»Wenn ich erwache sind alle Träume um mich versammelt aber ich hüte mich, sie zu durchdenken«

Der Alp in Kafkas Träumen – Annäherungen an Traumtexturen und ihre Schwellen

Bettina Rabelhofer

Journal für Psychologie, 32(2), 86–106

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2024-2-86 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

In seinen Tagebüchern und Briefen hat Kafka an die 60 Träume protokolliert, in seinen literarischen Texten geraten die Strukturmuster des Traums nochmals unter das Gesetz der Fiktion. Schlaflosigkeit ist im Falle Kafkas nicht die Folge exzessiver schöpferischer Arbeit, sondern unhintergehbare Bedingung seines Schreibens.

Kafkas Träume und »Halbschlafphantasien« zeichnen sich aus durch Kargheit, geradezu semiotische Nacktheit. Die Metaphern der Verdichtung und die Metonymien der Verschiebung müssen der und die Lesende leisten. Affekt und Kognition scheinen entkoppelt. Das aporetische »So ist es« im Verein mit einem traumatischen (?) »So war es« überlagert sich in der Zeiterfahrung des Traums zu einem Konglomerat, dessen imaginäre Schichtungen in die Konturen der Poesie (und damit auch der Symbolisierung) übergeführt werden. Kafkas Texte nutzen die Strukturmuster des Traums und geben die Traumtextur der totalen Sichtbarkeit preis. Das Geheime und Intime wird dem öffentlichen Blick preisgegeben. Im Phantasma von Macht und Ohnmacht, Lust und Folter überlagern sich Kindheit, Sexualität und Gewalt. In der Wiederbelebung infantiler Selbst- und Objektimagines treiben Kafkas Texte libidinöse Ströme wie auch melancholische Erstarrung in gleicher Weise hervor. Gefragt wird nach der Positionsbestimmung der Kafka’schen Traumtextur zwischen Freuds Traumkonzeption der Wunscherfüllung und jenen »Schreckträumen«, deren mögliche Umwege über semiotische Prozesse blockiert sind.

Schlüsselwörter: Kafkas Traumtexturen, Provokation des Textes, Empathiestörung, Trauma, Lust, Symbolisierung

»When I wake up, all the dreams are gathered around me but I am careful not to ponder them«

The Nightmarish in Kafka’s Dreams – Approaches to Dream Textures and Their Thresholds

In his diaries and letters, Kafka recorded around 60 dreams, and in his literary texts the structural patterns of dreams are once again subjected the laws of fiction. In Kafka’s case, insomnia is not the result of excessive creative work but rather an unavoidable condition of writing.

Kafka’s dreams and »half-sleep fantasies« are characterized by barrenness, an almost semiotic nakedness. The metaphors of condensation and the metonymies of displacement must be achieved by the reader. Affect and cognition seem decoupled. The aporetic »That’s how it is« in conjunction with a traumatic (?) »That’s how it was« is superimposed in the dream’s temporal experience to form a conglomerate whose imaginary layers are transferred into the contours of poetry (and thus also of symbolization). Kafka’s texts use the structural patterns of dreams and render the dream textures totally visible. The secret and intimate are exposed to the public eye. Childhood, sexuality and violence overlap in the phantasm of power and powerlessness, desire and torture. In reviving infantile self- and object-images, Kafka’s texts bring forth libidinal currents as well as melancholic torpor in the same way. The question is how to determine the position of Kafka’s dream texture between Freud’s dream conception of wish fulfillment and those »horror dreams« whose possible detours via semiotic processes are blocked.

Keywords: Kafka’s dream textures, provocation of the text, empathy disorder, trauma, desire, symbolization

* * *

Wie Kafkas Texte lesen? Hermeneutische Lesarten können ihnen kaum beikommen, um dem zuweilen bizarren Amalgam aus Sexualität, Grausamkeit und Kindheit doch noch diskursive Geschmeidigkeit abzuringen. Zu sehr produzieren die kafka'schen Texte einen unerhörten Nebensinn, der sich weder durch die mimetische Anverwandlung von Wirklichkeit noch durch diskursanalytische Entflechtungen stilllegen lässt.

1 Traumatische Rezeptionstrassen und ihre lustvollen Einsprengsel

Die und der Lesende, halb drinnen, halb draußen, verspüren die enigmatischen Inszenierungen, auch wenn diese immer wieder erzählbar sind, als Provokation des Textes, als Provokation jeglichen hermeneutischen Begehrens. Der Gedanke an (Lese-)Flucht zerschellt an der Schwerkraft des Wortes, das zwar mimetisch festhält, nicht aber über die Abgründe und Klüfte des epischen »So ist es« (Adorno 1977, 280) im Textgelände trägt. Das Sich-Einlassen auf das Faszinosum des kafka'schen Wortes, auf seine Schrecklichkeiten und Libidoströme, treibt immer wieder aus der Intimität des Textes heraus und lässt mitunter den hermeneutischen Atem stocken. Was Kafkas Blickpunktträger da an Weltsicht für die und den Lesende*n freisezieren, kommt einer Wunde des Sehens gleich, die, durch die Erzählperspektive gewaltsam offen gehalten, Identifikationsmöglichkeit minutiös zersetzt. Adorno erkennt als die »nicht geringfügigste« Voraussetzung Kafkas, dass »das kontemplative Verhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist«:

»[Kafkas] Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik. Solche aggressive physische Nähe unterbindet die Gewohnheit des Lesers, mit Figuren der Romane sich zu identifizieren. […] Wer es merkt und nicht vorzieht fortzulaufen, muß seinen Kopf hinhalten oder vielmehr versuchen, mit dem Kopf die Wand einzurennen, auf die Gefahr hin, daß es ihm nicht besser ergeht als den Vorgängern. Anstatt abzuschrecken, steigert ihr Los, wie im Märchen, den Anreiz. Solange das Wort nicht gefunden ist, bleibt der Leser schuldig« (Ebd., 256).

Anreiz und Abschreckung scheinen die emotionale Distanz der und des Lesenden einmal in die eine, einmal in die andere Richtung auszutarieren. Lust und Angst (Scham?) als Reaktion auf die emotionale Appellstruktur des Textes mit seinen augenscheinlichen »Leerräumen«, »Unpässlichkeiten« und fehlenden Zusammenhängen zeugen mitunter auch von der intellektuellen Frustration, »keiner Bedeutung habhaft zu werden«.

