Christian Arnezeder
Journal für Psychologie, 32(2), 7–22
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2024-2-7 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deDie Traumdeutung stellt nicht nur ein Kernstück der Psychoanalyse von Sigmund Freud dar, sondern wirkt neben zahlreichen Einflüssen in Kunst und Kultur auch als Ausgangspunkt für viele weitere Entwicklungen in der psychoanalytischen Theorie und Technik. Freud hat die Wunscherfüllung und die Verarbeitung von Tagesresten als wichtige Absicht der Traumproduktion verstanden, die es zu deuten gilt. Ein wenig beachteter Aspekt der Traumdeutung ist die Frage der Identität der im Traum agierenden Personen. Freud selbst beschreibt in der Traumdeutung bereits Identifizierungsfiguren und Mischpersonen, und C. G. Jung hält eine Subjekt- von einer Objektstufe auseinander. Die Objektbeziehungstheorie, insbesondere von Otto Kernberg, unterscheidet zwischen Subjekt- und Objektrepräsentanzen und den dazugehörigen Affekten als Bauteilen des Selbst. Welche Identität der Träumer selber einnimmt oder seine Traumfiguren einnehmen lässt, bringt unbewusste Aspekte des Träumers und seiner Identitäten zutage. Diese helfen ihm nicht bloß in seiner Selbstfindung und Entwicklung, sondern erweitern das Verständnis der Identität.
Schlüsselwörter: Traum, Freud’sche Traumdeutung, Identität, Selbst, Unbewusstes, Objektbeziehungstheorie
This Is Me?
Dreaming and Unconscious Identities
The interpretation of dreams not only represents a core part of Sigmund Freud’s psychoanalysis, but also acts as a starting point for many further developments in psychoanalytic theory and technique itself, in addition to numerous influences in art and culture. Freud understood wish fulfillment and the processing of the day’s leftovers as an important intention of dream production that needs to be interpreted. One aspect of dream interpretation that has received little attention is the question of the identity of the persons acting in the dream. Freud himself already describes identification figures and mixed persons in his interpretation of dreams, and C. G. Jung distinguishes a subject level from an object level. The object relation theory, especially by Otto Kernberg, distinguishes between subject and object representations and the corresponding affects as components of the self. Which identity the dreamer assumes or lets his dream figures assume brings unconscious aspects of the dreamer and his identities to light. These not only help him in his self-exploration and development but let the understanding of the identity be further grasped.
Keywords: dream, Freudian dream interpretation, self, identity, unconscious, object relations theory
Noch nach weit mehr als einem Jahrhundert regt die Traumdeutung von Sigmund Freud (1900a) viele Weiterentwicklungen in Theorie und Praxis der Psychoanalyse an. Wie auch andere, besonders seine klinischen Werke zeichnet sich die Traumdeutung durch damals ungewöhnliche Denkansätze aus. Mit ihr schafft Freud auf der Grundlage bisheriger Auseinandersetzungen mit einzelnen Phänomenen des Menschen und der Gesellschaft neue Sichtweisen und lässt bis dahin noch wenig Verstandenes verständlich werden. In seiner Traumdeutung eröffnet Freud auf der Grundlage einzelner Vordenker wie Schopenhauer und Nietzsche (Gödde 1999) der Psychoanalyse einen Zugang zum Unbewussten und nach ersten Falldarstellungen Jahre zuvor ein weitergehendes Verständnis für neurotische Störungen, indem die sie verursachenden, weil ungelösten Konflikte auch im Traum gesehen und verstanden werden. Ganz wesentlich sieht Freud in diesem Sinne den Versuch einer Wunscherfüllung (1900a, 127) wie auch die Bearbeitung von Tagesresten (1900a, 568) als Motivation zur Bearbeitung von Konflikten im Traum an. Er macht dabei in verschiedenen Grundzügen und Traumbeispielen kenntlich, wie Träume, deren Inhalte und Ablauf etwas über den Träumer1, sein Leben, seine psychische Verfassung und insbesondere Wünsche und Konflikte aussagen können, wenn sie nur richtig gedeutet und verstanden werden. Das zeigt bis heute seine Auswirkungen (Arnezeder 2021).
Es stellt sich nun die Frage, wie wir den Träumer selber denn verstehen, der im Traum immer wiederkehrt, was also die Träume ihm und uns über ihn und seine Person sagen: wie er selber ist, war und sein könnte. Die Bedeutung des Selbst und der Identität für das Träumen und die Traumdeutung ist nicht neu, gerade aus der Selbstpsychologie heraus wie bei Kohut (1981) und Grunert (1977, 1982). Es bleibt aber bei diesen Überlegungen unbestimmt, wie Selbst und Identität genau in ihrem Aufbau und Wesen gedacht werden, sich auf den Traum auswirken und wie der Traum wieder auf sie zurückwirkt. Der Träumer, wer er im Traum ist und was das aus ihm macht, soll genauer betrachtet werden, weil er im Traum – wie die Wünsche und Konflikte – ganz zentral und regelmäßig erscheint. Nur weil eine bestimmte Person im Traum vorkommt, diese im Traum etwas macht oder erlebt, lässt das noch nicht sofort auf den Träumer und sein Verständnis von sich schließen.
