beobachtung, dass die Interviewpartner*innen immer wieder betonen, dass sie sich eben nicht schämen. So sagt Gerhard gleich am Anfang des Interviews, »ich habe kein Scham« (Interview G, Pos. 28). Später fallen ihm dann doch einige Beispiele ein. Ähnlich bei Hannah. Auch berichten Interviewpartner*innen immer wieder, wofür alles sie sich nicht schämen. Und werden Situationen erzählt, in denen mutmaßlich Scham empfunden wurde und das auch angedeutet wird, die Scham dann aber auch wieder »wegerklärt« oder gar nicht erst eingestanden wird. So leitet Anne den oben beschriebenen Bericht über die sexuelle Situation, in der sie keinen Konsens herstellen konnte, ein mit: »Also ich kann dir schon ein Beispiel erzählen, wo ich das letzte Mal dachte, dass ich mich jetzt vielleicht schämen könnte« (Interview mit A, Pos. 10). Später sagt sie dann, Scham empfunden zu haben und schließt, »ich mag mich dann auch nicht schämen, weil ich denke, er schämt sich bestimmt gerade nicht, dass er zweimal gekommen ist und sich nicht darum gekümmert hat, ob ich komme. Warum soll ich mich schämen?« (Interview mit A, Pos. 22). An einer anderen Stelle sagt sie: »Und ich find’s auch oft so nen feministischen Gedanken, zu beschließen, dass ich mich dafür jetzt nicht schäme« (Interview mit A, Pos. 83). Auch Fabia beschreibt es als eine Form von politischem Anliegen, sich nicht zu schämen, um jungen Frauen ein Vorbild zu sein, sich sexuell auszuprobieren. Scham wird damit in vielen Fällen als etwas beschrieben, das »von außen« (Interview E, Pos. 122) kommt, das man eigentlich nicht fühlen müsste und besser auch gar nicht fühlen sollte. Wie schon von Mercer beschrieben, scheint es auch hier eine Norm der Schamfreiheit zu geben.
Auf der anderen Seite fallen Stellen auf, an denen Scham eher wie eine theoretische Idee oder ein kognitives Erklärungsmuster angeführt wird, anstatt als unmittelbare Emotion erinnert zu werden. Bertram sagt zum Beispiel: »Also ich habe halt auch in dem Wissen, dass wir dieses Gespräch führen werden, da mal probiert, bestimmte Situationen zu reflektieren und dachte dann auch so, vielleicht ist manches eben doch Scham« (Interview mit B, Pos. 7). Bei genauerer Betrachtung zeigte sich dann, dass Scham tatsächlich maximal eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Auch in anderen Interviews gab es diese Bewegung von vermeintlichen oder »konstruierten« Schamsituationen hin zu einer anderen Bewertung. So berichtet Emma von Situationen, in denen sie zunächst Scham vermutet hätte, wo sie aber tatsächlich eher ein schlechtes Gewissen hatte oder eine bestimmte soziale Konvention sehr stark wahrgenommen hat, ohne sich im eigentlichen Sinne zu schämen. Es scheint so, als würde Scham erzählt vom Standpunkt der reflektierten Person, die weiß, dass ihr Handeln nicht frei von äußeren Einflüssen ist, gerne hätte, dass es so wäre, aber ihre Reflektiertheit und Offenheit genau dadurch zeigt, dass sie diese Einflüsse eingesteht.
Wenn nach Irvine (2009) Scham Sexualität in ihrer Macht überhaupt erst erzeugt, wird dann Scham von Interviewpartner*innen auch als etwas Positives beschrieben? Dass Beschämung, also die Scham des Gegenübers, als schön erlebt wird, findet sich nur im Interview mit Gerhard, der es erregend erlebt, seine Partnerin zu beschämen. Zunächst wurde anhand dieser Textstelle der Code »Scham ist schön« entwickelt. Da dies aber die einzige Textstelle war, in der Scham in positiver Konnotation vorkommt, wurde dieser Code (und das gesamte Thema) in »Schamüberwindung in der Sexualität« umbenannt. Dass Schamüberwindung wichtig ist, um etwas Gutes zu erleben, erzählen sowohl Emma als auch Anne und Christopher. Er sagt auf meine Frage, ob die gemeinsame Überwindung der Scham nicht auch etwas Schönes sein könne:
»Ich glaube, wenn sich das Schöne nicht direkt auf das Schamgefühl bezieht, sondern auf das, was danach kommt, dann hat die Scham damit nichts zu tun, würde ich sagen. […] Ich fühl vielleicht Stolz und denke mir auch: ich bin froh, dass ich das gemacht hab. Ja, aber das ist auch. […] Ich habe die Scham gar nicht gebraucht, um dieses positive Erleben zu haben« (Interview mit C, Pos. 203).
