Ralph Sichler
Journal für Psychologie, 33(1), 37–60
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2025-1-37 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deIm Beitrag wird der Mitte der 1990er Jahre entstandene Song Mississippi von Bob Dylan einer reformulierenden und kontextualisierenden, texthermeneutischen, in Teilen auch musikwissenschaftlichen Interpretation zugeführt. Ausgangspunkt der Auslegung sind der kulturhistorische und biografische Hintergrund sowie der Entstehungs- und Publikationszusammenhang des Stückes. Den Kern der Arbeit bildet eine Zeile-für-Zeile-Interpretation des dem parataktischen Stil folgenden Textes. Aus der Analyse geht hervor, dass es nicht zielführend ist, einen umfassenden, abschließend gültigen Zugang zur Auslegung des Songs zu suchen. Es stellt sich vielmehr heraus, dass in Abhängigkeit von der Kontextualisierung und der Fokussierung auf Text und Musik mehrere Perspektiven und Deutungen möglich sind. Es wird aus dem Stück eine in Ansätzen erkennbare, vielschichtige Ästhetik der modernen Existenz erschlossen, bei der das Gelingen und Scheitern im Leben sowie die Unmöglichkeit, Ereignisse und Handlungen im eigenen Lebensverlauf ungeschehen zu machen, den Kern der Reflexion bilden. Der Song wird als Ausdruck einer ästhetischen Grundhaltung verstanden, die sich durch die Überwindung von letzten Gewissheiten, das Akzeptieren von Ambiguität und Unvollständigkeit und der Suche nach einer zutiefst individuellen Form von reflektierter Selbstentfaltung charakterisieren lässt.
Schlüsselwörter: Kulturpsychologie, Kunst, Lebenskunst, Musikpsychologie, Texthermeneutik
Bob Dylan’s Mississippi: An Aesthetics of Existence as Parataxis in Blue
This article presents a reformulating and contextualizing, text-hermeneutic, and in part musicological interpretation of Bob Dylan’s song Mississippi which was written in the mid-1990s. The starting point for the interpretation is the cultural-historical and biographical background as well as the context in which the song was composed and published. The core of the paper is a line-by-line interpretation of the text, which follows its paratactic style. The analysis shows that it is not useful to look for a comprehensive, conclusively valid approach to interpreting the song. Rather, it turns out that, depending on the contextualization and the focus on the lyrics and music, multiple perspectives and interpretations are possible. The piece reveals a somewhat recognizable, multifaceted aesthetic of modern existence, in which success and failure in life, as well as the impossibility of undoing events and actions in one's own life, form the core of reflection. The song is understood as an expression of a fundamental aesthetic attitude characterized by the overcoming of ultimate certainties, the acceptance of ambiguity and incompleteness, and the search for a deeply individual form of reflective self-actualization.
Keywords: art, art of life, cultural psychology, music psychology, text hermeneutics
»A ship in harbor is safe, but that is not what ships are built for.«
John A. Shedd (1928, 20)
»I wish I was there to help her. But I’m not there, I'm gone.«
Bob Dylan
Der Song Mississippi fällt mit einem Wendepunkt im Schaffen von Bob Dylan zusammen. Das Stück ist ab der Mitte der 90er Jahre entstanden. Nach einer längeren Zeit der Rückbesinnung auf die Wurzeln der US-amerikanischen traditionellen Musik, in der Dylan überlieferte Songs in einem schlichten und authentischen Stil wie etwa auf dem Album World Gone Wrong (1993) reinterpretierte, schuf er in den folgenden Jahren auf diese Phase aufbauend wieder eigene Kompositionen. Die meisten zu dieser Zeit entstandenen Songs brachte er 1997 auf dem Album Time Out of Mind heraus. Auch Mississippi war für dieses Album vorgesehen, doch waren sich Bob Dylans Produzent Daniel Lanois und er nicht einig, wie dieser Song musikalisch realisiert werden sollte. Deshalb kam es zu einer Verzögerung der Veröffentlichung, die die weitere Rezeption des Songs maßgeblich mitbestimmt hat.
Ich habe diesen Song für eine reformulierende und kontextualisierende Interpretation ausgewählt, weil er in bestimmter Weise typisch für das Singer-Songwriter-Werk von Bob Dylan ist. Die offenkundige musikalische, aber auch lyrische Verbindung mit der Tradition von Folk, Blues, Country und Rock ist ein wesentlicher Aspekt seines Schaffens. Doch Dylan bricht auch mit der reinen Imitation alter Songs, indem er die traditionellen Elemente weiterverarbeitet und in seinen ganz individuellen und außerordentlichen Stil integriert. Dies führt, wie auch bei dem Song Mississippi, nicht selten dazu, dass man beim Hören einerseits den Eindruck bekommt, es handle sich bei dem Lied um ein Traditional. Auf der anderen Seite vermittelt sich über den Text und die Musik das Erlebnis, mit etwas noch nie so unvergleichbar Geschaffenem in Berührung zu kommen.
Der besondere Stil Dylans, der unter anderem darauf beruht, dass unterschiedliche Einflüsse und Quellen zu einer neuen Form von Intertextualität verwoben werden und der so häufig den Eindruck entstehen lässt, dass die Lebenssituation des modernen (europäisch-nordamerikanischen) Individuums kaum besser charakterisiert werden kann, ist häufig analysiert worden (vgl. z. B. Honneth 2010; Detering 2016). In meinem Interpretationszugang zum Song Mississippi soll dieser Diskurs nicht weiter fortgeführt werden, obgleich er natürlich im Hintergrund mitwirkt. Vielmehr soll im Rahmen meines Versuchs einer Annäherung an mögliche Sinngehalte dieses Stücks deutlich werden, wie der Künstler Dylan durch das Sprachrohr des Sängers den Stellenwert von Kunst hervortreten lässt. Dies erfolgt im Song durch das Bemühen, auf die Lebenssituation des Protagonisten zu reflektieren. Und zwar auf zweierlei Weise: Zum einen soll vermittelt werden, dass mit dem Leben unwiederbringlich Gelingen und Scheitern einhergehen. Wer lebt, dem werden Dinge glücken (was dann auch Glück bescheren kann), aber auch misslingen (was dann zu Frustration und Verzweiflung führen kann). Zum anderen geht es darum, dass die Kunst das Medium (unserer Zeit) ist, mit dem das Gelingen und Scheitern im Leben thematisiert werden kann. Ja mehr noch, Kunst ist in der Lage, deutlich werden zu lassen, wie Gelingen und Scheitern stets miteinander verbunden sind, aufeinander verweisen und ineinander übergehen.
Diese Dialektik von Gelingen und Scheitern ist tief ins Leben, aber auch in die Kunst selbst eingeschrieben. Sie selbst müht sich am Stoff, von dem in unserem Fall der Song handelt, ab. Dies kann glücken oder scheitern oder beides zugleich. Bob Dylans Ästhetik setzt genau hier an und sie reflektiert es in der Art, wie ein Song den Stoff behandelt, von dem er handelt. Teil dieser Ästhetik ist damit nicht nur der Inhalt der Erzählung des Künstlers von den Dingen des Lebens, sondern auch die Art und Weise, wie der Künstler und Sänger seinen Zugang zu diesen Dingen, seine Lesart dessen, worum es im Song geht, an ein Publikum zu vermitteln versucht. Genau dies wäre Bob Dylans Ästhetik der Existenz1 und im Zuge meiner Versuche der Auslegung dessen, was im Song Mississippi angesprochen wird, hoffe ich, diese Ästhetik zumindest in Umrissen deutlich werden zu lassen.2
Mein Versuch, den Song Mississippi von Bob Dylan auszulegen, erfolgt im Rahmen einer methodisch offenen, kaum vorstrukturierten Herangehensweise. Sie kann im weiten Sinn als »hermeneutisch« (Sichler 2020) betrachtet werden, wobei durch das Hinzuziehen diverser Deutungshorizonte insbesondere die relationale Hermeneutik (Straub und Ruppel 2022) mein methodisches Vorgehen prägt. Gegenstand der Interpretation ist der Song, vor allem sein Text, in manchen Aspekten aber auch die musikalische Ausgestaltung. Meine Versuche der Deutung arbeiten sich Zeile für Zeile am Textinhalt ab, wobei durch das Hinzuziehen von Material, das mit dem im Song Gesagten in Verbindung gebracht werden kann, entsprechende Kontextualisierungen eine weitere interpretative Arbeitsweise zur Erschließung des Sinngehalts darstellen.