Selbst und Identität sind wie Träume lebendig, vielfältig und schwer zu fassen. Das zeigt sich auch in einer Vielzahl von Theorien (Abels 2010) und erschwert das Verständnis ihrer Einordnung und ihres Zusammenspiels. Ein Ansatz der Ausdehnung und Weiterentwicklung von Selbst- und Identitätsbildung auf die Objektbeziehungstheorie soll deswegen zum besseren Verständnis angegangen werden. Schon Freud hat in seiner Traumdeutung Identifizierung und Identität von Personen angesprochen und untersucht, was aber in der Folge bis heute eher wenig Beachtung gefunden hat.
»Es ist leicht zu verstehen, inwiefern diese Darstellung durch Identifizierung auch dazu dienen kann, die Widerstandszensur zu umgehen, welche die Traumarbeit unter so harte Bedingungen setzt. Der Anstoß für die Zensur mag gerade in jenen Vorstellungen liegen, welche im Material mit der einen Person verknüpft sind; ich finde nun eine zweite Person, welche gleichfalls Beziehungen zu dem beanstandeten Material hat, aber nur zu einem Teil desselben. Die Berührung in jenem nicht zensurfreien Punkte gibt mir jetzt das Recht, eine Mischperson zu bilden, die nach beiden Seiten hin durch indifferente Züge charakterisiert ist. Diese Misch- oder Identifizierungsperson ist nun als zensurfrei zur Aufnahme in den Trauminhalt geeignet, und ich habe durch Anwendung der Traumverdichtung den Anforderungen der Traumzensur genügt« (Freud 1900a, 326f.).
Demzufolge tritt zur Beschwichtigung der Traumzensur nur eine der durch ein Gemeinsames verknüpften Personen im Traum als Identifikationsfigur in Erscheinung, während eine zweite oder mehrere weitere Personen – weil anstößig – verdrängt und unbewusst bleiben. Derweil umfasst diese eine bewusste Person wesentliche Aspekte aller dieser miteinander verbundenen Personen. Bei der Mischperson dagegen werden im Traumbild mehrere Eigenschaften von verschiedenen Personen zu einer ganz neuen, dafür aber bewusstseinsfähigen Person zusammengefügt. Bei einer solchen Unterscheidung von bewussten und nicht bewussten Personen klingt die schon bekannte Abgrenzung von latentem zu manifestem Trauminhalt an. Während Freud in seinen Ausführungen von mehreren Personen als ganzen spricht, die sich im Traum überdecken oder zu einer neuen fügen können, wird in diesem Zusammenhang nun von unterschiedlichen Teilen einer einzelnen Person im Sinne von Identitäten, besser noch Teilidentitäten gesprochen, die sich zusammensetzen, verdichten, vertreten oder teilen lassen können. Ohne solche Veränderungen der Identität zwecks Irreführung der Traumzensur besteht nämlich die Gefahr, dass die Traumzensur eingreift und unerwünschte Traumgedanken ins Unbewusste verdrängt oder dort behält. Eines aber bleibt gleich: die Umgehung der Traumzensur als Zweck der verschiedenen Identitäten und ihrer Teile sowie das Potenzial der Weiterentwicklung durch ein Deuten und Verstehen der Identitäten im Traum. Inwiefern der Traumzensor sich neuropsychologisch eingrenzen und festmachen lässt (Boag 2006), tritt hinter die Frage zurück, wie denn die Traumarbeit mit der Zensurgefahr umgeht, bedenkliche psychische Inhalte verdrängt und unbewusst hält, und wie die Traumdeutung mit den im Traum wieder aus dem Unbewussten auftauchenden Anteilen der Identität Veränderung und Entwicklung ermöglichen kann.
Einen frühen theoretischen Ansatz, Personen in einem Traum nicht nur als solche zu sehen und zu verstehen, wie sie geträumt werden, sondern sie auch unter dem Aspekt einer unterschiedlich zu sehenden Identität zu betrachten, liefert Carl Gustav Jung (1921). Er trennt eine Objektstufe, wo die einzelnen Personen im Traum tatsächlich dasjenige darstellen, als was sie im Traum in Erscheinung treten, von einer Subjektstufe, wo die verschiedenen Personen im Traum nicht sich selbst, sondern verschiedene Aspekte des träumenden Selbst ausdrücken. Aufgrund der Überdeterminiertheit der Träume, wo die einzelnen Erscheinungen jeden Traumes mehrere Bedeutungen gleichzeitig annehmen dürfen (Freud 1900a, 289), können Selbst- und Objektstufe zugleich auch in ein und demselben Traum als unterschiedliche Sichtweise zur Anwendung gelangen und so mehrere Aussagen über den Träumer wie auch andere Personen gleichzeitig im Traum transportieren.
Fragen der Identität nehmen im Alltag der Menschen mehr und mehr Platz ein. In einer komplexer werdenden Welt mit vielfältigen, oft schwer zu durchschauenden und nur mühsam verstehbaren Zusammenhängen beschäftigt viele die Frage, wer man denn selber inmitten dessen sei, gewesen wäre und werden könne. Früher noch nicht übliche Änderungen und Umgestaltungen des Selbst und der Identität durch vermehrte Möglichkeiten der Autonomie und Selbstbestimmung – wie etwa bei der freien Wahl des Geschlechts – tragen ebenso zur Vielfältigkeit der Lebensumwelt bei, die individuell bewältigt werden will: »Die Pluralisierung der Lebenswelten verbündet sich mit der Vorstellung, daß der Mensch sich selber autorisiere und seine eigene Lebenswelt erschaffe« (Bohleber 1999, 511).
