Ralph Sichler
Journal für Psychologie, 33(1), 3–12
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2025-1-3 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de»But so it is with music, it is of a time but also timeless; a thing with which to make memories and the memory itself. Though we seldom consider it, music is built in time as surely as a sculptor or welder works in physical space. Music transcends time by living within it, just as reincarnation allows us to transcend life by living it again and again.«
Bob Dylan (2022, 334)
Am 1. November 2022 erschien Bob Dylans Buch The Philosophy of Modern Song (Dylan 2022). Es war bereits seit dem Frühjahr davor angekündigt worden und die Veröffentlichung wurde von der Fangemeinde mit Spannung erwartet. Als es dann so weit war, stellte das Buch vor allem für jene eine große Überraschung dar, die tatsächlich eine Philosophie des modernen Songs erwartet hatten – also eine gelehrte Abhandlung, eine Art von gewichtiger, tiefsinniger Analyse der populären Musik des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Doch das durch zahlreiche Abbildungen schön und ansprechend gestaltete Buch enthielt »lediglich« meist assoziativ ausgeführte Reflexionen von Bob Dylan zu insgesamt 66 Songs im Zeitraum von 1924 bis 2004. Eine Überraschung, keine Enttäuschung, aber sicherlich auch keine Philosophie des modernen Songs im akademischen Sinn. Allerdings, und dies offenbart die Lektüre zusammen mit dem Hören der von Dylan ausgewählten Songs, handelt es sich um ein höchst subjektives Kaleidoskop von Stücken, von denen jedes, zumindest aus Sicht des Nobelpreisträgers, etwas Besonderes aufweist, Wirkung gezeigt und Spuren hinterlassen hat, sei es für die Geschichte der populären Musik, aber ebenso für die Entwicklung der modernen Gesellschaft und ihrer Generationen oder einfach für das Hörerleben und Schaffen des Buchautors selbst. In gewisser Weise ist das Buch eine, vielleicht die Playlist des großen Singer-Songwriters, weniger zum puren Hören, eher zum Lesen und mannigfaltig entdeckenden Hören (etliche Songs sind nahezu unbekannt, sogenannte Hits oder Evergreens findet man nur hier und da). Also eine sehr persönliche Angelegenheit, die natürlich auch vor dem Hintergrund betrachtet werden sollte, dass manche Musikstile weniger oder auch gar nicht berücksichtigt sind. So ist das Buch eben die Auswahl an Songs eines Mannes seiner Zeit, seiner Generation, wohl auch seines Geschlechts, seiner Schaffens- und Wirkungskreise etc.
Das Buch liest wohl selten jemand von vorne bis hinten durch. Dazu ist schon der Aufforderungscharakter mancher (dann eher bekannter) Songs zu stark. Zusätzlich lädt die Aufmachung mit zahlreichen Bildern eher zum Durchblättern und Verweilen ein. Dabei offenbart sich ein dem Singer-Songwriter Dylan zuordenbarer musikalischer Kosmos, mithin ein durch Songs konstituierter Weltausschnitt, der vor dem Hintergrund der ausgewählten Stücke für emotionale sowie erwogene Präferenzen, wahrgenommene oder erlebte Einflüsse und identifizierte Wirkungen steht. Beim Lesen und auch Hören kann die Frage auftreten, ob nicht die meisten Menschen einen solchen biografisch und gesellschaftlich konstituierten, subjektiven Song-Kosmos besitzen. Hier erschließt sich eine eigene Welt, die den durch den Lauf des Lebens vermittelten individuellen Bezug zu Songs deutlich werden lässt, solchen Songs, die einer Person etwas bedeuten, die dem Hörer oder der Hörerin etwas, ja offenbar sogar sehr viel sagen, die ansprechen, ja anmachen, die unter die Haut gehen, zum Tanzen verleiten, die Lust auf mehr machen oder auch die Augen feucht werden lassen.