Mir geht es nicht darum, den einen, womöglich auch latenten Sinn des Songs Mississippi von Bob Dylan zu erschließen. Vielleicht gibt es diesen einen Sinn, was ich aber bezweifle. Mein Zugang folgt eher einer pluralisierenden Hermeneutik (vgl. Marquard 1981; Sichler 1994). Dabei geht es darum, mehrere, unterschiedlichen Perspektiven der Auslegung folgende Lesarten und Deutungen zu einem Text oder Textausschnitt zu generieren. Dies darf nicht mit der oft der Hermeneutik vorgeworfenen Plattitüde verwechselt werden, dass die Lehre vom Verstehen es zulasse, im gegebenen Material jede nur vorstellbare Deutung von Sinn hervorzubringen und zu legitimieren. Dies ist nicht gemeint, sondern vielmehr der Umstand, dass abhängig von der Perspektive, die ein interpretierendes Subjekt gegenüber einem Text oder einer Handlung einnimmt, unterschiedliche Interpretationen denkbar und auch gerechtfertigt sein können. Pluralität ist ein zentrales Charakteristikum hermeneutischer Anstrengung, wenn man damit der Vielfalt möglicher Bedeutungen in Texten gerecht zu werden versucht.
Dies kommt auch, wie ich im Rahmen meiner Interpretationsbemühungen zu Bob Dylans Song Mississippi aufzuzeigen hoffe, der Intention des Singer-Songwriters entgegen. Ästhetische Vielfalt ist eines der durchweg in seinem Werk anzutreffenden Anliegen von Bob Dylan, es sei nur auf seinen 2020 veröffentlichten Song I Contain Multitudes verwiesen. Im Rahmen der Nobelpreis-Vorlesung reflektiert er auf sein Schaffen und resümiert:
»Was also bedeutet das alles? Ich selbst und viele andere Songwriter sind von denselben Themen beeinflusst. Und sie können so viele unterschiedliche Dinge bedeuten. […] Ich habe in meine Songs alle möglichen Dinge hineingeschrieben. Und ich mache mir keine Gedanken darüber, was das alles bedeuten könnte« (Dylan 2017, 45).
Im Zuge meines Bemühens, mögliche Bedeutungen zu generieren und zu verbalisieren, wird deshalb nicht der Anspruch vertreten, dass es sich um eine oder gar die letztlich gültige Deutung handelt. Im Rahmen der Zeile-für-Zeile-Interpretationen sollen vielmehr mögliche Lesarten dessen, was im Song angesprochen wird, generiert werden. Nicht auf beliebige Weise, sondern auf durch Textinterpretation und stimmige Kontextualisierung geprüfte Art. Gleichwohl nimmt meine subjektive Perspektive eine nicht unbedeutende Rolle ein, und am Ende ließe sich sagen, dass die Dinge, die in diesem Text zur Sprache kommen, in der Art und Weise begründet sind, wie Bob Dylans Song Mississippi bei mir angeklungen ist.
In Bob Dylans Song Mississippi dient der gewaltige Strom, der die USA von Nord nach Süd fast vollständig durchläuft, als mächtige Allegorie. Mit ihm werden mehrere Bedeutungen transportiert, meist eher unterschwellig als klar erkennbar. Der Fluss hat seinen Ursprung am Lake Itasca in Minnesota weit im Norden der USA und er mündet etwas mehr als 2.000 Kilometer südlich bei New Orleans in den Golf von Mexico. Die Länge des Flusses beträgt 3.778 Kilometer. Er fließt oder grenzt an zehn US-amerikanische Bundesstaaten, sein Einzugsgebiet mit allen Nebenflüssen reicht von den Rocky Mountains bis weit in den Osten der Vereinigten Staaten. Er gilt als das Rückgrat oder die Hauptschlagader des gesamten Landes.
Flüsse können generell als Sinnbild des Lebens und dessen biografischen Verlaufs verstanden werden. Durch die Quelle und die Mündung ist ihr Verlauf begrenzt. Die Strömung verläuft in einer Richtung, eine Umkehr ist nicht vorgesehen. Im Zusammenhang des Songs von Bob Dylan ist auch der Umstand von Bedeutung, dass der Fluss Mississippi immer wieder seinen Verlauf verändert hat. Einige Altwasser haben sich abgetrennt. Es gab immer wieder weiträumige Überflutungen, die das Umland stark beeinträchtigt haben. Heute ist, auch aufgrund der Schifffahrt, der Strom meist reguliert.
Mississippi ist aber auch der Name eines Bundeslandes der Südstaaten von großer geschichtlicher Bedeutung. Der Bürgerkrieg, bei dem zwei grundsätzlich verschiedene Versionen der politischen Konstitution der USA aufeinandergeprallt sind, wurde auch in der Region in und rund um Mississippi ausgetragen. Eine der entscheidendsten und blutigsten Schlachten (Vicksburg 1863) fand hier statt.
Von besonderer kultureller Bedeutung ist das Mississippi-Delta, nicht zu verwechseln mit dem in Louisiana gelegenen Flussdelta (Mississippi River Delta), wo der Strom ins Meer fließt. Das Mississippi-Delta südlich von Memphis (Tennessee) ist eine von der Landwirtschaft geprägte Region (Haupterzeugnis Baumwolle), das von sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen besiedelt wurde (Cobb 1994). Eine wichtige Gruppierung sind Schwarze, die als Sklavinnen und Sklaven Zwangsarbeit etwa auf den Plantagen verrichteten. Das Mississippi-Delta ist auch eine bedeutende Kulturregion, eindrucksvolle Literatur (z. B. von William Faulkner, Eudora Welty) ist dort entstanden (vgl. Eubanks 2021). Ab Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich dort nicht nur bei der schwarzen Bevölkerung zahlreiche, einflussreiche musikalische Stilrichtungen (u. a. Delta Blues, Country Blues, Rhythm ’n’ Blues, Bluesrock, Rock’n’Roll etc.; vgl. Timmerman und Carpenter 2023). Diese facettenreiche kulturelle Tradition, mehrere der ganz Großen aus der populären Musik der USA haben hier ihre Heimat, speiste sich wiederum aus unterschiedlichen Wurzeln, die im Zusammenhang mit der Vielfalt der Bevölkerung im Mississippi-Delta gesehen werden müssen (Meikle 2016). Dies kann hier nur angedeutet werden, hat aber für den Song Mississippi von Bob Dylan eine nicht zu unterschätzende Hintergrundbedeutung.
Genau betrachtet gibt es den einen Song Mississippi von Bob Dylan gar nicht. Es existieren vielmehr mehrere Fassungen oder Versionen des Songs. Das gibt es zuweilen auch bei anderen Liedern, aber hier liegt die Besonderheit darin, dass nicht wirklich geklärt ist, was das Original oder zumindest die zu bevorzugende Mississippi-Fassung wäre. Auch von Bob Dylan selbst ist mir hierzu kein Statement bekannt. Es existiert die erste offizielle Veröffentlichung des Songs von Bob Dylan auf dem Album Love And Theft, welches am 11. September 2001 bei Columbia Records erschienen ist. Allerdings hätte Mississippi schon auf dem Vorgängeralbum Time Out of Mind, welches am 30. September 1997 auf den Markt kam, herauskommen sollen. Nur konnten sich damals Bob Dylan und sein Produzent Daniel Lanois nicht einigen, welches der damals entstandenen Takes auf das Album soll. So wurde keine der Aufnahmen veröffentlicht. Heute bestehen die verfügbaren Studio-Fassungen im Grunde gleichwertig nebeneinander. Sie sind alle mit Ausnahme der Love And Theft-Version auf dem Bootleg-Sampler No. 17 »Fragments – Time Out of Mind Sessions (1996/1997)« versammelt (vgl. Tab. 1).
