Martin Dege & Peter Mattes
Journal für Psychologie, 32(2), 3–6
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2024-2-3 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deVor 125 Jahren, im Spätherbst des Jahres 1899, veröffentlichte Sigmund Freud sein Werk Die Traumdeutung, ein Buch, das weit mehr als nur eine wissenschaftliche Abhandlung über Träume darstellt. Es markiert den Beginn einer revolutionären Umwälzung im Blick auf das menschliche Bewusstsein. Freud selbst bezeichnete sein Werk als das Fundament der Psychoanalyse, sich selbst als den ersten Analysanden. Die Veröffentlichung sollte jedoch zu mehr werden als zu einem Bestandteil einer sich entwickelnden Methode, sie war auch ein kultureller Wendepunkt: Die Traumdeutung wurde zum Ausgangspunkt für eine weitreichende Rezeption in Literatur, Kunst und Philosophie (Marinelli und Mayer 2003), wurde zu einem Markstein der sich damals umstrukturierenden Diskursordnungen der Erkundungen des Selbst.
Freud selbst erkannte früh die Ambivalenz in der Rezeption seiner Theorien, die sich insbesondere in den unterschiedlichen Lesarten der Fachwelt und der breiten Öffentlichkeit manifestierte. Ursprünglich als wissenschaftliches Werk für ein neuropathologisches Publikum konzipiert, wurde das Buch zunehmend von literarischen Kreisen, esoterischen und künstlerischen Bewegungen rezipiert, die Freuds Theorie der Traumdeutung als eine Form der symbolischen Selbstanalyse aufnahmen, im Surrealismus gar bis hin zu einer kulturrevolutionären Programmatik.
Wie Marinelli und Mayer betonen, ist die Rezeption des Buches maßgeblich durch den Wechsel der Auflagen und die späteren Erweiterungen geprägt. Während die erste Auflage noch wenig Beachtung fand, führte die zunehmende Bekanntheit der Psychoanalyse in den folgenden Jahrzehnten zu einer deutlichen Zunahme des Interesses. Die Tatsache, dass das Werk selbst von Freud überarbeitet und um neue theoretische Einsichten ergänzt wurde, spiegelt die dynamische Entwicklung seiner Gedankenwelt wider und zeigt, dass Die Traumdeutung für ihn zunächst nicht als abgeschlossenes Projekt der Selbstanalyse und psychologischen Forschung betrachtet wurde.
Künstler und Schriftsteller griffen Freuds Konzept der Traumdeutung auf und integrierten es in ihre ästhetischen Praktiken. Träume wurden dabei als autonomer Schöpfungsraum verstanden, in dem unbewusste Wünsche und Fantasien unvermittelt an die Oberfläche gelangen können. Die Traumdeutung wurde auf diese Weise zu einem kulturellen Werkzeug, das nicht nur in der Psychoanalyse, sondern auch in der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts bedeutende Spuren hinterlassen hat. Gleichzeitig inspirierte die Traumdeutung Philosophen und Kulturkritiker, die Freuds Analyse des Unbewussten als eine bahnbrechende Methode betrachteten, um das menschliche Verhalten und die moderne Gesellschaft zu verstehen (Derrida 1998; Rose 2003).