Vor diesem Hintergrund ist die Idee entstanden, warum man sich nicht – in lockerer Anlehnung an Dylans Buch – an eine Psychologie des modernen Songs heranwagen sollte. Dabei würde es darum gehen, die bislang wenig thematisierten psychologischen Aspekte der Wahrnehmung und des Erlebens, allgemein der Rezeption von Songs und ihre Auswirkungen auf das Handeln und Leben von Menschen im Kontext relevanter, unterschiedlicher Milieus und Kulturen in den Blick zu rücken. Dass die Psychologie (im Unterschied zu anderen Nachbarwissenschaften wie etwa die Soziologie oder Kulturanthropologie) dazu wenig zu sagen hat, ist erstaunlich, vor allem, wenn man sich vor Augen führt, wie die zunehmend medial repräsentierte Darbietung und Kultur moderner Songs die Lebenswelt mit ihren mannigfaltigen Lebensformen und Lebensstilen schon seit Jahrzehnten nachhaltig prägt. Und dies gilt nicht nur für Jugendbewegungen. Der Bezug zu modernen Songs in ihrer kaum überschaubaren Vielgestaltigkeit an Genres und Stilen geht heute durch alle Generationen, Milieus, Subkulturen und Ethnien. Moderne Songs tragen so oft maßgeblich zur Konstitution von sozialen Gruppierungen oder Bewegungen und zur Identitätsbildung bei.
Das Universum der Songs ist derart umfangreich, dass es wohl kaum eine Sache oder ein Thema, eine Angelegenheit oder Situation, ein Erleben oder Handeln gibt, was nicht durch ein Stück zum Gegenstand gemacht wurde. Songs können von Hüten (Bob Dylan: Leopard-Skin Pill-Box Hat), Schuhen (Carl Perkins: Blue Suede Shoes), einem Regenschirm (Rihanna: Umbrella), Fahrrädern (Queen: Bicycle Race), einem Taxi (Joni Mitchell: Big Yellow Taxi) sowie von Kaffee und Zigaretten (Otis Redding: Cigarettes and Coffee) handeln. Natürlich sprechen und singen die hier beispielhaft genannten Musikstücke von mehr als nur den genannten (und anderen) Dingen, die oft für ein Gefühl, eine Geschichte, eine Haltung oder einen anderen belangvollen Zusammenhang stehen. Es ist bekannt, dass Songs oft ganze Generationen und ihren Lebensstil, ihre Emotionen und ihre Auffassungen von der Welt und sich selbst repräsentieren (z. B. The Who: My Generation; Nirvana: Smells Like Teen Spirit; Bronski Beat: Small Town Boy; Lady Gaga: Born This Way). Songs thematisieren oft auch den Aufstand oder Kampf gegen ältere Generationen, gesellschaftlich vorherrschende Auffassungen und überkommene Ansichten (z. B. The Rolling Stones: Street Fighting Man; Pink Floyd: Another Brick in the Wall [Part 2]; The Clash: London Calling).
Auch wenn Songs so gut wie alle menschlichen Angelegenheiten in Raum (z. B. David Bowie: Space Oddity; Aimee Mann: Lost In Space) und Zeit (z. B. Pink Floyd: Time; Florence + The Machine: Dog Days Are Over) aufrollen, gut zwei Drittel aller populären Lieder handeln von Liebe und engen Paarbeziehungen. Dies ist schon immer, zumindest seit langer Zeit so (Christenson et al. 2018). Dabei darf nicht übersehen werden, dass die in Songs geschaffenen Zugänge zu Liebe und Sexualität in ihrer Mannigfaltigkeit wohl beispiellos sind. Viele der Erfahrungen und Begehren der LGBTQ+-Bewegung finden sich teils schon seit Jahrzehnten in etlichen Songs (z. B. The Kinks: Lola; Madonna: Vogue