Version | Dauer | Einspieldatum | Musikschaffende | Anmerkungen |
Love and Theft | ||||
Version on Love and Theft | 5:21 | 21.05.2001 | Bob Dylan: Vocals/Guitar/Piano; Larry Campbell: Mandolin; Charlie Sexton: Guitar; Augie Meyers: Hammond B3 organ/Vox organ; Tony Garnier: Bass guitar; David Kemper: Drums | Folkrock Version; ausgewogen instrumentiert |
Teatro Sessions 1996/Criteria Studios Sessions 1997 (erstmals veröffentlicht auf The Bootleg Series No. 8: Tell Tale Signs, 2008) | ||||
Version 1 | 6:02 | Sept. 1996 oder Jan. 1997 | Bob Dylan: Vocals/Electric Guitar; Daniel Lanois: Electric Guitar; Tony Garnier: Bass; Tony Mangurian: Percussion | Demo-Version, Folk; zurückhaltend instrumentiert; unaufdringlicher, aber dezidierter Vortrag |
Version 2 | 6:20 | 17.01.1997 | Bob Dylan: Vocal/Guitar/Piano; Tony Garnier: Bass; Brian Blade/Jim Keltner: Drums; Robert Britt/John Jackson/Daniel Lanois/Duke Robillard: Guitar; Bucky Baxter: Steel Guitar; Cindy Cashdollar: Slide Guitar/Dobro; Augie Meyers: Accordeon/Organ; Tony Mangurian: Percusssion | Slow-Blues-Version; vorgetragen im sonoren Bardenton |
Version 3 (alternative Textversion) |
6:18 | 17.01.1997 | Siehe oben | Slow-Version, wiegender Rhythmus; eher wehmütiger, (an-)klagender Gesangsvortrag |
Outtakes and Alternates (erstmals veröffentlicht auf The Bootleg Series Vol. 17: Fragments, 2023) | ||||
Version 1 | 6:02 | 11.01.1997 | Bob Dylan: Vocal/Guitar/Piano; Tony Garnier: Bass; Brian Blade/Jim Keltner: Drums; Robert Britt/John Jackson/Daniel Lanois/Duke Robillard: Guitar; Bucky Baxter: Steel Guitar; Cindy Cashdollar: Slide Guitar/Dobro; Augie Meyers: Accordeon/Organ; Tony Mangurian: Percusssion | Rock-Version; entsprechender Gesangsvortrag |
Version 2 | 5:12 | 11.01.1997 | Siehe oben | Off-Beat-Pop-Version; treibender (Mississippi-Steamboat-)Rhythmus |
Tab. 1: Aktuell verfügbare Studio-Versionen des Songs Mississippi
Aus meiner Sicht ist es nicht ohne Bedeutung, dass diese Fassungen parallel existieren und jede ihre Berechtigung hat. Jede Version vermittelt eine andere Botschaft, ein anderes Gefühl zu den Inhalten des Textes. Während es in den eher rockigen Fassungen um den Drive zu gehen scheint, dem das eigene Leben folgt (oder zu folgen hat), deuten die ruhiger vorgetragen Varianten auf ein Innehalten und eine Reflexion des Lebens hin. Auch als Sänger legt Bob Dylan den Song in seinen verschiedenen Versionen stimmlich anders an und aus. Das eine Mal überwiegt etwa ein ruhiger und kontemplativer Ton, das andere Mal klingt die Stimme keck und vorlaut. Die vorliegenden Fassungen stehen für unterschiedliche Versionen des Entwurfs vom Leben und dessen ästhetischer Reflexion. Es gibt immer mehrere Fassungen des Lebens, auch wenn man in aller Regel meist nur eine davon verwirklicht (Phillips 2012). Aus ästhetischer Perspektive existiert aber keine vorherrschende Lesart. Und so kann auch keine der vorliegenden Songfassungen den anderen definitiv vorgezogen werden.
Natürlich gibt es Präferenzen und Vorlieben, so wie sonst im Leben auch. In meinem Fall ist es die ruhige, wohl als Demo angelegte Fassung Version 1 aus den Tell Tale Signs, wo die musikalische Ausgestaltung sich auf nur wenige Instrumente beschränkt und so der Text auch aufgrund seiner prägnanten Intonation durch den Sänger deutlicher hervortritt. Die Musik ist im Hintergrund, die Rhythmik gleichwohl sehr präsent. Sie unterstreicht hier das Metrum im Text so wie in keiner anderen Fassung. Bei der Interpretation des Songs orientiere ich mich vor allem an dieser Version.
Der Text des Songs ist in der Ich-Form verfasst. Die Person, die sich zu erkennen gibt, schildert in erlebender, teils kommentierender Ich-Perspektive das thematisierte Geschehen. Natürlich ist diese Person, ich nenne sie im Folgenden den Sänger, nicht mit Bob Dylan identisch, obwohl eines der bekannteren Zitate des Singer-Songwriters aus einem Interview besagt, dass die Leute in seinen Songs alle er seien (Sterling 2009). Die Person ist möglicherweise identisch mit der im Song erzeugten Figur eines reisenden Künstlers, für die auch Bob Dylan mit seinem Schaffen steht. Damit wird auf indirekte Weise auch die Existenz des modernen Menschen angesprochen, der zufolge sich die oder der Einzelne in immer stärkerem Ausmaß veranlasst sieht, das eigene Dasein wie eine Kunstschaffende bzw. ein Kunstschaffender auszulegen und zu bewältigen. Des Weiteren wird im Text eine Person (mit Du) angesprochen, die man meist als (frühere) Geliebte des Sängers identifizieren kann. In manchen Fällen bleibt aber das mit Du adressierte Gegenüber auch unbestimmt und es kann damit jede Person gemeint sein, die den Song hört.
Betrachtet man ausgehend vom Text den Aufbau des Songs, so erkannt man leicht, dass das Lied aus zwölf vierzeiligen Strophen besteht. Nimmt man die musikalische Struktur dazu, so zeigt sich, dass es sich um drei mal vier in einem Satz gebündelte Strophen handelt, wobei die jeweils beiden ersten Strophen harmonisch identisch sind. Es folgt dann in jedem Strophensatz jeweils an dritter Stelle eine Art Bridge, ebenfalls als Vierzeiler, aber mit einem anderen musikalischen Aufbau. Über Besonderheiten dieser musikalisch dreimal wiederkehrenden Zwischenstrophe wird noch zu sprechen sein. Die vierte und letzte Strophe jedes Strophensatzes entspricht musikalisch wieder den ersten beiden Strophen. Die letzten beiden Zeilen sind der dreimal wiederkehrende Refrain des Songs: »Only one thing I did wrong / Stayed in Mississippi a day too long.« Auf diesen Refrain wird noch näher einzugehen sein.
Führt man sich die sprachliche Gestaltung des Songs vor Augen, so fällt auf, dass die Verse durchweg im parataktischen Stil verfasst sind. Die Parataxe ordnet Sätze gleichranging nebeneinander. Es gibt keine Unterordnung durch Nebensätze. Texte in diesem Stil erzeugen bei der Leserschaft oft das Gefühl, dass über Dinge und Ereignisse äußerst sachlich, trocken und objektivierend berichtet wird. Als Stilelement in der Literatur zieht die Parataxe die Lesenden direkt in das Geschehen. Handelt es sich wie etwa beim inneren Monolog um die Gedanken und Gefühle des erzählenden Ichs, wird man Zeuge psychischer Prozesse, die man unvermittelt vor Augen geführt bekommt. Es kann auch der Effekt der Verfremdung erzeugt werden, wie etwa am Beginn der Erzählung Die Verwandlung von Franz Kafka ersichtlich. Es ergibt sich häufig eine hohe narrative und auch emotionale Dichte. Ferner, und dies scheint mir für den Song Mississippi von Bedeutung zu sein, wird durch die parataktische Aneinanderreihung von (häufig nur kurzen) Hauptsätzen nicht selten der Eindruck äußerer Beziehungslosigkeit und (korrespondierender) innerer Zerrissenheit erzeugt. Auf die Rezipientinnen und Rezipienten wirkt der Stil oftmals widersprüchlich: Einerseits wird die distinktive Klarheit der gleichrangig aufeinanderfolgenden Sätze erkannt, andererseits können parataktisch geschriebene Texte verwirrend erscheinen, weil der Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen mindestens offen, wenn nicht sogar rätselhaft bleibt.
Im Folgenden findet man den abgedruckten Text des Songs (Dylan 2004, 1094–1097). In einer Studiofassung des Songs gibt es eine Textalternative, die hier in der rechten Spalte synoptisch der Hauptfassung zugeordnet ist. Dort, wo der Song der zweiten Textfassung folgt, ist dies in die zweiten Spalte eingetragen. Bei Lücken in der zweiten Spalte gibt es keinen Unterschied zur ersten Fassung. Meine Interpretation folgt der Hauptfassung. Die zweite Fassung lässt in den tatsächlich nicht übereinstimmenden Textelementen stärker die Beziehung des erzählenden Ichs zur Geliebten anklingen.
