Traumnarration und Ich-Identität

Anke Werani

Journal für Psychologie, 32(2), 23–41

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2024-2-23 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

In diesem Artikel geht es um die Frage, inwiefern Traumnarrationen eine besondere Schlüsselfunktion bei der Entwicklung der Ich-Identität einnehmen. Die Beantwortung dieser Frage basiert zunächst auf der Verknüpfung von kulturhistorisch-psycholinguistischen und psychoanalytischen Perspektiven. Dann wird der Stellenwert von Narrationen für die Bildung der Ich-Identität erörtert. Dabei wird die Schnittstelle betont, die Narrationen sowohl zwischen äußeren, kommunikativen und inneren, an sich selbst gerichteten sprachlichen Prozessen als auch im Übergang von unbewussten zu bewussten Prozessen bilden. Anschließend werden Traumnarrationen und ihr besonderer Zugang zum Unbewussten beleuchtet. In der Erörterung der Besonderheiten von Traumnarrationen, Narrationen von tatsächlich Erlebtem und Narrationen von Gedanken wird ein Kontinuum von unterschiedlichen Narrationsqualitäten abgeleitet. Es wird deutlich, dass Traumnarrationen durch ihren direkteren Bezug zum Unbewussten eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Ich-Identität erhalten.

Schlüsselwörter: Narration, Ich-Identität, Psycholinguistik, Psychoanalyse, sprachliche Tätigkeit

Dream narration and ego identity

This article examines the extent to which dream narratives have a special function in the formation of ego identity. The answer to this question is based on a connection of cultural-historical psycholinguistic and psychoanalytical perspectives. To begin with, the importance of narratives for the formation of ego identity is discussed by pointing out that narratives form an interface between external, communicative and internal, self-directed speech processes as well as in the transition from unconscious to conscious processes. Dream narration and their unique access to the unconscious are examined. The special nature of dream narration in relation to narratives of real experiences and narratives of thoughts result in a continuum of different narrative qualities. Dream narratives, due to their more direct access to the unconscious, have their own significance for the formation of ego identity.

Keywords: narration, ego identity, psycholinguistics, psychoanalysis, language activity

1 Einleitung

Für die Betrachtung von Traumnarrationen im Zusammenhang mit der Ich-Identität wird im Folgenden eine Verknüpfung zwischen kulturhistorischer Psycholinguistik und Psychoanalyse hergestellt. Vorgeschlagen wird eine zusammenhängende Interpretation dieser spezifischen Sichtweisen beider Disziplinen. Denn es können, mit dem zeitlichen Abstand und der Abstraktion ideologischer Erwartungen der jeweiligen Entstehungsgeschichten, in der Essenz beider Disziplinen durchaus Parallelen bemerkt werden. Im Fokus stehen die Grundlegungen der Psychoanalyse durch Freud (1900/2022) und des kulturhistorischen Ansatzes durch Vygotskij (1934/2002). Mit dem Wissen aus beiden Disziplinen soll der Zusammenhang zwischen der Rolle der sprachlichen Tätigkeit in Traumnarrationen und der Ich-Identitätsbildung gewinnbringend vertieft werden. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Narrationen einen wesentlichen Beitrag zur Ich-Identitätsbildung leisten (Werani 2023). Einleitend werden nun zunächst die zentral verwendeten Begrifflichkeiten psychisch/psychophysisch, unbewusst und bewusst erörtert, um Gemeinsamkeiten beider Disziplinen herauszuarbeiten.

Mit dem psychophysischen Problem setzt sich Vygotskij (1930/1997) im Rahmen der Grundlegung einer dialektischen Psychologie auseinander, indem er die psychologischen Sachverhalte »Psyche, Bewusstsein und Unbewusstes« diskutiert. Als Grundlage seiner dialektischen Psychologie definiert er schlussendlich die psychophysische Einheit als Analyseeinheit für höhere psychische Prozesse. Physische und psychische Prozesse werden dabei nicht als identisch, sondern als integrale Prozesse betrachtet (vgl. Keiler 2015). Das bedeutet, dass psychische Prozesse immer auch mit physischen Prozessen verknüpft sind. Diese Auffassung einer psychophysischen Einheit findet sich auch bei Freud, der den Zusammenhang von Leib und Seele in dem Schnittpunkt von leiblichem und sozialem Verhalten sieht. In der Fortführung der Überlegungen von Freud schreibt Hamburger (1998, 230): »Der Psychoanalyse geht es um intime Beziehungsfiguren, die sowohl gesellschaftlicher als [auch] leiblicher Natur sind. Ihr Erkenntnisgegenstand könnte daher sowohl Gegenstand der Neurologie wie der Soziologie sein.«

Es ist fraglich, ob Vygotskij (1934/2002) Freud zurecht hinsichtlich seiner Auffassung vom Psychischen kritisiert hat, denn auch bei Freud zeigt sich, dass psychische Prozesse eng mit dem Leib verbunden sind. Freud verfolgt also nicht den von Vygotskij unterstellten materialistischen Ausgangspunkt, sondern setzt psychische Prozesse in Bezug zu sozialen Beziehungsstrukturen. Auch Lorenzer (1986, 2002) versteht Freuds Psychoanalyse so, dass sie sowohl die Leiblichkeit als auch die Verankerung in soziokulturellen Prozessen berücksichtigt. Damit erhält das Leibliche auch eine soziale Dimension und die Untersuchung psychischer Prozesse umfasst sowohl psychologische als auch soziologische Perspektiven. Es folgt daraus, dass alle psychischen Aspekte untrennbar mit physischen Aspekten verbunden sind, was also durchaus als Parallele zwischen Freud und Vygotskij interpretiert werden kann. Der Begriff psychisch kann demnach als Verweis auf die psychophysische Einheit verstanden werden. In der kulturhistorisch fundierten Psycholinguistik wird diese Auffassung übernommen und sprachliche Tätigkeit ebenfalls als ein psychophysischer Vorgang betrachtet, der im sozialen Kontext eingebettet ist und Körperlichkeit selbstverständlich in jede Betrachtung einbezieht (Werani 2011). Vygotskij (1931/1987) geht davon aus, dass alle höheren psychischen Funktionen ursprünglich reale Beziehungen zwischen Menschen sind, die dann durch individuelle Anpassung zu ganz persönlichen Verhaltens- und Denkformen der Persönlichkeit werden. Diese individuelle Anpassung erfolgt maßgeblich durch sprachliche Tätigkeit, die ihren Ursprung in sozialer Interaktion hat und somit gesellschaftlich gebunden ist.