etc.). In Love Songs wird immer wieder der Ausbruch an Freude zum Ausdruck gebracht und das damit verbundene Glück gefeiert (z. B. Cyndi Lauper: Girls Just Wanna Have Fun; Beyoncé: Love On Top; Pharrell Williams: Happy). Aber noch mehr wird der zerstörerischen Kraft und dem oft daraus folgenden schweren Leid die Aufmerksamkeit geschenkt (z. B. Joy Division: Love Will Tear Us Apart; Amy Winehouse: Back to Black; Lord Huron: The Night We Met). Liebe kann Menschen entscheidend und auf sehr unterschiedliche Weise (radikal) verändern (Radiohead: Creep; Björk: Who Is It [Carry My Joy on the Left, Carry My Pain on the Right]), gerade auch wenn Beziehungen scheitern (z. B. Alanis Morisette: You Oughta Know; Ryan Adams: Shadowlands). Begebenheiten in engen Beziehungen und Emotionen der Liebe werden durch Songs in einer kaum überschaubaren Vielfalt, gerade auch in ihrer Ambivalenz, geschildert und durch die Musik erlebbar gemacht (z. B. Aretha Franklin: Respect; U2: With or Without You; Rihanna feat. Mikky Ekko: Stay). Besungen wird oft die Passion oder pure Leidenschaft (z. B. Fever, viele Mal interpretiert, z. B. von Little Willie John, Peggy Lee, Elvis Presley; Joan Armatrading: Love and Affection; Bruce Springsteen: I’m on Fire), aber auch der kühle Kopf, den man in Liebesangelegenheiten bewahren kann oder sollte (z. B. Nina Simone: Don’t Let Me Be Misunderstood; Supertramp: The Logical Song).
Doch wenn auch weitaus die meisten Songs Liebe und Sexualität besingen, so geht es beim Thema Beziehungen nicht immer um das intime Paarerleben. Es gibt bedeutende Stücke über Freundschaft (z. B. The Beatles: With A Little Help From My Friends; Carole King: You’ve Got A Friend; Dionne Warwick: That’s What Friends Are For; Red Hot Chili Peppers: My Friends) und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern (z. B. Cat Stevens: Father and Son; Stevie Wonder: Isn’t She Lovely; Eric Clapton: My Father’s Eyes). Songs behandeln auf ihre Weise auch immer wieder Fragen, wie sie sich aus Sicht der Psychologie ergeben können, etwa die prinzipielle Schwierigkeit, menschliches Verhalten überhaupt zu verstehen (Björk: Human Behavior), extreme Formen des Erlebens und des Ausdrucks (z. B. Talking Heads: Psycho Killer; Sia: Breathe Me) oder auch der Unfähigkeit, dem eigenen Leid einen adäquaten Ausdruck zu geben (z. B. Nine Inch Nails: Hurt; Tracy Chapman: Fast Car), was Songs auf ihre Weise dann doch oft vermögen. Sie thematisieren die psychologische Perspektive auf menschliches Handeln und Erleben auf ihre Art, aber nicht selten so, dass auch der wissenschaftliche Diskurs davon profitieren könnte, etwa bei der Differenzierung von unterschiedlichen emotionalen Nuancen des Weinens (Nick Cave and the Bad Seeds: The Weeping Song, kongenial gecovert in der österreichischen Version von Ernst Molden: Numma zum waanan). Einige moderne Songs thematisieren sich selbst (oder den bzw. die Songwriter und das künstlerische Schaffen) und erfüllen damit das Kriterium der in diesem Fall ästhetisch konstituierten Reflexivität in der Moderne (z. B. Elton John: Your Song; Queen: Bohemian Rhapsody; Michael Jackson: Man in the Mirror; Travis: Writing To Reach You).