Auch für Gerhard und seine Partnerin, die Scham und Beschämung (potenziell) als erregend wahrnehmen, ist wichtig, dass diese Scham letztlich überwunden oder besser vielleicht aufgehoben wird: durch das Ende des Spiels und interessanterweise auch durch die Erregung des Gegenübers. Er erzählt von einem Spiel mit vielen demütigenden und beschämenden Elementen für seine Partnerin, in dessen Verlauf jedoch offensichtlich wurde, dass ihm das keine Lust mehr bereitet:
»Irgendwann mal war es so, dass ich gesagt habe: so eigentlich bin ich schon erschöpft, jetzt mag ich eigentlich nimmer, gell. Aber jetzt kümmert i mich noch um sie. Und das hat sie gehört. Und da hat sie einen Zusammenbruch kriegt. Weil des ja quasi für mich ist. Sie wollt es ja für mich machen. Und sie hat aber dann gemerkt und dies ist eigentlich das einzige, was immer zu einem zu einem Zusammenbruch führt, wenn sie dann das Gefühl hat, dass ich es für sie mache« (Interview G, Pos. 194).
Das, was beschämt, ist so lange erregend, wie es für die andere Person erregend ist, es durch die Erregung der anderen Person praktisch aufgehoben wird. Ist es das nicht mehr, bleibt die Scham und damit der Absturz, also der emotionale Zusammenbruch.
Dass es Scham braucht, damit Sex nicht zu etwas Banalem wird, wie von Irvine (2009) suggeriert, lässt sich anhand der durchgeführten Interviews somit nachvollziehen. Das Schöne ist nicht die Überwindung der Scham, sondern das, was möglich wird, wenn Scham überwunden wird. Und das kann wiederum, wie Katz (2020) es beschreibt, über den sexuellen Akt oder die Erregung der anderen Person selbst geschehen.
Die Thematische Analyse nach Braun und Clark (2006) sieht neben der Entwicklung der einzelnen Themen auch eine Darstellung ihrer Zusammenhänge in Form einer thematischen Karte vor. Abbildung 1 zeigt verschiedene mögliche Zusammenhänge der oben entwickelten Themen, wobei für die Kategorie Nacktheit auch die Unterkategorien Körperbild, Ausscheidungen (Schwitzen, Kot, Urin), Nacktheit und unwillkürliche Erektion dargestellt sind. Pfeile stellen dabei Zusammenhänge zwischen Unterkategorien und übergeordneten Themen dar, die anderen Linien weitere Zusammenhänge.
Abbildung 1: Thematische Karte
Im Zuge der Analyse hatte sich gezeigt, dass Körperscham unterschiedliche Formen annehmen kann, welche wiederum Verbindungen zu verschiedenen anderen Themen aufweisen. Ein negatives Körperbild steht mit Werten (Schönheit, Sportlichkeit, Schlankheit) und Bewertungen (durch sich und andere) in Verbindung; die generelle Scham, sich nackt zu zeigen, und die Scham angesichts unwillkürlicher Erektionen mit der Sichtbarkeit von Sexualorganen und sexueller Lust und damit mit der Sichtbarkeit von Sex. Die Scham angesichts körperlicher Funktionen und Ausscheidungen wie Schwitzen, Pupsen, Fäkalspuren etc. könnte ihren Ursprung im potenziellen Ekel anderer Personen haben. Auch bei einem negativen Körperbild könnte dieser potenzielle Ekel eine Rolle spielen. Wie im Interview mit Fabia entwickelt, kann aber auch die Sichtbarkeit von sexuellen Handlungen Ekel auslösen und damit Scham gegenüber Personen, die sich ekeln könnten, weil sie nicht am sexuellen Geschehen beteiligt sind. Ein Spanner empfindet Lust, nicht Ekel, eine unbeteiligte Person, die nicht erregt wird, könnte hingegen Ekel empfinden. Wenn wir den Ekelbegriff (oder englisch disgust – auch mit Abscheu zu übersetzen) auf den moralischen Ekel erweitern (siehe z. B. Schnall 2008), könnte schließlich selbst die Schuldscham über den potenziellen Ekel anderer erklärt werden. Antizipierter oder wahrgenommener Ekel der anderen hätte damit das Potenzial, ganz verschiedene Schamanlässe zu verbinden, auch wenn dieser Zusammenhang in den Interviews nicht immer explizit thematisiert wurde und weiter exploriert werden müsste.