Die Begriffe Unbewusstes und Bewusstes gehören seit der Begründung der Psychoanalyse zur grundsätzlichen Unterteilung des Psychischen (Freud 1923/1940). Das Unbewusste ist dabei eine Qualität des Psychischen, ebenso wie das Bewusstsein, und wird von Freud als das Fundament der gesamten Seelentätigkeit angesehen (Lorenzer 2002). Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten ist daher ein zentrales Thema der klassischen Psychoanalyse. Auch Vygotskij (1930/1997) vertritt aus seiner dialektischen Perspektive die Auffassung, dass die Betrachtung des bewussten Anteils des Psychischen nicht vollständig ist, und er geht ebenfalls davon aus, dass das psychologisch Unbewusste ein Teil des Psychischen ist. Er pointiert dies mit der Aussage: »the unconscious is the potentially conscious« (op. cit., 119). Beide Ansätze, sowohl von Freud als auch von Vygotskij, betrachten das Unbewusste als Motor aller psychophysischer Tätigkeit.

Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen sprachlicher Tätigkeit und dem Unbewussten gibt es unterschiedliche Auffassungen. Lorenzer (2002, 82) geht beispielsweise davon aus, dass das Unbewusste nicht an das System Sprache gebunden ist, es sich vielmehr um ein »sprachloses Sinnsystem« handelt. Im Gegensatz dazu vertritt Lacan (1978, 26) die Ansicht, dass »das Unbewußte strukturiert [ist] wie eine Sprache«. Mit den modernen Ansätzen der Psychoanalyse verschiebt sich das Interesse von der Triebhaftigkeit des Menschen hin zum Bewusstsein und damit zur Ich-Funktion. Lorenzer (1986) weist darauf hin, dass für diese Verschiebung die Rolle der Sprache bei der Betrachtung von Bewusstseinsprozessen wesentlich mitverantwortlich ist.

In der Definition von Bewusstsein betont Vygotskij (1934/2002) zunächst die organisierende Eigenschaft und verweist auf die zwei ineinandergreifenden Subkomponenten des Bewusstseins: Intellekt und Affekt. Vygotskij widmete sich intensiv der intellektuellen Seite des Bewusstseins, indem er sich mit Aspekten des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, des Denkens und der Wahrnehmung beschäftigte. Der Affekt, als maßgeblich motivationale Kraft des Bewusstseins, wird von ihm nur in Ansätzen skizziert (Vygotskij 1996). Vygotskij (1930/1985) legt das Prinzip dar, dass es sich beim Bewusstsein um eine dynamische Organisation handelt, die durch ständige Umformungen und gegenseitige Beeinflussungen charakterisiert ist. Freud (1923/1940) stellt das Bewusstsein als die Oberfläche des seelischen Apparates dar und weist ihm sowohl kontrollierende als auch entlastende Funktionen zu. Er unterscheidet zwischen dem latenten, bewusstseinsfähigen Unbewussten (dem Vorbewussten) und dem tieferliegenden Unbewussten, das vor allem mit Bildern in Verbindung steht und in weiten Teilen unerkannt bleibt. Freud (1920/1940) fasst dieses Verhältnis zwischen unbewussten und bewussten Vorgängen in der Unterscheidung von Primär- und Sekundärvorgängen zusammen. Primärvorgänge betreffen die Prozesse im Unbewussten, während Sekundärvorgänge alle bewussten psychischen Prozesse im Wachleben umfassen. Somit lassen sich auch bei der Betrachtung des Bewusstseins Parallelen zwischen den Perspektiven von Vygotskij und Freud erkennen.

Die sprachliche Tätigkeit kann als eine Vermittlerin zwischen den Instanzen Unbewusstes und Bewusstsein betrachtet werden. Zunächst bezieht sich dieser Übergang auf Narrationen im Allgemeinen, wobei vor allem Wachnarrationen assoziiert werden. Im Hinblick auf das Unbewusste ist es jedoch aufschlussreich, Traumnarrationen hervorzuheben, da der Traum seit Freud (1900/2022) als via regia zum Unbewussten gilt. Traumnarrationen werden also wesentlich mehr unbewusste Anteile zugesprochen als Wachnarrationen. Da Narrationen auch an der Ich-Identitätsbildung beteiligt sind, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, inwiefern Traumnarrationen eine besondere Schlüsselfunktion bei der Ausbildung von Ich-Identität haben. Zur Untersuchung dieser Fragestellung wird zunächst die Schnittstelle sprachlicher Tätigkeit dargelegt, insbesondere die Übergänge zwischen Unbewusstem und Bewusstem, da in der kulturhistorischen Psycholinguistik davon ausgegangen wird, dass sprachliche Tätigkeit das zentrale Mittel der Bewusstseinsbildung ist. Dazu kommt, dass es sich auch um eine Schnittstelle zwischen außen und innen handelt, also um Übergänge zwischen kommunikativ geteilten sprachlichen Prozessen und auf sich selbst projizierten sprachlichen Prozessen. Außerdem werden Funktionen von Narrationen als Aspekt sprachlicher Tätigkeit für die Ich-Identitätsbildung diskutiert. Daran anschließend wird auf die Erlebensform von Träumen und die Konstruktion von Traumnarrationen eingegangen. Der Traum gilt als spezifischer Zugang zum Unbewussten und die Traumnarration entsprechend auch. Abschließend wird die Rolle der Traumnarrationen für die Traumarbeit und schlussendlich für die Bildung der Ich-Identität thematisiert.

2 Narration und Ich-Identität

Bereits ein allgemeiner Blick auf Narrationen, insbesondere auf Erzählpraktiken und die Fähigkeit, erzählen zu können, zeigt, dass sie zentrale Bausteine menschlicher Lebenswelten sind. Individuen werden von Anfang an in eine Erzählwelt hineingeboren und Narrationen stellen eine Möglichkeit dar, dass Individuen ihre subjektiven Wirklichkeiten ausdrücken und teilen können. Durch Narrationen wird Wirklichkeit konstruiert, die insbesondere aus sogenannten Kernnarrationen besteht (Keupp et al. 1999). Auf diese Weise erhält ein Individuum die Möglichkeit, die eigene Ich-Identität darzustellen und damit auch herzustellen.