Entscheidend für den Erfolg der Traumdeutung und damit der Psychoanalyse ist wohl nicht so sehr die Akzeptanz Freud’scher Theorien, sondern der Widerstand, den diese auslösten – und die Fähigkeit der Psychoanalyse, diesen Widerstand zu sublimieren, ihn zur treibenden Kraft der Theorie zu machen. Widerstand wurde so zu einem doppelten Konzept: Freud musste gegen die vorherrschende Auffassung ankämpfen, dass Träume bedeutungslos oder rein physiologisch seien, und setzte dagegen seine Theorie des Traums als Ausdruck unbewusster psychischer Prozesse. Dieser Paradigmenwechsel begegnete jedoch nicht nur in der breiteren Öffentlichkeit, sondern auch unter Wissenschaftlern erheblichem Widerstand. Der Widerstand gegen die Psychoanalyse ist somit auch ein Widerstand gegen das, was die Analyse ans Licht bringt – ein Widerstand, der tief in der Struktur des Subjekts und seiner Beziehung zum Unbewussten verankert ist. Derrida (1998) argumentiert, dass dieser »Widerstand gegen die Analyse« ein zentrales Konzept sei, das über die bloße Rezeption hinausgehe und die strukturelle Spannung in Freuds Werk verdeutliche. Diese Spannung manifestiere sich nicht nur in der Ablehnung von Freuds Theorien durch seine Kritiker, sondern auch in der fortwährenden Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit ihren eigenen theoretischen Grundlagen.
Wir, das Journal für Psychologie, wollten nun wissen, wie es heute damit steht, und haben um Beispiele gebeten. Was wir nicht präsentieren wollten, ist die Technik der Deutung des Traumgeschehens in der heutigen etablierten und institutionalisierten Psychoanalyse; das ist bewährte und evidenzorientierte Praxis, zu der hinreichend einschlägige Literatur existiert, auf die zu verweisen wäre. Nach unserem Call for Papers wurden Berichte und Begründungen von Praxen eingereicht, die demgegenüber eher unorthodox, vorantreibend, sich bewähren wollend sind. Diese geben wir hiermit weiter.
Die Beiträge: Christian Arnezeder untersucht in seinem Beitrag »Das bin ich? Träumen und unbewusste Identitäten« die Frage, wie sich Identitäten im Traum formen und welche unbewussten Aspekte sie offenbaren. Er beleuchtet Freuds Traumdeutung als zentrale Methode zur Untersuchung der Identität im Traum und erweitert diese um die Objektbeziehungstheorie, insbesondere durch Otto Kernbergs Arbeiten. Arnezeder stellt zudem eine Verbindung zu Carl Gustav Jung her, der zwischen Subjekt- und Objektstufen im Traum unterscheidet, und betont, dass die Identität als dynamischer Prozess zu verstehen ist, der durch Träume kontinuierlich verändert und erweitert wird.
Anke Werani verknüpft in ihrem Beitrag »Traumnarration und Ich-Identität« den kulturhistorischen Ansatz Vygotskijs mit Freuds Vorgaben, um den Zusammenhang von Traumnarration, Traumarbeit und Ich-Identität zu erkunden. Narrationen sind zentrale Bausteine menschlicher Lebenswelten. Ich-Identität bildet sich aus Narrationen, die sowohl von unbewussten und bewussten als auch innerlichen und äußerlichen Prozessen beeinflusst werden. Die narrative Identität kann als Gestaltungsmoment der Ich-Identität angesehen, die sprachliche Tätigkeit dabei als eine Vermittlerin zwischen den Instanzen des Unbewussten und des Bewusstseins betrachtet werden.
Barbara Binder und Simone Bruckner untersuchen in ihrer Explorativstudie »Gemeinsam träumen. Social Dreaming in der Selbsterfahrung«, in welcher Weise und mit welchem Gewinn Social Dreaming in Selbsterfahrungsgruppen der Gestalttheoretischen Psychotherapie praktiziert werden kann. Ihr theoretischer Hintergrund sind die von Gordon Lawrence und Patricia Daniel am Londoner Tavistock Institute of Human Relations entwickelte Methode des Social Dreaming, allgemeiner die Feldtheorie Kurt Lewins sowie aktuelle Vorgaben aus der Gestalttheorie, die dem klassischen Konzept Freuds gegenübergestellt werden.