Wenn wir mit Katz (2020) eine Schamüberwindung im sexuellen Akt annehmen, dann kann schließlich auch zwischen den Themen »Ekel« und »Sexualität als Schamüberwindung« eine Beziehung angenommen werden: Wenn der sexuelle Akt Körperscham aufhebt, dann vielleicht deshalb, weil die Sexualpartner*innen erfahren, dass die andere Person sich nicht vor ihnen ekelt, sondern gerade das, was eklig sein könnte (Sekrete, defizitäre Körper, Kontrollverlust) als erregend empfindet. Hieraus würde wiederum verständlich, warum sich die Interviewpartner*innen vor tatsächlich Unbeteiligten angesichts der Sichtbarkeit von Sex schämen, nicht aber wenn andere sexuell erregt werden. Die Personen, die erregt werden, ekeln sich nicht, unbeteiligte Personen möglicherweise schon. Das Thema Konstruktion und Dekonstruktion von Scham schließlich verbindet die Kategorien insofern, als es bei allen potenziellen Schamanlässen auftritt und somit deutlich macht, dass das Bild der Interviewpartner*innen kein Eindeutiges ist.
Menschen aus sexpositiven Communities und mit sexpositiver Grundhaltung erleben unterschiedliche Schamanlässe auf dem ganzen aus der Literatur bekannten Spektrum, von der Normverletzung bis zur Sichtbarkeit von Sexualität. Der Zusammenhang zwischen Scham und Ekel in der Sexualität wurde hingegen in der Literatur bisher noch kaum behandelt. Interessant ist darüber hinaus, welche Werte und Normen von sexpositiven Menschen offenbar für so relevant erachtet werden, dass ein Verstoß dagegen Scham auslöst. Beide Aspekte sollen im Folgenden behandelt werden, bevor Limitationen und mögliche Konsequenzen für die weitere Erforschung dieses Feldes diskutiert werden.
Traditionelle Normen und Werte werden in vielen der Interviews zwar adressiert und es wird im Zuge von Konstruktionsbemühungen (siehe Thema Konstruktion und Dekonstruktion von Scham) von Scham auch versucht, eigene Scham aus unzureichend überwundenen traditionellen Werten und Normen herzuleiten (zu konstruieren). Meist gelingt das aber, wie wir oben gesehen haben, nicht wirklich: Wo zunächst Scham angenommen wird, wird sie gar nicht wirklich empfunden. Auf der anderen Seite beobachten wir, dass dort, wo Scham empfunden wird oder werden könnte, diese entweder nicht eingestanden oder abgewehrt wird. Dabei entsteht der Eindruck, als dürfe man sich gerade in sexpositiven Communities eigentlich nicht mehr schämen, als wäre Scham ein Tabu, eben weil angenommen wird, dass sie mit traditionellen Werten und Normen zusammenhängt, an die man sich nicht mehr gebunden fühlt. Dies würde die Annahme von Scheff (2014) bestätigen, dass Scham in unserer Kultur aufgrund eines Tabus unsichtbar ist, obwohl sie gleichzeitig allgegenwärtig ist.
Interessant ist, dass dort, wo Schuldscham empfunden wird, nicht traditionelle Maßstäbe wichtig sind: die Norm, dass (verbaler) Konsens einzuholen ist, weil Sex sonst Gewalt ist, und auch die Norm, offen für unterschiedliche sexuelle Konstellationen zu sein und diese nicht durch die eigene Eifersucht zu behindern.