Lesende haben es mit Kafkas Texten nicht leicht. Die »narzißtische Empathiestörung in der Beziehung Text-Leser« (Vietinghoff-Scheel 1991, 50) wird auch zur Glücksstörung im Leseprozess selbst: »Als es schon unerträglich geworden war […]« (KKA D 33) – mit diesen Worten hebt Kafkas Text Unglücklichsein an; sie könnten aber auch die ersten Worte des Protokolls der eigenen Lektüreerfahrung sein. Die implizite Affektstruktur des Textes zieht in der Leserin ihre (mitunter traumatische) Spur. Dies hat die bemerkenswerte Lektüre des Schloß-Romans von Alfrun Vietinghoff-Scheel (1991) jenen Rezipent*innen, die sich auf die »Tuchfühlung« des Textes eingelassen haben, recht eindringlich vor Augen geführt. Sich auf die Tuchfühlung des Textes einzulassen heißt auch, der Anziehungskraft des Textes nicht zu widerstehen und wie im »Märchen« sich den hermeneutischen Bewährungsproben zu stellen. Auch dem Leser mag damit etwas Narzisstisches anhaften, das ihn da in den Kafka’schen Texten voran- und umtreibt, um, so Adorno, das erlösende »Wort« (1977, 256) zu finden. Je kindlicher sich die Literatur gebärdet oder sich wie das Märchen als kindlich ausgibt, und je bildhafter sie erzählt, desto unmittelbarer mag sich das Phantasma im Text einnisten (vgl. Anzieu 1982, 215). Kafkas Texte lassen Kindheitsszenarien und Kinderwünsche auferstehen, überlagern Schrecken, Wunsch und Sexualität auf so verschlungene Weise, dass der gordische Knoten ihres Zusammenhangs oft nur in tiefenhermeneutischen Grabungsversuchen freigelegt werden kann.

Die implizite Affektstruktur des Textes zieht, wie gesagt, in der Leserin ihre traumatische Spur. Vietinghoff-Scheels trauma-analoge Literaturdeutungstheorie setzt sich vom »psychoanalytischen Verständnis von Literatur als Traum und Verhüllungsstrategie von infantilen Triebwünschen« (Vietinghoff-Scheel 1991, 75) dezidiert ab, um der »mitteilenden« (also nicht: »verhüllenden«) Funktion des Textes das Wort zu reden:

»Entgegen traditioneller psychoanalytischer Literaturdeutung verstehe ich Kafkas Texte nicht als Traum, sondern als ästhetische Bewältigung von Realtraumen, die Kafka in szenischen Interaktionen vorgeführt hat, die dem Leser unmittelbar am Text erfahrbar machen, unter welchen gewaltsamen Bedingungen K.s traumatische Interaktionsformen im Familienleben hergestellt wurden« (ebd., 75; Hervorhebung im Original).

Vietinghoff-Scheels Vorbehalte gegen eine traum-affine Dechiffrierungsweise von Literatur im Allgemeinen und Kafkas Texten im Besonderen mögen zum einen im Fahrwasser Alice Millers der Kritik der psychoanalytischen Triebtheorie als »Realitätsverweigerung frühkindlicher narzißtischer Traumatisierungen« (ebd.) und dem Anspruch auf Elternschonung geschuldet sein. Zum anderen setzen sie semiotische Verschiebungs- und Verdichtungsprozesse (ausschließlich?) mit »Verhüllungsstrategien« und damit Abwehrmechanismen in eins. »Eigentliches« und »uneigentliches« Sprechen auseinanderzudividieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit: Dort, wo das Ereignis/Phantasma im Rhetorischen verschwindet, tut sich in der gebrochenen Referenzialität des Textes unweigerlich auch die Frage nach der Konstitution von Bedeutung auf. In poststrukturalen Zeiten mutet die Gepflogenheit, Literatur als »Traum« zu lesen und den Dechiffrierungsprozess auf einer »festen« Basis ankern zu lassen, antiquiert und naiv an. Dennoch, und das macht Vietinghoff-Scheels Analysen auch so bemerkenswert, legen Kafkas Texte – mögen sie nun als »Träume« (deren Wunsch- oder Schreckenspotenzial in der verhüllenden wie aufgebrochenen Syntax der Sprache lesbar wird) oder als ästhetisch gestaltete (reale?) Trauma-Bewältigung rezipiert werden – eine »traumatische Trasse« (ebd., 50; Hervorhebung im Original), auf der die Liebe »das zutiefst verdrängte Gefühl von Kafkas Schreiben« ist (ebd., 9).

»Bedeutung« wird, so Umberto Eco, erzeugt im kooperativen Wechselspiel des Lesers mit dem Text und sie wird gleichzeitig eingeschränkt durch die Strategien des Textes (vgl. Eco 1987). Kafkas Textstrategien provozieren die fundamentalen Bedürfnisse der Leserin nach Konsistenz und semantischer Isotopie. Was Kafkas Texte an Denklogik ihren potenziellen Interpret*innen vorenthalten, bricht sich in der Beziehungsdynamik abseits von Sprache Bahn. Die traumatische Rückseite des Textes spiegelt sich wider in der semantischen Struktur, die sich nicht mehr schließt und die dennoch nicht unmittelbar zerbricht. Wo Kafkas Protagonisten in den Sog der Traum/alogik geraten, ergreift den Lesenden eine hermeneutische Hilflosigkeit angesichts eines Narrativs, das zwar syntaktisch »die Form schließt«, die analytische Frage nach dem Warum der Erzähllogik allerdings offen lässt. Die Narration scheint für das Exzentrische einer Grenzsituation zu bürgen und den szenischen Ausschnitt wohlfeil zu halten, verweigert sich aber systematisch der symbolischen Dechiffrierung. Konsequenterweise kann der »Schrecken« im löchrigen, symbolischen Verweisnetz des Textes auch nicht mit Bedeutung aufgefangen werden. Das Manifest-Gesagte provoziert einen Rezeptionswiderstand, der seinen Elan aus der Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Paradoxie der textuellen Oberfläche bezieht. Das Händer-Ringen nach Bedeutung will nicht so recht gelingen, wo Leiden und Irritation zwar szenisch dargestellt, symbolisch aber nicht benannt werden. Auf die Sprache ist kein Verlass mehr; für den Leser und die Leserin sind Innen- und Außenperspektive ununterscheidbar, wo der Modus der Vermutung und Ungewissheit Reden vorantreibt. Das Konjunktivische1 verscheucht trickreich den Anflug des Faktischen2 Die Bewusstseinswiedergabe dessen, der da Wirklichkeitsentwürfe entfaltet und Weltbeschreibungen konstruiert, ist, da Erzähler und Erzählinstanz gerade nicht den Glauben an sich selbst verbürgen, schwindelerregend. Das sprachliche Zeichen trägt weder authentische Emotion noch kündet es von faktischer Verbindlichkeit.

Kafkas Sprache verweigert temporal-kausale Verknüpfung und konsistent stabile Ortskoordinaten ebenso wie psychologisch motiviert und intersubjektiv nachvollziehbar ablaufende Handlungssequenzen. Zudem sind Kafkas Blickpunktträger zumeist »obstinat veränderungsresistent« (Engel 2010, 413) und in der Wiederkehr des Immer-Gleichen gefangen. Strukturell ähnliche Episoden durchziehen die kafkasche Textur, die ihre Anti-Helden in Labyrinthe schickt, bei Annäherung das Objekt des Begehrens in nur noch weitere Entfernung rückt und Raserei mit gleichzeitigem Stillstand quittiert. Dem Gebundensein an die eigene innere Enklave entsprechen äußerer Stillstand und Arretierung. Gerd Schmithüsen geht von der Hypothese aus, dass im Erlebnis der stillstehenden Zeit »die Angst vor dem Erleben eines befürchteten akuten psychischen Zusammenbruchs, der die Wiederholung eines früheren stattgehabten Zusammenbruchs wäre, abgewehrt wird«, und folgert daraus in Anlehnung an Bion (1959), dass diese Abwehr die Folge von »mangelhaftem Containment im Sinne eines chronisch intrusiven oder chronisch unerreichbaren, psychisch toten Objekts« sei (Schmithüsen 2004, 306). Kafka selbst hat in seinen Tagebüchern die nahezu metaphysische Immobilität seiner Helden im Paradox des »stehenden Sturmlauf[s]« (KKA T, 259f.)3 oder des »stehende[n] Marschieren[s]« (ebd., 887) gespeichert. Bewegung hebt sich, ehe sie noch ausgeführt wird, gewissermaßen auf (vgl. Kurscheidt, 150) oder wird argumentativ durch Ausleuchten aller Potenzialitäten gleichsam in Gedanken schon wieder zurückgenommen. Der anvisierte Spaziergang endet, noch bevor er begonnen hat, im Bett (KKA D, 40). Für Kafkas von inneren Konflikten gefangen gehaltenen Protagonisten stellt das Übertreten von Schwellen und das Initiieren von Handlungen einen schier nicht zu bewältigenden psychologischen Kraftakt dar.