In der Konstruktion narrativer Identitäten ist die sprachliche Tätigkeit wie selbstverständlich an der Bildung der Ich-Identität beteiligt (Werani 2023). Ein wesentlicher Aspekt ist die Distanz zwischen dem tatsächlich Erlebten und dem Erzählten, wodurch es auch zum Verlust der Unmittelbarkeit kommt. Das erlebte Ereignis und das erinnernde Erzählen finden zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt, was zu einer Verdopplung des Ich führt (Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Das erzählende Ich hat dabei stets eine andere Erkenntnisperspektive als das erzählte Ich, vor allem da es das Ende der Geschichte bereits kennt. Im Erzählen sind Aspekte der Konkretisierung und Bedeutungszuweisung entscheidend für die Konstruktion der Narration. Die Narration bildet das Erlebte nicht 1:1 ab, sondern stellt eine Abstraktion im Symbolraum dar, die eine je spezifische Sicht auf ein Ereignis zeigt. Narrationen sind daher keine exakten Reproduktionen von Erlebnissen, sondern präsentieren selektive Interpretationen, da je nach Konstruktion unterschiedliche Bedeutungszuweisungen erfolgen, je nachdem, welche Aspekte eines Erlebnisses ausgewählt und formuliert werden. Ein weiteres relevantes Kriterium für Narrationen ist das Ungewöhnlichkeitskriterium, das den Grund für Erzählanlässe angibt. Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und die Einschätzung, welche Erzählungen für das Gegenüber von Interesse und Relevanz sein könnten, spielen dabei eine große Rolle. Dies verdeutlicht die Funktion der Adressierung des anderen als Fundament der Narration. Auch Hamburger (1998) betont beim Erzählen das Beziehungsgeschehen und die Bereitschaft, sich auf eine Geschichte einzulassen.

Bei der Betrachtung von Narrationen als Bausteinen kulturspezifischer Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften spielen die Übergänge von äußeren und inneren Prozessen eine wichtige Rolle (Bachtin 1979; Vygotskij 1934/2002; Werani 2023). Der sprachlichen Tätigkeit und somit auch den Narrationen werden zwei grundlegende Funktionen zugeordnet (Vygotskij 1934/2002). In ihrer soziologischen Dimension dient die sprachliche Tätigkeit der Kommunikation (erste Funktion), in ihrer psychologischen Dimension dient sie der Bildung und Vermittlung höherer psychischer Funktionen (zweite Funktion). Das bedeutet, sprachliche Tätigkeit richtet sich einerseits intersubjektiv auf andere Individuen und andererseits intrasubjektiv auf den Sprechenden selbst. Narrationen tragen also dazu bei, Erlebtes sprachlich mitteilbar zu machen, indem es kommuniziert wird, und auch über Erlebtes und Erfahrungen zu reflektieren (Werani 2011, 2023). Ein wichtiger Aspekt des Übergangs von innen nach außen ist das innere Sprechen. Es markiert einen eigenen Zwischenbereich, da es seiner Struktur nach simultaner und wahrscheinlich auch bildhafter angelegt ist als das geäußerte Sprechen, das in seiner Struktur linear und symbolhaft-abstrakt ist (Werani 2011). Das innere Sprechen zeigt somit ein Kontinuum zwischen Gedanklichem und Gesprochenem. Werden Denken und Sprechen ins Verhältnis zum Bewusstsein gesetzt, dann besteht nach Vygotskij (1934/2002) das erste Problem, oder gar der gravierendste Fehler der traditionellen Psychologie, in der Trennung von Intellekt und Affekt.

»Wer das Denken von vornherein vom Affekt trennt, versperrt sich für immer den Weg zur Erklärung der Ursachen des Denkens, denn eine Analyse der das Denken determinierenden Faktoren setzt notwendigerweise die Aufdeckung der treibenden Motive des Denkens, der Bedürfnisse und Interessen, der Strebungen und Tendenzen voraus, die das Denken in diese oder jene Richtung lenken« (Vygotskij 1934/2002, 54).

Werden Intellekt und Affekt dennoch getrennt, ist es nach Vygotskij nicht möglich, Wechselwirkungen zwischen dem Denken und der affektiv-volitiven Seite zu betrachten, da »jede Idee in verarbeiteter Form eine affektive Beziehung zur Wirklichkeit [enthält]« (op. cit., 55). Deutlich wird hier, dass Emotionen in der Theoriebildung von Anfang an mitberücksichtigt werden, lange vor der emotiven Wende in den 1990er Jahren (Damasio 2006). Das Einbeziehen des Affektes ist auch relevant, wenn zusätzlich zu der Schnittstelle zwischen innen und außen auch jene zwischen unbewussten und bewussten Vorgängen betrachtet wird (Vygotskij 1934/2002; Werani 2011).

Die sprachliche Tätigkeit als Schnittstelle zwischen unbewussten und bewussten Prozessen findet sich bei Freud (1923/1940) im Konzept des Vorbewussten. Dem Vorbewussten weist er die Verbindung mit der Wortvorstellung zu. Wortvorstellungen zählen für ihn auch zu den Erinnerungsresten, die ursprünglich in der Wahrnehmung vorkommen und, wie alle Erinnerungsreste, wieder bewusst gemacht werden können. Diese Wortvorstellungen stammen nach Freud aus akustischen Wahrnehmungen, wobei er optische Wortvorstellungen und Aspekte der Gebärdensprache als sekundär vernachlässigt. Somit stellt die Wortvorstellung den Erinnerungsrest eines gehörten Wortes dar. Durch die Wortvorstellungen werden innere Denkvorgänge zu bewussten Wahrnehmungen transformiert. Diese Wahrnehmungen in ihrer Gesamtheit, insbesondere auch die Sinneswahrnehmungen, bilden die Ausgangspunkte für das Bewusstsein. Freud zufolge lässt sich die Frage, wie etwas bewusst oder vorbewusst wird, also dahingehend beantworten, dass dies geschieht, wenn Wahrnehmungen mit entsprechenden Wortvorstellungen verknüpft werden. Die Wahrnehmung bzw. das Wahrnehmungssystem fungiert daher als zentrales Verbindungsglied zwischen unbewussten und bewussten Prozessen. Dies betrifft gleichermaßen äußere und innere Wahrnehmungen, sodass auch innere Denkvorgänge durch Wortvorstellungen zu inneren Wahrnehmungen werden und diese damit ebenfalls bewusst werden. Eine Sonderstellung nehmen die Empfindungen ein, die sowohl unbewusst als auch bewusst sein können. Es ist nicht zwingend erforderlich, dass eine Wortvorstellung existiert, um sich Empfindungen bewusst zu sein, da auch Empfindungen ohne Benennung bewusst wahrgenommen werden können.