Die Verbindung von Sex und Gewalt führt uns zurück zu Elias (2020, 2021), der nicht nur eine Anhebung der Scham- und Peinlichkeitsschwelle in Bezug auf Sexualität im Prozess der Zivilisation postuliert hat, sondern auch eine Abnahme von (offen gezeigter) Gewalt, was er als Erfordernis moderner interdependenter Gesellschaften erklärt. Vielleicht gibt es aber eine Verbindung zwischen den Feldern Sexualität und Gewalt, die weiterführt als der offensichtliche Tatbestand, dass es auch im Bereich der Sexualität zu Gewalt kommen kann und Gewalt in Form sexualisierter Gewalt Ausdruck finden kann. Elias schreibt nämlich: »Auch der Prozeß der Zivilisation, die Umformung und in gewisser Hinsicht der Fortschritt der Bindungen, denen das Affektleben der Menschen unterworfen ist, geht Hand in Hand mit Befreiungen mannigfachster Art.« (2020, 347). Übertragen wir diesen Gedanken auf die »befreite Sexualität« in sexpositiven Communities, so können wir nachvollziehen, inwiefern Freiheit hier durch Regulation und Einschränkung in anderen Hinsichten überhaupt erst ermöglicht wird. Da Sexualität immer auch mit dem Risiko verbunden ist, zu belästigen, zu stören und auch zu verletzen und verletzt zu werden, muss Selbstkontrolle nach innen hin ausgeübt werden, indem Regeln des Konsenses eingeübt und emotional verankert werden, und nach außen hin, indem Außenstehende, Fremde durch die offene Sichtbarkeit der Sexualität nicht gestört und belästigt werden. Beides geschieht offenbar dadurch, dass Scham und Schamangst genau diese Grenzen bewachen.
In den Interviews findet sich Sexualscham dort, wo Normen verletzt werden und wo potenziell Menschen belästigt werden, sie findet sich aber auch dort, wo Sexualität nach außen hin sichtbar oder hörbar (im Falle der Sprachscham) wird. Scham tritt dabei auch dann auf, wenn das jeweilige sexuelle Verhalten (oder auch die Nacktheit) nicht gegen Normen verstößt. Es zeigt sich also immer wieder eine Art essenzielle Sexualscham. Elias hat keine überzeugende Erklärung dafür, doch haben wir sie jetzt? Eine Möglichkeit wäre der Zusammenhang zwischen Scham und Ekel, der anhand des Interviewmaterials entwickelt wurde. Dazu gibt es bislang nicht viel Literatur (für eines der wenigen Beispiele6 siehe Giner-Sorolla und Espinosa 2011), vor allem nicht in Bezug auf Sexualität, er findet sich aber zum Beispiel bei Nussbaum in Hiding from Humanity (2004). Die Autorin exploriert darin nicht nur die beiden Emotionen und ihre Bedeutung für Gesetz und Rechtsprechung, sondern zeigt anhand der Definition des Obszönen über das Pornografische im amerikanischen Recht auch, dass Sexualität bzw. ihre Sichtbarkeit und alles potenziell Erregende immer wieder mit Ekel und Abscheu verbunden wird:
»What is sexy about the disgusting, and what is disgusting about the activities of the female whore? […] In this confused nexus of concepts we discern the time-honored view that sex itself has something disgusting about it, something furtive and self-contaminating …« (137).
Worin genau das Eklige besteht, bzw. wann genau der Ekel auftritt, wird anhand des Interviewmaterials klar, das zeigt, dass Scham vor allem Außenstehenden gegenüber empfunden wird, die nicht Teil der sexuellen Intimität sind. Im Gegensatz zu Nussbaum, die einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Erregenden und dem Ekligen, sehen wir in den Interviews eher ein Entweder-oder: entweder wir erleben Sexualität als erregend (dann wenn wir Teil davon sind bzw. wodurch wir Teil davon werden) oder wir erleben sie als abstoßend und eklig. Entsprechend wird Sexualscham meist auch nicht den jeweiligen Partner*innen gegenüber empfunden, wenn sie in die Intimität miteinbezogen sind. Und andersherum kann die Herstellung sexueller Intimität, wie Katz (2020) es beschreibt, zur Überwindung der Scham führen, indem aus dem Ekligen das Erregende wird.
Wenn wir mit Tangney und Tracy (2011) nun fragen, welche Funktion Scham hat, wenn sie als moralische Emotion nur teilweise taugt, dann könnten wir aus der Sicht des Zusammenhangs von Scham und Ekel darauf antworten, dass Scham dann funktional ist, wenn sie dafür sorgt, dass wir vermeiden, bei anderen Ekel auszulösen (was wiederum funktional wäre, wenn Ekel auf hygienische Gefahren hinweist). Der Zusammenhang zwischen Scham und Ekel, der sich hier hat entwickeln lassen, hätte damit Implikationen für unser Verständnis von Scham generell. Möglicherweise ist Scham gar nicht nur eine moralische Emotion und auch nicht unbedingt die Hüterin alles Privaten, wie von Velleman (2001) beschrieben, sondern ihre soziale Macht rührt daher, dass wir aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen werden, wenn sich andere vor uns ekeln.