Mississippi von Bob Dylan (1996) | Mississippi von Bob Dylan (Textalternative) |
Every step of the way we walk the line Your days are numbered, so are mine Time is pilin’ up, we struggle and we scrape We’re all boxed in, nowhere to escape |
I'm standing in the shadows with an aching heart I'm looking at the world tear itself apart Minutes turned to hours, hours turned to days I'm still loving you in a million ways |
City’s just a jungle, more games to play Trapped in the heart of it, trying to get away I was raised in the country, I been workin’ in the town I been in trouble ever since I set my suitcase down |
Well the devil's in the alley, there's a mule kicking in my stall Say anything you wanna, I have heard it all I was raised in the country, I've been working in town I've been in trouble ever since I set my suitcase down |
Got nothing for you, I had nothing before Don’t even have anything for myself anymore Sky full of fire, pain pourin’ down Nothing you can sell me, I’ll see you around |
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All my powers of expression and thoughts so sublime Could never do you justice in reason or rhyme Only one thing I did wrong Stayed in Mississippi a day too long |
Well I got here following the Southern star I crossed that river just to be where you are There's only one thing I did wrong Stayed in Mississippi a day too long |
Well, the devil’s in the alley, mule’s in the stall Say anything you wanna, I have heard it all I was thinkin’ about the things that Rosie said I was dreaming I was sleeping in Rosie’s bed |
Well I've been loving you too long, I know you ain't no good Don't make a bit of difference to me, don't see why it should I was thinking about the things that Rosie said I was dreaming I was sleeping in Rosie's bed |
Walking through the leaves, falling from the trees Feeling like a stranger nobody sees So many things that we never will undo I know you’re sorry, I’m sorry too |
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Some people will offer you their hand and some won’t Last night I knew you, tonight I don’t I need somethin’ strong to distract my mind I’m gonna look at you ’til my eyes go blind |
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Well I got here following the southern star I crossed that river just to be where you are Only one thing I did wrong Stayed in Mississippi a day too long |
Well everybody's moving, God knows where But I'm still here, you're still there Only one thing I did wrong Stayed in Mississippi a day too long |
Well my ship’s been split to splinters and it’s sinking fast I’m drownin’ in the poison, got no future, got no past But my heart is not weary, it’s light and it’s free I’ve got nothin’ but affection for all those who’ve sailed with me |
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Everybody movin’ if they ain’t already there Everybody got to move somewhere Stick with me baby, stick with me anyhow Things should start to get interesting right about now |
Winter goes into the summer, summer goes into fall I look into the mirror, don't see anything at all Stick with me, baby, stick with me anyhow Things should start to get interesting right about now |
My clothes are wet, tight on my skin Not as tight as the corner that I painted myself in I know that fortune is waitin’ to be kind So give me your hand and say you’ll be mine |
|
Well, the emptiness is endless, cold as the clay You can always come back, but you can’t come back all the way Only one thing I did wrong Stayed in Mississippi a day too long |
Tab. 2: Bob Dylan Mississippi: Textversionen
Gleich zu Beginn des Songs stellt sich der Sänger als jemand vor, der unterwegs ist. Diese Bewegung wird im gesamten Lied im Wesentlichen beibehalten.3 Bei jedem Schritt des Weges, der begangen wird, so heißt es, bleiben wir auf Kurs. Der Ausdruck »we walk the line« kann als Zitat des Johnny-Cash-Songs I Walk the Line gelesen werden. Die Phrase steht aber auch für den Titel eines erstmalig auf den Bootleg Series 1–3 veröffentlichten Songs aus Bob Dylans frühester Schaffenszeit: Walkin’ Down the Line. Dort geht es um einen Landstreicher, der den Schienen der Bahnstrecke folgt. Es handelt sich um ein Grundmotiv auch unseres Songs Mississippi, das auf unterschiedliche Weise gelesen werden kann. Das Wir der ersten Zeile kann zunächst als Botschaft des Sängers (und wohl auch Bob Dylans und seiner Band) verstanden werden: Wir halten Kurs, mit unserem Schaffen und unserer Tour4, wir bleiben uns treu. Es kann verallgemeinernd das Publikum mit einbeziehend gemeint sein, und da ist der Sinn mindestens zweideutig: Man bleibt sich auf seinem Weg selbst treu oder man läuft einer Sache hinterher (oder man tut beides). Es ist meinem Grundverständnis entsprechend zentral, dass dies offenbleibt, da es ein Grundmerkmal der menschlichen Existenz, aber auch ihrer ästhetischen Reflexion darstellt: Man bleibt bei der eigenen Linie, man folgt einer vorgegebenen Richtung, und eigentlich tut man beides.
Im Text heißt es weiter: Die Tage, die vergehen, sind gezählt. Dies gilt für die angesprochenen Hörenden ebenso wie für das Ich im Text. Die Zeit, die hier neben der Dimension des Raumes (beim Gehen) ebenfalls schon in der ersten Strophe eingeführt wird, türmt sich auf. Man kämpft, man müht sich ab im Leben. Alle sind darin gefangen, es existiert kein Ort, um dem zu entfliehen. Diese ersten vier Zeilen des Songs setzen den Rahmen dessen, was im Leben geschieht, gemäß Raum und Zeit. Zum Weg, den jede und jeder wie das Ich im Song geht, gibt es keine Alternative. Es ist der Weg, den man selbst beschreitet, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Jede Einzelperson geht ihn so, wie sie ihn eben geht.
Die Tage sind gezählt, hier nimmt Dylan wie häufig in seinen Songs Bezug auf biblische Quellen. Im Psalm 90, 12 heißt es: »Herr, lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein weises Herz erlangen.« Jeder Tag, der dieser Weisung nicht entspricht, ist ein vertaner Tag. Hier wird schon die Botschaft des Refrains vorweggenommen. Den Kampf im Leben angesichts der sich auftürmenden Zeit führt man unauflöslich verstrickt in die eigene, fremd- und zugleich selbstbestimmte, endliche Existenz. Es gibt keinen Ausweg.
Dieses Intro in den Song mag einem trostlos oder auch fatalistisch vorkommen. Im Zentrum steht jedoch vor allem die Botschaft, dass die Tage im Leben gezählt sind. Dies gilt gleichermaßen für den Sänger wie für die Rezipientinnen und Rezipienten des Songs. Es ist auch gleichgültig, wie viele Tage es genau sind, die jede und jeder lebt. Entscheidend ist, dass es eine abzählbar endliche Anzahl von Tagen ist. Darauf hat sich die menschliche Existenz einzustellen, es ist der für alle gesteckte und gültige Rahmen – im Spannungsfeld von konkretem Geschick und individueller Wahl.
Daran anknüpfend lässt die erste Strophe noch eine weitere Deutung zu: So wie die Tage gezählt sind, so die Zeilen, die diesen Song ausmachen. Die parataktische Konzeption des Songs unterstreicht dies. So wie sich die Tage im Leben aneinanderreihen und durchschritten werden, so folgen die Sätze im Text aufeinander. Es wird der Bogen gespannt vom schrittweisen Gang des Individuums durch sein Leben bis zur am Ende vermittelten Einsicht, dass man zwar immer zurückgehen kann, aber nicht den gesamten Weg. Dieser Eindruck, und dazu schafft der Song gleich den Rahmen, zieht sich wie der Strom Mississippi durch alle Strophen: Ja, es lassen sich möglicherweise Dinge im Leben korrigieren, auch wenn es nicht viele sind, aber das Leben selbst, das man lebt und mit jedem verstrichenen Tag zunehmend mehr gelebt hat, eben nicht.
In der zweiten Strophe wird die anfangs aufgerollte Geworfenheit ins Dasein weiter präzisiert: Die Stadt ist ein Dschungel. Hier zeigen sich Bezüge zu Upton Sinclairs Roman The Jungle (1905) und Bertolt Brechts Stück Im Dickicht der Städte (Uraufführung der zweiten Fassung: 1927). Dylan ist wohl mit beiden Quellen vertraut (siehe auch Marquardt 2020, 16–20). Die Metapher vom Großstadtdschungel ist aber auch lange etabliert. Sie wird im Song aufgegriffen und weiterverarbeitet. Es wird auf Spiele verwiesen, die man im Leben spielen muss. Wiederum findet man sich dort mittendrin in der Falle. Ohne Ausweg, auch wenn versucht wird, dem zu entkommen. Im Song wird als Herkunft das Land benannt, doch arbeiten tut man in der Stadt. Unterstellt wird eine Veränderung, weg vom Herkunftsort, hin zur Großstadt, weil man sich dort möglicherweise mehr fürs Leben versprochen hat. Doch in der letzten Zeile wird ernüchternd festgehalten: Die Schwierigkeiten sind entstanden, seitdem man den Koffer abgesetzt habe.
Es lohnt, der Metapher vom Großstadtdschungel und dem, was im Song Mississippi daraus gemacht wird, noch etwas weiter zu folgen. Der Dschungel der Städte ist keine Wildnis ohne Regeln und Gesetze, eingerichtet nach dem Prinzip des Stärkeren, der dem Leben dort den Stempel aufdrückt. Die Metapher verschiebt sich im Song, hin zu den Spielen des modernen gesellschaftlichen Lebens. Dort gerät man in die Falle von Vorschriften und Normen, wobei man davon ausgehen kann, dass im Zweifel es doch wieder Mächtige sind, die das geltende Gesetz des Großstadtdschungels festlegen oder zumindest es für ihre Zwecke nutzen und zu ihrem Vorteil auszulegen wissen. In diesem Netz dessen, was in der Stadt gilt, ist man gefangen. Wenn man einmal den Koffer dort abgestellt hat, gibt es kein Entkommen.