Verbindungen mit Wortvorstellungen finden sich auch bei Vygotskij (1934/2002). Da es seiner Auffassung nach keine Möglichkeit gibt, das Bewusstsein in seiner Allgemeinheit zu erforschen, machte er sich auf die Suche nach einer kleineren Analyseeinheit und schlug die Wortbedeutung hierfür vor. Er kommt zu dem Schluss, dass die Wortbedeutung ein zentraler Bestandteil des Mikrokosmos des Bewusstseins ist und einen Übergang vom Unbewussten zum Bewussten darstellt. Vygotskij formuliert es metaphorisch folgendermaßen:

»Das Bewusstsein spiegelt sich im Wort wider wie die Sonne in einem kleinen Wassertropfen. Das Wort verhält sich zum Bewusstsein wie eine kleine Welt zur großen, wie die lebendige Zelle zum Organismus, wie das Atom zum Kosmos. Es ist eine kleine Bewusstseinswelt. Das sinnerfüllte Wort ist der Mikrokosmos des menschlichen Bewusstseins« (Vygotskij 1934/2002, 467).

Dieses Zitat verdeutlicht, dass das Wort, bzw. die sprachliche Tätigkeit allgemein, für das Bewusstsein unerlässlich ist und zugleich, dass es in seiner Abstraktion wesentlich weniger abbildet, als tatsächlich erlebt wird. Leont’ev (1977/2012, 117) weist auf dieses Phänomen hin, wenn er schreibt: »Die realisierte Tätigkeit ist reicher, wahrer als das sie vorwegnehmende Bewusstsein.« Und auch Wertsch (1996, 236) betont, dass die Wortbedeutung zwar für die »semiotische Vermittlung des menschlichen Bewußtseins« notwendig ist, jedoch für die Analyse des menschlichen Bewusstseins insgesamt nicht ausreicht. Er geht davon aus, dass genau in dieser semiotischen Vermittlung die Diskrepanz zwischen dem Erleben und der sprachlichen Darstellbarkeit entsteht.

Diese Abstraktion durch Sprache im Blick behaltend, beschreibt Vygotskij (1934/2002), dass Gedanken aus der Motivationssphäre unseres Bewusstseins entstehen. Da er auch Triebe und Bedürfnisse, Interessen und Strebungen, Affekte und Emotionen berücksichtigt, kann davon ausgegangen werden, dass nicht nur bewusste, sondern auch unbewusste Anteile daran beteiligt sind. Dieser umfassenderen Vorstellung entspricht der Sinn einer Äußerung, während die sprachliche Formulierung die (Wort-)Bedeutung trägt. Der Sinn einer sprachlichen Tätigkeit geht somit über die Bedeutung der Wortformen hinaus und schließt Aspekte des subjektiven Gebrauchs in den jeweiligen Kontexten mit ein.

Die sprachliche Tätigkeit ermöglicht folglich verkürzt gesagt die Bewusstwerdung von Gedanken, indem Sinn und Bedeutung der Gedanken in sprachlicher Tätigkeit entfaltet werden. Ein Gedanke kann auch erst dann reflektiert werden, wenn er materialisiert und dadurch stabilisiert ist (Werani 2011). Jedoch kann nicht zwangsläufig alles in Worte gefasst werden, was gemeint ist. Der Gedanke bleibt somit immer etwas Größeres und Umfassenderes als das Wort, doch vollzieht sich der Gedanke im Wort. Die sprachliche Tätigkeit dient dabei nicht nur dem Ausdruck von Gedanken, sondern ebenso deren Formung.

Interessant an der Betrachtung der Wortbedeutung ist ferner, dass diese zugleich ein sprachliches und ein intellektuelles Phänomen ist (Vygotskij 1934/2002, 389). Die Wortbedeutung stellt somit neben dem Übergang vom Unbewussten zum Bewussten auch den Übergang vom Denken zum Sprechen dar. »Denken und Sprechen erweisen sich somit als Schlüssel zum Verständnis der Natur des menschlichen Bewusstseins« (Vygotskij 1934/2002, 467). Zudem ist die Wortbedeutung ein individuelles Phänomen, da sie nur im Bewusstsein des Einzelnen zu finden ist (Friedrich 1993). Die Wortbedeutung betont damit bereits den subjektiven Charakter von Verstehensprozessen, der in der Konstruktion des Sinns noch ausgeprägt wird. Es zeigt sich in den Überlegungen zur Wortvorstellung und Wortbedeutung, dass es mit der sprachlichen Tätigkeit möglich ist, Unbewusstes ins Bewusstsein zu heben.

Prägnant kann mit Vygotskij (1934/2002, 459) zusammengefasst werden: »Was im Denken simultan existiert, entfaltet sich beim Sprechen sukzessive.« Deutlich wird folglich, dass es sich bei Narrationen um eine Übersetzung von sinnlich-bildhaften Wahrnehmungen handelt, die mehr oder weniger gut in symbolisch-abstrakte Formungen überführt werden können. Das Erleben ist stets reicher als die Narration, da diese immer eine Abstraktion darstellt. Folglich ist die Narration des tatsächlich Erlebten ärmer als das Wahrnehmen und Erleben selbst. Vor allem beim emotionalen Erleben wird deutlich, dass dieses stets reicher ist und durch Narrationen nicht vollständig abgebildet werden kann. Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit sprachlich tatsächlich mitgeteilt werden kann, was emotional erlebt wird. Die Wichtigkeit der Narration vertritt auch Hamburger (1998, 233), der sich ebenfalls an einem Brückenschlag zwischen Psychoanalyse und psycholinguistischen Aspekten versucht, indem er annimmt, »daß [sich] das Denken, bewußt oder nicht, in Form einer fortwährenden Erzählung abspielt«. Im Rahmen der Untersuchung von Narrationen sind es vor allem (bewusste) Wachzustände, die betrachtet werden, wenn Gedanken entfaltet werden.

Es lässt sich festhalten, dass Narrationen vier Differenzierungen an der Schnittstelle der sprachlichen Tätigkeit implizieren: äußere kommunikative und innere kognitive Prozesse sowie Unbewusstes und Bewusstsein. Auch wenn eine Distanz zwischen tatsächlich Erlebtem und der sprachlichen Transformation besteht, bieten Narrationen einen zentralen Ausgangspunkt, um einen gemeinsamen Austausch von Erlebtem überhaupt zu ermöglichen. Durch sprachliche Tätigkeit wird Wirklichkeit konstruiert, die als reales Konstrukt angesehen werden kann. Da es nicht möglich ist, Realität exakt abzubilden, bleibt mit der subjektiven Komponente des Erzählens auch immer ein Teil Fiktion enthalten.