Eine erste Einschränkung der vorliegenden Studie betrifft die Zielgruppe der sexpositiven Personen. Hier hat sich im Verlauf der Interviews gezeigt, dass die Definitionen von sexpositiv sehr weit auseinandergehen, einige bezeichnen sich selbst gar nicht als sexpositiv, entweder weil sie sich nicht sicher sind, ob sie sexpositiv genug sind, oder weil sie mit sexpositiv eine bestimmte Partykultur verbinden, die eher »für Anfänger« ist. Meine eigene Definition von Sexpositivität, die auch die Auswahl der Interviewpartner*innen geleitet hat, war möglicherweise eine zu breite, gemessen an den Selbstbeschreibungen, aber auch im Hinblick auf die Anwendbarkeit und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse für eine bestimmte Personengruppe. Hier wäre eine Einengung der Zielgruppe sinnvoll, wenn diese tatsächlich im Fokus des Interesses steht. Eine weitere Einschränkung betrifft die mangelnde Altersdiversität vor allem bei den Frauen (die wahrscheinlich auf die recht altershomogene Gruppe der Schlüsselpersonen zurückzuführen ist). Hier wäre interessant, ob zum Beispiel sehr junge Frauen, die es in diesen Szenen schließlich auch gibt, andere Erfahrungen mit Scham machen. Und auch die dritte Einschränkung betrifft die mangelnde Diversität des Samples: alle Teilnehmer*innen sind heterosexuell oder höchstens bi-interessiert. Gerade angesichts der zentralen Bedeutung von »gay shame« wäre hier eine Erweiterung sicher sinnvoll.
Schließlich kann auch die Methodik selbst kritisch betrachtet werden: Durch die Erstellung thematischer Karten ermöglicht die Thematische Analyse etwas, das einer Theoriebildung, wie sie in der Grounded-Theory-Methodologie angestrebt wird, sehr nahekommt. Um allerdings wirklich Theoriebildung betreiben zu können, müsste theoretische Sättigung im Material erreicht werden, was mit den vorliegenden sieben Interviews, trotz des reichen und differenzierten Datenmaterials, (noch) nicht der Fall ist. Die großen interindividuellen Unterschiede und die Tatsache, dass auch die letzten Interviews noch neues Material und neue Themen zutage brachten, weisen darauf hin, dass hier noch deutlich mehr Personen befragt werden sollten. Hier wäre es wünschenswert, Theoretical Sampling zu betreiben, um bestimmte Themen weitergehend analysieren zu können und auch in der Auswertung explizit Werkzeuge der Grounded Theory zu verwenden, um mögliche Zusammenhänge zwischen den Themen weiter zu explorieren. Hier könnten dann auch Strategien der Be- und »Entschämung« im Feld des Sexuellen, aber auch über Sexualität näher in den Blick genommen werden. Wenn Sexual- und Körperscham tatsächlich eine Sonderstellung im Feld der Schamanlässe einnehmen, dann ist das ein Feld, über das Menschen besonders leicht beschämt werden können. Und wenn wir mit Neckel (1991) annehmen, dass Scham und Beschämung Machtverhältnisse verfestigen, so können Strategien, die auf ein scheinbar so privates Gefühl wie Scham abzielen, durchaus mächtige gesellschaftliche Wirkungen entfalten.
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Kathrin Gärtner, Diplompsychologin, Dr., leitet das Institut für Marktforschung und Methodik an der Fachhochschule Wiener Neustadt und lehrt dort Forschungsmethodik und Wissenschaftliches Arbeiten. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich psychische Gesundheit und soziale Verbundenheit, Sexualität, Scham und Fragebogenkonstruktion.
Kontakt:
Dr. Kathrin Gärtner,
Fachhochschule Wiener Neustadt, Institut für Marktforschung und Methodik,
Schlögelgasse 22–26, 2700 Wiener Neustadt, Österreich
E-Mail: kathrin.gaertner@fhwn.ac.at