Psychoanalyse und Psychologie beschäftigen sich eingehend mit diesen zunehmenden Komplexitäten der menschlichen Lebenswelten. Selbst und Identität als Begrifflichkeiten werden in der psychologischen und psychoanalytischen Literatur dabei reichlich, aber meist unterschiedlich verwendet. Das Selbst als Konzept der Psychoanalyse (Arnezeder 2020) umfasst die Ganzheit des Menschen und ist als eine Erweiterung seines Ich zu sehen, das neben Über-Ich und Es einen Teil des psychischen Apparates im Strukturmodell von Freud (1923b) darstellt und vor allem seine psychischen Funktionen beschreibt. Das Selbst umfasst dagegen mehr, nämlich alle körperlichen und psychischen Aspekte der Menschen, auch ihre Identitäten und sozialen Rollen. In der Psychologie wiederum beschreibt das Selbst einen Punkt des Rückbezuges auf sich selber, vor allem in Bezug auf Denken und Handeln, sodass es der Bedeutung der Person schon recht nahesteht. Es kommt in der Psychoanalyse wie auch in der Psychologie dem Selbst jedenfalls kein Substrat zu und auch keine räumliche Ausdehnung, die sich beobachten oder gar ausmessen ließe: »Das seelische Innen kennt die Kategorie des Raums nicht, seine Inhalte sind unkörperlich und daher raumlos« (Fetscher 1983, 395).
Das Selbst ist somit nicht empirisch über tatsächliche Wahrnehmung, sondern konzeptionell in Theorien zu fassen und zu erörtern, was durch Theoretiker in den unterschiedlichen psychoanalytischen Schulen verschiedentlich geschieht. Wegen dieser Vielfalt wird es gelegentlich wieder postmodern dekonstruierend infrage gestellt, sodass schon »von der Auflösung der Identität und dem Tod des Subjektes« (Bohleber 1999, 517) gesprochen wird. Psychologie und Psychoanalyse, die sich als Wissenschaften mit den Menschen und ihrer Lebenswelt beschäftigen wollen, benötigen aber Begriffe und Konzepte, um das zu fassen, was uns Menschen im Alltag verständlich und nachvollziehbar erscheint und unseren Erfahrungen entspricht: dass wir wer sind, einen gleichbleibenden Kern besitzen und trotzdem Veränderungen unterliegen. Im Sterben, so stellen wir es uns je nach Glauben vor, hören wir auf zu sein oder gehen vielleicht sogar in eine neue Existenz anderswo über.
Dieses subjektive Wahrnehmen eines persönlichen Mittelpunktes gilt auch für den Begriff der Identität: das mit sich selbst identische Selbst, das mit sich innerlich eins und gleich (Erikson 1956, 115) bleibt und nicht wie die anderen ist. Vielleicht lässt sich das so in Sätzen ausdrücken:
Was wir in unserem Verständnis dagegen nicht sind, zeigt eine Verkehrung ins Gegenteil:
Wir haben also den Eindruck, dass wir im Kern als Selbst über lange Zeit hinweg gleichbleiben und uns das ausmacht. Das kann alltagspsychologisch Identität bedeuten: Jemand bleibt über die Zeit mit sich selbst gleich, also identisch (Strauß und Zifonun 2002, 168). Diese Identität beizubehalten, ist nach Lobner (1986) eine wesentliche Aufgabe und Funktion des Träumens, um jetzt wieder zum Traum zurückzukehren:
»Über die bekannten, immer wieder bestätigten Funktionen hinaus dient der Traum der Einfügung bestimmter Erlebnisse des vergangenen Tags in das System der bleibenden Erinnerungen; gemeint ist jener Stammbaum von affektiv bedeutsamen, nach ihrem typischen Affektverlauf geordneten früheren Erlebnissen, die im ganzen, subjektiv gesehen, die Persönlichkeit ausmachen. Das heißt, auf diese Weise würde der Traum die Kontinuität der in der Welt der Selbst -und Objektrepräsentanzen, somit auch des eigenen Lebenslaufes und des Identitätsgefühls aufrecht erhalten. Er würde garantieren, daß wir im täglichen Zustrom neuer Erlebnisse, Situationen und Daseinsbedingungen immer noch wir selbst bleiben können, und daß wir uns gleichzeitig, mit wachsender Lebenserfahrung, entwickeln, ohne uns in der Falle einer statischen Stagnation zu verfangen, oder – im anderen Extremfall – ohne daß wir uns selbst in einer stets anderen Umwelt, die wir mitverändern und in der auch wir stets anders sind, nicht mehr wiedererkennen und uns verlieren« (Lobner 1986, 39f.).
Ohne Widerspruch zu so gesehenen Aufgaben des Träumens weicht von dieser Sichtweise eines aufrechtzuerhaltenden Selbst und einer gleichbleibenden Identität der vorliegende Zugang vorläufig einmal ab, indem deren Veränderungen ins Auge gefasst werden. Das Selbst wird nach wie vor nicht als verdinglichte Einheit verstanden, die sich leicht fassen und qualitativ in Charakterzügen (Bohleber 1999, 518) festlegen ließe. Es erscheint mehr als »Phantasma«, welches »das Selbst als eine psychische Konstruktion und als einen Erzeuger von Bedeutungen« zwecks nachfolgender Identitätsbildung und Identitätsarbeit sieht (Bohleber 1999, 516). Neben der synthetischen, also zusammensetzenden Funktion des Ich (Fetscher 1983) und dem Erzählen der eigenen Geschichte in der Autobiografie (Bruner 1999) leistet auch der Traum mit Beiträgen aus dem Unbewussten sein Zutun zur Bildung und weiteren Ausgestaltung des Selbst durch die anreichernde Lieferung von Bildern, Gedanken und Erlebnissen. Träume müssen dazu nicht zwingend bewusst werden, um innerpsychisch gestaltend auf das Selbst zu wirken. Um jedoch für den Träumer in seiner Welt subjektiv Bedeutung zu erlangen, müssen sie der bewussten Wahrnehmung zugänglich und in Erzählung gefasst werden können.