Im Sinne der kulturhistorischen Tradition wird die Ausbildung der Ich-Identität als dynamische Bewegung aufgefasst, sodass sowohl die Struktur als auch die Dynamik und Formung der Persönlichkeit in den Blick genommen werden (Leont’ev 1977/2012; Vygotskij 1931/1987; Chaiklin 2001; Werani 2023). Es wird angenommen, dass sich die Persönlichkeit bzw. Ich-Identität durch die Tätigkeit in sozialen Beziehungen herausbildet. Es handelt sich somit nicht um eine Zuschreibung von Attributen, wie es beispielsweise in Strukturmodellen üblich ist, sondern um eine Sammlung von Tätigkeiten, wodurch der Bewegungsaspekt betont wird. Die Ich-Identität wird aufgrund der Bewegung zu einer offenen Form (Werani 2023). Angenommen wird hier natürlich auch, dass die Persönlichkeit originär sozialer Natur ist und sich die Ich-Funktion im Laufe der Entwicklung im Individuum verankert. Das Selbsterkennen ist die Voraussetzung für die Verankerung des Ich und für die Bildung der Ich-Identität. Aspekte des Selbsterkennens als Grundlage der Ich-Funktion finden sich beispielsweise bei Mead (1934/1968), Erikson (1973) und Lacan (1949/1991). Auch Vygotskij (1925/1985) geht davon aus, dass wir uns selbst nur deshalb erkennen, weil wir andere erkennen. Mit dem Selbsterkennen geht die Selbstverständigung einher, sodass auch hier deutlich wird, dass sprachliche Tätigkeit eine wichtige Rolle spielt. Sprachliche Tätigkeit ist neben der Darstellung und Herstellung von Ich-Identität auch für die Reflexion der Ich-Identität von großer Bedeutung. Das heißt, sie ist einerseits Ausdrucksmittel (Bühler 1933) zur Darstellung der Identität und andererseits auch ihr Reflexionsmittel (Vygotskij 1934/2002). Die Betrachtung und Analyse von Narrationen legt stets soziale und psychologische Aspekte offen (Straub 2020; Lucius-Hoene 2010). Narrationen sind somit sozial verankert (Keupp et al. 1999) und sie bleiben es auch, wenn die Narrationsprozesse interiorisiert sind (Vygotskij 1934/2002; Werani 2011). Folglich schafft die sprachliche Tätigkeit Kommunikations-, Kognitions- und Individuationsräume. Sprache ist damit »nicht nur ein Mittel, andere zu verstehen, sondern auch eines, sich selbst zu verstehen« (Vygotskij 1930/1985, 328).

In der Dynamik und Formung der Ich-Identität ist die sprachliche Tätigkeit zentral verankert, und im Rahmen dieser Idee der Bewegung kann die narrative Identität als Gestaltungsmoment der Ich-Identität angesehen werden. Durch Narrationen wird die narrative Identität dargestellt und hergestellt und ist somit das Ergebnis erzählender Identitätsarbeit, die konstruierte Lebensgeschichten umfasst. Diese Konstruktionen von subjektiv Erlebtem müssen nicht zwangsläufig dem Geschehenen entsprechen (McAdams und McLean 2013), und es spielt auch keine Rolle, ob diese Narrationen wahr oder falsch sind (Ricœur 1987, 2007). Im Umkehrschluss bildet sich die Ich-Identität aus Narrationen, die sowohl von unbewussten und bewussten als auch innerlichen und äußerlichen Prozessen beeinflusst werden.

3 Traum und Traumnarration

Was 1900 mit Freuds Traumdeutung bahnbrechend für das Verständnis des Unbewussten war, gilt zwar als empirisch belegt, doch der Traum bleibt bis heute ein schillerndes Phänomen (Schredl 1999; Roesler 2022). Freud (1900/2022) bezeichnet den Traum als »Wächter des Schlafes«, weil Gedankeninhalte im Traum in Formen erscheinen, die das Individuum nicht ständig aufwachen lassen. Folglich werden Prozesse des Unbewussten im Schlaf durch Träume aufrechterhalten. Dies bedeutet einerseits, dass der Traum einen besonderen Zugang zum Unbewussten ermöglicht, und andererseits, dass das Träumen auch eine Form des Denkens darstellt.

Freud setzt den Traum sogar mit einem Gedanken gleich, der durch das Unbewusste verstärkt wird, weil die Zensur im Traum nachlässt (Angeloch 2020, 81f.). In Bezug auf das Unbewusste bezeichnet Freud den Traum als den Königsweg zum Unbewussten. Dabei interessierte ihn vor allem der latente Trauminhalt, also der Inhalt, der dem Traum zugrunde liegt, und weniger der manifeste Trauminhalt in Form des beobachtbaren Phänomens. Der Traum stellt somit ein Mittel dar, um Zugang zum Unbewussten – dem psychischen Apparat – zu erhalten. Neben dem Traum sah Freud auch den Witz und die Fehlleistungen als Zugänge zum Unbewussten an.

Wird davon ausgegangen, dass der Traum einem Gedanken entspricht (Freud 1900/2022; Roesler 2022), können, was den Gedankeninhalt betrifft, sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten beim Denken im Traum und im Wachzustand festgestellt werden. Im Traum handelt es sich um (unbewusste) Interaktionsformen mit dem Individuum selbst, die in quasi sinnlich-unmittelbarer Erfahrung erlebt werden. Im Wachzustand kommen bei Erzählung oder Verschriftlichung des Traums sprachsymbolische Interaktionsformen dazu (Lorenzer 1986). Die Übersetzung eines sinnlich-unmittelbaren Traumerlebnisses erfolgt also mittels sprachsymbolischer Interaktionen, wodurch der Traum wie ein beliebiger Gedanke in eine Narration übersetzt werden kann.

Interessant ist der Aspekt der Verdopplung des Ich im Traum, mit der sich Delboeuf befasst (Chitussi 2016). Delboeuf definiert die Verdopplung des Ich im Traum als »Phänomen, bei dem man seine eigenen Ideen und Gefühle einer anderen Person zuschreibt« (op. cit., 100f.). Beispiele hierfür sind Träume, in denen der Träumer gleichzeitig fähig und unfähig ist, etwas zu tun, etwa einen Satz in eine bestimmte, dem Träumer jedoch unbekannte, Sprache zu übersetzen. Chitussi fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen: »Und dennoch steht das Ich, das sich beim Träumen verdoppelt und ein Drama mit verschiedenen Personen erschafft, im Wachzustand im Dialog mit sich selbst« (op. cit., 106). Manchmal vervielfacht sich das Ich also sogar, indem es sich auf mehrere Personen im Traum aufteilt. Während im Wachzustand ein Dialog zwischen mehreren Individuen stattfindet, wird dieser im Traum in ein Drama umgewandelt und somit durch die sprachliche Tätigkeit ein Selbstbezug hergestellt.

»Der Bezug zum Therapeuten hat kein anderes Ziel als das innere Drama aufzuwecken, sodass das Subjekt fähig wird, dieses zu kontrollieren. […] Das Interesse, das Delboeuf für das Spiel der Persönlichkeit in Träumen gezeigt hatte, führte zwangsläufig zu einer intersubjektiven Sicht auf das Bewusstsein« (Chitussi 2016, 110).

