Gebaute Träume

Wege zu einer tiefenpsychologischen Kunstwirkungsforschung

Herbert Fitzek

Journal für Psychologie, 32(2), 62–85

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2024-2-62 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Traum und Kunst sind psychische Gebilde, die wenig zur unmittelbaren Alltagsbewältigung beizutragen scheinen. Sigmund Freud gaben sie gerade deshalb wertvollen Aufschluss über das Wirken des Unbewussten in der menschlichen Lebenswelt. Freud orientierte sich in seiner Rekonstruktionsarbeit an der These der vollständigen Sinndeterminierung aller seelischen Erscheinungen und bezog Träume und Kunstwerke auf Motive aus der Lebensgeschichte der Träumenden und Kunstschaffenden. Durch die Beschäftigung mit Dichtung und bildender Kunst, insbesondere mit der Gradiva-Erzählung von Wilhelm Jensen und dem Moses des Michelangelo, geriet er darüber hinaus an die Wirkungsfrage, die er aber nicht weiterverfolgte. Wie auf der Grundlage des tiefenpsychologischen Ansatzes systematische Wirkungsforschung mit Kunstwerken möglich ist, wird mit Blick auf ein derzeit in Mailand umgesetztes Projekt mit Anselm Kiefers Sieben Himmelspalästen beispielhaft vorgestellt.

Schlüsselwörter: Tiefenpsychologie, Kunst, Wirkungsforschung, morphologische Psychologie, morphologische Beschreibung

Constructed Dreams

Considering Depth-Psychological Research on the Impact of Arts

Dreams and art are psychological structures that seem to contribute little to coping with everyday life. For Sigmund Freud, that is especially why they provide valuable information about how the unconscious affects the human mind. In his reconstruction work, Freud was guided by the thesis of the complete determination of the meaning of all mental phenomena and related dreams and artefacts to motifs from the life stories of the dreamers and artists. Through his involvement with poetry and visual art, particularly the Gradiva novel by Wilhelm Jensen and Michelangelo’s Moses sculpture, he came across the question of impact, which he did not pursue further. The possibility of systematic research on the impact of works of art on the basis of a depth psychological approach is presented by taking into account a project currently being implemented in Milan including Anselm Kiefer’s Seven Heavenly Palaces.

Keywords: psychoanalysis, art, impact research, morphological psychology, morphological description

1 Traum und Kunst in der Tiefenpsychologie

Traum und Kunst sind für Sigmund Freud wichtige Merkzeichen für die Bedeutung unbewusster Sinndeterminationen in der seelischen Produktion (1941b, 1942). In seinen Schriften zur Psychoanalyse als Diagnose- und Heilmethode geben Träume entscheidende Belege für das Verständnis von Krankengeschichten. Dichtungen geben in analoger Weise Aufschluss über das Schicksal der handelnden Figuren, darüber hinaus auch über die Lebensproblematiken ihrer Schöpfer. Ich werde zunächst zu zeigen versuchen, wie Freud besonders in seinem Aufsatz über Wilhelm Jensens Gradiva-Novelle Kunst und Traum in den Dienst der Prüfung des entscheidenden Grundsatzes der analytischen Methode stellt, der auf der vollständigen (bewussten und unbewussten) Sinndetermination aller Äußerungen des Erlebens und Verhaltens beruht und insofern den Kern der analytischen Beschreibungs- und Rekonstruktionsarbeit ausmacht (Freud 1941a).

Anders als im Traum, der konstitutionell ganz in die Privatsphäre des Träumenden einbezogen ist, zeigt sich die Kunst intentional einem aufmerksamen Publikum. Hier stellt sich zusätzlich die Frage der Wirkung, die Freud nur indirekt angesprochen hat und auch die neuere kunstpsychologische Forschung kaum berührt, obwohl sich gerade hinsichtlich der Kunstrezeption ein empirischer psychologischer Zugang nahelegt (Schuster 2000). Die Wirkung von Kunst ist methodisch sehr viel einfacher zugänglich als die vielfach den Träumenden selbst unzugänglichen Trauminhalte. Allerdings wurde das Kunsterleben schon zu Freuds Zeiten wie auch heutzutage durch wahrnehmungspsychologische wie auch durch (kunst-)wissenschaftliche Deutungsdomänen überlagert. Ohne ästhetische Vorerfahrung – wie andererseits auch mit zu viel Vorwissen um Werk, Stil und Sujet, künstlerische Intentionen und eingesetzte Techniken – erschließt sich der erlebende Zugang zur Kunst eher mühsam.

Im zweiten Teil meiner Darstellung werde ich der Beobachtung nachgehen, dass die Kunstpsychologie mit ähnlichen Problemen wie die psychologische Behandlung der Träume konfrontiert ist. Es bedarf einer Einübung, um den erlebenden Zugang von Zensur und Befangenheiten zu befreien, und einer entsprechenden Deutungskunst, um Sinnzusammenhänge im individuellen Zugang und im Vergleich der Rezipienten miteinander zu erschließen (Salber 1999). Den tiefenpsychologischen Zugang zur Wirkung von Kunst haben wir an vielen Kunstwerken mithilfe der morphologischen Beschreibung weiterentwickelt (Fitzek 2019, 2022).

Abschließend gehe ich auf eine aktuelle Arbeit zu einem Kunstwerk ein, das sich leichten Einordnungsversuchen allein schon durch seine raumgreifende Anordnung in einer ausgedehnten Halle entzieht und Gelegenheit bietet, Kunst als sinnliches Gesamterlebnis von figuralen, akustischen und architektonischen Eindrücken wahrzunehmen. Es handelt sich um eine Version von Anselm Kiefers Sieben Himmelspaläste, die im HangarBicocca dauerhaft installiert ist und als Figuration von monumentalen Betontürmen und filigranen Gemälden des Künstlers durchwandert werden kann (Kiefer 2018). Komplementär zu Freuds Beobachtungen zu Träumen als Ausdrucksphänomenen konnten wir dabei beobachten, wie sich Traumartiges in der Kunst als Wirkungsphänomen zur Geltung bringt.

2 Der Symptomwert von Träumen in der Krankenbehandlung

Das in der Öffentlichkeit bekannteste Werk Sigmund Freuds und ein für die wissenschaftliche Ausrichtung des psychologischen Denkens im 20. Jahrhundert richtungsweisendes Merkzeichen ist die mit Absicht auf das Jahr 1900 vorterminierte Traumdeutung (Freud 1899/1942).

Freud hatte bis zu diesem Zeitpunkt einen mühevollen Weg aus der Schulmedizin in die Psychiatrie und Psychologie hinein zurückgelegt, welche er ganz anders zu verstehen begann, als es unter den an Universitäten tätigen akademischen Vertretern üblich war. Wie er in seinen vielbeachteten Vorlesungen »Über Psychoanalyse« an der Clark University im Jahr 1909 selbst betonte, war ihm die Beteiligung an wissenschaftlichen Kontroversen weniger wichtig als die Suche nach einer aussichtsreichen »Untersuchungs- und Heilmethode« für neurotische Krankenschicksale (1943a, 3). Im Krankheitsverständnis der zeitgenössischen Psychiatrie und Psychologie war das Verstehen der Herkunft von Beschwerden und Symptomen von untergeordnetem Interesse. Krankheiten wurden einer körperlichen Kausaldynamik zugeschrieben und Heilmethoden als naturwissenschaftliche Verfahren bestimmt. Für psychische Erkrankungen galten in der zeitgenössischen Medizin prinzipiell die gleichen Annahmen. Mit der Kur aber haperte es. Freud bemerkte, dass die in der psychiatrischen Diagnostik häufig verzeichneten Symptome unklarer Herkunft nicht nur ein Problem für die Ärzte seiner Zeit bildeten, sondern außerdem ein auf die Leidenden zurückfallendes Ärgernis (1943a, 6).