»Das Selbst ist eine Erzählung und bedarf eines Zuhörers, damit es existiert« (Bohleber 1999, 516), wie eben auch der Traum. Sich am Morgen kurz nach dem Aufwachen den eben noch ganz real erscheinenden Traum zu vergegenwärtigen und auf sich zu beziehen, lässt sich auch als eine Erzählung sich selber gegenüber verstehen. In solchen Traumerzählungen wird aufgestellt und geordnet, was jemand erlebt hat und was das für einen selbst und für andere heißen kann – die so bezeichnete sekundäre Traumbearbeitung nach Freud. Wenn aber Träume dann anderen Menschen erzählt werden, wird zudem Beziehung hergestellt (Arnezeder 2021), der mitgeteilte Traum wird zum Vermittler zwischen Subjekt und Objekt.
Zu solchen inter- und innerpsychischen Abläufen werden in der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie seit vielen Jahrzehnten Überlegungen angestellt, wie sich zwischenmenschliche Beziehungen durch den Vorgang der Identifizierung auf die Bildung und Ausgestaltung des Selbst und der Identität auswirken (Abel 2023). Melanie Klein (1932) nennt solche in das Selbst aufgenommenen Identifizierungen innere Objekte, Jacobson (1973) beschreibt diesen Vorgang eingehend und Fairbairn (2000) spricht von der Suche nach dem Objekt als grundlegender menschlicher Motivation im Unterschied zur Abfuhr der aufgestauten Triebenergie in der klassischen Psychoanalyse. Neuerdings vertritt Otto Kernberg (1989) dazu einen Ansatz, wo das Selbst sich aus verschiedenen Selbst- und Objektrepräsentanzen und den zugehörigen Affekten zusammensetzt, die innere Objekte bilden und alle zusammen das Selbst als Ganzes ausmachen (Kernberg 1989, 21).
Es bilden sich aus Identifizierungen mit wichtigen Mitmenschen als Objekten in verschiedenen Situationen im Leben Vorstellungen von sich selber und damit Selbstrepräsentanzen. Im Kontakt mit Mitmenschen kann ich erfahren, wie mich diese sehen, was sie über mich denken oder sagen, was sie mir zusprechen und was sie mir absprechen, wie sie mich behandeln, wie sich das für mich anfühlt und ob das für mich stimmig und bedeutungsvoll ist. Genauso kann ich mir zudem aus solchen Beziehungen Vorstellungen über andere bilden, wie ich sie erfahre und verstehe, was die Objektrepräsentanzen bildet. Dazu findet sich dann noch eine zugehörige Gefühlslage, die wesentlich triebbestimmt ist. Solche Repräsentanzen sind folglich meist unbewusste Vorstellungen von mir und anderen, welche aus Beziehungen kommend als psychische Einheiten alle zusammen das Selbst aufbauen. Solche psychischen Strukturen des Selbst werden zuweilen bei Gelegenheit aus dem Unbewussten wieder aktualisiert, belebt und günstigenfalls auch wahrgenommen. Wir bemerken das beispielsweise, wenn wir Eigenschaften eines Menschen, den wir durch Trennung oder Tod verloren haben, selber übernommen haben und leben, als ob es eigene wären, etwa bestimmte Worte verwenden, Lachen oder Gesten. Die Objektbeziehungstheorie hebt mit diesem zusammenfassenden und aufbauenden Vorgang mehr die Bedeutung des Objektes für die psychische Struktur des Selbst und ihre Entstehung hervor als bislang die klassische Psychoanalyse oder die Ich-Psychologe.
Solche Bildungen des Selbst gehen nicht voraussetzungsfrei vor sich. Erfahrungen aus Objektbeziehungen treffen auf eine schon gegebene biologische Anlage, wo eine Vielzahl von potenziellen Möglichkeiten des Selbst im Kontakt mit der sozialen Umwelt ausgewählt und realisiert werden oder aber ungenützt bleiben. Dieses ursprünglich schon gegebene potenzielle Selbst wird im Reifungsprozess gestaltet durch die dort gegebenen und vorgefundenen Identifizierungsmöglichkeiten, besonders durch die Mutter, aber auch durch den Vater, andere Familienmitglieder, Freunde, Lehrer und sonstige Vorbilder hin zu einem strukturierten Selbst, der Identität (Fetscher 1983, 399). Nicht von außen, sondern innerpsychisch greifen auch Traumerlebnisse vermittelnd mit Beiträgen aus dem Unbewussten durch dort gelagerte Erfahrungen und Erlebnisse mit Mitmenschen wie auch aus Konflikten und Tagesresten in diesen Gestaltungsprozess des Selbst ein. In Träumen werden auf diese Weise ebenso Potenziale geweckt, durchgespielt und zum aktuellen, strukturierten Selbst ausgeformt, das die Grundlage der Identität bildet: »Das aktualisierte Selbst ist strukturiertes, mit sich selbst identisches Selbst = Identität« (Fetscher 1983, 398).