All die »kafkaesken« Irritationen unseres Tagesbewusstseins, die gegen das Realitätsprinzip so eklatant verstoßen, sind für den Traum strukturbildend. Interpret*innen haben deshalb auch Kafkas Texturen als »onirisch« gelesen (bspw. Müller-Seidel 1987, 110ff.; Engel 1998, 233–262 und 2006, 252f.; Glinski 2004; Miller 2000, 63–102) und sie unter die Gesetze des Traums gestellt.

In seinen Tagebüchern und Briefen hat Kafka an die 60 Träume protokolliert. 1990 erschien erstmals ein Band, der Kafkas Traumaufzeichnungen einem breiten Lesepublikum zugänglich machte. Kafka selbst hatte für sein »traumhaft inner[es] Leben« (KKA T, 546) wohl nur wenige Adressaten vorgesehen: seine Schwester Ottla, seine Freunde Max Brod und Felix Weltsch und zwei Frauen, mit denen ihn zeitweilig ein Nahverhältnis verband, Felice Bauer und Milena Jesenská (vgl. Giudice und Müller 1992, 12f.). Mag es hier auch nur um die Präsentation und den »Austausch von Worten« (Freud) gegangen sein, so ermöglicht die Referenz auf ein ebenso intim wie fremd anmutendes seelisches Phänomen doch auch Möglichkeit und Risiko einer Beziehungsregulierung. Zum einen schafft das Erzählen (in Kafkas Fall: Aufschreiben als Leseangebot) von Träumen eine Atmosphäre der Intimität und des In-kommunikative-Nähe-Setzens von Unverstandenem und schwer Mitteilbarem. Zum anderen stellen Träume für den Traumerzähler ein unkalkulierbares Risiko dar mit potenziell verräterischen Informationen über sein Innenleben (Mathys 2011, 27).

Dass es Kafka sehr wohl auch um die kommunikative Klärung von Unverstandenem ging, belegt seine insistierende Frage an Felice Bauer, ob sie denn »irgendeinen Sinn, […] irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn« im Urteil finde (KKA BII, 201). Kafka selbst dechiffriert seinen Text à la Freud anhand von Verdichtungs- und Verschiebungsprozessen (KKA T, 460f. und 491–493), erweitert jedoch seine Erkenntnisinstrumente nachdrücklich um die Reaktion seines Körpers: »Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständiger Öffnung des Leibes und der Seele« (KKA T, 461). Der Leib wird damit zum Seismographen, dessen Sensibilität und Intensität den Maßstab für gelungenes Schreiben abgeben. In einer Bemerkung über den Schlusssatz des Urteils Max Brod gegenüber bringt Kafka den Augenblick des Selbstmordes mit einer »starken Ejakulation« in Verbindung (Brod 1963, 134).4 Schreiben, wenn es nicht scheitert, evoziert die Performanz des Körperlichen.5 Kafkas Vorbehalte der Psychoanalyse gegenüber mögen auch mit Freuds Unterwerfung des Körpers unter die Macht des Logos zu tun haben. Wenn die Psychoanalyse Sexualität zwar theoretisch eingeholt und diskursfähig gemacht habe, so werde sie therapeutisch doch durch das Medium der Sprache diszipliniert. Für Kafka als Anhänger der Naturheilkunde konnten sprachlich fixierte Therapieinterventionen die zivilisatorische Einschnürung des Leibes nicht aufheben (vgl. Alt 2018, 311).

Alfrun von Vietinghoff-Scheel hat in ihrer Analyse des Schloß-Romans die subkutane Wirkung des Textes auf den Lesenden minutiös herausgearbeitet: »Sinnlichkeit ist sprachlich exkommuniziert und findet im Körper des anderen, des Lesers, statt, was dieser erst in sprachliche Symbolisierung einholen muß, um so Kafkas Schreiben […] zu enttraumatisieren und szenisch zu komplettieren« (Vietinghoff-Scheel 1991, 84). So ist es gerade das Ausgeschlossene, die traumatische Affekt-Trasse sowohl des Traums wie des Textes, die in der Leserin Resonanz finden kann. Was Freud wohl als Sublimierungsfähigkeit (und damit als den elaboriertesten Abwehrmechanismus) bezeichnet hätte, kommentiert Kafka als Vitalitätsentzug des Lebens:

»Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zuallererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab« (KKA T, 341).

Kafkas Traumtexturen und »Halbschlafphantasien« (KKA T, 909) zeichnen sich aus durch affektive Enthaltsamkeit und Exilierung des Körpers; Affekt und Kognition scheinen entkoppelt. Die emotional entleerten Worthülsen und Handlungssequenzen stellen vielmehr das Äquivalent versachlichender Verbalisierung, der die Affektspur abhanden gekommen ist, dar. Alfrun von Vietinghoff-Scheel liest die methodische Abspaltung der Gefühle als szenisches Beziehungsangebot des Textes: »Im ›hörenden, aufnehmenden, teilnehmenden Schweigen‹ entsteht ein Spielraum zwischen […] Text und Leser, in dem die authentische Erfahrung der eigenen Affekte als Selbstfindung und Selbstrelativierung mit dem anderen möglich wird« (Vietinghoff-Scheel 1991, 34).