Dies sind alles nur wenige und subjektiv ausgewählte Streiflichter aus den unendlichen Weiten des modernen Song-Kosmos. Wie im Fall des Universums ist es nicht möglich, die unbegrenzte Vielfalt moderner Songs einem totalperspektivischen Ordnungsprinzip zu unterwerfen. Es fällt auch nicht leicht, den hier verwendeten Begriff des modernen Songs einzugrenzen und ihn von anderen Formen musikalischer Praxis zu unterscheiden. Weniger durch spezifische Definitionsmerkmale als im Bezug zu Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins (Weiberg 2022) lassen sich jedoch folgende Strukturaspekte anführen, die zur Charakterisierung von modernen Songs herangezogen werden können:
Damit sind nur einige Merkmale benannt, und es können zu allen genannten Punkten leicht etliche Ausnahmen gefunden werden, etwa zur Länge von Songs (z. B. Iron Butterfly: In-A-Gadda-Da-Vida; Genesis: Supper’s Ready) oder zu deren Liedcharakter (vgl. etwa das Instrumentalstück Jessica von The Allman Brothers Band). Gleichwohl ist ein weitgehend gemeinsames Verständnis dessen, was im Kontext unseres Schwerpunktheftes als moderner Song gelten kann, für einen ersten Bogen an möglichen Zugängen zur psychologischen Thematisierung zu deren Rolle in der gegenwärtigen Alltagskultur hilfreich. In der vorliegenden Ausgabe des Journals für Psychologie geht es um die Bedeutung von modernen Songs für die Lebenswelt in ihren kulturellen, sozialen und individuellen Bezügen. Dem kann auf theoretisch-konzeptioneller Grundlage nachgegangen werden, Erkenntnisse können aber ebenso auf empirischen Studien beruhen, die Songs in ihrer Bedeutung und ihrem soziokulturellen Kontext im Rahmen eines offenen psychologischen Zugangs rekonstruktiv, interpretativ oder phänomenologisch zu erschließen suchen.
Der vorliegende Themenschwerpunktband bietet hierfür erste anregende Einblicke, jedoch keine definitiv eingegrenzte, ausgereifte Psychologie des modernen Songs. Es steht infrage, ob so etwas überhaupt möglich ist und auch sinnvoll wäre. Das durch moderne Songs geschaffene Universum ist unermesslich und in permanenter Veränderung. Den hier aufgenommenen Beiträgen geht es darum, verschiedene Aspekte moderner Songs aus psychologischer oder verwandter Perspektive aufzugreifen und im Rahmen konzeptioneller oder empirischer Studien zu vertiefen. Dabei stehen jeweils sehr unterschiedliche Aspekte und Zugänge zu modernen Songs im Zentrum der Betrachtung. Neben der Analyse auf der Text- und/oder Musikebene einschließlich ihrer derzeitigen Möglichkeiten der multimedialen Vermittlung stehen häufig Fragen der Selbstthematisierung durch die Inhalte und Musik im Zentrum der Betrachtung. In der heute durch moderne Technologien eng verzahnten Lebensführung mit der Musikkultur nehmen Songs häufig eine prominente Rolle bei der Konstitution kollektiver und individueller Identitäten ein. Durch Musikstile und damit verbundene Geschmackspräferenzen entstehen (oft neue) Lebensformen und Lebensstile. Dies zeigt sich deutlich in den vergangenen Jahrzehnten der musikkulturellen Entwicklung von Rock and Roll, Folk, Beat, Metal, Punk, New Wave, Grunge, Hip-Hop, Indie, Alternative etc. Die meisten hier genannten und viele nicht genannte Musikstile haben die Lebensweise und das Lebensgefühl etlicher Generationen maßgeblich beeinflusst. Die Musik und vor allem immer wieder bestimmte Songs haben sich oft tief in ihr Erleben und Handeln eingeschrieben – und eingesungen, möchte man ergänzen. Songs prägen Menschen etwa im Rahmen eines bestimmten Lebensabschnitts oder sie begleiten sie ein Leben lang.
Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Welt der modernen Songs sich längst zu einer Industrie entwickelt hat. Es fließt viel Geld, die Komposition, Darstellung und Vermarktung von Songs ist Big Business. Deshalb gehört auch die Musikindustrie zu einer Psychologie des modernen Songs, insbesondere dann, wenn das Marktverhalten von Individuen und Gruppen in enger Verbindung mit dem oft dispositiven Konsum von Musik steht. Auch Produkte werden nicht selten mit mehr oder weniger bekannten Songs beworben, oft entsteht sogar der Effekt, dass der Song mehr mit dem beworbenen Artikel als mit den Musikschaffenden in Verbindung gebracht wird (z. B. Derek and the Dominos: Layla für Opel; Ting Tings: Shut and let me go für Fanta; Andreas Johnson: Glorious für Nutella). Und es gibt Fälle, wo Songs durch das musikalisch bemerkenswerte Advertisement von Produkten erst entstanden sind (z. B. Kate Yanai: Summer Feeling [Bacardi Feeling] für Bacardi oder der von mehreren Interpretinnen und Interpreten realisierte Song Like Ice In The Sunshine für Langnese).