Da nicht alle potenziellen Anteile des Selbst ihre Verwirklichung finden, kann es auch nicht das gesamte Selbst als Identität im Bewusstsein geben, sondern nur Selbstaspekte und Teilidentitäten, erfahrbare und kontextabhängige Teile der gesamten Identität (Keupp et al. 2008, 218f.). Unbewusst verbliebene Selbstanteile können wie Konflikte und Tagesreste auch nach Bewusstwerden drängen und uns erstaunen lassen, wenn ihnen das gelingt. Diese ins Bewusstsein drängenden Selbstanteile können dann im Traum schon einmal ungemein beherrschend wirken und den Anschein erwecken, als würde es nur sie und sonst nichts geben. Der Trauminhalt wirkt auf den Träumer dann echt und unzweifelhaft.
»Der Traum vermittelt die Illusion, das erlebende Subjekt darin, das nur einen Teil des Selbst repräsentiert, sei das gesamte Selbst, während die anderen Teile des Selbst oft nur in den Traumereignissen und in anderen Aspekten des Traumskripts dargestellt sind« (Bollas 2012, 59).
Diese scheinbare Eindeutigkeit des Erlebens im Traum bringt etwas zum Ausdruck, das so tatsächlich nicht ist. Durch unterschiedliche Einwirkungen der sozialen Umwelt und unbewusste Einflüsse finden sich, wie auch in den Objektbeziehungen, zu unterschiedlichen Zeiten abhängig vom Kontext im Traum je eigene Gestaltungen des potenziellen Selbst zusammen. Im Wachsein wissen wir um unsere Differenziertheit und Mannigfaltigkeit als Selbst. Diese individuellen Gestaltungen des Selbst bleiben außerdem nie in einem offenbar vollendeten und abgeschlossenen Stadium stehen. Sie unterliegen einer psychodynamischen Entwicklung und können neben den Erfahrungen im Wachbewusstsein durch Traumerlebnisse in der Nacht umgestaltet und weiterentwickelt werden. Der Traum spielt also mit der Außenwelt in der Bildung der Identität zusammen:
»Vielmehr ist sie eine nie abgeschlossene psychische Konstruktion, die aus reflexiven Vergleichsprozessen besteht. Verglichen werden zentrale Selbstrepräsentanzen auf der einen Seite mit sozialen Rollen, Handlungen, Gefühlen, erzählten Geschichten, Objekten, bis hin zu Träumen auf der anderen Seite« (Bohleber 1999, 318).
Veränderungen des Selbst und der Identität werden nun verstanden als der Einbezug von veränderten und erweiterten Selbst- und Objektrepräsentanzen, die bisher nicht gekannt waren, mit den zugehörigen Affekten aus dem Traum und aus Alltageserfahrungen in das bisherige Verständnis des eigenen Selbst und der Identität. Diese psychischen Veränderungen werden in Träumen häufig als Reisen gestaltet, wo in anderen Umgebungen bisher Ungekanntes durchlaufen und erfahren wird.
Der Einfluss von Alltagserfahrungen des modernen Menschen bei der Bildung von Selbst und Identität ändert sich gleichfalls. Das moderne Selbst nach Lüder (2023), das weniger von Verboten wie früher einmal, mehr durch Leistung und Optimierung geprägt wird, hat heute andere Herausforderungen und Gefahren zu bewältigen als das Selbst der Menschen aus der vorletzten Jahrhundertwende, der Zeit von Sigmund Freud und seinen Findungen. Das moderne Selbst sieht sich heute oft ganz anderen Anforderungen in seinem sozialen Leben gegenüber, an denen es sich entwickelt und aufbaut.
»Auch der Identitätsbegriff weist zwei Aspekte auf: einen ›Innen-Aspekt‹, der auf Strukturierung und Festigkeit des Selbst abzielt und […] einen ›Außen-Aspekt‹, unter dem das Individuum in die soziale Gruppe eingebettet und zugleich gegen diese abgegrenzt wird« (Fetscher 1983, 397).
Diese soziale Rolle ist im Vergleich zum Selbst und zur Identität die äußere und in den sozialen Beziehungen besonders umgestaltbare Schicht der Person (Fetscher 1983, 405), die wir zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Form einnehmen können. Jemand kann im Alltag jeweils als Ehefrau oder Ehemann, Kind, Elternteil, Dienstnehmer oder Dienstgeber, Konsument, Reisender, Kulturschaffender abwechselnd oder teilweise auch gleichzeitig in Erscheinung treten, dabei aber trotzdem dasselbe Aussehen, denselben Namen und dasselbe Geschlecht besitzen. Wir gehören in unserer sozialen Rolle zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlichen Gruppen an. Eine solche Gruppenzugehörigkeit in einer bestimmten Rolle erleichtert die Bildung und Bewahrung der eigenen Identität von außen und hilft, sich von anderen Gruppen und deren Mitgliedern abzugrenzen. Manche können an solchen Aufgaben auch scheitern und fragmentieren oder an Identitätsdiffusionen leiden (Fetscher 1983). Für nicht wenige Menschen – zumindest in der westlichen Welt – sind diese Anforderungen an die sozialen Rollenwechsel, die Gruppenzugehörigkeit und verschiedenen Identitäten ein ernstes Problem, worin sie sich nicht oder nur schwer zurechtfinden, sodass sie sich lieber in ihrer gewohnten Umgebung aufhalten und sich in diese zurückziehen. Sie vermitteln den Eindruck, ihre Identität könne nicht mehr all diese Gruppenzugehörigkeiten und sozialen Rollen verarbeiten, wie es aber wichtig wäre.