An das »Wagnis« (Rabelhofer und Breuss 2011, 71–79), diesen Spielraum szenisch auszuloten, machte ich mich mit Studierenden in einer meiner Lehrveranstaltungen zu Kafkas Betrachtung. Mit einem mehr oder weniger großen Überhang an Irritation begannen die Studierenden, sich dem »Stacheligen« und »Widerborstigen«, wie sie es nannten, der Text-Miniaturen zu nähern, und machten sich an die Arbeit, in Kleingruppen deren Leerstellen und Hohlräume zu »verkörpern«. Dies bedeutete einen beträchtlichen Mehraufwand an Zeit, Energie, Inspiration und das Risiko, sich der Gruppendynamik auszusetzen und auf die gemeinsame kreative Potenz im Aushandeln von Bedeutung zu vertrauen. Das Ergebnis konnte sich sehen und hören lassen: Fünf szenische Collagen eröffneten einen intermediären Erfahrungsraum, in dem der Text gleichsam von innen heraus Gestalt annahm und die szenische Arbeit das Deutungsspektrum von Literatur auf subtil-sensitive Weise wahrnehmbar machte. Kafkas Text hatte Lust gemacht. Wenn universitäre Diskussionsrituale ihren Elan oft aus der »Begriffslust« schöpfen und literarisches Erzählen in zeichenhaft entleerten literaturwissenschaftlichen Gesprächen stumpf werden und zu affektneutralen Konstrukten erstarren lassen, so kann es mithilfe szenischer Verfahren gelingen, »literarische Gespräche wieder auf die sinnlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühle zu beziehen, die das Geschriebene in uns provoziert hat […], und ihre Produktivität bei der Auseinandersetzung mit Literatur neu zu entdecken« (Scheller 2008, 17). In »Hautfühlung« mit dem Text haben die Studierenden viel gewagt und gewonnen: Das eigene leibpraktische Textwissen konnte zum Anknüpfungspunkt für junge Menschen werden, denen Kafka über den »Begriff« hinaus auch zur »Erfahrung« wurde. Der Wunsch nach »Textverstehen« war so zum persönlichen »Erkenntniswunsch« geworden, indem das Schweigen des Textes als Beziehungsangebot angenommen wurde – ein Beziehungsangebot mit dem Appell an den Leser, »als sinnlicher Partner nicht nur Zuschauer zu sein, sondern selber sichtbar zu werden« (Vietinghoff-Scheel 1991, 228).

Freud selbst war nicht an der Gegenübertragung, deren Nutzen für die psychoanalytische Arbeit er zur Zeit der Abfassung der Traumdeutung noch nicht erkannt hatte, und auch nicht an der kommunikativen Situation der Traummitteilung gelegen. Vielmehr ging es ihm ums »pure Gold« der latenten Traumgedanken, die durch Rückgängigmachung der Traumarbeit von ihrer Verkleidung befreit, für die Deutung des Traums zugänglich werden sollten. Der narrativierte, sekundär bearbeitete Traum war für ihn deshalb kaum von Interesse und der »Rohling« ohnehin ein »asoziales Produkt«:

»Der Traum ist ein vollkommen asoziales seelisches Produkt; er hat einem anderen nichts mitzuteilen; innerhalb einer Person als Kompromiß der in ihr ringenden seelischen Kräfte entstanden, bleibt er dieser Person selbst unverständlich und ist darum für eine andere völlig uninteressant« (Freud 2000 [1905], 167).

Der im Modus des Erzählens geglättete Traum gaukele Konsistenz und temporale Logik vor, wo er disparat, zusammenhanglos und widersprüchlich sei. Kafka, der Freud eher bruchstückhaft und über Zeitschriften und Gesprächszirkel rezipiert hatte,6 beabsichtigte wohl, der Verfälschung des »Ursprünglichen« durch genaue Protokollierung zu entgehen.

2 Schreiben an der Grenze von Wachen und Schlafen

Schlaflosigkeit ist im Falle Kafkas nicht die Folge exzessiver schöpferischer Arbeit, sondern unhintergehbare Bedingung seines Schreibens. Das Traummaterial wird in der Niederschrift abgearbeitet und dann der poetischen Imagination überlassen. Der Traumprotokollant selbst inszeniert sich mehr als Beobachter denn als Auktor des Geschriebenen. Zeichnerische Vorstellungen7, Tagträume, Erzählversuche und ihre Abbrüche bedienen sich des nächtlichen Traummaterials und konfigurieren sich zu einem Unterfangen, das jeden Augenblick scheitern kann. Dem vorzubeugen gelingt nur durch exakte Protokollierung, das heißt, durch direkte Konfrontation mit den Derivaten des Unbewussten:

»Sicher ist, daß ich alles, was ich im voraus selbst im guten Gefühl Wort für Wort oder sogar nur beiläufig aber in ausdrücklichen Worten erfunden habe, auf dem Schreibtisch beim Versuch des Niederschreibens, trocken, verkehrt, unbeweglich, der ganzen Umgebung hinderlich, ängstlich, vor allem aber lückenhaft erscheint, trotzdem von der ursprünglichen Erfindung nichts vergessen worden ist. Es liegt natürlich zum großen Teil daran, daß ich frei vom Papier nur in der Zeit der Erhebung, die ich mehr fürchte als ersehne, wie sehr ich sie auch ersehne, Gutes erfinde, daß dann aber die Fülle so groß ist, daß ich verzichten muß, blindlings also nehme nur dem Zufall nach, aus der Strömung heraus, griffweise, so daß diese Erwerbung beim überlegten Niederschreiben nichts ist im Vergleich zur Fülle, in der sie lebte, unfähig ist, diese Fülle herbeizubringen und daher schlecht und störend ist, weil sie nutzlos lockt« (KKA T, 251; Heller und Beug 1983, 120f.).

Das Niederschreiben und In-Worte-Kleiden gelingt nur unzureichend – zu sehr sträubt sich das Unbewusste. Die Widerständigkeit des Traums scheint die Narration zu bekämpfen. Schreiberfahrung und Traumerfahrung ähneln sich. Methodisch lässt sich freilich das Analogiekonzept nicht effizient kontrollieren – kreativer Schreibprozess und Traumentstehung unterscheiden sich durch den Anteil an bewusster Eingriffsmöglichkeit:8 Kafkas Texturen enthalten auch zuweilen Korrekturen und Umformulierungen, die auf ein waches, der Tagesrationalität verpflichtetes Bewusstsein schließen lassen (Fromm 2010, 435). Dennoch scheint »Tageslicht« eine eher hinderliche als förderliche Bedingung für Kafkas Schreiben. Viele seiner Reflexionen über seine literarische Produktion deuten darauf hin, dass die Nacht und die Dämmerzustände der Schlaflosigkeit das Elixier für die Kreativität des Schreibers bereithalten. Schlaflosigkeit ist essenziell für Kafkas literarische Arbeitsweise. In einem Brief an Felice, den Kafka in der Nacht vom 15. zum 16. Dezember 1912 schreibt, heißt es:

»Ich habe den Tag über nicht geschlafen und, während ich den Nachmittag über und auch am beginnenden Abend dementsprechend mit hängendem Kopf und Nebeln im Gehirn herumgieng, bin ich jetzt am Beginn der Nacht fast erregt, fühle starken Anlauf zum Schreiben in mir, der Teufel, der immer in der Schreiblust steckt, rührt sich eben zur unpassendsten Zeit« (KKA BI, 335; Heller und Beug 1983, 129).

Die Nacht als Garantin des Alleinseins mit der Möglichkeit zur äußersten Konzentration auf das Schreiben kann nicht »genug Nacht« (KKA D, 40)9 sein:

»Was ich dann schreiben würde! Aus welchen Tiefen ich es hervorreißen würde! Ohne Anstrengung! Denn äußerste Koncentration kennt keine Anstrengung. Nur, daß ich es vielleicht nicht lange treiben würde und beim ersten vielleicht selbst in solchem Zustand nicht zu vermeidendem Mißlingen in einen großartigen Wahnsinn ausbrechen müßte« (KKA BII, 40f.; Unterstreichung im Original; Heller und Beug 1983, 131).