Songs sind ein essenzieller Bestandteil der modernen pluralen Gesellschaft mit ihren diversen Subsystemen. Sie gehören zum Leben von Menschen in sehr unterschiedlichen Hinsichten. Dies betrifft sowohl die Industriegesellschaften als auch den Globalen Süden. Gerade aus benachteiligten Regionen der Erde und aus Subkulturen, deren Mitglieder gesellschaftlich ausgegrenzt oder auch verfolgt wurden und nach wie vor werden, sind immer wieder Gegenbewegungen und Protestformen entstanden, die durch Musikstile oder bestimmte Songs mitgetragen wurden. Nicht selten wurden solche Musikrichtungen dem Mainstream der modernen Gesellschaft einverleibt, was häufig auch die Grundlage für kommerzielle Erfolge der Musikindustrie bildete. Auf diesen reichhaltigen Kontext ist auch eine Psychologie des modernen Songs zu beziehen. Sie wäre Teil einer ihren gesellschaftlich-politischen Bezug reflektierenden Kulturpsychologie.
Die in diesem Heft versammelten Beiträge erörtern die Frage nach der psychologisch relevanten Bedeutung von Songs im gesellschaftlichen und individuellen Leben von Menschen unterschiedlicher soziokultureller Provenienz aus diversen disziplinären, diskursiven, paradigmatisch-theoretischen und methodologischen Perspektiven. Damit wird der Komplexität der Fragestellung zumindest im Ansatz Rechnung getragen. Freilich kann nicht erwartet werden, dass mit diesem Heft die denkbaren psychologischen Dimensionen von Lebensformen und Kulturen, die durch moderne Songs mitkonstituiert werden, erschöpfend thematisiert werden. Das ist auch nicht das Ziel. Allerdings sollten die hier vorliegenden Beiträge eine erste Einschätzung der angesprochenen Komplexität, aber auch der vielfältigen Möglichkeiten von Forschungsanliegen gestatten, die sich einer Psychologie des modernen Songs zuwenden.
Im ersten Beitrag thematisiert Carsten Heinze die düsteren Klänge in Jugend(-sub-)kulturen und entsprechenden Szenen. Ziel seines Textes ist der Versuch einer historischen Differenzierung von Musikstilen und Jugendbewegungen im Zeitraum der 1970er bis zu den 1990er Jahren. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass düstere Klänge insbesondere im Punk und Rap oft mit sozialkritischen Tönen aus unterschiedlichen politishen Richtungen einhergehen und auch entsprechende Botschaften transportieren, die den Rezipientinnen und Rezipienten vielfältige Identifikationsmöglichkeiten bieten. Ferner schaffen Songs aus dieser Subkultur eine Atmosphäre, welche die Lust an der Faszination des Dunklen und Unheimlichen zu befriedigen erlaubt.
Im Beitrag von Ralph Sichler wird Bob Dylans Song Mississippi zum Thema gemacht. Ausgangspunkt der texthermeneutischen Analyse ist die sinnbildliche und kulturelle Metapher des großen Stroms. Im Zuge kontextualisierender Interpretationen wird aufzuzeigen versucht, dass der frei dem Bluesschema folgende Song mit einem parataktisch angeordneten Textkorpus vordergründig von der Hoffnung und vom Scheitern in der Liebe und im Leben handelt, im Kern aber eine vielschichtige Ästhetik der Existenz aufrollt. Im Spiel mit poetischen Bildern, ambivalenten Emotionsangeboten, ambigen Erzählfragmenten und offen gehaltenen philosophischen Fragen etwa zur Irreversibilität des Lebens präsentieren und reflektieren Text und Musik die Botschaft fortwährender Wanderschaft und der vergeblichen Suche nach Sinn. Doch dies sollte uns zuversichtlich stimmen, so die augenzwinkernd versöhnlich dargebotene Ironie als Kernelement der Ästhetik in Bob Dylans Song.