Das Träumen ist also nicht einfach eine triebhaft bestimmte Innenschau auf Wünsche und Konflikte oder eine Verarbeitung von noch unbewältigten Tagesresten, sondern genauso eine Auseinandersetzung mit sich und der eigenen Entwicklung im Kontakt mit der Umwelt. Träume entstehen zwar primärprozesshaft und kennen zuerst noch kein Außen, sind aber in gegebene soziale Beziehungen eingebunden, sobald sie bewusst werden. Sie werden erzählt und verändern das Selbst und die Identität der Menschen langsam, ohne aber den gleichbleibenden Kern in allem zu verlieren:
»Den Vorzug des Begriffs der Identität sehe ich darin, daß dadurch ein Subjekt in den Blick kommt, das sich mit der Erfahrung von Kontingenz, Differenz und Andersheit auseinanderzusetzen hat und angesichts dieser Erfahrungen Kohärenz und Kontinuität des Selbst herzustellen bemüht ist« (Bohleber 1999, 517).
Soweit die Theorie. In der Praxis kennen wir wohl die folgende Situation: Bisweilen werden wir morgens als eben noch Schlafende aus einem Traum wach, in dem wir uns ganz eins und daheim gefühlt haben, werden wach aus einer scheinbar anderen, gerade eben noch erlebten Welt und können noch nicht wirklich zwischen Traum und Wirklichkeit unterschieden, müssen uns erst neu orientieren und uns vergegenwärtigen, dass wir jetzt tatsächlich wieder woanders sind und wer anders als eben noch im Traum. Was und wer wir im Traum gewesen waren und was wir getan und erlebt haben, verwundert uns oder irritiert uns gar, weil wir unsere ins Bewusstsein drängenden Selbstanteile wahrnehmen und das so bizarr und Ich-fern wirkt: Bin das wirklich ich? Könnte ich das machen oder erleben? Die Redewendung »Das hätte ich mir nicht im Traum gedacht« drängt sich auf und weist auf die vielfältigen Möglichkeiten der Traumentstehung hin. Im Traum fällt uns tatsächlich vieles ein, was wir im Wachen nicht glauben könnten.
In der Folge gilt es, im Wachwerden wieder aus der Erinnerung zusammenzustellen, wer man tatsächlich ist, und das Selbst wie vom Vortag gehabt wieder zu erschaffen. Identität heißt, heute identisch zu sein mit dem Selbst, das wir gestern waren. Nach jeder Nacht müssen wir wieder anknüpfen an das Selbst von gestern, worin wir in der Nacht unterbrochen worden sind durch neue Traumerfahrungen. In den Träumen der Nacht waren wir eindeutig wer anderer und das durfte träumend nicht bewusst werden – wie die latenten Trauminhalte der Freud’schen Traumdeutung. Wir haben im Traum etwas erfahren und ohne jeden Zweifel mitgemacht, das wir im Wachen vielleicht nicht täten und nicht wollten oder nicht wagten zu sein oder zu tun. Bin das wirklich ich, den ich da im Traum geschaffen habe? Oft genug fühlt sich das fremd an. Das Bizarre im Traum stammt aus dem Unbekannten, das aus dem Unbewussten auftaucht und auf sich aufmerksam machen möchte. Da gibt es noch etwas, das ich auch bin oder sein könnte, was ich mir wünschen würde, was andere mir früher zugetragen haben, was sie in mir gesehen haben, was sie mir aber manchmal auch abgesprochen haben. Der Traum hat nicht allein die Funktion, der Hüter des Schlafes zu sein (Hamburger 2017, 19). Er will Unbewusstem auch zu Bewusstsein verhelfen, um dieses bemerkbar zu machen, unbewusste Teile des Selbst zu vergegenwärtigen, die – weil unbekannt und bizarr – an der Wirklichkeit des Traumes zweifeln lassen:
»In vielen von unseren Träumen genießen wir zwar zeitweilig die Illusion, wir würden das Traumgeschehen steuern, merken dann aber doch, daß wir uns in einem Drama befinden, das seine ganz eigene, verwirrende Logik besitzt. Solche Augenblicke geben uns nicht nur oft das Gefühl, daß wir keinen Anteil an ihrem Zustandekommen haben, sondern können auch abstoßend und verstörend wirken, weil sie keinerlei Berührungspunkte mit unserer Subjektivität erkennen lassen und exakt das Gegenteil zu unterstreichen scheinen: Wir finden uns in der Rolle eines recht passiven Objekts in einem bizarren Drama, ohne irgendeinen roten Faden darin ausmachen zu können« (Bollas 2012, 78).
Wir stellen uns doch nicht immer ident zusammen, wie wir am Vortag waren. Der Traum hat mit unbewussten Inhalten sein Zutun geleistet, dass wir uns in Teilen anders fühlen und sehen und somit auch verändern können. Vielleicht vergessen wir diese Umwandlungen auch bald wieder, wie wir überhaupt Träume erinnern und bald vergessen. Wenn wir aber meinen, wir waren für kurze Zeit jemand, der anderes getan und erlebt hat, verändert es unsere Selbstsicht, das Selbstverständnis und die Identität. Dazu ein Traumfragment:
Auf einem Ausflug mit einigen Menschen bin ich wo herumgelegen und habe die Hosen vollgemacht. Ich wollte auf das Zimmer, die Wäsche wechseln und waschen, dann sieht ja niemand etwas. Das habe ich aber nicht gemacht, bin wie gelähmt liegen geblieben, um ja nicht entdeckt zu werden.2
Für gewöhnlich würde jemand im Wachsein auf die Toilette gehen, bevor etwas passiert, um den ganzen Schlamassel schlichtweg zu vermeiden. In diesem Traum ist das nicht so und es erregt einmal ein Erstaunen, das eine neue Sicht auf das eigene Selbst eröffnet:
»Immer wieder kommen wir an diesen Punkt, wo das gedachte Bekannte (das Subjekt) auf das ungedachte Bekannte (das Ich) trifft und wir in jene Zeit zurückversetzt werden, als unser ererbtes Sein und die Logik der Umwelt dialektisch eng miteinander verschränkt waren« (Bollas 2012, 84).