Es zeigt sich also, dass sich im Unbewussten oder im Übertritt zum Unbewussten dieselben dialogischen Strukturen offenbaren wie im bewussten Zustand. Es kann spekuliert werden, dass die Nähe zu sinnlich-bildhaften Elementen des Unbewussten eine andere Darstellungsform erlaubt, als dies im bewussten Wachzustand möglich ist. Somit zeigt sich auch im Traum ganz selbstverständlich die dialogische Grundstruktur, die in der kulturhistorischen Psycholinguistik als Ausgangspunkt formuliert wird. Mit Blick auf die Traumnarration ist der Aspekt der Verdopplung des Ich im Traum besonders interessant, da auch in der Narration eine Verdopplung in dem Sinne vorkommt, dass eine Distanz zwischen dem erzählten und dem erzählenden Ich besteht (Lucius-Hoene und Deppermann 2004).

Der Ausgangspunkt für eine Traumnarration ist, dass der Traum überhaupt erinnert wird (Freud 1900/2022), d.h., die Erinnerung als Gedächtnisleistung ist für die Rekonstruktion von Träumen unerlässlich, um diese dann in eine Narration zu übersetzen. Zadra und Stickgold (2021) postulieren in ihrem Modell der Traumfunktion, dass das schlafende Gehirn träumen muss, um Gedächtnisbildung überhaupt zu ermöglichen. Nach dem Erwachen ist der Traum oft flüchtig und paradoxerweise wird der Erzählprozess benötigt, um die Erinnerung zu festigen. Hamburger (1998) fasst das Traumdenken als inneres Erzählen auf und schreibt dazu: »Der Protagonist der Traumerzählung ist das Selbst des Träumers, das sich durch das Feld seiner Selbst- und Objektrepräsentanz fabuliert und sich in dieser fortlaufend, ununterbrochen gemurmelten Erzählung erst konstituiert« (op. cit., 233).

Hamburgers Gedächtnismodell zeigt Parallelen zum kulturhistorischen Ansatz. So geht Hamburger davon ausgeht, dass das Gedächtnis in der Interaktion mit anderen erworben wird, was der grundlegenden Prämisse des kulturhistorischen Ansatzes entspricht, dass sich höhere Verhaltensformen, einschließlich aller psychischen Funktionen, aus sozialen, kollektiven Verhaltensformen entwickeln (Vygotskij 1931/1987). Diese Verhaltensformen werden anschließend verinnerlicht, was auch Hamburger in seinem Gedächtnismodell annimmt. Seiner Auffassung nach entfaltet sich das Selbst in simulierten Interaktionssequenzen, wobei innere Erzählungen von Bedeutung sind. Die Relevanz der Interiorisierung sprachlicher Tätigkeit ist ebenfalls in der kulturhistorischen Tradition grundlegend, da interpsychische kommunikative Prozesse maßgeblich zur Ausbildung psychischer Prozesse beitragen (vgl. Werani 2011, 2023).

Es ist folglich zu betrachten, wie der Prozess der Übersetzung in Sprache vollzogen wird, d.h., wie werden erlebte Ereignisse, Träume und Gedanken in Sprache mitteilbar gemacht, wie werden unbewusste Aspekte ins Bewusstsein gehoben, denn in allen drei Fällen wird subjektives Erleben mitteilbar gemacht. Das reale körperliche Erleben ist am reichhaltigsten in all seinen Wahrnehmungen einzustufen, gefolgt von Traumerleben, das über eine lebendige Bildsprache verfügt und eine Illusion des Erlebens simuliert, und schließlich der Gedanke, der eine höhere Abstraktionsstufe aufweist. In allen drei Fällen ist eine Übersetzungsarbeit mittels sprachlicher Tätigkeit erforderlich, um das Erlebte, den Traum und die Gedanken mitteilbar zu machen (s. Abbildung 1).

Beim Erzählen eines Erlebnisses steht die Materialisierung eines tatsächlich erlebten Ereignisses im Mittelpunkt, wobei es vor allem darum geht, die Distanz zwischen Erlebtem und Erzählten zu überwinden. Die Verdopplung des Ich entsteht, da das Erleben und das Erzählen zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden (Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Der Erzählplot des Erlebten erhält je nach zeitlicher Distanz und Kontext eine andere Segmentierung, Linearisierung und Bedeutungszuweisung, was zu einer anderen Erzählform führt (Werani 2023). Die sprachliche Darstellung des Erlebten stellt durch den Verlust der Unmittelbarkeit in jedem Fall eine Abstraktion dar.

Die Traumnarration ist eine Form der Materialisierung von Unbewusstem, es geht also darum, wie diese unbewussten, auf eine Art simulierten sinnlich-bildhaften Erlebnisse in Narrationen übersetzt werden (Freud 1933). Dabei steht die Übersetzung der mächtigen Bildsprache der Träume in Worte im Mittelpunkt, indem das bildhafte Material aus dem Traum durch die sprachliche Transformation sequenziert wird. Insbesondere die Fiktion im Traum und die »Gewitztheit der Traumlogik« (Freud 1900/2022, 303) werden als Traumnarration in eine reale Erzählung überführt. Auch hier kommt es zu einem Verlust der Unmittelbarkeit durch sprachliche Abstraktion, was Boothe (2021) mit einem Ringen um Worte beschreibt, das notwendig ist, um einen Traum mitteilbar zu machen. Die Schwierigkeit, sich überhaupt an Träume zu erinnern, verdeutlicht zusätzlich, dass Traumerinnerungen insgesamt schwer mitteilbar sind.

Gedanken gelangen ebenfalls aus der unbewussten Sphäre mittels Narrationen ins Bewusstsein und werden durch sprachliche Tätigkeit entfaltet. Als mentale Repräsentationen besitzen Gedanken eine höhere Abstraktionsstufe und weisen dadurch einen stärkeren Verlust der Unmittelbarkeit auf, als es im tatsächlichen Erleben und im Traumerleben der Fall ist. Die ursprünglich sinnliche Erfahrung des Erlebens ist im Gedanken bereits abstrahiert worden und wird aus dieser Abstraktion heraus in eine Narration übersetzt.