Es folgt, was folgen muss. In diesem in der Großstadt geführten Leben ist für niemanden etwas abzuholen. Davon wird in der Bridge berichtet. Es wird resignierend konstatiert, dass das Ich nichts für den anderen habe. Es habe auch vorher nichts gehabt, und es habe nicht mal etwas für sich selbst. Angesprochen kann hier eine Geliebte, aber auch jede dem Song zuhörende Person sein. Gerade im zweiten Fall ist die Aussage stark und ernüchternd zugleich: Es gibt nichts, was der Sänger seinem Publikum anzubieten hat, er hat ja nicht einmal selbst etwas für sich in petto.
Es folgen zwei weitere Zeilen, die einmal mehr Dylans poetische Sprengkraft offenbaren: Der Himmel brennt. Er ist voll Feuer. Dies verweist entsprechend der jüdisch-christlichen eschatologischen Tradition auf das göttliche Gericht. Im Kern ist der göttliche Zorn gemeint, mit dem der Himmelsbrand oft in Verbindung gebracht wird (z. B. 4. Moses: 11, 1). Es folgt der Schmerz, den es herunterregnet. Diese Bedeutung ergibt sich aus einem treffenden Wortspiel, statt rain heißt es im Song pain. Auch in der letzten Zeile der Strophe findet man ein Wortspiel: Es gibt nichts, was das Gegenüber mir verkaufen (sell, statt tell: erzählen) könnte, (aber) man wird sich sehen. Es gibt nichts, was du mir erzählen könntest, würde es ohne Wortspiel heißen. Das würde bedeuten: Es ist schon alles gesagt. Mit dem Wortspiel heißt es: nichts, was du mir verkaufen könntest. Dies wiederum verweist auf die Gesetze des Großstadtdschungels: Das, was es unter (wohl anderen) Umständen zu erzählen gäbe, ist vor allem zu verkaufen. Narrative zum eigenen Leben in der Stadt folgen ökonomischen Prinzipien, die Narration als authentische Erzählung des Individuums ist in der Krise (Han 2024). Story Telling verkommt zum Story Selling, letztendlich geht es ums Personal Branding (vgl. Busch 2024). Die eigene Geschichte, die aber ohnehin nichts Neues enthält, hat, wenn überhaupt, nur (noch) monetären Wert.5
In der Bridge wechselt erstmals die Abfolge der Harmonien in der Musik. Statt dem bislang vorgetragenen, gleichmäßigen Blues in C-Dur folgen die Akkorde einer aufsteigenden Basslinie entlang der G-Dur-Tonleiter (Dylan 2010, 470–472). Am Ende der zweiten Verszeile ist man wieder beim Ausgangsakkord angelangt. Es folgt für die beiden nächsten und letzten Zeilen der Bridge noch einmal derselbe musikalische Lauf.6 Betrachtet man vor diesem Hintergrund ein weiteres Mal die Verszeilen dieser ersten Bridge, so erkennt man eine zwischen Text und Musik angelegte gegenläufige Bewegung. Die Basslinie scheint sich zu neuen Höhen aufzuschwingen, der Text handelt allerdings von dem gegenwärtig und auch früher schon nicht vorhandenen Auskommen für den Sänger und die von ihm angesprochene Person. Dem Wortlaut folgend zeigt die Kurve so eher nach unten. Auch beim zweiten Durchgang entspricht die apokalyptisch-kapitalismuskritische Textpassage nicht dem Aufschwung in der Musik. Am Ende, und da kommen beide Bewegungen auf geradezu ironische Weise wieder zusammen, sieht man sich da wieder, wo man zu Beginn der Bridge (musikalisch) bereits gewesen ist: I’ll see you around.
Mit der nächsten Strophe folgt die Musik wieder den C-Dur-Harmonien. Der Sänger schlägt zunächst selbstreflektierende Töne an und konstatiert, dass das, was er kraftvoll und auf erhabene Weise zum Ausdruck bringt, dem Gegenüber nie gerecht werden kann. Hier wird verstärkend auf die Phrase »reason and rhyme« zurückgegriffen. Eigentlich heißt es »rhyme and reason«, doch im Song wird wie bei einem launigen Taschenspielertrick die Reihenfolge vertauscht, da nur das Wort »rhyme« sich auf »sublime« reimt. Im hier vorliegenden Kontext der Negation meint dies, dass man den Worten keinen Sinn entnehmen, dass man sich auf das Gesungene keinen Reim machen kann. Dies bedeutet: Man solle in der Botschaft des Songs keinen tieferen Sinn suchen, es gibt ohnehin keinen. Das, was der Text zum Ausdruck bringt, wird der Situation des Gegenübers in keiner Weise gerecht. Wiederum kann das Gegenüber jedes Individuum sein, das den Song hört und sich von ihm angesprochen fühlt. Gerade darin besteht aber das Problem: Falls man versucht, einen tiefere Bedeutung in Musik und Text zu suchen, läuft man ins Leere, denn diesen letzten Sinn gibt es nicht.
Es hat den Anschein, als würde dieser Botschaft der sich anschließende Refrain noch die Krone aufsetzen: Nur eine Sache habe ich falsch gemacht, ich bin einen Tag zu lang in Mississippi geblieben. Natürlich tappt auch hier wieder die oder der Zuhörende in die Falle, wenn sie bzw. er einen, ja den einen tieferen Sinn sucht. Es ist bekannt, dass es zu diesem Zweizeiler, der im Song insgesamt dreimal auftaucht, eine Anekdote zu einem Folkloristen gibt, der während einer Pressekonferenz den Song Big Leg Rose anstimmt und beim Refrain einer Herzattacke erliegt (vgl. Markhorst 2020, 5–9). Der Wahrheitsgehalt der Geschichte ist höchst fraglich, was aber für den Refrain und dessen Bedeutung im Grunde irrelevant ist. Einen Tag an einem Ort zu lang geblieben zu sein bedeutet, dass es besser gewesen wäre, wenn man früher diesen Ort verlassen hätte, wenn man sich früher wieder auf den Weg gemacht hätte. Es klingt aber auch an, dass erst dadurch, dass der Sänger diesen einen Tag länger geblieben ist, er eine Erfahrung gemacht hat, die sich sonst nicht eingestellt hätte. Dieser Einsicht entspringt schlussendlich der Song.
Der zweite Satz des Songs macht in seiner ersten Strophe zunächst damit vertraut, dass alle Dinge an ihrem Ort sind: Der Teufel ist auf der Gasse, das Maultier im Stall (was an den Song Evil Is Going On von Howlin’ Wolf erinnert; Markhorst 2020, 39). Maultieren wird nachgesagt, dass sie einerseits störrisch, andererseits aber auch sehr fleißig und pflichtbewusst sein können. Sie werden zuweilen als Gehilfen des Teufels betrachtet,7 wohl aufgrund ihres Trotzes und ihrer Aufsässigkeit, die man als gottesfürchtiger Mensch zu bändigen hat (Psalm 32, 9). Doch das Maultier ist in Dylans Song im Stall, auch wenn es der mündlichen Version im Song zufolge mit den Beinen ausschlägt. Des Teufels Personal steht also bereit, es gibt möglicherweise auch bald einige Unruhe.
Je mehr man versucht, die (vermeintliche) Botschaft im Song zu entschlüsseln, desto mehr Fragen ergeben sich. Es hat fast den Anschein, als würde die zweite Zeile dieses Verses genau dies bestätigen: Das Ich im Song weiß schon alles, das Gegenüber (eine Geliebte, aber auch jede andere Person, die den Song hört) mag sagen, was es will. Dies deutet nicht so sehr auf umfassendes Allwissen des Sängers als vielmehr auf den Umstand hin, dass nichts mehr Neues auf dem Erdenrund geschieht und in diesem Sinn allen alles schon bekannt ist. Es bleibt dabei: Der Teufel treibt sein Unwesen in den Gassen, dies ist freilich auch eine Reminiszenz an die gesellschaftskritischen Teile im ersten Strophensatz.