Das bei körperlichen Beschwerden nützliche Modell der Kausaldynamik schien ihm für die Genese psychischer Krankheiten nicht zu taugen, er fand für deren Heilung einen verstehenden Zugang unerlässlich. Freud machte für psychische Erkrankungen einen aus der Krankenhistorie aufklärbaren komplexen Bedingungszusammenhang verantwortlich, der nur über aufwändige Beschreibungs- und Erinnerungsarbeit mit den Patientinnen und Patienten zugänglich werde (1943a, 11ff.). Psychische Störungen stünden demnach in einem Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen. Symptome seien sinnhafte, wenngleich behinderte und behindernde Ausdrucksbildungen. Das wurde Freud zum Anlass, die ärztliche Diagnostik durch eine gründliche Anamnese der Krankengeschichte zu ergänzen, über die er sich eine Klärung der Herkunft der Symptome und zugleich die Findung von Möglichkeiten für deren Heilung versprach. Dem Prozess einer missglückten Bewältigung von belastenden Lebensproblematiken entspreche therapeutisch eine nachgeholte Aufarbeitung in der psychoanalytischen Behandlung, für die er später die Merkwörter »Erinnern, Durcharbeiten, Wiederholen« findet (1946a).

In seinen Therapieanstrengungen stellte Freud sehr schnell fest, dass sich die Erinnerungsarbeit nicht nur deshalb mühsam gestaltet, weil die Herkunft der Krankheit in der Geschichte der Erkrankten weit zurückliegt und vielschichtig ist, sondern weil das Vergessen in gewisser Weise nützlich ist und gegen die Rückkehr der Erinnerungen durch Lücken und Verdrehungen versichert. Er schloss daraus, dass ein Anteil der psychischen Tätigkeiten gegen die Wiederherstellung der Erinnerung aufgewendet wird und im Sinne eines vermeintlich gesunden Selbstverständnisses verdrängt, was prinzipiell nicht auszulöschen ist und daher unbewusst weiterwirkt. Gegen diese Widerstände arbeitete er mit Druck am Schließen von Erinnerungslücken – zunächst im wörtlichen Sinne, indem er mit leichtem Druck auf die Stirn zum angestrengten Nachsinnen aufforderte (1943a, 20).

Die in den analytischen Sitzungen zentrale Erinnerungsarbeit konnte wegen Verdrängung und Widerstand nicht auf die Hilfe der willentlichen Gedankenlenkung zählen. Freud entwickelte stattdessen Methoden, mit denen er vermeintliche Sicherungen abbauen und die Rückkehr des Verdrängten erwirken konnte. Freie Einfälle öffneten Spielräume für Überraschendes, Ungesteuertes, Unsortiertes – dem entspreche aufseiten der Analysierenden eine »gleich schwebende Aufmerksamkeit« (1943c, 377).

Entscheidend für den konstruktiven Fortgang des Prozesses ist, dass die wie zufällig einfallenden Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen und Ängste einen Prozess voranbringen, in dem getrennt Gehaltenes in einen Gesamtzusammenhang integriert wird, der durchaus nicht widerspruchsfrei und oft auch nicht gern gesehen ist, aber die Lebensrealität dieses Menschen abbildet (1943a, 25). Getragen wird die Rekonstruktionsarbeit in der Psychoanalyse vom Grundsatz der lückenlosen Sinndeterminierung aller seelischen Produktionen. Ihn bezeichnet der jedem metaphysischen Anklang gegenüber ansonsten eher skeptische Freud an prominenter Stelle als »Glaubens«-Satz der Psychoanalyse und grenzt sich dabei sogleich von einer monokausalen Ursachenklärung ab:

»Sie merken es bereits, daß sich der Psychoanalytiker durch einen besonders strengen Glauben an die Determinierung des Seelenlebens auszeichnet. Für ihn gibt es in den psychischen Äußerungen nichts Kleines, nichts Willkürliches und Zufälliges, er erwartet überall dort eine ausreichende Motivierung, wo man gewöhnlich eine solche Forderung nicht erhebt; ja er ist auf eine mehrfache Motivierung desselben seelischen Effekts vorbereitet, während unser angeblich eingeborenes Kausalbedürfnis sich mit einer einzigen psychischen Ursache für befriedigt erklärt« (1943a, 38).

Durch sein medizinisches Selbstverständnis blieb Freud lebenslang geprägt vom Denken in biologischen Kategorien. Die Quellen der mehrfachen Motivierung sah er als körperliche Kräfte oder Energien an (Libido, Triebe, Es). Doch was sich lebensgeschichtlich aus einer zunächst vielgestaltigen (»polymorphen«) Sexualität herausbildet und in einem dramatischen Entwicklungsprozess schließlich zu den Kompromissformen des Erwachsenenlebens verfestigt, lässt sich weder in naturwissenschaftlichen Analogien denken noch mit naturwissenschaftlichen Methoden rekonstruieren. Angesichts der »strengen und ausnahmslos geltenden Determination des seelischen Lebens« sind Fehlbildungen keine Ausfälle, sondern Konsequenz eines vorwärts und rückwärts lesbaren sinnbildenden Entwicklungsprozesses (1943a, 56).

Es sind demzufolge nicht Defizite an Sinn, an denen Menschen erkranken: Zu viel Ersehntes und Befürchtetes drängt gleichzeitig auf Ausdruck, wobei Tendenzen mit sexuellem, aggressivem oder peinlichem Charakter geradezu systematisch verbannt werden. Nach Freuds Erfahrung ist die Vervollständigung der Erinnerungslücken deshalb notwendigerweise schmerzhaft. Der Rekonstruktionsprozess muss die mildernden Hilfskonstruktionen des Selbstverständnisses systematisch stören, um an wirksame Konflikte und Unverträglichkeiten heranzureichen und diese zu modifizieren; nicht das scheinbar Plausible eröffnet den Weg einer gelingenden Rekonstruktionsarbeit: Sperriges, Peinliches, Verrücktes ist das bevorzugte Material der Analyse.

In diesem Zusammenhang kommt dem Erinnern und Deuten von Träumen besonderes Gewicht zu. Träume stellen das Selbstverständnis der Menschen wie auch den verstehenden Zugang des Analysierenden auf die Probe. Sie sind einerseits voller Ahnungen, Andeutungen, Rätsel. Andererseits entziehen sich ihre offensichtliche Irrealität, ihre Schräge, Skurrilität und Peinlichkeit jedem direkten Einordnungsversuch. Das sieht Freud im Prinzip nicht anders, gerade deshalb sind die Träume für die Rekonstruktion der Lebenswirklichkeit besonders wertvoll. Die Sicherungen der Gedankenarbeit greifen hier nicht, bewusste Tagesreste und unbewusste Verformungen stehen in einem offenen Abtausch, der das Geschehen den Träumenden selbst oft als unsinnig erscheinen lässt. Ausgehend vom »Glauben« an die Determinierung des psychischen Geschehens hingegen muss hier wie überall im psychischen Geschehen Sinn auffindbar sein. Ausdrücklich sieht Freud den Traum als »ein vollgültiges psychisches Phänomen und […] einzureihen in den Zusammenhang der uns verständlichen seelischen Aktionen des Wachens; eine hoch komplizierte geistige Tätigkeit hat ihn aufgebaut« (1942, 127).

Nach Freuds Überzeugung beeinträchtigen die Rätselhaftigkeit, scheinbare Sinnlosigkeit und Monstrosität der Träume nicht ihren Beitrag zum psychologischen Verständnis. Im Gegenteil: Ihr sperriger Charakter bürgt für Tiefsinn. Wie kaum ein anderes psychisches Gebilde hebt sich der Traum für Freud von der Konventionalität der Lebenszusammenhänge ab und verdichtet vielfache Sinnmomente. Deshalb sieht er im Traum »die Via Regia zur Kenntnis des Unbewußten« (1943a, 32). Seine Leistung beschreibt er als »verkappte Erfüllung verdrängter Wünsche« (1943a, 35). Im Traum kommen widersprüchliche Sinntendenzen offener zum Ausdruck als unter dem Vereinheitlichungsdruck der wachen Tagesgeschäfte. Ihre inhaltliche Nähe zur Sexualität und ihr funktionaler Bezug zur Verdrängung empfehlen die Träume zusätzlich für die psychologische Rekonstruktionstätigkeit. Für die Umgehung der mit der Deutung auf den Plan gerufenen Widerstände entwickelt Freud eine Methode, die sich vom oberflächlichen Zusammenhang der Träume löst und durch freie Assoziation zu einzelnen Traumelementen einen latenten Traumgedanken freilegt, der eine Einbettung des erfüllten Wunsches in die lebensgeschichtliche Problematik der Träumenden ermöglicht (1943a, 34f.).

