The Origin of Love (Hedwig and the Angry Inch)

Über Komplementarität, queere Populärkultur und Kugelmenschen

Agnes Stephenson

Journal für Psychologie, 33(1), 61–79

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2025-1-61 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Das Musical Hedwig and the Angry Inch gilt als Klassiker der queeren Populärkultur. Der Song The Origin of Love veranschaulicht die verzweifelte Suche der queeren Protagonist*in Hedwig, die nach einer missglückten Geschlechtsumwandlung weder männlich noch weiblich, weder homosexuell noch heterosexuell ist, nach der anderen Hälfte, die das eigene Selbst komplettieren kann. Er referiert auf Platons Symposion und bietet eine Neuerzählung des Kugelmenschen-Mythos. Die Figur Hansel*Hedwig, die durch die misslungene Geschlechtsumwandlung in sich selbst gespalten ist, repräsentiert die Teilung der Kugelmenschen durch die Macht der mythologischen Götter, deren Effekt die Trennung von zwei zusammengehörenden Hälften ist. Im Rahmen einer tiefenhermeneutischen Interpretation wurde der Song analysiert. Der Beitrag fokussiert die Rekonstruktion dieses Interpretationsprozesses unter Bezugnahme auf die queer-feministische Theorie Judith Butlers und die Bedeutung des Songs für die queere Populärkultur.

Schlüsselwörter: The Origin of Love, Hedwig and the Angry Inch, Tiefenhermeneutik, Queer-Theorie, Symposion, Kugelmenschen

The Origin of Love (Hedwig and the Angry Inch)

On complementarity, queer popular culture and spherical creatures

The musical Hedwig and the Angry Inch is considered a classic of queer pop culture. The song The Origin of Love illustrates the desperate search of the queer protagonist Hedwig, who, after a failed sex reassignment surgery, is neither male nor female, neither homosexual nor heterosexual, for the other half that can complete the self. It references Plato’s Symposion and offers a retelling of the myth of the spherical human. The character Hansel*Hedwig, who is internally divided due to the failed surgery, represents the division of the spherical humans by the power of the mythological gods, whose action results in the separation of two united halves. The song was analyzed using a depth hermeneutic interpretation. The article focuses on reconstructing this interpretive process with reference to Judith Butler’s queer-feminist theory and the significance of the song for queer pop culture.

Keywords: The Origin of Love, Hedwig and the Angry Inch, depth hermeneutics, queer theory, Symposion, spherical creatures

1 Einleitung – Hedwig and the Angry Inch als Klassiker der queeren Populärkultur

Ein ostdeutscher Junge, in den sich ein amerikanischer GI-Sergeant verliebt und der, um Ostdeutschland entfliehen und in die ersehnten USA kommen zu können, eine Geschlechtsumwandlung1 an sich durchführen lässt – dies ist der Ausgangspunkt der Geschichte, die im Musical Hedwig and the Angry Inch erzählt wird. Hansel möchte seinem trostlosen Leben in Ostdeutschland entfliehen und sieht in der Liebe von Sergeant Robinson die große Chance, die DDR verlassen zu können. Damit er diesen allerdings heiraten kann, muss er zur Frau werden und unterzieht sich einer illegalen Operation bei einem betrunkenen Chirurgen. Die Operation misslingt und hinterlässt jenen titelgebenden »Angry Inch«, durch den Hansel nicht mehr Hansel ist und aber auch nicht zur Gänze zu Hedwig wird. Hedwig ist der Name von Hansels Mutter, die ihm ihren Pass gibt, damit er* ausreisen kann. Als Hedwig und Sergeant Luther Robinsons Ehefrau gelangt Hansel* in die USA. Nach einem Jahr ist Hedwig geschieden und die Berliner Mauer fällt. Hedwig versucht sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen und gründet eine Glam-Rock-Band: »Hedwig and the Angry Inch«. Sie* verliebt sich in Tommy, dessen Babysitter*in sie* ist, macht Musik mit ihm und verwandelt ihn in einen Rockstar. Doch erfolgreich wird Tommy nur ohne sie*. Tommy verlässt Hedwig, nachdem er alles von ihr gelernt hat, da er Hedwigs Körper nicht ertragen kann, und wird ein gefeierter Künstler. In Albanien lernt Hedwig die Dragqueen Yitzhak kennen und nimmt ihn nur unter der Bedingung in die USA mit, dass er nie wieder eine Perücke trägt. Am Ende zeigt sich Hedwig*Hansel in seiner*ihrer Uneindeutigkeit, weder Frau noch Mann, aber eins mit sich selbst, ohne weiter nach dem Anderen zu suchen, das das Selbst erst komplett machen kann. Hedwig*Hansel verschmilzt mit seiner*ihrer großen Liebe Tommy und es verbleibt die Frage, ob Tommy das Alter Ego von Hedwig*Hansel ist, jener Teil von ihm*ihr, der selbstbewusst, erfolgreich und stark in der Akzeptanz seiner selbst ist. Tommy windet sich aus Hedwigs Körper, einer (Wieder-)Geburt gleich, und kann nun auch Yitzhak als denjenigen anerkennen, der er ist. Tommy*Hedwig übergibt Yitzhak die Perücke, tritt aus der Protagonist*innenrolle zurück und ermöglicht Yitzhak, unterstützt von der Band »The Angry Inch«, einen glanzvollen Auftritt als Dragqueen. Das Stück wird aus Hedwigs Sicht und von Hedwig erzählt, enthält kraftvolle Rocknummern, langsame Balladen, aber auch trashige Punksequenzen.