Agnes Stephenson wendet sich in ihrem Beitrag dem Musical Hedwig and the Angry Inch und dabei vor allem dem Song The Origin of Love zu. Das Lied nimmt eine queere Perspektive auf das Phänomen Liebe ein, dies legt schon die Orientierung am antiken Mythos vom Kugelmenschen nahe. Im Rahmen einer tiefenhermeneutisch angelegten Interpretation wird dargelegt, dass der Song mehrdeutige Emotionen weckt, da er kulturell und individuell verankerte Konzepte von Zuneigung und Sexualität, Geschlechtlichkeit und Identität infrage stellt. Liebe kann in der Gleichzeitigkeit von Verbindung und Trennung neu gedacht werden. Identität stellt keine statische Komponente einer Person dar, sondern ist fluid und wird performativ fortwährend neu konstituiert.
Risto Lenz beschäftigt sich in seinem Beitrag »Roh, fehlbar und menschlich« mit Frank Ocean als Confessional Singer-Songwriter des Digitalen. Der Begriff »Confessional Singer-Songwriter« bezeichnet seit den 1960er Jahren eine besondere Gruppe von Musikschaffenden, die in ihren Songs sehr persönliche, tief emotionale, oft auch autobiografisch gefärbte Inhalte zum Thema machen und auf diese Weise eine besondere, exklusive Nähe zu ihrem Publikum herzustellen versuchen. Risto Lenz zeigt am Beispiel des Künstlers Frank Ocean auf, dass sich im Zuge der Digitalisierung, aber auch bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen dieser Typus des Singer-Songwriters verändert hat. Die Reduktion der Kommunikation im Austausch mit dem Publikum, die bewusste Gestaltung eines authentischen Auftretens und die Balance von persönlichen und allgemeinen Botschaften sind heute zentrale Elemente der Selbstthematisierung konfessioneller Musikschaffender im digitalen Zeitalter.
Ein weiteres Phänomen im Zusammenhang der um moderne Songs entstandenen Populärkultur sind sogenannte Playlists, die vor allem durch neue technische Möglichkeiten einen rasanten Aufschwung an Bedeutung und Verbreitung gefunden haben. Solche Playlists dienen nicht nur dem individuellen Konsum, sondern vermehrt der Selbstthematisierung und Selbstdarstellung. Diesem Phänomen widmet sich der Beitrag von Christian Schröder »Religiöse Identität durch säkulare Musik. Playlists als Element post-konfessioneller Lebensstile«. Die Analyse der vorliegenden Songlisten zeigt, dass dort existenzielle Themen wie etwa Liebe und Hoffnung im Übergangsbereich von religiöser und nicht-religiöser Konnotierung verhandelt werden. Es wird deutlich, dass der in den Playlists versammelte emotionale, sinnbezogene und performative Gehalt vielfältige Identifikationsangebote und Möglichkeiten der Thematisierung existenzieller Lebensfragen auch, aber nicht zwangsläufig in religiösen Kontexten vor allem für jüngere Menschen schafft.
Celia Wolter Rodríguez beschäftigt sich in ihrem Text »Zur Bedeutung von Deutschrap für jugendliche Hörerinnen und Hörer im Kontext ihrer Lebensgeschichte« im Rahmen einer intersektionalen Perspektive mit den Diskursangeboten und Möglichkeiten der Subjektpositionierung im Kontext von Deutschrap. Die verzweigte Frage nach dem hier zugrunde liegenden Verständnis dieses Musikstils integriert die Autorin in ihre Analyse zweier narrativer Interviews mit männlichen Jugendlichen, die sich als Deutschrap-Hörer, aber auch als aktive Rapper definieren. Aus der Interpretation ihrer Aussagen wird erkennbar, dass die eigene Lebensgeschichte vor allem im Kontext von Diskursen um Männlichkeit und Leistung rekonstruiert wird. Auch Opferpositionen werden eingenommen, wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten zu benennen. Doch die selbstbestimmte Aneignung und Umdeutung der eigenen Position überwiegt, wenn es darum geht, sich im Rahmen der Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschrap als intuitiven Künstler zu thematisieren, der sich einem Dominanz ausstrahlenden Männlichkeitsideal verpflichtet weiß.