Mit den Träumen bewegte sich Freud noch weiter aus dem Fokus der zeitgenössischen Wissenschaft hinaus als mit seiner Neurosenlehre. Zugleich entdeckte er über sie Anknüpfungspunkte zur Literatur, in der Träume oft zu Schlüsseln für das Verständnis der Handlung und der handelnden Personen werden. Die Traumdeutung verzeichnet neben den für die Psychoanalyse grundlegenden Dichtungen des König Ödipus und des Hamlet zahlreiche Träume aus Werken von Goethe, Kleist, Keller und anderen verstorbenen oder noch lebenden Schriftstellern. Einem der in der Literatur behandelten Werke hat Freud im Jahr 1907 eine ausführliche Studie gewidmet, in der er die erzählte Lebensgeschichte ganz ähnlich wie in der Analyse über neurotische Symptome und erzählte Träume auf ihre komplexe Motivierung durchleuchtete (1941a).

3 Träume geben Aufschluss über die Verfasstheit der handelnden Personen

In der Novelle Gradiva erzählt der zeitgenössische Dichter Wilhelm Jensen die Geschichte des vollständig in seine Arbeit versenkten Archäologen Norbert Hanold, der eines Tages auf eigenartige Weise vom Relief einer jungen römischen Unbekannten fasziniert wird, die in einer besonders anmutigen Art des Schreitens getroffen ist (Gradiva = die vorwärts Schreitende). Ein Traum, in dem er die junge Frau in Pompeji leibhaftig trifft, versetzt ihn in Halluzinationen, in denen er kurz darauf eine Dame in ähnlicher Pose seiner Wohnung direkt gegenüber auf der Straße entlangschreiten sieht, was ihn zu einem plötzlichen Aufbruch nach Italien veranlasst. Hier wird er durch eine anfängliche Ziellosigkeit zunächst auf die Unsinnigkeit seines Handelns aufmerksam, reist aber schließlich weiter nach Pompeji, wo er – Wahn oder Wirklichkeit – der Gradiva leibhaftig gegenüber zu stehen glaubt. Ehe er sich vergewissern kann, entschwindet diese ins Nichts, aus dem sie von da an nicht nur mehrfach und mit wachsender Gewissheit zurückkehrt, sondern ihm schließlich über verschiedene Zeichen und Andeutungen zu verstehen gibt, dass sie ein wirklicher Mensch ist. Und nicht nur das, sie spricht ihn in der Sprache seiner Heimat an und gibt sich nach weiteren Begegnungen als die schon immer in seiner Nähe wohnende Kindheitsfreundin Zoë Bertgang zu erkennen, deren Bekanntschaft er über seine fortschreitende Entfernung von den Menschen und die fortschreitende Vertiefung in die Wissenschaft vergessen zu haben scheint (1941a, 35ff.).

Abbildung 1: Gradiva

In Freuds Rekonstruktion speist sich die mehrfache Motivierung einerseits aus der sehr bewussten Suche des Archäologen nach dem Realitätsgehalt des seltsam lebensnahen Reliefbildes, die ihn zu minuziösen Studien am lebenden Objekt animiert. Der bis dahin in Arbeit vergrabene Archäologe interessiert sich mit einem Mal mitten in Leipzig für die Gangart von Damen – ein erster Hinweis auf verdrängte Erotik. Den verdrängten Wunsch nach einer lebendigen Begegnung offenbart ein Traum, der die Distanz zwischen dem Leipziger Wissenschaftler und der antiken Römerin durch eine Zeitreise ins antike Pompeji überbrückt: »Da sie ja eine Pompejanerin war, lebe sie in ihrer Vaterstadt und ›ohne daß er’s geahnt habe, gleichzeitig mit ihm‹« (1941a, 37).

Unbewusst hat sich der Archäologe vor einer direkten Begegnung mit seiner Nachbarin durch seinen Aufbruch nach Italien in Sicherheit gebracht. Indem ihn seine Flucht aber ausgerechnet nach Pompeji führt, nähert er sich seiner als Steinbild verewigten Jugendliebe gleichzeitig an. In quälende Reflexionen über den Realitätsgehalt seiner Halluzinationen in den Ruinen von Pompeji verwickelt (Wissenschaft) ergreift ihn zugleich das unwiderstehliche Verlangen, das ihm dort erscheinende Phantom zu berühren (Sexualität), worin sich die bewusste Aufklärungsarbeit des Wissenschaftlers mit dem unbewussten Wunsch einer Wiederbelebung der Kindheitsliebe trifft. Ein Traum am Ort des Geschehens bringt das unzugängliche und stark passiv geprägte Heilungsmotiv ins Spiel:

»Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, macht aus einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse zu fangen und sagt dazu: ›Bitte halte dich ganz ruhig – die Kollegin hat recht, das Mittel ist wirklich gut und sie hat es mit bestem Erfolg angewendet‹« (1941a, 50).

Wie in Freuds klinischen Fällen stellt sich der Motivkomplex auch in der Dichtung als sinndeterminiertes Gebilde mit vielschichtigen bewussten und unbewussten Aspekten dar. Da ist zunächst das bewusste Interesse der Hauptfigur an der Wissenschaft und die ehrliche Begeisterung für die archäologische Entdeckung, die Verfolgung der Spur bis in aufwändige Feldbeobachtungen und Reisetätigkeiten hinein sowie das Gemisch von vager Hoffnung, Skepsis, Sorge und Ernüchterung bei der Beurteilung der Frage, ob die Begegnungen in Pompeji Traum oder Realität sind. Zugleich melden sich schon in der Berufswahl mächtige unbewusste Tendenzen: das Interesse am Verschütteten und an der Ausgrabung, die als Entdeckungsreise verkehrte Flucht vor der Wiedererinnerung, die als Aufklärungsarbeit getarnte verlagerte Partialerotik (Fußfetisch). Unbewusst geht es beim gleichzeitigen Vermeiden und Wiedererlangen des gemeinsamen Lebensraums (Leipzig/Pompeji) zu wie auch beim lustvollen und schmerzhaften Ineinanderfließen von Gegenwart und Erinnerung. Im Zwang zum Körperkontakt (Berühren-Wollen) und in der Sehnsucht nach Gepackt-Werden manifestiert sich eine ebenso unleidliche wie heiß begehrte Sehnsucht nach körperlicher Nähe:

»Wenn Norbert Hanold eine aus dem Leben geholte Persönlichkeit wäre, die so die Liebe und die Erinnerung an seine Kinderfreundschaft durch die Archäologie vertrieben hätte, so wäre es nur gesetzmäßig und korrekt, daß gerade ein antikes Relief die vergessene Erinnerung an die mit kindlichen Gefühlen Geliebte in ihm erweckt; es wäre sein wohlverdientes Schicksal, daß er sich in das Steinbild der Gradiva verliebt, hinter welchem vermöge einer nicht aufgeklärten Ähnlichkeit die lebende und von ihm vernachlässigte Zoë zur Wirkung kommt« (1941a, 62).

Die vielfachen Motivationsaspekte laufen im Bild einer verschütteten und erweckungsbereiten Kindererotik zusammen, in dem sich alle einzelnen Stränge treffen: Die Flucht vor dem wunschvoll besetzten Erinnerungsbild treibt den weltfremd gewordenen Wissenschaftler mit kindlicher Naivität (und unbewusster Intelligenz) in die Arme des Wesens, das zu seiner Erlösung bestimmt ist. Wie zur Bekräftigung dieser psychoanalytischen Sinnrekonstruktion erwähnt Freud als Schlussstein die am Ende der Novelle aufgelöste Namensgleichheit der Zoë Bertgang mit der »Gradiva«. Die Gradiva war nie jemand anderes als seine Kindheitsfreundin, so wie Zoë im wörtlichen Sinne das »Leben« und Bertgang ins Lateinische übersetzt nichts anderes als die »im Schreiten Glänzende« bezeichnet (1941a, 65).

4 Träume der Dichtung verraten zugleich etwas über die Verfasstheit der Dichter

Nicht alles in der Novelle gibt den Verlauf einer wirklichen Psychoanalyse wieder, bemerkt Freud mit Blick auf die sich glücklich erfüllende Liebesbeziehung zwischen den Protagonisten. Doch scheint ihm die dichterische Intuition näher an der Aufklärung seelischer Sinnzusammenhänge als ärztliche Diagnostik:

»Sonst aber, das wollen wir wiederholen, hat uns der Dichter eine völlig korrekte psychiatrische Studie geliefert, an welcher wir unser Verständnis des Seelenlebens messen dürfen, eine Kranken- und Heilungsgeschichte, wie zur Einschärfung gewisser fundamentaler Lehren der ärztlichen Seelenkunde bestimmt« (1941a, 69).