Der Sänger dachte an das, was Rosie gesagt hat, und er träumte davon, in Rosies Bett zu schlafen – oder er träumte und schlief in Rosies Bett. Rosie ist der einzige Name, der in diesem Song auftaucht, und er kommt auch nur an dieser Stelle zweimal vor. Das im Text mehrfach mit Du direkt angesprochene Gegenüber (auch als Geliebte) sollte man von Rosie unterscheiden. Das Du im Song bleibt anonym, es kann sich, wie immer wieder deutlich wird, auch um jede Rezipientin oder jeden Rezipienten des Lieds handeln. Zu Rosie gibt es Quellen: etwa den bereits erwähnten Song Big Leg Rose und ein damit assoziiertes Traditional Rosie, das den zweizeiligen Refrain in Dylans Mississippi nahezu wortwörtlich enthält (Markhorst 2020, 8). Dies deutet daraufhin, dass Rosie für Einsichten aus dem traditionellen amerikanischen Liedgut steht, auf das sich Bob Dylan durch sein gesamtes Schaffen hindurch auf äußerst kreative Weise immer wieder bezieht. Rosie kann eine Geliebte des Sängers sein, mehr aber ist sie seine (oder Bob Dylans) Muse, die ihm die Weisheiten der alten Songs zuflüstert oder in seine Träume schickt. Dort findet das Ich des Songs jene Narrative, die ihm und damit auch den Zuhörenden darlegen, wie es um das Leben, wie es um die Existenz in unserer Welt bestellt ist. Vergegenwärtigt man sich, dass der Name Rosie auch eine Kurzform von Rosemary darstellen kann, und Bob Dylan in seinem rund 30 Jahre früher veröffentlichten Song Absolutely Sweet Mary klagt, dass ihn seine Geliebte und Muse in der Nacht allein gelassen hat, dann erkennt man eine gewisse Parallele zum Sujet der An- oder Abwesenheit der Muse im Song.8 Es entspricht aber auch einem allgemeinen Topos, dass die Bedeutung einer Geliebten und Muse für die Künstlerin oder den Künstler auch im Kunstwerk selbst thematisiert wird, man vergleiche etwa Goethes (1981, 160) »V. Römische Elegie«, wo der Geliebten »des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand […] auf den Rücken gezählt« wird.
Zurück zu Dylans Song und zur zweiten Strophe im zweiten Satz: Das Ich geht durch das Laub der Blätter, die von den Bäumen fallen. Es fühlt sich wie ein Fremder, den niemand sieht. Es klingt eine Reminiszenz an den bekannten Song von Frank Sinatra an, noch mehr wird eine Herbststimmung vermittelt, die vielleicht trostlos wirkt, mehr aber Raum für Erinnerungen und Reflexion schafft. Im Song wird davon gesprochen, dass es viele Dinge gibt, die man ungeschehen machen möchte. »Ich weiß, dass es dir leidtut, mir tut es ebenfalls leid«, heißt es in der letzten Zeile der Strophe. Der Kontext, der hier relevant zu sein scheint, ist der einer Liebesbeziehung, in der immer wieder Dinge geschehen, die man im Nachhinein bereut, die man aber auch nicht ungeschehen machen kann. So wird auch hier wieder der Bogen zur eigenen Existenz in Raum und Zeit gespannt: Man kann etwas bereuen, es kann einem leidtun, aber geschehen ist geschehen.
Wir sind nun genau in der Mitte des Songs angelangt und es tut sich genau an dieser Stelle eine Tür zum Refrain auf, auch wenn dieser erst wieder in der übernächsten Strophe erscheinen wird: Das eine, was ich falsch gemacht habe, war, einen Tag zu lang in Mississippi geblieben zu sein. Was immer es war, wen immer in welcher Weise es betroffen hat und wohl auch betroffen gemacht hat, es lässt sich nicht ungeschehen machen: Ein Tag zu lang ist und bleibt ein Tag zu lang.
Es folgt zum zweiten Mal die Bridge mit der bekannten harmonischen Struktur: Wohl auch an die Erkenntnis anschließend, dass man immer wieder Dinge im Leben bereut, wird vermittelt, dass einige Leute einem ihre Hand anbieten, und andere nicht. Letzte Nacht habe der Sänger die Geliebte gekannt, diese Nacht (dieselbe Person) nicht. Er benötige etwas, um seinen Geist abzulenken, um sich zu zerstreuen: Er werde die Geliebte ansehen, bis er blind werde. Die poetische Struktur dieses Verses ist bestechend. Es sind die angesprochenen Gegensätze, die ihn prägen. Inhaltlich bewegt sich der Text im sozialen Leben, im Liebesleben. Manches von Mensch zu Mensch geschieht, manches nicht. Manchmal hat man einen Eindruck vom anderen, der sich später wieder verflüchtigt oder gar widerlegt wird. Man kann dem nicht entgehen, auch wenn man versucht, sich davon abzulenken.
Diese zweite Bridge thematisiert die zwischenmenschlichen, nicht selten tragischen Momente enger Beziehungen, weist aber auch darüber hinaus auf Fragen der Erkenntnis hin. Durch die aufsteigende Basslinie entsteht der Eindruck einer Intensivierung der mal positiven, mal negativen Erfahrungen, wobei die desillusionierenden Aspekte am Ende der ersten beiden Verszeilen sowie am Ende der ersten aufsteigenden Basslinie stehen. Dies verstärkt das Moment der Enttäuschung. Aus der Erkenntnis, die laut Markhorst (2020, 48f.) einem alttestamentarischen Hintergrund folgend auch als sexuelle Vereinigung rekonstruiert werden kann, wird Unverständnis. Im zweiten Durchgang der aufsteigenden Basslinie kommt es auf dem Höhepunkt zum (sinnbildlichen) Erblinden des Ichs. Hier kann der Bezug zu einem Song von Sonny Boy (Eyesight To The Blind; Markhorst 2020, 50), aber auch zu anderen Traditionals und Beispielen aus der Rockmusik (besonders prominent Tommy von The Who) hergestellt werden, bei denen es um Erblindung, aber auch um die damit verbundene Erkenntnis oder gar Selbsterkenntnis geht. Nicht zuletzt folgt auch diese Reminiszenz einem sehr alten Topos, man denke an den blinden Seher Teiresias in der Mythologie der griechischen Antike.
Folgerichtig kommt es zum Erblinden und zur Erkenntnis wiederum am Ende der aufsteigenden Basslinie, nämlich genau dort, wo alles seinen Anfang genommen hat (G-Dur). Es kennzeichnet Dylans Schaffen, dass er fortwährend auf sprachliche und musikalische Weise Realitäten mit doppeltem Boden schafft: das Erblinden, um sich dem überwältigenden Eindruck der Geliebten, von der man enttäuscht wurde, zu entziehen und die damit verbundene Einsicht (eine optische Metapher) in die umfassenderen Zusammenhänge des sozialen und individuellen Lebens, die den gesamten Song Mississippi durchziehen und prägen.
In der letzten Strophe des zweiten Strophensatzes lässt der Sänger erkennen, dass er dem Südstern gefolgt ist und den Fluss überquert hat, um bei seiner Geliebten zu sein. Nur eines hat er falsch gemacht … und wir hören zum zweiten Mal den Refrain. Der Südstern am südlichen Himmelsfirmament steht für einen vielschichtigen Sinnzusammenhang. Zunächst ist festzuhalten, dass ein Südstern so wie der Polarstern am nördlichen Sternenhimmel gar nicht existiert. Es handelt sich vielmehr um eine kreuzförmige Konstellation von Sternen (Kreuz des Südens), die der Seefahrt auf der südlichen Erdhalbkugel zu Beginn der Kolonialzeit als Orientierungshilfe gedient hat. Die senkrechte Kreuzachse weist ziemlich genau gen Süden. Dem Song zufolge ist der Sänger auf seinem Weg in den südlichen Bundesstaat Mississippi dem Südstern gefolgt. Allerdings ist die Sternenkonstellation des Südkreuzes auf der Nordhalbkugel nicht zu sehen. Es handelt sich eher um eine parabolische Gefolgschaft.
In diesem Zusammenhang kann man sich vor Augen führen, dass Sterne, die auf verschiedene Weise kreuzförmig angeordnet werden, als heraldisches Muster für ganz unterschiedliche Flaggen und Wappen der konföderierten Staaten während des amerikanischen Bürgerkriegs dienten. Es gab darunter auch solche, welche die Konstellation oder das Muster des Südkreuzes enthielten. Es handelte sich vor allem um Flaggen von Rebellen (Jones 2011). Um den historischen Kontext zur Orientierung des Sängers am Südstern weiter zu konkretisieren, ist daran zu erinnern, dass entkommene Sklavinnen und Sklaven im 19. Jahrhundert dem Polarstern im Norden in die Freiheit folgten.9 Das Ich in Dylans Song geht offensichtlich den gegenläufigen Weg. Der Protagonist beschreitet den Stern des Südens vor Augen den Weg in die Unfreiheit, dies allem Anschein nach allein um der Liebe willen. Tragisch ist dies, weil das Ich sich sehenden Auges in das damit verbundene Unglück begibt.