Kafkas Klagen über Schlaflosigkeit und Müdigkeit skandieren seine Tagebücher und Briefe; letztendlich sind sie müßige Beschwerde, denn der Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen ist für die Produktion seiner »Halbschlafphantasien« (KKA T, 909) die wichtigste kreative Ressource: »Kann ich die Geschichten nicht durch die Nächte jagen, brechen sie aus und verlaufen sich […]« (T III, 68); und an anderer Stelle:

»Wieder war es die Kraft meiner Träume, die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen, die mich nicht schlafen ließ. Das Bewußtsein meiner dichterischen Fähigkeiten ist am Abend und am Morgen unüberblickbar. Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben was ich nur will« (KKA T, 53; Heller und Beug 1983, 118).

Akribisch notiert Kafka Halbschlafbilder, Träume und Tagträume. Dass das Träumen, das die Ingredienz für das spätere Traumnotat spendet, zumeist quälend und mit großer psychischer Anstrengung verbunden ist, bezeugen viele seiner Aufzeichnungen. In einer Tagebucheintragung vom 2. Oktober 1911 heißt es:

»Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen. Und von jetzt an bleibt es die ganze Nacht bis gegen 5 so, daß ich zwar schlafe daß aber starke Träume mich gleichzeitig wach halten. Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß. Gegen 5 ist die letzte Spur von Schlaf verbraucht, ich träume nur, was anstrengender ist als Wachen. Kurz ich verbringe die ganze Nacht in dem Zustand, in dem sich ein gesunder Mensch ein Weilchen lang vor dem eigentlichen Einschlafen befindet. Wenn ich erwache sind alle Träume um mich versammelt aber ich hüte mich, sie zu durchdenken« (KKA T, 49f.; Guidice und Müller 1993, 17).

An Grete Bloch schreibt Kafka am 11. Februar 1914:

»Diese Art Schlaf, die ich habe, ist mit oberflächlichen, durchaus nicht phantastischen, sondern das Tagesdenken nur aufgeregter wiederholenden Träumen durchaus wachsamer und anstrengender als das Wachen. Es gibt Augenblicke im Bureau, wo ich redend oder diktierend richtiger schlafe als im Schlaf« (Br II, 330).

Als leidenschaftlich-exakter Protokollant seiner Träume überlässt sich Kafka einer écriture automatique,10 die ihm auch den Weg weist in die literarische Produktion:

»Das Traummaterial offenbart Möglichkeiten der erzählerischen Bildphantasie und des poetischen Entwurfs im Vorfeld der freien literarischen Erfindung. Träume zu notieren, bedeutet zunächst, sich an einem vorgegebenen Stoff abzuarbeiten, ohne daß der Sprung in die ungeschützte poetische Imagination erforderlich ist« (Alt 2018, 314).

Kafka bevorzugt eine intuitive Schreibweise ohne vorgefassten Plan, in der das Geschriebene wie aus einem Guss »wohlgebildet« (KKA T, 227) Gestalt annimmt (vgl. Engel 1998, 238).

In seinen literarischen Texten geraten die Strukturmuster des Traums unter das Gesetz der Fiktion. An der Schwelle von Wachen und Träumen modelliert Sprache Imaginäres und macht es auf bizarre Weise konkret und »anschaulich«. Dass die Grenze zwischen Traum und Text fließend ist und mitunter gar nicht wahrgenommen werden kann, demonstrieren Kafkas Texte auf subtile oder auch hinterlistige Weise. Zu Beginn des Schloß-Textes heißt es:

»Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an […].

Dann gieng er ein Nachtlager suchen; im Wirtshaus war man noch wach, der Wirt hatte zwar kein Zimmer zu vermieten, aber er wollte, von dem späten Gast äußerst überrascht und verwirrt, K. in der Wirtsstube auf einem Strohsack schlafen lassen. K. war damit einverstanden. Einige Bauern saßen noch beim Bier aber er wollte sich mit niemandem unterhalten, holte selbst den Strohsack vom Dachboden und legte sich in der Nähe des Ofens hin. Warm war es, die Bauern waren still, ein wenig prüfte er sie noch mit den müden Augen, dann schlief er ein« (KKA S, 7).

Der Text präsentiert Kafkas müden Helden an der Schwelle zum Schlaf,11 die gewissermaßen den Eintritt in eine Welt mit anderen als den realistischen Vorzeichen seines Tagesbewusstseins markieren und damit auch die folgenden textimmanent-ontologischen Ungereimtheiten, Diskontinuitäten und aufgebrochenen Kausalitäten des Textes als Traumgenerierung plausibilisieren könnte. Der Text selbst generiert sich dem entgegen als eine »Zone doppelter Artikulation«, indem er seinen Helden weckt, der möglichen Traumrezeption also explizit eine Absage erteilt, und gleichzeitig in seinem onirischen Modus fortfährt. Wenn der Signifikant des bewussten Sprechens sich dermaßen unverbindlich gebärdet und der Text nicht für seinen eigenen eindeutigen Status bürgen will, bedeutet das für die Lesenden ebenso einen hermeneutischen Dämmerzustand, in dem fiktive Welt und imaginäre Seelenlandschaft einander überlagern. Dämmerzustände sind textintern wie textextern riskant. In der Strafkolonie (KKA D, 201–248) wird der Delinquent, dessen Vergehen einzig im Einschlafen besteht, einem zwölfstündigen Folterritual ausgesetzt. Der Text versetzt in sehr ambivalenter Weise das Phantasma von Macht und Ohnmacht, von Folter und Lust in Schwingung. Die Gewaltsamkeiten, die den Text skandieren, werden umlagert von erotischen Konnotationen und einer Ästhetik des Schrecklichen, die die Lektüre auf ein beunruhigendes Element verpflichtet. Das Phantasma, das die grausame Bestrafung umlagert, nimmt die tödliche Qual als Verheißung noch größerer Befriedigung und Erkenntnis.

3 Lichtverhältnisse

Kafkas Texturen scheinen sich mit geschlossenen Augen dem Blick des Lesers darzubieten und ihm gleichzeitig und paradoxerweise ein Übermaß an »Zeigelust« aufzudrängen. Im Kampf um den Blick des Zuschauers generiert die Strafkolonie ein hochorganisiertes Folterspektakel, das auf unmittelbarer Sichtbarkeit12 und lückenloser Ausleuchtung beharrt. Im Brennpunkt allen Lichts steht der »eigentümliche« Folterapparat (KKA D, 203). Mit Katherine Stroczan, die in ihrem Aufsatz über den Maler Francis Bacon die exponierenden Lichtverhältnisse seiner Bilder bespricht, ließe sich hinzufügen:

»Das Beharren auf der restlosen Beleuchtung, auf der unmittelbaren Sichtbarkeit des ganzen Raumes und auf dem substantiell Faßbaren, läßt an das Gegenteil denken – an die nächtlichen Ängste eines durch die Dunkelheit gefesselten Kindes, das von bösen, aus unsichtbaren Ecken herauskriechenden Geistern bedroht wird. In der undurchdringlichen Schwärze einer endlos anmutenden Nacht sind weder Metaphern, Euphemismen noch Geheimnisse willkommen« (Stroczan 2000, 16f.).13