Was in der Dichtung anders ist als im Behandlungsalltag, ist von daher nicht die Art der Krankengeschichte, sondern deren Autorenschaft. In der therapeutischen Praxis entstammen die erzählten Geschichten der Biographie von Leidenden, in der Dichtung dem Motivvorat der Dichtenden, denen im Übrigen wie den Patientinnen und Patienten die Herkunft ihrer Erzählungen nicht durchgängig bewusst ist:

»Wir meinen, daß der Dichter von solchen Regeln und Absichten nichts zu wissen brauche, so daß er sie in gutem Glauben verleugnen könne, und daß wir doch in seiner Dichtung nichts gefunden haben, was nicht in ihr enthalten ist… Der Dichter geht wohl anders vor; er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele, lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten desselben und gestattet ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie mit bewußter Kritik zu unterdrücken. So erfährt er aus sich, was wir bei Anderen erlernen, welchen Gesetzen die Betätigung dieses Unbewußten folgen muß, aber er braucht diese Gesetze nicht auszusprechen, nicht einmal sie klar zu erkennen, sie sind infolge der Duldung seiner Intelligenz in seinen Schöpfungen verkörpert enthalten« (1941a, 120).

Gern zollt Freud der Lenkung »des Dichters […] auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele« Respekt, doch werde dieser schon rein sprachlich eingeklammert durch Einschränkungen der aktiven Verfügungsgewalt. Bei allem Können bleibe er seiner künstlerischen eigenen Produktion gegenüber letztlich »unwissend«, »lauschend«, »nicht klar erkennend«, »duldend« und erscheine im Ganzen gesehen eher wie ein (unbewusstes) Medium der ästhetischen Produktion. Der Stoff sei vom Kunstschaffenden eben nicht bewusst und lückenlos durchformt wie ein Stück äußerer Wirklichkeit, sondern in einem bewusst/unbewussten Produktionsprozess vielfach mehr erlitten als erdacht – insofern werden Dichtende für Freud zu einer ebenso faszinierenden Materie wie die von ihnen erschaffenen Charaktere. Freuds Arbeiten zur Kunstpsychologie zielen insofern in den meisten Fällen über die Motivkomplexe der handelnden Figuren hinaus auf die Biografien der Künstler (1941a, 1943b).

Träume erhalten ihren Wert durch die Einbettung in die Lebensgeschichten der Träumenden. In der Literatur geschilderte Träume können nicht nur zu den handelnden Figuren ins Verhältnis gesetzt werden, sondern auch zu den schriftstellerisch Tätigen. Der zusätzliche Reiz, der für die Psychoanalyse von der Klärung der literarischen Sinnzusammenhänge ausgeht, besteht insofern darin, von der erzählten (Kranken-)Geschichte auf die Motivierungsgeschichte des Werkes zu schließen, auf den sich im Werk ausdrückenden Kunstschaffenden.

Die Gradiva-Studie ist die umfangreichste, aber nicht die erste Beschäftigung Freuds mit der Dichtung. Schon vor der Herausgabe der Traumdeutung hatte sich Freud mit Literatur beschäftigt und in einem Brief an Wilhelm Fließ Die Richterin von C.F. Meyer behandelt. Seine Analyse führt ihn, ohne hier Rücksicht auf wissenschaftliche Beweisführung nehmen zu müssen, auf direktem Wege zur Psychologie des Künstlers: »Kein Zweifel, daß es sich um die poetische Abwehr der Erinnerung an ein Verhältnis mit der Schwester handelt« (1962, 220).

Diese Zielrichtung machte die Analyse von zeitgenössischen Werken besonders aussichtsreich, wenn deren Schöpfer noch lebten. Hier konnte das Ergebnis durch direktes Befragen der Kunstschaffenden erhärtet werden. Auch in dieser Hinsicht enttäuschte die Gradiva nicht, denn der Dichter war zur Zeit von Freuds Analyse zwar bereits betagt, aber noch zu seiner Lebensgeschichte befragbar. Freud war sich sicher, dass in Jensens Biografie eine verloren gegangene Schwester mit auffälligen Gehgewohnheiten oder -beschwerden zu finden sein musste. Er trat deshalb persönlich mit dem Schriftsteller brieflich in Kontakt und drängte ihn – vergeblich – zu diesbezüglichen persönlichen Offenbarungen (1941a, 123). Selbst wenn sich Freuds Verdacht nicht direkt bestätigen ließ, muss auch ein freudkritischer Chronist der Szenerie einräumen, dass Jensens Leben durchaus von verschütteten Frauenbeziehungen geprägt ist (Schlagmann 2012, 93ff.).

5 Kunstwerke geben Aufschluss über die Verfasstheit der Künstler

Kunstschöpfungen blieben für Freud, auch wenn er sich intensiv mit ihnen beschäftigte, immer mit Rätseln verbunden. Das kommt in nahezu allen Ausführungen Freuds zu künstlerischen Leistungen zum Ausdruck und findet auch Eingang in die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1917, in denen er die Kunst ausführlich würdigt und als persönliche Sublimierungsleistung charakterisiert, die geprägt ist durch »das rätselhafte Vermögen, ein bestimmtes Material zu formen« (1940, 391).

Auch wenn Freud hinsichtlich des Kunstschaffens nachhaltig zwischen Gestaltungsfreiheit und Ausdrucksnot schwankte, verhießen literarische Produktionen genauso wie die Träume einen authentischen Zugang zur Produktionsstätte seelischer Sinnzusammenhänge. Diese Gemeinsamkeit wird zur Ausgangsfrage eines Aufsatzes, der im Jahr nach der Gradiva-Studie (1908) erscheint. »Der Dichter und das Phantasieren« (1941b) stellt die künstlerische Produktion in eine Reihe mit anderen Ausdrucksformen, die Abstand vom unmittelbaren Handlungsdruck der alltäglichen Lebensrealität gewähren und der Sinnproduktion damit einen breiteren Entwicklungsspielraum geben. Neben dem Traum und der Kunst kommen dabei Tätigkeiten wie Spiele und Tagträume in den Blick. Sie alle ereignen sich mit Abstand vom sozial geteilten Lebensraum in einer »zweiten Wirklichkeit«, für die die Realitätsforderung zeitweise aufgehoben ist und die Platz macht für ungelebte (ungeliebte) Tendenzen und Alternativen (1941b, 214).

Freud führt die Herkunft dieser zweiten Realität auf das Kinderspiel zurück und fasst die entsprechenden Tätigkeiten von Spiel, Traum und Tagtraum unter dem Titel des »Phantasierens« zusammen (1941b, 215). Im Fantasieren ist das Nebeneinander mehrschichtiger, peinlicher und sich widersprechender Motive dadurch eröffnet, dass – ähnlich wie in der Ruheverfassung des Traums – keine unmittelbaren Handlungskonsequenzen anliegen. Die gemischten Motive bleiben sprichwörtlich »im Spiel«, können sich unvermischt und ohne Zwang zur Konvention und zum Kompromiss zeigen. Ähnlich wie die Träume bewegen sich Tagträume und Fantasien im Schutz einer unausgesprochenen Privatrealität. Sie werden wie diese von den Fantasierenden selbst oft kaum beachtet und bleiben, solange sie anderen gegenüber verborgen werden, gesellschaftlich geduldet (1941b, 223).

Das unterscheidet die privaten Fantasiewerke nun aber grundlegend von der Kunst. Wenn Träume und Fantasien zur Kunst werden, entfällt nicht etwa nur der Schutz des privaten Raumes, die Äußerung der Fantasien trifft geradezu auf ein gesteigertes allgemeines Interesse und ist verbunden mit ausdrücklicher Anerkennung durch die Mitwelt: »Wenn aber der Dichter uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden wir hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust« (1941b, 223).

Der Mehrwert der künstlerischen Produktion gegenüber den Krankengeschichten der therapeutischen Praxis liegt demnach nicht nur begründet in seiner Herkunft (den Dichtenden), sondern auch in seiner Zielrichtung (auf das Publikum). Anders als im diskreten Umgang mit Fantasien werden die von fremdartigen, peinlichen oder auch bedrohlichen Motivationsquellen bestimmten Produktionen der Kunst öffentlich wirksam. Auf diese Abweichung reagiert Freud wie bei der Frage der Autorenschaft mit Interesse und Irritation:

»Wie der Dichter das zustande bringt, das ist sein eigenstes Geheimnis; in der Technik der Überwindung jener Abstoßung, die gewiß mit den Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen Ich und den anderen erheben, liegt die eigentlich ars poetica« (1941b, 223).