All das spielt sich in Mississippi ab, dem metaphorischen Ort der US-amerikanischen Sklaverei- und Befreiungsgeschichte, wo sich die Südstaatenkultur mit ihrem reformfeindlichen, möglicherweise nostalgischen Entwurf und die bürgerliche Vernunft des Nordens einander kreuzen. Dieser Zusammenhang wird interessanterweise von Bob Dylan selbst hergestellt, als er im Zuge der Auseinandersetzung um die musikalische Gestaltung des Songs mit seinem Produzenten Daniel Lanois diesem laut einem Interview im Rolling Stone eröffnet habe, dass der Song mehr mit der Unabhängigkeitserklärung, der Verfassung und den Bill of Rights zu tun habe als mit polyrhythmischem Vodoozauber (Markhorst 2020, 3 sowie 54). Daniel Lanois habe Dylan begreiflich machen wollen, dass es sich bei Mississippi um einen sexy Song handle und deshalb wäre dieser musikalisch entsprechend aufzubereiten. Dem habe Dylan nicht zugestimmt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er mit seinem Verweis auf geschichtsträchtige Institutionen einfach einen Gegenpol zur Intention seines Produzenten setzen wollte. Es ist aber auch möglich, dass Dylan mit diesem Song, der als Verarbeitung eines gescheiterten Liebesabenteuers, aber auch als Metapher vom Scheitern (und Gelingen) im Leben überhaupt verstanden werden kann, auch die weitreichende historische und politische Dimension der Geschichte der Südstaaten zumindest implizit mitgedacht haben wollte.
Der Sänger hat jedenfalls den Fluss überquert, um sein Ziel zu erreichen, um dann (ernüchtert) ein zweites Mal festzustellen, dass er nur eines falsch gemacht habe: Er ist einen Tag zu lang in Mississippi geblieben. Das Überschreiten eines Flusses kann als Anspielung auf den antiken Topos der Überquerung des Styx in die Totenwelt verstanden werden. Doch das Ich des Songs stirbt nicht, es überlebt und verwandelt sich, wie sich zeigen wird. Es durchläuft eine Transformation seines Selbst und zum Ende des Lieds werden bei aller Ernüchterung sogar hoffungsvolle Töne mit angestimmt. Darauf wird noch näher eingegangen.
Eine Flussüberquerung kann für einen Wendepunkt im Leben stehen, ein Sujet, das Dylan später in seinem Song Crossing the Rubicon wieder aufgreift. Hier führt es das Ich zu seiner Geliebten und zu der Einsicht, die der Refrain zum Ausdruck bringt, die vielleicht auch an die immer mitzudenkenden Zuhörenden gerichtet sein kann. Setzt man in dieser Stelle einmal den Sänger im Song mit dem Singer-Songwriter Bob Dylan gleich, so werden einem etliche »Flüsse« einfallen, die der Künstler im Zuge seines Schaffens und dessen Transformationen überquert hat, um auf immer wieder neue Weise sein Publikum zu erreichen.
Doch beim Überqueren des Flusses kommt es zur Katastrophe. Hiermit setzt der dritte und letzte Strophensatz des Songs ein. Ein Schiff, das den Sänger über den Strom bringen soll, zersplittert in Splitter (im Original hört sich die Alliteration besser an) und sinkt schnell. Das Ich ertrinkt im Gift, es hat keine Zukunft und keine Vergangenheit. Aber sein Herz ist nicht schwer, es ist leicht und frei, der Sänger hat nichts als Zuneigung für alle, die mit ihm mitgesegelt sind.
Es handelt sich um eine sehr dichte Strophe, man kann sie auch als Schlüsselstelle des Songs insgesamt betrachten. Zunächst ist festzuhalten, dass die Art der Bewegung sich verändert hat. Aus dem Gehen wurde das Segeln mit einem Schiff, vordergründig auch deswegen, weil der Fluss sich zu Fuß nicht überqueren lässt.10 Mit dem Segeln hat es aber noch eine andere Bewandtnis: Man setzt sich den Winden aus, die Fortbewegung hängt von günstigen oder ungünstigen Witterungsverhältnissen ab. Allem Anschein nach waren die Bedingungen katastrophal, das Schiff wird zerstört und sinkt schnell. Die Reise zur See und ihre Möglichkeit des Scheiterns begleitet die Literatur des europäischen Abendlands von Anbeginn an, es sei an die Odyssee erinnert. Die Schifffahrt wird häufig als Metapher insbesondere der Lebensführung betrachtet (vgl. Straub und Sichler 1989), dabei spielt der Schiffbruch eine zentrale Rolle (vgl. Blumenberg 1979). Zum Schiffbruch im Song gibt es Zuschauerinnen und Zuschauer (eigentlich Zuhörerinnen und Zuhörer), aber auch Mitseglerinnen und Mitsegler, für die der Sänger seine gesamte Sympathie zum Ausdruck bringt. Das kann zweifellos ironisch gemeint sein, frei nach dem Motto: Selber schuld, wer mit einem Loser ins selbe Boot steigt. Man sollte aber nicht übersehen, dass am Ende dieser Strophe, in der der Sänger absäuft und weder Zukunft noch Vergangenheit besitzt, auch ein zuversichtlicher Ton angeschlagen wird: Trotz der beschriebenen Katastrophe bleibt das Herz unbeschwert und frei.
Wie im ersten Strophensatz widmet sich die zweite Strophe des dritten Teils einer Analyse der modernen Lebensverhältnisse. Im ersten Satz geschah dies noch im Rahmen einer gesellschaftskritischen Perspektive. Nun wird der Fokus mehr auf das Individuum gelegt: Alle sind unterwegs, wenn sie nicht schon da sind, heißt es. Jede und jeder muss irgendwohin gehen oder ziehen. In dieser weit verbreiteten Unruhe macht der Sänger seiner Geliebten ein verlockendes Angebot: Bleib bei mir, Kleine, bleib bei mir irgendwie (und trotzdem), ab jetzt dürfte es interessant werden. Auch hier mag der versöhnlich angestimmte Ton pure Ironie sein. Bei Dylan kann, ja muss man immer davon ausgehen, dass nahezu alles, was in seinen Songs gesagt wird, stets auch ironisch gemeint sein kann. Man erkennt hier erneut die bereits angesprochene Doppelbödigkeit in seinen Texten. Doch man würde es sich zu einfach machen, wenn man immer dann, wenn es zu positiv oder gar illusionär klingt, die Reißleine der spöttischen Verstellung zieht. Warum sollte es nicht eine ernstzunehmende Alternative darstellen, in unruhigen und hektischen Zeiten, in denen massenhaft Menschen ihrem vermeintlichen Glück hinterherrennen, zu verweilen, insbesondere mit einem geliebten Gegenüber sich mit Zuversicht auf eine Zukunft einzulassen, die interessant zu werden verspricht? Nur darf es nicht einen Tag zu lang währen.
Doch so weit sind wir noch nicht. Vor der letzten Strophe mit dem bekannten Refrain wird erneut und zum letzten Mal die Bridge mit ihrer eigentümlichen aufsteigenden Harmonik eingeschoben. Der Text bezieht sich abermals auf den Schiffbruch und setzt fort: Die Kleider sind nass, kleben eng an der Haut. Aber nicht so sehr wie die Ecke, in der sich das Ich selbst porträtiert hat. Es weiß, das Glück wartet darauf, gütig zu sein. So lädt das Ich seine Geliebte ein, ihm ihre Hand zu geben und zu sagen, dass sie die seine ist. Der Sänger lässt sich von den Nachwirkungen des Schiffbruchs nicht unterkriegen, ja er stellt selbstkritisch fest, dass alles, was er sich negativ zu seiner Situation ausgemalt hat, er selbst geschaffen hat. Man kann diese Einsicht sogar als Reflexion auf den Song selbst sehen. Das Glück oder das Schicksal – beide Übersetzungen sind möglich – wartet nur darauf, es gnädig mit einem zu meinen. Und deshalb: Reich mir deine Hand und sei mit mir.11
Wiederum – und ich wiederhole mich – kann all dies, was an Hoffnung und Glücksversprechen für eine selige Zeit zu zweit vorgebracht wird, pure Ironie sein. Die Textzeilen folgen den aufsteigenden Harmonien der Bridge. Die Kulminationspunkte fallen zum ersten mit der Ecke, in der sich das Ich porträtiert (und in die es sich manövriert) hat, zum zweiten mit der Aufforderung an das geliebte Gegenüber, den Bund fürs Leben (oder für einen Lebensabschnitt) zu wagen, zusammen. Die ansteigende Basslinie korreliert mit dem Glück, das es dieses Mal gnädig mit einem meint (oder meinen könnte). Es klingt nach einem Happy End. Oder handelt es sich nur um die Reminiszenz an den Beginn einer Liebesgeschichte, von der das Ich inzwischen weiß, dass sie nicht gut ausgegangen ist? Auch hier tritt wiederum der (mindestens) doppelte Boden in Dylans Songtext deutlich in Erscheinung.