Herbert Fitzek beleuchtet in seinem Beitrag »Gebaute Träume. Wege zu einer tiefenpsychologischen Kunstwirkungsforschung« die Verbindung von Kunst und Traum im Kontext der tiefenpsychologischen Analyse. Er zeigt auf, dass sowohl Kunst als auch Träume psychische Gebilde sind, die Aufschluss über das Unbewusste geben können, ohne unmittelbar zur Alltagsbewältigung beizutragen. Basierend auf Freuds Werk und modernen Konzepten der psychologischen Morphologie wird die Wirkung von Kunst als Ausdruck eines vielschichtigen Entwicklungsprozesses beschrieben. Fitzek illustriert dies anhand einer Untersuchung zu Anselm Kiefers Installation Sieben Himmelspaläste. Fitzek verdeutlicht, dass sich im Erleben der Kunst biografische Bezüge und unbewusste Dynamiken offenbaren und so das Kunstwerk selbst zu einem Raum wird, der individuelle Lebenswege reflektiert und transformiert.
Bettina Rabelhofer zeigt in ihrem Beitrag »Wenn ich erwache, sind alle Träume um mich versammelt, aber ich hüte mich, sie zu durchdenken. Der Alp in Kafkas Träumen – Annäherungen an Traumtexturen und ihre Schwellen. Lesarten von Texten Franz Kafkas« Lesarten des Autors. In seinen Tagebüchern und Briefen protokollierte dieser an die 60 Träume. Kafkas Träume und »Halbschlafphantasien« zeichnen sich durch Kargheit aus. Angeregt von Umberto Ecos Semiologie erarbeitet die Autorin eine Wegweisung für Leserinnen und Leser in deren Container- und Mentalisierungsfunktion.
Amelie Zadeh untersucht in ihrem Beitrag »Träume riechen und vom Riechen träumen« das olfaktorische Potenzial des Traums. Sie beleuchtet die Bedeutung des Geruchs für die Psychoanalyse, insbesondere wie Geruchsempfindungen von Freud und in der Literatur als Medium verstanden werden, das zwischen inneren und äußeren Welten vermittelt. Sie zeigt außerdem, dass olfaktorische Phänomene wie Geruch und Ekel als unbewusste Mechanismen im Traum bedeutsam sind. Unter Einbezug von Arbeiten zu Freuds Selbstanalyse und dessen Korrespondenz mit Fliess zeigt Zadeh auf, dass der Geruchssinn in der Traumdeutung bisher wenig beachtet wurde, obwohl er zentral für die Theorie der Verdrängung ist.
Derrida, Jacques. 1998. Resistances of Psychoanalysis. University of Chicago Press.
Marinelli, Lydia und Andreas Mayer. 2003. Dreaming by the Book. Other Press.
Rose, Jacqueline. 2003. On Not Being Able to Sleep: Psychoanalysis and the Modern World. Princeton University Press.
Martin Dege ist Professor für Narrative Forschung am Pratt Institute in Brooklyn, New York. Seine Forschungsinteressen umfassen narrative Identität, kulturelle Psychologie und die Wechselwirkungen von Kunst, Politik und Macht. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit leitet er interdisziplinäre Projekte, die Fotografie, ethnografische Methoden und visuelle Kultur miteinander verbinden. Seine aktuelle Forschung widmet sich den ästhetischen und sozialen Transformationen traditioneller Motelstrukturen in den Great Lakes. Martin Dege ist zudem als Herausgeber von Sammelbänden über Krisenforschung tätig und engagiert sich in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft durch Vorträge und Publikationen.
Kontakt: mdege@pratt.edu
Peter Mattes, nach Studium an der Universität Heidelberg ein Berufsleben als Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin, auch Langzeitgast an der Universität Wien. Dann Freier Wissenschaftler, Diskursflaneur in den Bereichen der kritischen, poststrukturalistischen sowie postmodernistischen Psychologien. Einschlägige Veröffentlichungen; Mitbegründer und bis heute Mitherausgeber des Journals für Psychologie, Mitherausgeber von Psychologie und Gesellschaftskritik.
Kontakt: petermattes@aol.com