6 Kunstwerke verraten zugleich etwas über die Verfasstheit der Rezipierenden

Der Frage nach der Wirkung von Kunst ist Freud nicht systematisch nachgegangen. Zum Erleben von literarischen Texten finden sich – wie im Fall der Gradiva – nur Andeutungen. Doch kann der Kreis etwas weitergezogen werden, wenn man bedenkt, dass Freuds Interesse an Ausdrucksformen der Kunst nicht auf poetische Werke beschränkt blieb. Auch Werke der bildenden Kunst fanden sein Interesse. In der Frage nach dem Ausdruckswert der Kunst spielen insbesondere Psychogramme der Maler und Bildhauer der italienischen Renaissance eine Rolle. Die ausführlichste Studie zur bildenden Kunst widmet Freud im Jahr 1910 Leonardo da Vinci und geht analog zum Vorgehen in der Gradiva von Merkmalen der Werke und ihrem Bezug zum Lebensschicksal des Künstlers aus. Die beiden in Leonardos berühmter Anna Selbdritt-Darstellung den jungen Jesus sichtlich umsorgenden Frauen bringt Freud beispielsweise mit einer Kindheitserfahrung zusammen, die durch die Nähe und Fürsorglichkeit zweier »Mütter« geprägt war. Eine merkwürdig geformte Leerstelle im Bild (in Form eines Geiers) mache auf eine frühkindliche sexuelle Erfahrung des Malers aufmerksam (1943b, 150 und 186ff.).

In seiner Studie zum Moses des Michelangelo aus dem Jahr 1914 ist nun auch ausdrücklich von Wirkungen die Rede (1946b). Anders als in den Studien zur Gradiva und zur Anna Selbdritt spielen frühkindlich-libidinöse Besetzungen in der Künstlerbiografie im Falle von Moses und Michelangelo hier eine untergeordnete Rolle. Fast scheint es, als müsse sich Freud dafür entschuldigen, einmal nicht in der Rolle des Erforschers sexueller Schicksale aufzutreten, sondern nur als »sachkundiger Laie«. Den Beitrag veröffentlicht er in einer analytischen Zeitschrift zunächst anonym. Damit positioniert er sich aber von Anfang an eindeutig auf der Seite des Publikums:

»Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus, insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien. Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise erfassen, d.h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das nicht kann, z.B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig […]« (1946b, 172).

Abbildung 2: Moses

In der Gestalt des anonymen Rezipienten kann Freud das Kunstwerk unbehelligt unter der Zielperspektive seiner Wirkung beschreiben. Statt einer analytischen Deutungskompetenz hat der unbekannte Literat Erlebnisse im Umgang mit dem Kunstwerk zu bieten:

»[I]ch habe von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung erfahren. Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour heraufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich-zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraumes geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat« (1946b, 175).

Wie bei der Gradiva gibt auch der anonyme Rezipient eine minutiöse Beschreibung des Materials, das hier nicht wie in der Novelle als chronologisch erzählte Lebensgeschichte vorliegt, sondern als simultan überschaubare Komposition vor dem Hintergrund der biblischen Erzählung. Der dargestellte Augenblick wird im Folgenden ins Verhältnis gesetzt zum Lebensschicksal der jüdischen Führungsgestalt auf dem Weg ins gelobte Land. Aus kleinsten Anzeichen wird der Augenblick fokussiert, in dem Moses durch die Modellierung des Michelangelo getroffen ist. Anhand der Beachtung von Hand- und Fußstellung, Kopfhaltung, dem Griff der Finger in den Bart, der Position der Gesetzestafeln unter dem Arm korrigiert Freud die bisherigen Einordnungen der Kunstgeschichte und demonstriert, dass die Skulptur keineswegs den erzürnten Führer darstellt, der soeben im Begriff ist, die von Gott erhaltenen Gebotstafeln seinem abtrünnigen Volk vor die Füße zu schleudern. Die Komposition von Körperposition, Blickrichtung und Tafelhaltung zeige vielmehr, dass der Zornausbruch bereits geschehen sei, in dem sich Moses jedoch im Moment höchster Erregung selbst beherrscht habe und nun in wiedergefundener Balance auf seinen Sessel zurücksinke (1946b, 194).

Es ist auch hier wieder der Glaube an die vollständige Sinndetermination aller Geschehnisse, der kein Detail der Darstellung unberücksichtigt lässt. Die in den Moment der Selbstbeherrschung zusammenlaufenden komplexen Motive – Gewaltsamkeit, Aktionsbereitschaft, Weichheit, Liebe, Beherrschung – sind in der Figur gleichsam ineinander geschichtet:

»Eine dreifache Schichtung drückt sich in seiner Figur in vertikaler Richtung aus. In den Mienen des Gesichts spiegeln sich die Affekte, welche die herrschenden geworden sind, in der Mitte der Figur sind die Zeichen der unterdrückten Bewegung sichtbar, der Fuß zeigt noch die Stellung der beabsichtigten Aktion, als wäre die Beherrschung von oben nach unten vorgeschritten. Der linke Arm, von dem noch nicht die Rede war, scheint seinen Anteil an unserer Deutung zu fordern. Seine Hand ist mit weicher Gebärde in den Schoß gelegt und umfängt wie liebkosend die letzten Enden des herabfallenden Bartes. Es macht den Eindruck, als wollte sie die Gewaltsamkeit aufheben, mit der einen Moment vorher die andere Hand den Bart mißhandelt hatte« (1946b, 194).

Was dem Rezeptionserlebnis die Wirkungskraft verleiht, kann wie die Botschaft der Gradiva in einer einzigen Gesamtqualifikation verdichtet werden: Das Werk zeigt »die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, […] das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat« (1946b, 198). Anders als bei der Frage nach der Autorenschaft steht bei der Rezeptionsperspektive nicht der Schluss auf Motive der Kunstschaffenden im Vordergrund, sondern der auf die Verfassung der Beobachtenden. Es ist daher konsequent, dass die Analyse im Fall des Moses nicht auf die Motivierung des Künstlers zielt, und ebenso naheliegend, dass der Autor als Rezipient der Skulptur selbst ins Visier gerät und sich zunächst hinter einem Pseudonym verbirgt – als schütze die Anonymität den Autor symbolisch vor allzu persönlichen Bekenntnissen. Warum das Kunstwerk Freud zur Zeit der Abfassung des Aufsatzes derart in den Bann zog, bleibt ungesagt, es ist aber durchaus bekannt, dass sich Freud – jenseits seiner lebenslangen Identifizierung mit der Moses-Figur – zur Zeit der Ausarbeitung des Aufsatzes stärker in Selbstbeherrschung üben musste als je zuvor. Der Sommer 1913 stand im Zeichen des bevorstehenden Zerwürfnisses mit C.G. Jung, bei dem es ihm kaum mehr gelang, die Fassung zu bewahren (Kraft 2008, 22; vgl. auch Fitzek 2019).

7 Tiefenpsychologische Kunstwirkungsforschung

Am Beginn des psychoanalytischen Interesses an der Kunst steht, wie gesehen, der Glaube an die vielschichtige Sinndetermination der seelischen Gebilde. Träume und Kunstwerke machen aufmerksam auf Motive von Krankenschicksalen – in der therapeutischen Praxis wie in der Kunst – und dort zusätzlich auch auf die Motive der Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden. Neben einer Vielzahl von Krankengeschichten und einer Reihe von Künstlerbiografien lassen sich außer der indirekten Selbststudie im Moses des Michelangelo nur wenige Hinweise auf Wirkungsstudien in der klassischen psychoanalytischen Literatur finden.

In modernen Konzepten einer psychoanalytischen Literatur- (Schönau und Pfeiffer 2003, 34–73) und Kunstpsychologie (Kraft 2008, 3–11) wird die Wirkung von Kunstwerken auf das Publikum durchaus zu den grundlegenden Fragerichtungen der Psychoanalyse hinzugerechnet, allerdings ist die Umsetzung in diesbezügliche Forschungsprogramme nach wie vor selten. Fragestellungen zur Wirkung von schriftstellerischen Werken sind in den empirischen Annäherungen der »tiefenhermeneutischen Kulturanalyse« verschiedentlich unternommen worden (Lorenzer 1986; König 2006). So beruht etwa die Technik des »szenischen Verstehens« auf der Arbeit mit der durch (literarische) Texte initiierten Beunruhigung von Rezipierenden. Kunstpsychologische Wirkungsanalysen tauchen aber auch hier – jedenfalls in der einschlägigen Übersicht über die Breite empirischer Projekte (König 2019, 16f.) – nicht auf.