Zu Beginn der letzten Strophe macht sich erneut Ernüchterung breit: Die Leere ist endlos, kalt wie der Lehm. Und dann der Satz, der als Motto für den gesamten Song dienen könnte: Du kannst immer wieder zurückkommen, aber du kannst nicht den gesamten Weg zurückgehen. Der Song schließt mit dem Refrain: Nur eines hatte ich falsch gemacht …
Endlose Leere wirkt auf den ersten Blick trostlos. Aber es kann darin auch eine andere Nachricht stecken: Wo sozusagen überall nichts ist, gibt es jede Menge Raum, etwas zu schaffen. Es klingt das von Jean-Paul Sartre formulierte Motiv des Existenzialismus an: »Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.« Dieses absolute Diktum stellt den Menschen in einen endlosen, leeren Raum, der aber voller Möglichkeiten ist. Auch die zweite Hälfte der ersten Verszeile weist diese Ambiguität auf: Der kalte Lehm schafft, freilich angewärmt, Optionen, neue Dinge zu gestalten. Die ersten Gebrauchsdinge, die der Mensch angefertigt hat, waren aus Ton. Aus Lehm wurde auch der Mensch selbst geschaffen. Einerseits die depressiv anmutende, endlose Einöde, andererseits die Aussicht auf das, was noch nicht ist und ins Leben gerufen oder geschaffen werden kann – wiederum eine ambivalente Botschaft.
Die Strophe und der Song enden mit den beiden schon bekannten Zeilen. Zusammen mit einer der Schlüsselzeilen des Stücks, der zufolge man immer zurückkommen, aber nie den gesamten Weg zurückkehren kann, wird auch zum Schluss das feinsinnige reflexive Moment der hier vorgetragenen Ästhetik der Existenz deutlich: Um festzustellen, dass ich einen Tag zu lang in Mississippi geblieben bin, muss mindestens dieser eine Tag verstrichen sein. Ich kann zu dieser Einsicht vor allem in ihrem emotionalen Gehalt nicht a priori kommen. Ich muss diesen Tag erlebt haben, bevor ich sagen kann: Es war ein Tag zu viel. Ebenso liest und hört sich auch der gesamte Song an: Erst an seinem Ende kenne ich die gesamte Geschichte, und ich weiß erst dann, dass diese Geschichte zu lang gedauert hat. Und dass sie nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Ich kann nicht den gesamten Weg zurückkehren und wenn ich zurückkomme, dann wäre dies unter Umständen eine weitere, eine andere Geschichte. All dies hat abermals mindestens zwei Seiten: einerseits das Bedauern – ich hätte mir die Geschichte ersparen können, andererseits die ästhetische Bereicherung – ohne Vermittlung der Geschichte durch den Song wäre ich um diese Erfahrung ärmer gewesen. Und dies gilt wiederum sowohl für den Produzenten als auch für die Rezipientinnen und Rezipienten des Songs.
Der Fluss und die vom Blues geprägte Region Mississippi ist in vielen modernen Songs thematisiert worden. Bob Dylan liegt hier in der Tradition von etlichen Künstlerinnen und Künstlern (z. B. Johnny Cash, Nina Simone), die in ihren Liedern die Kultur sowie die Identität der Südstaaten, das unwürdige Leben der schwarzen Sklavinnen und Sklaven, ihren Protest und Widerstand besungen haben. Sein Zugang weist die Besonderheit auf, dass der mächtige Strom, aber auch die in der Musikkultur anhaltende Tradition nicht direkt thematisiert werden. Bei Bob Dylan wird der Mississippi und der gleichnamige Ort zu einer Metapher, die mehr oder weniger allgemein für das Leben in unserer Zeit steht. In seinem Song werden parataktisch fragmentierte Erzählmomente und intime Einsichten zu einer vielschichtigen Textur des Daseins verwoben. Die im Text aufgeworfene Lebens- und Erlebensgeschichte ist die eines Künstlers entweder im eigentlichen Sinn oder im übertragenen Sinn, wo es dann um die Lebenskunst und um eine damit in Verbindung stehende Ästhetik der Existenz geht. In diesem erweiterten Sinn werden im Song Erfahrungen des Subjekts der Moderne thematisiert, das Scheitern und das Gefühl der Verzweiflung, das Gelingen und die entsprechende Hoffnung auf glückliche Momente im Leben, all dies als permanente Suche nach Sinn in einer Welt, die wenig einladend erscheint und von Unbeständigkeit geprägt ist.
Freilich, und dies ist nach meiner Einschätzung eine der zentralen Einsichten, die der Song vermittelt, will sich der Sinn nicht einstellen. Würde man den Sinn finden, käme man vielleicht zur Ruhe, so die Hoffnung, die auch im Text anklingt. Aber das tragende Moment im Song ist die Bewegung, die fortwährende Transformation von Anbeginn bis zum Schluss, wo zum dritten Mal die Erkenntnis steht, dass man unglücklicherweise einen Tag zu lang an einem Ort verblieben sei. Wenn das Stück Dylans einen Sinn vermittelt, dann die Botschaft anhaltender Wanderschaft oder permanenter Unruhe: Die Schwierigkeiten setzen ein, wenn man seinen Koffer absetzt. Doch dies ist nur eine Seite der Lehre, die man aus dem Song ziehen kann. Die dort vermittelte Ästhetik reflektiert den Zusammenhang, den eine kunstschaffende Person oder eine Lebenskünstlerin bzw. ein Lebenskünstler mit ihrem resp. seinem Dasein und Schaffen hat. Und dort zeigt sich, dass es mit der Sinnfrage alles andere als leicht bestellt ist, ja es deutet sich an, dass sich im Leben und Schaffen so ohne Weiteres kein Sinn finden lässt und dass, wenn überhaupt, der Sinn sich eher im Bemühen um ästhetische Reflexion auf das eigene Tun zeigt.
Und in der Tat, es handelt sich vornehmlich um ein Zeigen, weil es sich eben nicht unmittelbar sagen lässt, worin der Sinn besteht.12 Bob Dylan hat dies in seiner Nobelpreis-Rede so formuliert:
»Dass ein Song dich bewegt, allein darauf kommt es an. Du musst nicht wissen, was er bedeutet. […] Als Melville sein Altes Testament, seine biblischen Anspielungen, wissenschaftlichen Theorien, protestantischen Lehrsätze und all sein Wissen über das Meer, Segelschiffe und Wale in eine Geschichte stopfte, hat auch er sich, glaube ich, keine Gedanken darüber gemacht – was das alles bedeutete. Auch John Donne, der Dichter-Pfarrer, der zur Zeit Shakespeares lebte, hat solche Worte geschrieben – etwa dies hier: ›die Sestos und Abydos ihrer Brüste. / Nicht zweier Liebender, sondern zweier Lieben, die Nester.‹ Ich weiß auch hier nicht, was es bedeutet. Aber es klingt gut. Und du willst schließlich, dass deine Songs gut klingen« (Dylan 2017, 45).
Ein guter Song hört sich vor allem gut an, das ist die Botschaft, das ist der Sinn von guter Musik. Ein gut gemachter und klingender Song zeigt auf seine Weise, worum es bei ihm geht. Dies schließt nicht aus, dass mit ihm auch Optionen seiner Auslegung mittransportiert werden, also Deutungsangebote, die sich auch mitteilen lassen. Doch sind solche Assoziationen nie abschließende, umfassende und fortwährende Geltung beanspruchende Interpretationen, das liegt nur bei einem schlechten Song nahe. Deutungen guter Songs sind vielmehr Beiwerk dessen, was den Song gut klingen lässt, eben dass sich zu ihm auch Dinge sagen lassen, vor allem solche Dinge, die unterstreichen, dass es sich um einen guten, um einen bewegenden Song handelt. In diesem Sinn vollführt Bob Dylans Mississippi ein vielschichtiges Spiel mit poetischen Bildern, ambigen Erzählfragmenten, ambivalenten Emotionsangeboten und offen gehaltenen philosophischen Fragen. Als klingende Parataxe in Blue reflektiert der Song die sich wandelnde, nie feststehende Bedeutung von Leben und Kunst oder von Lebenskunst in einer modernen, oft entzauberten, in Teilen aber auch wiederverzauberten Welt. Dazu gibt es sie, dazu brauchen wir sie, die guten Songs.
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Ralph Sichler, Dr. phil., Dipl.-Psych., Professor für Grundlagen der Psychologie an der Bertha von Suttner Privatuniversität in St. Pölten und langjähriger Mitherausgeber des Journals für Psychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Kulturpsychologie, der qualitativen Sozialforschung, der Arbeitspsychologie und den philosophischen Grundlagen der Psychologie.
Kontakt:
Prof. Dr. Ralph Sichler,
Bertha von Suttner Privatuniversität, Psychologie,
Campusplatz 1, 3100 St. Pölten, Österreich,
E-Mail: ralph.sichler@suttneruni.at,
Webpage: https://suttneruni.at/de/startseite/prof-dr-ralph-sichler-dipl-psych