Wir schaffen uns im Traum als jemanden, der anders sein könnte, anderes tun könnte, weil wir anders geschaffen, vielleicht anders gedacht sind. Das kann aus der Sicht der Subjektstufe nach Jung (1921) auch seinen Ausdruck in der Veränderung anderer Menschen im Traum finden, weil diese uns im Anderssein spiegeln. Wir erleben andere Menschen um uns herum dann anders, beispielsweise aggressiver, zugewandter oder auch nur unkenntlich, wenn uns etwas nicht erfahrbar sein darf; und die Affekte können auch wechseln.
Um Selbst und Identitäten des Träumers in einem Traum neu zu schaffen, zu verändern oder aber unkenntlich zu machen, bedarf es wie bei der Umwandlung von latenten Traumgedanken in manifeste Trauminhalte einer Traumarbeit. Sie leistet diese Entstellung des Selbst und der Identität durch Veränderung. Der Träumer soll vor direkter Erkenntnis geschützt werden: was denn in ihm stecken könnte, wie er denn auch sein könnte. Der Mensch soll nicht wissen, was er alles sein könnte, dass vieles besser und schöner sein könnte, andererseits aber auch aggressiver, schrecklicher und ängstigender. Es würde ihn beunruhigen und ihm den Schlaf rauben. Er soll genauso vor seinen Vorwürfen an die Umwelt geschützt bleiben, dass er nicht hat werden können, was und wer er eigentlich ist. Das Unbewusste will das aber zeigen mit den ins Bewusstsein drängenden Selbstanteilen. Es kennt die Verneinung nicht im »Du kannst das nicht sein!« (Saad 2020). So wie auch latente Traumgedanken der Wunscherfüllung und der Konflikte ins Bewusstsein drängen und nicht einfach so verschwinden, wollen auch unbewusste Selbstanteile und Identitäten wieder ins Bewusstsein gelangen und auf sich aufmerksam machen.
Grunert (1977, 1059) meint in diesem Sinne zu den narzisstisch bezeichneten Träumen,
»daß es sich bei diesen Träumen in vielen Fällen vorrangig nicht um verdrängte Triebwünsche handelt, die auf halluzinatorischem Wege Entlastung suchen, sondern um narzisstische Bedürfnisse, die, bei allen Menschen mehr oder weniger frustriert, als narzisstische Wunden erhalten bleiben, leicht wieder neu verletzt werden können und zeitlebens nach Restitution suchen, ohne daß diese jedoch wirklich gelingen kann«.
Bestätigende oder aufmunternde Träume können den vielleicht angeschlagenen Selbstwert des Träumers stützen oder heben. Wenn wir dagegen aggressive oder unangenehm sexuelle Träume haben, dann wird es im Aufwachen erleichternd sein zu empfinden, dass man im Wachsein wieder in der bekannten und oft schon als unter Kontrolle gesehenen Realität gelandet ist.
In der von Jung (1921) eingeführten Unterscheidung zwischen Subjekt- und Objektstufe lässt sich auf der Objektstufe auch etwas über entstellte Identitäten anderer Personen im Traum aussagen. Was für den Träumer gilt, nämlich in seinen Möglichkeiten nicht gesehen, aber darauf hingewiesen zu werden, gilt auch für andere Menschen im Traum, sofern wir auf der Objektstufe verbleiben. Wir sehen und ahnen im Traum, was andere Menschen für uns sein könnten, auch wenn das nur unser Wunsch ist und bleibt. Auch sie könnten mehr und anders sein. Attraktive, aber bislang ablehnende Personen könnten plötzlich Interesse und Zuneigung an einem zeigen oder eine Gefahr und Bedrohung ausdrücken. Dazu ein weiteres Traumfragment:
Ein dunkel erscheinender Mann geht durch das Schlafzimmer auf den Balkon, will dabei das Zimmer kontrollieren und wird von einem Träumer staunend beobachtet. Der Träumer fühlt sich in seinen Bewegungen blockiert und kann nichts dagegen unternehmen, auch nicht seine Partnerin schützen, die neben ihm liegt.
Durch das Erzählen eines Traumes kann der Träumer auf seine Umwelt einwirken und den Menschen um sich herum neue Sichtweisen von sich ermöglichen (Anzieu-Premmereur 2013). Solche neuen Sichtweisen können dann das Verhalten dieser Menschen dem Träumer gegenüber und diesen selber als Folge dessen wieder verändern.
Kann ich aber sicher sein, dass ich das tatsächlich bin und es mir entspricht, was ich so alles träume und sich mir neu zeigt? Diese Frage ist auch eine nach der Wahrheit von Träumen.