Angeregt durch die Werke Freuds, aber außerhalb der psychoanalytischen Traditionslinie, bewegt sich das an tiefenpsychologische und gestaltpsychologische Erfahrungen anknüpfende Konzept der »morphologischen Psychologie«, ein in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts von Wilhelm Salber entwickelter Ansatz der empirischen Erforschung von Phänomenen des Alltags und der Kultur (Salber 2009).

Das für die ganze Breite seelischer Erscheinungen entwickelte Konzept kann an dieser Stelle nur grob umrissen werden. Es geht auf Goethes Paradigma einer neuen Wissenschaftsauffassung zurück, die anders als die gängige Praxis der Naturforschung organische Erscheinungen nicht statisch und elementaristisch, sondern dynamisch in ihrem Zusammenhang erfasst: als Gestalt in Verwandlung. Im Sinne einer solchen »Verwandlungslehre« stellte Goethe Pflanzen als Metamorphosen, Knochen als beweglichen Wirbelbau und Farben als polarisierte Brechungen des Lichts dar (Fitzek 1993).

Goethes Morphologie der Natur führte Wilhelm Salber mit Blick auf das Entwicklungsdenken Freuds und der Gestaltpsychologie als »psychologische Morphologie« fort. Ihm zufolge sind auch Erleben und Verhalten nach den Prinzipien von Bildung und Umbildung organisiert. Die psychologische Morphologie geht nicht von menschlichen Individuen und ihren psychischen Funktionen aus, sondern von einem Entwicklungsgeschehen, das sich in Gebilden des Alltags und der Kultur, in Handlungen, Spielen, der Werbung, in Organisationen, in Medien und der Kunst organisiert. Als »Werke in Entwicklung« (Salber 2006, 36) bewegen Handlungen, Werbekampagnen, Filme, Kunstwerke im Sinne einer fortwährenden Formenbildung. Morphologie ist bevorzugt Wirkungsforschung, ihre Untersuchungseinheiten sind die »Wirkungseinheiten« des täglichen Lebens (Salber 2006, 44).

Aus Sicht der Morphologie sind die Wirkungseinheiten des Alltags beherrscht von einer tiefgreifenden, vielfach unbewussten, aber durchgängig sinndeterminierten Dramatik, die sich in den Wirkungseinheiten der Kunst steigert (Salber 1999). Werke der Kunst öffnen Entwicklungsspielräume für die vielschichtige Dynamik des Erlebens. Rezeptionsprozesse von Kunstwerken sind deshalb bevorzugte Untersuchungsgegenstände in der morphologischen Forschungstradition. Beispielhaft liegt eine Reihe von Promotionsprojekten vor: zu Vincent van Goghs Une Paire de Chaussures (Heiling 2011), zu Goyas Schwarzen Bildern (Zwingmann 2019) wie auch zum Narziss des Caravaggio (Hodde 2021). Anders als individualisierende Forschungsmethoden – wie Traumdeutung oder Psychologie von Künstlerinnen und Künstlern – kann sich die morphologische Kunstpsychologie jeweils auf eine Vielzahl von empirischen Belegen stützen.

Vorausgesetzt sind günstige Bedingungen dafür, die Kunst möglichst ungestört zur Wirkung zu bringen. Morphologische Wirkungsforschung setzt die gründliche Auseinandersetzung einer Vielzahl von Rezipierenden mit den betreffenden Kunstwerken voraus. Auf eine ausgedehnte persönliche Beschäftigung mit den Kunstwerken folgen in jedem Fall mehrstündige Tiefeninterviews, in denen die Wirkung in all ihren Aspekten nachvollzogen und dokumentiert wird. Jedes Interview wird anschließend von den Forschenden entsprechend seiner morphologischen Struktur (nach dem, was passt, was sich fortsetzt, ergänzt, was sich polarisiert, widerspricht und somit ein spezifisches Wirkungsmuster erkennen lässt) beschrieben und die verschiedenen Interviewbeschreibungen in einem weiteren methodischen Schritt über alle Befragten hinweg vereinheitlicht. Die vereinheitlichende Beschreibung der Tiefeninterviews stellt den zentralen methodischen Schritt der morphologischen Auswertung des Interviewmaterials dar (Fitzek 2020).

8 Die Sieben Himmelspaläste: Eine morphologische Kunstwirkungsstudie

Ich möchte an dieser Stelle ausführlicher auf eine morphologische Untersuchung eingehen, die derzeit mit Besucherinnen und Besuchern des HangarBicocca in Mailand durchgeführt wird und sich Anselm Kiefers raumgreifender Installation Die Sieben Himmelspaläste widmet (Kiefer 2018). Reizvoll daran ist insbesondere, dass es sich bei dem seit knapp zehn Jahren dauerhaft in der Halle eingerichteten Werk um eine begehbare Gesamtkomposition verschiedener Bau- und Bildwerke in einer großen Halle handelt. Der Hangar präsentiert sich als nur durch einzelne Spotlights ausgeleuchtete, weitgehend leere Halle, in der sieben aus unregelmäßigen und unvollständigen Betonquadern aufeinandergeschichtete Türme unregelmäßig im Raum verteilt sind, flankiert von vier großflächigen Bildwerken an einer Längsseite und einem Bildwerk an der Stirnseite der Halle. Die Rezipierenden einer ersten Explorationsgruppe hatten 60 Minuten Zeit, die Wirkung des Werks zu erkunden. Sie konnten sich nach ihren eigenen Bedürfnissen frei im Raum bewegen und hatten lediglich die Vorgabe, sich während der Begehung Notizen über ihr Erleben zu machen, die in den anschließenden Tiefeninterviews als Erinnerungshilfe fungieren konnten.

Abbildung 3: Die Sieben Himmelspaläste

Im Anschluss an die Begehung hatten die Befragten Zeit dafür, ihre persönlichen Beobachtungen während des Ausstellungsbesuches festzuhalten. Anders als Fragestellungen zur Persönlichkeit der Kunstschaffenden zielen wirkungspsychologische Untersuchungen nicht auf die Persönlichkeit der Rezipierenden, sie gehen aber vom Einzelmenschen aus und gelangen von da aus erst allmählich zu personenübergreifenden Wirkungsstrukturen. Morphologische Wirkungsstudien beginnen mit persönlichen Interviews und modellieren daraus in einer Reihe methodischer Schritte eine werkspezifische Bildproblematik heraus. Es kann nicht verwundern, dass in unserer Untersuchung zunächst der individuelle Zugang zur ausgestellten Kunst ins Auge sprang (wörtliche Zitate aus den Interviews erfolgen im Folgenden in Parenthese).

Einer der Besucher berichtete davon, wie er schnurstracks in die Mitte der Halle ging und sich aussuchte, womit er sich beschäftigen wollte. Vier von den sieben Türmen wurden erst einmal (mental) abgeräumt, zugleich verschwanden auch die Bilder an der Seitenwand. Die drei (verbliebenen) Türme kamen ihm vor wie »Teile eines Heiligtums«, eines »Ehrfurcht gebietenden Tempels«, die ihn selbst eher klein aussehen ließen. Das konnte durch einen eiligen Stellenwechsel ans Ende der Halle behoben werden. Hier suchte er die Nähe zu dem auf dem Wandbild dargestellten »Götterzertrümmerer«, der sich mit breitem Rücken vom Betrachter abwendet und nach vorn blickt. Ihm gab es die Sicherheit, sich selbst umzuwenden und vom Ende des Weges »mit Selbstvertrauen« zurückzuschauen und sich jetzt selbst entscheiden zu können, was ihm heilig ist und was er an seiner persönlichen Situation ändern will.