Erlebtes Ereignis Traum Gedanke
unbewusst reales, körperliches Erleben fiktionales Erleben, volle und lebendige Bildsprache, »Illusion des Erlebens« abstrakte mentale Repräsentation
↓ Übersetzung mittels sprachlicher Tätigkeit ↓
Verlust der Unmittelbarkeit
bewusst Narration, Distanz zwischen Erlebtem und Erzähltem Traumnarration, Distanz zwischen Fiktion und Realität Narration, abstrahiert vom Erlebten, ursprünglich dennoch eine sinnliche Erfahrung
↓ mitteilbar ↓

Abbildung 1: Kontinuum von Narrationsqualitäten

Mit der Darstellung in Abbildung 1 wird ein Kontinuum postuliert, das durch unterschiedliche Bezüge zum Unbewussten unterschiedliche Narrationsqualitäten aufweist. Sowohl beim Traum als auch beim Gedanken bleiben Bezüge zum real Erlebten bestehen, sodass ein tatsächlich real erlebtes Ereignis stets der originäre Ausgangspunkt bleibt. Dennoch gilt, dass alles im Traum Erlebte, alle Gedanken und auch alles real Erlebte nicht vollständig in Sprache abgebildet werden können.

Ein wichtiger Aspekt ist ferner, dass zu einer gelungenen Narration die Berücksichtigung des Ungewöhnlichkeitskriteriums gehört (Werani 2023). Das bedeutet, es müssen ungewöhnliche Aspekte in einer Erzählung vorhanden sein, die unerwartet und daher erzählenswert sind. Es ist anzunehmen, dass dieses Ungewöhnlichkeitskriterium für das Erinnern von Träumen mitverantwortlich ist und bei der Auswahl aus den Tagresten, Erinnerungen und Assoziationen der Träume eine Rolle spielt.

Die bisherige Betrachtung von Traumnarrationen war subjektseitig, d.h., die gegenstandskonstituierende Prozesshaftigkeit der sprachlichen Tätigkeit und die Bedeutung der narrativen Formungen des Traums für das Individuum standen im Vordergrund. Sprache kann jedoch auch objektseitig betrachtet werden, wobei die Traumnarration als Objekt auch unter linguistischen Gesichtspunkten untersucht werden kann. Hier stellt sich die Frage, ob die Traumnarration ein eigenes Genre darstellt, das sich von anderen Genres unterscheidet. Hawkins und Boyd (2017) untersuchten beispielsweise anhand von sprachlichen Merkmalen, wie sich Traumnarrationen von Wachnarrationen unterscheiden und stellen hier Unterschiede in der Wortverwendung fest. Dies stellt eine objektseitige Betrachtung des Traums dar, verbunden mit der Suche nach sprachlichen Merkmalen, die Zugang und Aufschluss zum Unbewussten geben. Auch Bothe (2021) befasst sich mit der Traummitteilung als kommunikativer Gattung und verweist auf den besonderen Aspekt der Privatheit der Traumerzählung, da es sich nicht um intersubjektiv geteilte Erfahrungen handelt.

Hamburger (1998) beschreibt die objektseitige Betrachtung des Traums als Erforschung des »Traums an sich«. Er betont jedoch, dass der Plot eines Traumes wenig über den Traum selbst aussagt. Entscheidend ist vielmehr, wie die Traumnarration zwischen Erzähler:in und Zuhörer:in entsteht. Hier erfolgt die Analyse entlang der intersubjektiven sprachlichen Entfaltung des Traumerlebens. Diese Argumentation der intersubjektiven Bedeutung der Traumnarration entspricht der kulturhistorischen Perspektive, sodass im Folgenden mit dieser Argumentationslinie auf den Zusammenhang zwischen Traumnarration, Traumarbeit und Bildung der Ich-Identität eingegangen wird.

4 Traumnarration, Traumarbeit und Ich-Identität

Für die Betrachtung der Konzepte Traumnarration, Traumarbeit und Ich-Identität stehen Narrationen als biografische Arbeit im Mittelpunkt. Insbesondere bei Traumnarrationen lassen sich aufgrund ihres direkten Zugangs zum Unbewussten besondere Einblicke in das Selbst gewinnen (Hamburger 1998). Dadurch nehmen Traumnarrationen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der Ich-Identität ein.

Das autobiografische Gedächtnis steht in einem engen Zusammenhang mit dem autobiografischen Erzählen und somit mit der narrativen Identität. Dem autobiografischen Erzählen wird in der Genese zugeschrieben, dass es den Zugang zum Selbst ermöglicht (Stern 1992) und dass autobiografische Narrationen der Verankerung in der Welt dienen (Nelson und Fivush 2020). So entsteht im Laufe der kindlichen Entwicklung mit der Fähigkeit, erzählen zu können, das autobiografische Gedächtnis, was zugleich eine stetige Aushandlung der Ich-Identität mit sich bringt (Werani 2023). Ein wesentlicher Aspekt autobiografischer Narrationen ist, dass sie über die Zeit eine Ich-Identität formen, indem biografisch-zeitliche Verbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt werden (Engelhardt 2011).

Mittels autobiografischer Narrationen werden verschiedene Facetten der Identität betont und dargestellt. Schon Ricœur (1985, 1987) wies darauf hin, dass es keine Rolle spielt, ob die Narrationen wahr oder falsch sind, da in jedem Fall durch Narrationen Wirklichkeit konstruiert wird. Diese Wirklichkeitskonstruktionen können auch imaginär sein, was es Individuen beispielsweise ermöglicht, unterschiedliche Zukunftsszenarien zu entwerfen (McAdams und McLean 2013). Es wird nochmals deutlich, dass die narrative Darstellung von subjektiv Erlebtem dem tatsächlich Erlebten nicht entsprechen muss, d.h., auch in autobiografischen Narrationen ist Raum für Fiktion. In Traumnarrationen werden, teilweise aufgrund der fehlenden Logik des Traums, sehr fiktiv zusammengestellte Erlebnisse dargestellt. Ähnlich wie bei tatsächlich Erlebtem gilt auch für den Traum, dass nicht alles in Worte gefasst werden kann. Auch das Traumerleben ist reicher als die Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks. Aspekte, die aus dem bildhaft-sinnlichen Traumgeschehen in Traumnarrationen übersetzt werden, ermöglichen allerdings einen direkteren Zugang zum Unbewussten und damit einen bereichernden und vertiefteren Blick auf die Ich-Identität, da es sich im Traumgeschehen um eine Auseinandersetzung mit sich selbst in der Form eines »Dramas« handelt (Chitussi 2016). Diese konstruierte Traumwirklichkeit und ihre besondere Nähe zum Unbewussten können wiederum mit verschiedenen Techniken der Traumanalyse entschlüsselt werden (Boothe 1994, 2002; Gendlin 1987).