Kafkas Texte nutzen die Strukturmuster des Traums und geben die Traumtextur der totalen Sichtbarkeit preis. Seine Texte sind ausgeleuchtete Texturen, die das »Sehen-Wollen« und das »Sehen-Müssen« merkwürdig in der Schwebe halten. Die »Sehnsucht nach einem Licht ohne Schatten« (KKA T, 221) gebiert eine Welt ohne Geheimnisse, eine Welt, in der alles »zur Schau« gestellt und auf Transparenz ausgerichtet ist. Das Geheime und Intime wird dem öffentlichen Blick preisgegeben – die »Guckloch«14-, »Schlüsselloch«15- und Koitus-Szenen16 beispielsweise des Schloß-Textes locken mit geradezu pornographischem Exhibitionismus und verheißen dem Beobachter Einblick bis ins Letzte. Im Phantasma von Macht und Ohnmacht, Lust und Folter überlagern sich Kindheit, Sexualität und Gewalt. In der Wiederbelebung infantiler Selbst- und Objektimagines treiben Kafkas Texte libidinöse Ströme wie auch melancholische Erstarrung in gleicher Weise hervor.

Kafkas Helden sind distanzierte Voyeure, deren Sehen auf den Kontaktmodus der Distanz verpflichtet ist (vgl. Mattenklott 1981, 1252). Selbst dem Forschungsreisenden, der »nur mit der Absicht (reist) zu sehen« (KKA D, 222), eignet eine »Gleichgültigkeit« (vgl. KKA D, 208), deren aufdringliche Präsenz ihn »nahezu sichtbar unbeteiligt« (KKA D, 204; meine Hervorhebung) wirken lässt. Solch zur Schau gestellte Gleichgültigkeit kontrastiert in auffälliger Weise mit einer »Wissbegier«, die doch für gewöhnlich Reisenden, die zu »forschen« pflegen, unterstellt wird. Im Kontext der Traumdeutung hat Freud, Bezug nehmend auf Träume von geliebten Toten, auch über die »Gleichgültigkeit« des Träumers gesprochen: »Natürlich ist diese Gleichgültigkeit keine reale, sondern eine gewünschte, sie soll die sehr intensiven, oft gegensätzlichen Gefühlseinstellungen des Träumers verleugnen helfen […]« (Freud 2000 [1900], 417). Der Text scheint mit großer Anstrengung und Mühe all seine Energie geradewegs im distanzierten, so vorgeblich gleichgültigen Blick des Reisenden zu bündeln. Freilich – und vielleicht mag das die »Lokomotive« sein, die Adorno in seinen Aufzeichnungen zu Kafka als so bedrohlich empfand, – verspürt die Lesende schon früh im Verlauf der ersten Lektüre eine unbestimmte Angst, das Geschehen könnte trotz oder gerade wegen so viel augenscheinlicher Distanz den Reisenden in seinen malignen Sog ziehen oder als desaströser Funke auf ihn überspringen. Der »kühle« Betrachtungsmodus fungiert als Schutzschild, als wahrnehmungstechnische Barriere, die dem »Beobachter« das rettende Draußen sichern soll.17 Der Text bringt die Irritationen des Verstandes in der Metaphorik des Lichtes und der Hitze unter, einer Metaphorik, der sich auch die psychobiologische Gedächtnisforschung (Metcalfe und Jacobs 1996, 1-6) bedient. Während das »kühle«, alltägliche Gedächtnis den Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität unterliegt, werden Wahrnehmungseindrücke im »heißen« Gedächtnis nicht mehr kategorial erfasst und geordnet:

»Zusammenhanglose Sinnesfragmente, in denen olfaktorische (Gerüche), visuelle (Bildfragmente), akustische (Geräusche) und kinästhetische Eindrücke vorherrschen, treten an die Stelle geordneter Wahrnehmungsbilder. Diese Sinneseindrücke […] bleiben über lange Zeit hinweg lebendig; sie scheinen im Gedächtnis wie ›eingefroren‹ zu sein. Werden sie erneut stimuliert, sei es über situative Reize oder das Wiederaufleben der peritraumatischen Stimmungslage, so kehren sie in intrusiven Erinnerungsbildern wieder, die oft über Jahre und Jahrzehnte hinweg das gleiche Szenario wiederholen« (Fischer und Riedesser 1998, 89).

4 Leidlustverlötungen

Mit der »Leidlustverlötung« (Mecke 1982, 29) des Blicks korrespondiert in Kafkas Texten ein allumfassendes Szenario der phantasmatischen Verstrickung von Schuld und Begehren. An den dramaturgisch gestalteten Ablauf des akzentuierten Entsetzens schmiegt sich ein Moment, das ebenso Bestandteil einer Wunscherfüllungsfantasie sein könnte. Explizite Wunscherfüllungsfantasien finden sich in Kafkas Texten nur wenige. Sie umrahmen zumeist einen traumatischen Mangel. So entspricht die Wunschseite des Mangels vielleicht der Süße des Kognakgeruchs, die den Landvermesser im Schloß-Roman zum Träumen bringt: »[D]er Geruch war so süß, so schmeichelnd, so wie wenn man von jemand, den man sehr lieb hat, Lob und gute Worte hört und gar nicht genau weiß, um was es sich handelt und es gar nicht wissen will und nur glücklich ist in dem Bewußtsein, daß er es ist, der so spricht« (KKA S, 164). Paradoxerweise scheint jedoch das Fehlen der »gute(n) Worte« und damit auch das Fehlen eines guten inneren Objekts im sadomasochistischen Arrangement der Triebimpulse eine Art »Versöhnungsversprechen« zu verheißen. Die Szenen von Macht und Ohnmacht, Strafe, Gewalt und Folter scheinen der Preis für den Wunsch, »es möge überhaupt jemand sprechen«. Kafkas Texte konstruieren maligne Dreiecksbeziehungen, in der der Gequälte, der Folterer und der Zuschauer auf imaginäre Weise miteinander verschmolzen sind. Die Identifizierung mit dem Mächtigen kommt dem Rettungsversuch eines traumatisierten Kindes gleich, wie ihn Sandor Ferenczi beschrieben hat:

»[Traumatisierte Kinder sind] durch eine ungeheure Angst paralysiert. Die Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne. Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren. Durch die Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als äußere Realität und wird intrapsychisch, statt extra; das Intrapsychische aber unterliegt in einem traumhaften Zustand, wie die traumatische Trance einer ist, dem Primärvorgang, d.h. es kann, entsprechend dem Lustprinzip, gemodelt, positiv- und negativ-halluzinatorisch verwandelt werden. Jedenfalls hört der Angriff als starre äußere Realität zu existieren auf, und in der traumatischen Trance gelingt es dem Kind, die frühere Zärtlichkeitssituation aufrechtzuerhalten« (Ferenczi 1966, 186; Hervorhebung im Original).