Ein anderer fühlte sich »wie eine Maus«, die durch ein kleines Loch ins Gebäude geschlüpft ist und sich erst einmal an der Wand entlang bewegt. Weniger schleunig und weniger entschieden ging er von da aus »im Zickzackkurs« durch die Halle, entdeckte immer neue Gegenstände und löste dabei Stück um Stück die Rätsel, die durch die Bauten und Bilder aufgegeben sind: Was hat es mit der Baufälligkeit der Türme auf sich? Ist die ins zweite Bild montierte Waage funktionstüchtig? Was sollen die Zahlen im folgenden Bild, was die umgekehrte Pyramide? Das hatte für ihn zugleich etwas von »kindlicher Entdeckerfreude« wie auch von der Unruhe, das Ganze ohne Hilfestellung nicht zusammen zu bekommen. Auch hier wurde das Abschlussbild zur Probe darauf, sich selbst im Ganzen zu verorten. Als Neugieriger, Suchender und Sich-Reflektierender konnte er mit größerem Vertrauen den Rückweg antreten, allerdings blieben letztlich »alle Fragen offen«.

Eine Rezipientin löste sich im Interview von der Nacherzählung des Gangs durch die Installation. Sie befreite sich bei ihrer Erkundung auch von den mitgegebenen Regeln und ging (verbotswidrig) in mehrere Türme hinein, befühlte dort die Wände, die ihr überraschend glatt erschienen, und schaute durch die Durchbrüche der Böden in die verschiedenen Stockwerke, die ihr von innen »wie angeknabberte Kekse« vorkamen. Die Türme gaben ihr Gelegenheit, unsichtbar für andere »in ihre eigene Vergangenheit einzutauchen«, die ihr genauso fragil und gefährdet erschien wie das, was hier aufgebaut ist. Davon war sie beeindruckt, zugleich aber bedrückt durch die Konfrontation mit ihrer eigenen Geschichte.

Die Begehungen des Kunstwerkes folgen keinem offensichtlichen Muster. Hieran zeigen sich indessen nicht nur individuelle Unterschiede, hier zeigt sich auch eine erste Gemeinsamkeit der Kunsterfahrung. Das Kunstwerk verunsichert. Übliche Orientierungen entfallen. Was die Navigation in Kunstausstellungen üblicherweise erleichtert, fehlt hier: keine hell ausgeleuchteten Flure, von denen größere oder kleinere Räume abzweigen, keine dichte Hängung von Bildwerken an den Wänden, keine Zugangskorridore zu den Türmen, keine klärenden Wegweiser und Etiketten.

Schon der Eintritt in die Halle wirkt befremdlich. Aus dem tageslichtbeschienenen, gartenartigen Areal schlüpft man durch ein »Loch in der Wand« in eine großräumige, dunkel schimmernde Halle, in der zunächst nichts weiter auffällt als das Nebeneinander von filigran gestalteten, dabei baufällig zu Türmen gestapelten Betonquadern. Außer den wie »wahllos im Raum verteilten« Türmen sind vier längsseitig angebrachte große Wandbilder in Erdtönen zu entdecken, an der Stirnseite der Halle ein von einem Regenbogen überspanntes Landschaftsbild. Die befremdliche Wirkung der Gesamtkomposition ist geprägt von der Unwirtlichkeit der »kahlen«, unbeheizten Halle, einer subtilen Lichtführung durch vereinzelt aufleuchtende Scheinwerfer und Spotlights und von hintergründig bemerkbaren, »knarzenden Geräuschen«. Die Rezipierenden fühlen sich in der Halle als Akteure einer Szenerie, in der die Regeln sinnvoller Fortbewegung aufgehoben scheinen: Woran orientiere ich mich bei meinem Gang durch die Halle? Handelt es sich um ein Kunstwerk oder sind es mehrere? Wie nahe darf ich den Bauwerken kommen? Darf ich sie berühren, hineingehen? Wer ist hier drinnen Besucher? Wer ist Aufseher?

9 Gebaute Träume – Gesamtqualifikation der Kunstwirkung

Der befremdliche Zugang zum Kunstwerk macht auf eine die Interviews übergreifende gemeinsame Wirkungsstruktur aufmerksam: Das Kunsterleben hat bei allen Teilnehmenden an der Kunstexploration zugleich Bauliches wie auch Traumartiges. Den Teilnehmenden fällt zum einen das Material auf, aus dem Türme (Massives wie Beton, aber auch Fragiles wie Papier oder Pappe), Bilder (raue Oberflächen, eingearbeitete Metallteile) und in den Raum gestreute Artefakte (Glas, Steine, Scherben) bestehen. Die imponierende Größe der Türme wird erörtert wie auch ihre unübersehbare Baufälligkeit. Groß ist der Wunsch, anzufassen, abzutasten, einzudringen. Kaum einem bleibt es erspart, den Warnton der Gemälde oder die Anrufe durch die Wärter auszulösen.

Im Zusammenhang mit der stofflichen Qualität der Ausstellung erwähnen die Teilnehmenden, dass sie in eine »andere Welt« geraten, die stark von sinnlichen, bildlichen Reizen geprägt ist. Nicht nur der Zugang in die Installation und die insgesamt düstere Gesamtatmosphäre erinnern die Erlebenden an den Eintritt in Träume. Traumartig ist auch das Schwanken zwischen dem Glänzenden, Erhabenen der Gesamtanlage und ihrem offenkundigen Verfall, der an verwunschene »Tempel« oder gleich »an die gegenwärtige Zerstörung in der Welt« denken lässt. Es fallen Bemerkungen wie »unwirklich«, »rätselhaft«, »dystopisch«. Wie im Traum verbinden sich Erinnerungen (an »vergangene Kulturen«) und Vorahnung (»was aus der Welt werden mag«) und rufen dabei persönliche, oftmals ambivalente Assoziationen hervor. Die Rezipierenden erinnern sich an ihre eigene Kindheit, an verpasste Chancen und offene Wünsche. Über die Türme öffnen sich »Schächte« in die eigene Vergangenheit, die Bilder werden zu »Ansichten« von dem, was im Leben möglich und erreichbar wäre.

Anders als bei Freud bleibt Traumartiges in den Himmelspalästen Metapher. Die Besucherinnen und Besucher vergessen durchaus nicht, dass es sich in der Halle um reale Bauten handelt und nicht um nächtliche Fantasien. Traumartig verrücken sich hier im Vor- und Zurückschreiten die Blickwinkel und Sichtachsen, wodurch Halle, Bilder, Bauten und die sie durchwandernden Personen ineinander übergehen. Mit ihren Bewegungen durch die Halle kreieren die Besucherinnen und Besucher einen persönlichen Wirkungsraum, den sie mehr oder weniger explizit mit der Art ihrer Lebensorientierung zusammenbringen: als jemand, der »immer eine zentrale Stellung bevorzugt«, der gerne voranschreitet oder »lieber am Rande operiert«, sich umwendet oder »die Seiten wechselt«.

Mit dem Stichwort »gebaute Träume« kann gefasst werden, dass die Durchblicke und Wegstrecken in der Wirkung auf das Publikum nach und nach biografisch aufgeladen werden. Die »bauliche« Beteiligung der Rezipierenden, ihr Anhalten, Weitergehen, Nähe Suchen, Distanz Schaffen, Vorausblicken und Zurückschauen entwickelt Bezüge zu persönlichen Erinnerungen, Sehnsüchten, Erwartungen an die eigene Zukunft. Es kommt zu anrührenden Verschränkungen zwischen Objekten und Selbsterfahrung, wenn z.B. der verbotene Eintritt in die Türme an den versperrten Zugang zur eigenen Lebensgeschichte erinnert, die Spuren der Zerstörung mit eigenen Schwachpunkten und der Notwendigkeit einer Korrektur korrespondieren oder die Umkehrung am Ende der Halle daran, dass man selbst weite Wege zurückgelegt hat und es Zeit für eine Wendung wäre. Gerade das »Wendebild« an der Stirnseite der Halle macht auf die Chance aufmerksam, den Rückweg durch die nun bereits vertraute Architektur mit einer kontrollierten Positionierung zu verbinden. Dabei wird in einem wesentlich breiteren Rahmen erlebbar, wie Spielräume bei der Übernahme von Verantwortung für sich und das große Ganze nutzbar sind.