Das Nichterzählte gehört ebenfalls zu den lebensgeschichtlichen, autobiografischen Narrationen. Was erzählt wird, oder eben auch nicht erzählt wird, hängt unter anderem mit gesellschaftlichen Normen zusammen, die in gewisser Weise dem Selbstschutz oder auch dem Schutz des anderen dienen. Erzählen beinhaltet immer eine Form der Zensur, die sich beispielsweise bereits an den jeweiligen Adressaten der Erzählung orientiert (Werani 2023). Neben der Tatsache, dass nicht alles Erlebte erzählt werden kann, wird folglich der Aspekt betont, dass auch nicht alles Erlebte erzählt werden soll. Für die Traumnarration gilt dies im gleichen Maße, denn auch hier können im Traum als tabu geltende Erlebnisse erinnert werden, ohne dass sie in eine Narration übersetzt werden sollen.

Die lebenslang neu konstruierten Narrationen zur Aktualisierung der Ich-Identität werden auch als Identitätsarbeit bezeichnet (Krauss 2000; Keupp et al. 1999). Die Verarbeitung von Träumen mittels sprachlicher Tätigkeit können damit ebenfalls zur Identitätsarbeit gezählt werden. Die Erinnerung des Traums ist die Voraussetzung für seine sprachliche Darstellung und sprachliche Ausdruckweisen spielen eine wichtige Rolle in der Traumarbeit. Für die Deutung des Traums, und damit dem Zugang zum Unbewussten, ist folglich dieser Umformungsprozess von unbewussten Inhalten in bewusste Inhalte zentral (Bion 1944). Im engeren Sinne wird von Traumarbeit gesprochen, wenn die Gesamtheit der Prozesse und Umwandlungsmechanismen betrachtet wird, die mit dem Traum zusammenhängt (Angeloch 2020). Die grundsätzliche Schwierigkeit in der Traumarbeit ist, sich überhaupt an Träume zu erinnern. Werden sie erinnert, dann ist die Bildsprache zunächst mächtiger als die Übersetzung in Worte, denn das bildhafte Material im Traum wird durch die Übersetzung in Sprache transformiert. Freud (1900/2022) ging davon aus, dass über den manifesten Trauminhalt, der in Traumnarrationen vermittelt wird, an den latenten Trauminhalt gelangt werden kann. Dabei interessiert er sich für die Narration und Einzelheiten darin und weniger für konkrete Symbole, wie es beispielsweise in der Traumtheorie von C.G. Jung (2010) der Fall ist. Von Interesse sind nach Freud die Funktionen sprachlicher Tätigkeit im Sinne der Emotionsregulierung, Problemlösung und Gedächtnisbildung. Insbesondere interessieren die emotionalen Erfahrungen, die im Traum vom Unbewussten angeboten werden und durch die Traumarbeit so umgeformt werden, dass sich Lösungen für emotionale Probleme ergeben können. Traumgedanken sind folglich miteinander verbundene Elemente emotionaler Erfahrung, die aus einem emotionalen Problem entstanden sind und noch gelöst werden müssen. Die Lösung eines emotionalen Problems kann dann erfolgen, wenn durch Narrationen bewusste Denkprozesse einsetzen, sodass ein Bewusstsein für das Geträumte entsteht (Angeloch 2020). Das Träumen und die Traumarbeit werden zur Grundlage psychischer Arbeit (Bion 1944) und mit Angeloch (2020, 108) kann festgehalten werden, dass »die Möglichkeit der Entwicklung der Persönlichkeit und die gesamte psychische und körperliche Gesundheit letztendlich von der Fähigkeit zu phantasieren und zu träumen ab[hängen]«. Das Nicht-Träumen entspricht dem Nicht-Gedanken und die Unfähigkeit zu träumen bedeutet, dass die grundlegende unbewusste und bewusste psychische Arbeit des Umwandelns emotionaler Erfahrungen nicht geleistet werden kann, so wie zum Beispiel berichtet wird, dass psychotische Menschen nicht träumen (Angeloch 2020).

Die Deutung des Traumes im Sinne einer Traumanalyse ist somit nur auf Subjektebene möglich, da es sich, wie bei der Gedankenbildung, um intrapsychische Prozesse handelt. Für die Rekonstruktion von Träumen ist es unumgänglich, dass es zu dieser Übersetzung in Sprache kommt. Darüber hinaus spielen die sprachlichen Benennungen von Assoziationen und Wahrnehmungen von Emotionen eine zentrale Rolle, ebenso wie die mit dem Traum einhergehenden körperlichen Empfindungen (Gendlin 1987). Der Einfluss der Traumarbeit auf die Bildung der Ich-Identität zeigt sich in systematischen Auseinandersetzungen, wie beispielsweise anhand einer strukturalen Traumanalyse (Boothe 1994, 2002). Insbesondere die Thematisierung der Verdopplung des Ich im Traum (Chitussi 2016) führt zu einem Verständnis der Bildung der Ich-Identität über Träume, da auch hier die dialogische Aushandlung der Ich-Identität zentral ist. Die Analyse von Träumen ist folglich ein wichtiger Baustein der Selbstverständigung und damit der Ich-Identitätsbildung. Die Auseinandersetzung mit Träumen kann daher auch als Identitätsarbeit aufgefasst werden.

5 Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Traumnarrationen eine besondere Schlüsselfunktion bei der Entwicklung der Ich-Identität haben. Jede Narration trägt im Sinne einer narrativen Identität zur Herausbildung identitätsstiftender Aspekte bei. Das Besondere an der Traumnarration liegt darin, dass der Traum eine Zwischenstellung zwischen dem tatsächlichen Erleben und dem abstrahierten Erleben in Form einer Erzählung darstellt. Die Ich-Identität wird folglich durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Träumen um die unbewussten Aspekte der psychischen Tätigkeit bereichert, da die Traumnarration die Flüchtigkeit des Traums in eine manifeste sprachliche Form überführt.

Der Traum – und insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Traumerleben, sei es durch mündliches oder schriftliches Fixieren der Traumerinnerung – bietet Zugang zu unbewussten Prozessen. Nur durch die Traumnarration können diese Aspekte ins Bewusstsein gelangen. Insofern kann postuliert werden, dass die Traumnarration die Entwicklung der narrativen Identität bereichert, indem sie eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Unbewussten ermöglicht.

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Die Autorin

Anke Werani, Prof. Dr., lehrt und forscht als Psycholinguistin am Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie befasst sich mit sprachlicher Tätigkeit im Spannungsfeld zwischen soziokulturellen und psychologischen Prozessen. Forschungsschwerpunkt ist die Erforschung des kommunikativen Sprechens und des inneren Sprechens, insbesondere im Zusammenhang mit der Ausbildung verschiedener Sprech- und Denkstile und deren Verknüpfung mit der Ich-Identität.

Kontakt: anke.werani@lmu.de