Kafka bringt die unstillbare Liebessehnsucht der Kinderzeit nach der so existenziell benötigten Liebe in der Dynamik von Foltern und Gefoltertwerden unter. Kafkas »Tortur- und Selchmesserphantasien«18 mögen sich auch damit erklären lassen. In der szenischen Darstellung seines eigenen Masochismus sind »die Syntax der Sprache und ihre Eindeutigkeit«, so Fritz B. Simon in seinem Beitrag über die semiotischen Aspekte von Traum und Sprache, »in der Kopplung von Objekt und Wort zugunsten der analogen Darstellung der Beziehungsaspekte zurückgetreten« (Simon 1982, 689). Kafkas Szenographien der Gewalt, die auch seine Tagebücher, Briefe und Träume zum Ausdruck bringen, zeugen von »unverdautem« Material, das durch Verdichtungs- und Verschiebungsprozesse in symbolische Form gegossen, aus maligner Formlosigkeit evakuiert wird und, im besten Fall, textextern und traumextern im »verstehenden Anderen« untergebracht werden kann. Damit werden auch Traumerzählungen zur »zweiten Chance« (Mathys 2011, 21) für ein wunschgeleitetes Rearrangement, das zusätzlich zum autonom ablaufenden Traumvorgang in eine narrative Kontur übergeführt wird, auch wenn sich diese im Falle Kafkas »semiotisch nackt« und spröde anfühlt. Damit sind Leser und Leserin in ihrer Container- und Mentalisierungsfunktion gefordert. Kafkas ästhetische Strategie ordnet die traumatischen Einkapselungen in unterschiedlichen Kontexten jeweils neu zu textuellen Arrangements, denen die Hoffnung auf das »gute« Ende eingeschrieben ist. Als ästhetischer Reparationsversuch kämpft das Schreiben gegen den Wiederholungszwang des Alpdrucks an und ebnet damit einen symbolischen Pfad zur Wunscherfüllung. Damit wird auch der Alptraum Teil einer »Symbolisierungstrasse«, die über die traumatische Wörtlichkeit hinaus den Weg ins Innere des Wunsches und seiner Symbolisierung weist.