10 Psychoanalyse und Morphologie

Wie bei Freud stützt sich der Ansatz der morphologischen Wirkungsforschung auf den »Glauben« an eine alle bewussten und unbewussten Motive zusammenführende durchgängige Sinndetermination des Erlebens. Sie erscheint bei Anselm Kiefers Rauminstallation in der Grundqualität von »gebauten Träumen« und erinnert in ihrem methodischen Stellenwert an die von der Psychoanalyse herausgestellten Wirkungsqualitäten von Kunstwerken wie die früherotische Aufladung der Gradiva-Fantasien und den gebändigten Zorn des Moses. Freud war es bei der Charakterisierung von Kunstwerken letztlich um die Einbettung in Lebensschicksale und die Aufdeckung von personalen Motiven der Kunstfiguren oder Kunstschaffenden gegangen. In der Verankerung ästhetischer Sinnzusammenhänge in biografischen Motiven fand er einen Ziel- und Endpunkt der Rekonstruktionsarbeit und damit einen Ausweg aus der Unendlichkeit des hermeneutischen Zirkels.

Anders als bei Freud zielt die morphologische Beschreibung nicht auf persönliche Lebensschicksale und individuelle Motive, sondern auf Dimensionen einer überpersönlichen Wirkungsstruktur. Die wirkungspsychologische Arbeit im HangarPirelli ist derzeit noch im Gange. Sie wird im Zuge weiterer Tiefeninterviews eine zunehmend verdichtete Gesamtdarstellung der Erlebenszusammenhänge leisten und dabei durchgängig in der Beschreibungssprache verbleiben. Dem hermeneutischen Kreiseln entgeht die morphologische Beschreibung dadurch, dass die Beschreibungsarbeit als Entwicklungswerk konzipiert ist, das sich spiralförmig in vier Wendungen vorwärtsbewegt. Auf die Darstellung der »Grundqualität« (1. Version, s.o.) folgt – in gewisser Analogie zu Freuds geschichteten Motivkomplexen – die Erarbeitung von grundlegenden Spannungsverhältnissen (2. Version: »Wirkungsraum«), anschließend wird ein charakteristischer Problemkern der Formenbildung identifiziert (3. Version: »Verwandlungsmuster«), für dessen Behandlung im Rahmen der vereinheitlichenden Beschreibung schließlich idealtypische Lösungsformen modelliert werden (4. Version: »Lösungstypen«). Die methodischen Versionen sind die Konstanten aller morphologischen Forschungsprojekte, die Momente von Beschreibung und Rekonstruktion miteinander verschränken. Sie sind in der Literatur zur morphologischen Methode vielfach dargestellt (Fitzek 2020, 2023).

Eine Besinnung auf 150 Jahre Traumdeutung lohnt sich schon deshalb, weil die Impulse Freuds für die wissenschaftliche Psychologie mehr sind als Gründungsfolklore. Die Überführung der scheinbar unsinnigen Träume in sinnhaltige Ausdrucksfelder einer unbewussten Produktion war ihm ein Hauptanliegen der Psychoanalyse. Von ihnen her kamen Dichtung und Kunst als Darstellungsmedien von Träumen und als Ausdrucksfelder mit eigenem psychologischem Profil ins Spiel. In der morphologischen Psychologie nimmt die Kunst eine noch breitere Rolle ein, weil Kunstwerke nicht nur persönliche Problematiken repräsentieren, sondern eine überindividuelle Wirkung auf eine Vielzahl von Rezipierenden ausüben. Für die Morphologie ist die Kunst der Königsweg zum Psychischen, weil sie, was immer dargestellt ist, das Erleben des Publikums zu komplexen Werkverdichtungen anregt. Als Wirkungsforschung geht sie wie Freud von der durchgängigen Sinndetermination aller seelischen Äußerungen aus und arbeitet mit freiem Einfall und zerdehnenden Interviews. Damit sieht sie sich ausdrücklich in der Nachfolge des Jubilars und seines epochemachenden Werkes.

Literatur

Fitzek, Herbert. 1993. Der Fall Morphologie. Biografie einer Wissenschaft. Bonn: Bouvier.

Fitzek, Herbert. 2019. »›Plötzlich durch Michelangelo verstanden‹ – Psychologische Sicht auf ein Kunstwerk und seine Wirkungsgeschichte«. In Angewandte Psychologie. Beiträge zu einer menschenwürdigen Wissenschaft, hrsg. von Daniel Süss und Claude Negri, 93–109. Wiesbaden: Springer VS.

Fitzek, Herbert. 2020. »Morphologische Beschreibung«. In Qualitative Forschung in der Psychologie. Ein Handbuch, Bd. 2: 711–729, hrsg. von Günther Mey und Katja Mruck. Wiesbaden: Springer.

Fitzek, Herbert. 2022. »Beschreibung als Gegenstandsbildung«. In Kulturpsychologie – Eine Einführung, hrsg. von Uwe Wolfradt, Lars Allolio-Näcke und Paul S. Ruppel, 269–279. Berlin: Springer Nature.

Freud, Sigmund. 1941a [1907]. »Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹«. In GW VII, 29–125. London: Imago.

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Freud, Sigmund. 1943a [1909]. »Über Psychoanalyse«. In GW VIII, 3-60. London: Imago.

Freud, Sigmund. 1943b [1910]. »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«. In GW VIII, 127–211. London: Imago.

Freud, Sigmund. 1943c [1912]. »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«. In GW VIII, 376–387. London: Imago.

Freud, Sigmund. 1946a [1914]. »Erinnern, Durcharbeiten, Wiederholen. Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«. In GW X, 126–136. London: Imago.

Freud, Sigmund. 1946b [1914]. »Der Moses des Michelangelo«. In GW X, 172–201. London: Imago.

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Heiling, Hans-Christian. 2011. Abgang. Psychologisches Bilderleben – eine wirkungspsychologische Untersuchung zu Vincent van Goghs »Schuhe«. Dissertation: Universität zu Köln.

Hodde, Johanna. 2021. Ein Bild und sein Doppelgänger. Zur Medialität der Narziss-Darstellung von Caravaggio. Bielefeld: transcript.

Kiefer, Anselm. 2018. The Seven Heavenly Palaces, hrsg. v. Giovanna Amadasi. New York: Mousse Publishing.

König, Hans-Dieter. 2018. »Dichte Interpretation. Zur Methodologie und Methode der Tiefenhermeneutik«. In Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Forschung, hrsg. von Julia König, Nicole Burgermeister et al., 13–86. Wiesbaden: Springer VS.

Kraft, Hartmut, Hrsg. 2008. Psychoanalyse, Kunst und Kreativität. 3. Aufl. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

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Salber, Wilhelm. 2006. Wirkungseinheiten. 3. Aufl. Bonn: Bouvier.

Salber, Wilhelm. 2008. Morphologie des seelischen Geschehens. 3. Aufl. Bonn: Bouvier.

Schlagmann, Klaus. 2012. Gradiva. Wahrhafte Dichtung und wahnhafte Deutung. Der vollständige Briefwechsel von Wilhelm Jensen und Sigmund Freud, Erläuterungen zu Jensens Novelle »Gradiva« und ihrer Interpretation durch Freud. Saarbrücken: Der Stammbaum und die 7 Zweige.

Schönau, Walter und Joachim Pfeiffer. 2003. Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler.

Schuster, Martin. 2000. Kunstpsychologie. Schönheit – Bildkommunikation- Kreativität. Hohengehren: Schneider.

Zwingmann, Björn. 2019. Begegnung mit dem Ungeheuren: Selbsterfahrungsprozesse mit Goyas Schwarzen Bildern. Berlin: HPB University Press.

Abbildungsnachweise

Abbildung 1: Unbekannter Künstler, Gradiva, Rom, Chiaramonti-Museum, Inv. Nr. 1284; Foto: Herbert Fitzek

Abbildung 2: Michelangelo, Moses – Marmorskulptur, Basilica San Pietro in Vincoli, Rom; Foto: Herbert Fitzek

Abbildung 3: Anselm Kiefer, I Setti Palazzi Celesti – Rauminstallation, HangarPirelli, Mailand; Foto: Herbert Fitzek

Der Autor

Herbert Fitzek, Prof. Dr., ist Professor für Wirtschafts- und Kulturpsychologie am Campus Berlin der BSP Business & Law School und leitet den wissenschaftlichen Beirat der Hochschule. Er ist psychologischer Psychotherapeut und lehrt und forscht in den Bereichen Qualitative Methoden, Organisationsentwicklung, Analytische Intensivberatung und Kunstcoaching. Er engagiert sich in nationalen und internationalen Projekten und Kooperationen und hat zehn Monografien sowie zahlreiche Kongressbände, Aufsätze und Buchbeiträge herausgegeben.

Kontakt: herbert.fitzek@businessschool-berlin.de