Der Traum gilt nach wie vor als via regia zum Unbewussten, von Freud damals jedoch mehr triebtheoretisch verstanden. Dass dem Menschen vieles von dem nicht bewusst ist, was das Unbewusste mit ihm macht, warum er etwas tut oder nicht tut, ist einer der zentralen Konzepte der Psychoanalyse, welche sie von anderen psychotherapeutischen Schulen unterscheidet. Auch wenn Kunst und Kultur von diesem Gedanken leben, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind, sondern das Unbewusste uns ganz entscheidend steuert, hat der Mensch diesen Gedanken wohl noch nicht so richtig verstanden, auch wenn es schwer ist, diese Bestimmung durch das Unbewusste wirklich ausdrücklich abzulehnen. Wir neigen heute mehr zur gezielten Selbstoptimierung (Jacob, Mosziek und Renner 2017; Lueder 2023) und leben trotz des Einflusses des Unbewussten mehr eine gegenteilige Überzeugung, dass das eigene Selbst in verschiedenen Möglichkeiten ja doch mit Absicht beeinflusst und verändert werden kann.
Dieser modernen Sichtweise des gestaltbaren Selbst widerspricht das Träumen. Selbst und Identität bilden zwar nicht eine abgegrenzte und abschließende Einheit, fransen sich aber auch nicht aus oder verlieren sich. Viele Seiten von uns sind uns jedoch unbekannt. Unterschiedliche potenzielle und noch ungenutzte Möglichkeiten sollen träumend dargestellt werden. Der aufwachende Träumer will ordnen und neuerlich eine Einheit im Selbst und in seiner Identität herstellen und hat ein Interesse daran, nicht wer anderer und nicht mehrere zu sein oder sich ohne Mittelpunkt fortlaufend zu verändern. Es gilt, trotz träumender Vielfalt wieder eins zu werden. Die synthetische, wieder zusammensetzende Funktion des Ich bildet aufs Neue ein Selbst und eine Identität, auch wenn sie sich durch Traumerlebnisse teilweise verändert und Neues in sich fasst. Erforderlich dazu ist das Anerkennen der neuen Traumerfahrungen und deren Integration in das bisherige Selbstverständnis, auch wenn dazu Widerstand und Zweifel zu überwinden sind. Damit landen wir letztlich wieder bei Lobner (1986) und der Kontinuität des Identitätsgefühls als nach wie vor bestehender Aufgabe des Träumens angesichts der Möglichkeiten von Identitätsentwürfen in der Gegenwart und Zukunft (Keupp et al. 2008, 243).
Es geht um die integrierende Vergegenwärtigung von vorhandenen und möglichen Selbst- und Objektrepräsentanzen eines Menschen, die sein Selbstbild umfassen, aber nicht realisiert werden. Ob diese Selbstanteile einer tatsächlichen Realität entsprechen oder nicht, erscheint nicht von Belang, weil sich das kaum überprüfen lassen wird. Es geht um psychische Wahrheit: was möglicherweise auch sein könnte, aber nicht sein darf, weil es beunruhigt und ängstigt.
Kinder, die sich über einen Traum wundern oder sich wegen ihm ängstigen, bekommen oft zu hören: Das ist ja nur ein Traum. Den müssen wir nicht so ernst nehmen. Nur weil wir etwas träumen, heißt das noch nicht, dass das auch stimmt, dass dem Traum auch eine Realität entspricht. Es geht aber in der Deutung und im Verstehen eines Traumes nicht darum, prüfend festzustellen, was »fact« oder »fake« ist, was Wirklichkeit und was Fantasie ist. Es geht um psychische Wahrheit im Sinne: Das ist so für mich.
»Der Erkenntniswert der Träume wird aber nicht durch die Frage nach ihrer Wirklichkeit, sondern nach ihrer Wahrheit erfaßt« (Lüders 1982, 827).
Schon Freud hat in seiner Traumdeutung herausgearbeitet, dass mit einem Ernstnehmen und Deuten des Traumes vermeintliche Entstellungen einen Sinn erlangen und eine aufschlussreiche Mitteilung enthalten können, was sich zur Selbsterkenntnis nutzen lässt, auch wenn Träume in ihrer szenischen Aufführung wie eine Theatervorstellung (Morgenthaler 1990, 81–84) wirken mögen.
Traum und Kunst stehen tatsächlich in einer komplexen Wechselbeziehung zueinander (Reicheneder 2016; Segal 2023). Träumen wie auch die Kunst schöpfen aus dem Unbewussten und schaffen Neues. Fantasy-Filme wie beispielsweise Avatar, Harry Potter und ähnliche Kassenschlager (Laszig 2013) zeigen in einer Art von filmisch ausgeformten Tagträumen, wer die Darsteller in vorstellbarer, aber ungewöhnlicher Weise alles sein und was sie tun können, mit wundersamen Gestalten und Kräften – ähnlich auch in Comics oder in der Malerei in den Figuren des Fantastischen Realismus. Eine wunderbare Welt mit bis dahin ungekannten Möglichkeiten tut sich in solchen künstlerischen Darstellungen auf. Sie werden in der konkret wahrnehmbaren Ausgestaltung zwar sekundärprozesshaft geschaffen, aber das ist der erzählte, weil in der Erzählung überarbeitete Traum auch. Das Schaffen von Neuem und Ungewohntem, das zum Beschauen und Nachdenken Anregende, diese auffallende Ähnlichkeit von künstlerischer Tätigkeit mit dem Traum und seinen schier unglaublichen Phantasmen des Selbst und der Identität ziehen in den Bann.
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Christian Arnezeder, Mag. Dr., arbeitet als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker in eigener Praxis, Gerichtssachverständiger für klinische Psychologie, Psychotherapie und Berufskunde, Lehrtätigkeit an der Universität Salzburg für psychotherapeutische Diagnostik, Supervisor in psychosozialen Einrichtungen.
Kontakt: arnezeder@t-online.de