Anmerkungen

[1]
Kafkas Konjunktivkaskaden scheinen auch angstmachenden Situationen »die Realität rauben zu wollen«. Vgl. dazu Freud, der diesen Mechanismus der »Entwirklichung« im Kontext der Träume beschreibt: »Die Seele kümmert sich entweder überhaupt nicht um die Anlässe zu Sensationen während des Schlafes, wenn sie dies gegen die Intensität und die von ihr wohlverstandene Bedeutung dieser Reize vermag; oder sie verwendet den Traum dazu, diese Reize in Abrede zu stellen, oder drittens, wenn sie dieselben anerkennen muß, so sucht sie jene Deutung derselben auf, welche die aktuelle Situation als einen Teilbestand einer gewünschten und mit dem Schlafen verträglichen Situation hinstellt. Die aktuelle Sensation wird in einen Traum verflochten, um ihr die Realität zu rauben« (Freud 2000 [1900], 240f.; Hervorhebung im Original).
[2]
Eine nahezu aufdringlich gehaltene Kondensation des »Möglichen«, aber nicht »Wirklichen«, führt Kafkas Kurztext Auf der Galerie vor: Verschiedene Varianten der Potenzialität werden bildhaft im ersten, einem Konditionalsatz in Szene gesetzt, um dann – vom Indikativ abgelöst – den Text in die Enigmatik fiktionsimmanenter (Traum-)Wirklichkeit überzuführen: »Da es aber nicht so ist […] – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen« (KKA D 262f.).
[3]
Vgl. dazu auch das erste Kapitel des Schloß-Romans: »So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Straße nämlich, die Hauptstraße des Dorfes, führte nicht zum Schloßberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und, wenn sie sich auch vom Schloß nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher« (KKA S, 21).
[4]
Vgl. auch: »Aufregungszustand Nachmittag […] Allmählich verwandelte sich aber diese Aufregung, die Gedanken wurden auf das Schreiben hingelenkt, ich fühlte mich dazu fähig, wollte nichts anderes als die Möglichkeit des Schreibens haben, überlegte, welche Nächte ich in der nächsten Zeit dafür bestimmen könnte, lief unter Herzschmerzen über die steinerne Brücke, fühlte das schon so oft erfahrene Unglück des verzehrenden Feuers, das nicht ausbrechen darf, erfand, um mich auszudrücken und zu beruhigen, den Spruch ›Freundchen ergieße Dich‹, sang ihn unaufhörlich nach einer besondern Melodie und begleitete den Gesang, indem ich ein Taschentuch in der Tasche wie einen Dudelsack immer wieder drückte und losließ« (KKA T, 771f.; Heller und Beug 1983, 144f.).
[5]
Vgl. auch: »Endlich sage ich es, behalte aber den großen Schrecken, daß zu einer dichterischen Arbeit alles in mir bereit ist und eine solche Arbeit eine himmlische Auflösung und ein wirkliches Lebendigwerden für mich wäre, während ich hier im Bureau um eines so elenden Aktenstückes willen eines solchen Glückes fähigen Körpers um ein Stück seines Fleisches berauben muß« (KKA T, 54; Heller und Beug 1983, 118).
[6]
Am 19. Juli 1912 schreibt er Willy Haas: »Von Freud kann man Unerhörtes lesen, das glaube ich. Ich kenne leider nur wenig von ihm und viel von seinen Schülern und habe deshalb nur einen großen leeren Respekt vor ihm« (KKA BI, 162).
[7]
Vgl.: »Vor dem Einschlafen hatte ich gestern die zeichnerische Vorstellung einer für sich bergähnlich in der Luft abgesonderten Menschengruppe, die mir in ihrer zeichnerischen Technik vollständig neu und einmal erfunden leicht ausführbar schien. […] Vor Erstaunen über diese schöne Zeichnung die mir im Kopfe eine Spannung erzeugte, die meiner Überzeugung nach dieselbe und zwar dauernde Spannung war, von der, wann ich wollte, der Bleistift in der Hand geführt werden könnte, zwang ich mich aus dem dämmernden Zustand heraus, um die Zeichnung besser durchdenken zu können. Da fand sich allerdings bald, daß ich mir nichts anderes vorgestellt hatte, als eine kleine Gruppe aus grauweißem Porcellan« (KKA T 296f.; Giudice und Müller 1992, 31f.).
[8]
»Die Tagebücher und (später) die Oktavhefte verraten jedoch auch, daß Überfluß die Bedingung für Kafkas literarische Arbeit ist: kaum zählbar sind die Bruchstücke und Entwürfe, die hier in der Werkstatt der Phantasie angeliefert und schließlich verworfen werden« (Alt 2918, 315).
[9]
Vgl. auch den Brief an Felice vom 26.6.1913, in dem Kafka das »nächtliche« Schreiben zum »tödlichen« Schreiben radikalisiert: »Mein Verhältnis zum Schreiben und mein Verhältnis zu den Menschen ist unwandelbar und in meinem Wesen, nicht in den zeitweiligen Verhältnissen begründet. Ich brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit, nicht ›wie ein Einsiedler‹ das wäre nicht genug, sondern wie ein Toter. Schreiben in diesem Sinne ist ein tieferer Schlaf also Tod und so wie man einen Toten nicht aus seinem Grabe ziehen wird und kann, so auch mich nicht vom Schreibtisch in der Nacht. Das hat nichts Unmittelbares mit dem Verhältnis zu Menschen zu tun, ich kann eben nur auf diese systematische zusammenhängende und strenge Art schreiben und infolgedessen auch nur so leben« (KKA BII, 221f.; Heller und Beug 1983, 135).
[10]
So entsteht auch Das Urteil »in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug« (KKA T 460 bzw. Heller/Beug 1983, 19).
[11]
Schwellensituationen und Dämmerzustände zwischen Nacht und Tag, Schlafen und Wachen scheinen für die Kafka’schen Protagonisten immer ein Risiko zu bergen: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet« (KKA P, 7); oder: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. […] Es war kein Traum« (KKA D, 115).
[12]
Vgl. auch die Inszenierung visuellen Ausgesetztseins im Amerika-Roman: »Überdies bestanden die Wände der Portierloge ausschließlich aus ungeheueren Glasscheiben, durch die man die Menge der im Vestibül gegeneinanderströmenden Menschen deutlich sah, als wäre man mitten unter ihnen. Ja es schien in der ganzen Portierloge keinen Winkel zu geben, in dem man sich vor den Augen der Leute verbergen konnte« (KKA V, 254f.); Traum vom 6. Mai 1912: »Links hinter mir sah ich in einem förmlich mit lauter Glaswänden umgebenen Zimmer einen Mann sitzen, der mir den Rücken zuwandte« (KKA T, 420; Giudice und Koch 1993, 33); Auch das Dahinvegetieren des »Hungerkünstlers« wird »grell« ausgeleuchtet: »Viel lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter setzten, mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales sich nicht begnügten, sondern ihn mit den elektrischen Taschenlampen bestrahlten, die ihnen der Impresario zur Verfügung stellte. Das grelle Licht störte ihn gar nicht […]« (KKA D, 335f.).
[13]
An anderer Stelle zieht Stroczan, Bezug nehmend auf die »enge Verbindung zwischen Psychosomatik und perversem Masochismus« auf den Bildern Bacons, einen expliziten Vergleich mit Kafka: »Dieser Modus des psychischen Funktionierens, der sich in der alpdruckartigen Landschaft des Prozesses niederschlägt […], illustriert die klaustrophobische Qualität eines zwischen Verschmelzung, narzißtischer und fetischistischer Besetzung eingeschlossenen linearen Systems, das dem Werk Bacons eigen ist« (Stroczan 2000, 24).
[14]
»Durch das kleine Loch, das offenbar zu Beobachtungszwecken gebohrt war, übersah [K.] fast das gesamte Nebenzimmer. An einem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers in einem bequemen Rundlehnstuhl saß grell von einer vor ihm niederhängenden Glühlampe beleuchtet Herr Klamm« (KKA S, 60; meine Hervorhebung).
[15]
»[D]ie Wirtin […] blickte durchs Schlüsselloch, wandte sich dann zu den andern mit aufgerissenen Augen, erhitztem Gesicht, winkte sie mit dem Finger zu sich und nun blickten sie abwechselnd durch […]« (ebd., 171f.).
[16]
Frieda und K. schlafen sozusagen unter den Augen der Gehilfen miteinander: »›Wir mußten Dich doch suchen‹, sagten die Gehilfen, ›da Du nicht herunter zu uns in die Wirtsstube kamst, wir suchten Dich bei Barnabas und fanden Dich endlich hier, hier sitzen wir die ganze Nacht. Leicht ist ja der Dienst nicht‹« (ebd., 70.).
[17]
Vgl. dazu: »Depersonalisierungserlebnisse, die wir auch als ›Selbstverdopplung‹ des Subjekts betrachten können, stellen ebenfalls einen solchen Schutzmechanismus dar. Das personale Erlebniszentrum trennt sich vom empirischen Selbst und schaut der bedrohlichen Szene von außen, oft schwebenderweise von oben zu. Folteropfer z.B., die über solche dissoziativen Fähigkeiten verfügen, sind gegenüber der unerträglichen traumatischen Situation möglicherweise besser geschützt als andere, denen diese Fähigkeit nicht zur Verfügung steht« (Fischer und Riedesser 1998, 81).
[18]
»Ja, das Foltern ist mir äußerst wichtig, ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden und Foltern« (KKA BIII, 366; Haas 1966, 186); »Weißt Du, wenn ich so etwas hinschreiben will wie das folgende, nähern sich schon die Schwerter, deren Spitzen im Kranz mich umgeben, langsam dem Körper, es ist die vollkommenste Folter […]« (KKA BIII, 307; Haas 1966, 151); »Liebe ist, daß Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle« (KKA BIII, 347; Haas 1966, 172); »Vorstellungen wie z.B. die, daß ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie ein Braten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der Hand einem Hund in die Ecke zuschiebe –, solche Vorstellungen sind die tägliche Nahrung meines Kopfes!« (KKA BII, 152; Brod 1975, 114f.); »Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers, das eiligst und mit mechanischer Regelmäßigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen« (KKA T, 560); »Die ergiebigste Stelle zum Hineinstechen scheint zwischen Hals und Kinn zu sein. Man hebe das Kinn und steche das Messer in die gestrafften Muskeln. Die Stelle ist aber wahrscheinlich nur in der Vorstellung ergiebig. Man erwartet dort ein großartiges Ausströmen des Blutes zu sehn und ein Flechtwerk von Sehnen und Knöchelchen zu zerreißen, wie man es ähnlich in den gebratenen Schenkeln von Truthähnen findet« (KKA T, 754); »Noch einmal schrie ich aus voller Brust in die Welt hinaus. Dann stieß man mir den Knebel ein, fesselte Hände und Füße und band mir ein Tuch vor die Augen. Ich wurde mehrmals hin und her gewälzt, ich wurde aufrecht gesetzt und wieder hingelegt auch dies mehrmals, man zog ruckweise an meinen Beinen, daß ich mich vor Schmerzen bäumte, man ließ mich ein Weilchen ruhig liegen, dann aber stach man mich tief mit irgendetwas Spitzem, überraschend hier und dort, wo es die Laune eingab« (KKA T 816f.).

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Vietinghoff-Scheel, Alfrun von. 1991. Es gibt für Schnee keine Bleibe. Trauma-analoge Literaturdeutungstheorie als Beziehungsanalyse von Text und Leser am Beispiel von Franz Kafkas »Schloß«. Frankfurt/Main: Suhrkamp. (= suhrkamp taschenbuch 744)

Die Autorin

Bettina Rabelhofer ist ao. Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz und Psychoanalytikerin i.A.u.S. (Mitglied des Grazer Arbeitskreises für Psychoanalyse); von 1999 bis 2005 war sie Mitarbeiterin im Spezialforschungsbereich »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900« und gehörte von 2013 bis 2017 dem Team der Psychoanalytischen Forschungs- und Lehrambulanz der Univ.-Klinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie Graz an. Forschungsschwerpunkte sind Literatur der Moderne, österreichische Gegenwartsliteratur, Interdiskursivität von Literatur und Psychopathologie, Literatur und Psychoanalyse› Literatur und Migration.

Kontakt: bettina.rabelhofer@uni-graz.at