Mit therapeutischen Effekten von Songs bei der Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen befasst sich der letzte Beitrag dieses Themenschwerpunkts »Show me the way to the next Whiskey-Bar. Der Song in der Suchtbehandlung« von Rudolf Maisriml. Der Autor verfügt über praktische Erfahrungen als Therapeut in einer Wiener Suchtambulanz und hat im Rahmen seiner Tätigkeit mit Patientinnen und Patienten über deren Erfahrungen zum Thema Musik und Substanzkonsum gesprochen. Im Beitrag widmet er sich zunächst der Frage, ob und wie suchtbiografisch bedeutsame Songs Suchtdruck auslösen können. Außerdem wurden mittels Interviews und Fragebogen Daten gesammelt, die deutlich machen, dass das Hören von Songs das Suchterleben und den Umgang mit der Sucht durchaus beeinflussen. Die vorgestellten Studien haben vor allem explorativen Charakter und es wird vom Autor darauf hingewiesen, dass weitere Erhebungen erforderlich sind, um Erkenntnisse zur Bedeutung und zum Einfluss von Songs auf das Suchterleben und die Suchtbehandlung weiter zu vertiefen.
Es wäre erfreulich, wenn dieses Heft erste Einsichten und Erkenntnisse zu einer Psychologie des modernen Songs ermöglicht. Ich danke allen Autorinnen und Autoren sowie allen Kolleginnen und Kollegen, die durch Reviews maßgeblich die Qualität der Beiträge mit befördert haben: Lars Allolio-Näcke, Andrea Birbaumer, Martin Dege, Kathrin Dreckmann, Stefan Dressler-Stross, Kathrin Gärtner, Til Hartwig, Doris Leibetseder, Michael Penkler, Agnes Trattner, Thomas Wilke und etlichen weiteren Personen, die hier nicht genannt werden wollten. Ferner ist Christian Flierl und seinem Team des Psychosozial-Verlags herzlich für das gewohnt professionelle und überaus unterstützende Lektorat dieses Hefts zu danken.
Last not least möchte ich Gerhard Benetka besonders herzlich danken. Wir haben zusammen mit großem Enthusiasmus die Idee und den Call for Papers zu diesem Heft entwickelt und uns über die ersten eingegangenen Beiträge ausgetauscht. Ohne die gemeinsame Begeisterung für diesen Themenschwerpunkt wäre diese Journal-Ausgabe wohl nicht zustande gekommen.
Christenson, Peter G., Silvia de Haan-Rietdijk, Donald F. Roberts und Tom F. M. ter Bogt. 2018. What has America been singing about? Trends in themes in the U. S. top-40 songs: 1960–2010. Psychology of Music 47(2): 194–212. https://doi.org/10.1177/0305735617748205.
Dylan, Bob. 2022. The Philosophy of Modern Song. London, New York: Simon & Schuster.
Weiberg, Anja. 2022. Familienähnlichkeit. In Wittgenstein-Handbuch, hrsg. v. Anja Weiberg und Stefan Majetschak, 235–242. Stuttgart: Metzler. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05854-6_537.
Ralph Sichler, Dr. phil., Dipl.-Psych., Professor für Grundlagen der Psychologie an der Bertha von Suttner Privatuniversität in St. Pölten und langjähriger Mitherausgeber des Journals für Psychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Kulturpsychologie, der qualitativen Sozialforschung, der Arbeitspsychologie und den philosophischen Grundlagen der Psychologie.
Kontakt:
Prof. Dr. Ralph Sichler,
Bertha von Suttner Privatuniversität,
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E-Mail: ralph.sichler@suttneruni.at,
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