Das Musical Hedwig and the Angry Inch bietet zahlreiche theoretische Ansatzpunkte, die häufig in Publikationen zu den Queer Studies aufgegriffen werden (vgl. z.B. Leibetseder 2010, 17–21). Im Rahmen eines Forschungsprojektes am Department Psychotherapiewissenschaft der Sigmund Freud PrivatUniverstiät Linz wurde das Musical aus einer psychodynamischen Perspektive betrachtet. Dabei wurde die qualitative, sozialwissenschaftliche Methode der Tiefenhermeneutik eingesetzt, um latenten Sinnebenen, die im Rahmen des Musicals mittransportiert werden, auf die Spur zu kommen. Die Zielsetzung dabei entfaltete sich entlang zweier Zugänge: Zum einen wurde danach gefragt, welche Themen sich durch diese Auswertungs- und Analysemethode finden und explizit machen lassen, die über die bereits existierende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Musical hinausgehen, diese ergänzen oder erweitern und für die Psychotherapiewissenschaft nutzbar machen, zum anderen wurde auch die Methode auf ihre Eignung hin erprobt, populärkulturelle Produkte in ihrer soziokulturellen und psychotherapiewissenschaftlichen Bedeutsamkeit zu beforschen.2 Der vorliegende Beitrag möchte die Methode der Tiefenhermeneutik als Interpretationsmethode eines modernen Songs vorstellen und die Ergebnisse in der Rekonstruktion mit queertheoretischen Zugängen verbinden.

Hedwig and the Angry Inch3 wird als Klassiker queerer Populärkultur bezeichnet (vgl. z.B. Park 2015) und immer wieder in unterschiedlichen queeren Produktionen aufgegriffen, wie z.B. in der Netflix-Serie Sex Education (vgl. Vázquez-Rodríguez et al. 2021). Die Queerness des Stücks speist sich daraus, dass die Hauptfigur Hansel*Hedwig in nonbinärer Uneindeutigkeit verbleibt und niemals eindeutig einer geschlechtlichen Zugehörigkeit oder einer sexuellen Orientierung zu- bzw. untergeordnet werden kann. Hansel, der sich selbst am Beginn des Stücks als Girly-boy bezeichnet, wird in erster Linie zu Hedwig, weil die Gesellschaft homophob denkt und handelt: Zwei Männer können keine (legitime) Beziehung miteinander haben, weshalb Hansel, ganz im Sinne des klassischen Gesellschaftsvertrags, etwas von sich aufgeben muss, um die Freiheit (bzw. die imaginierte Freiheit des fantasierten Westens) zu erlangen und die Sicherheit des westlichen Gesellschaftssystems nutzen zu können (vgl. Garcia 2015, 174). Dieses Etwas ist Hansels Penis, der allerdings nicht zur Gänze entfernt wird, sondern in Form des »Angry Inch« als Mahnmal auf Hedwigs Körper verbleibt.

Das Stück setzt sich mit der Frage auseinander, wie sehr die Identität des*der Einzelnen von Gesellschaft und Politik beeinflusst wird und welche Möglichkeiten subversiver Praktiken sich im Alltag bieten. »Identity can be masked, agency reconstituted; individuals can deconstruct the marks of identity, although at the risk of destabilizing the entire social fabric« (Garcia 2015, 174). Die Fluidität von Identität eröffnet die Möglichkeit, deren Zeichen zu dekonstruieren, kann aber gleichzeitig tiefgreifende gesellschaftliche Konsequenzen haben. Diese Perspektive verweist unmittelbar auf die Theorie von Judith Butler, insbesondere ihre Konzeption der Performativität von Geschlecht. Butler argumentiert, dass Identität – insbesondere Geschlechtsidentität – nicht etwas Festes oder Essenzielles ist, sondern durch wiederholte performative Akte entsteht. Indem Individuen diese Akte verändern oder subvertieren, können sie bestehende Identitätskategorien infrage stellen und möglicherweise destabilisieren.

Drag wird von Judith Butler (1991) als eine Form subversiver Praxis als Antwort auf vergeschlechtlichte Normierungen kontextualisiert, in der durch Überzeichnung der Geschlechtsstereotypen in der Darstellung durch das als anders gelesene Geschlecht die Gender-Konstruktionen als politische und gesellschaftliche Herrschaftsinstrumente decouvriert werden und gleichzeitig die machtstabilisierende Unterdrückung fluider Gender-Konzepte in ihrer Gültigkeit hinterfragt wird (vgl. Vázquez-Rodríguez et al. 2021, 202). In Judith Butlers Queer-Theory ist Geschlecht kein dem Subjekt vorgängiges Konzept, sondern Geschlechtlichkeit wird beständig performativ hergestellt, indem alltägliche Wiederholungen von Geschlechterstereotypen, Normen und Zuschreibungen unser Bild davon, wie sich Geschlechtlichkeit zeigt, in welchen Grenzen sie sich zu bewegen hat und welche Möglichkeiten den beiden – und nur zwei – Geschlechtern zugeschrieben werden, verfestigen und als essenzialistische, naturalisierte, binäre Geschlechternormen erscheinen lassen. Drag geht gegen diese Wiederholungen an, es stellt andere Bilder den gewohnten Bildern gegenüber. Hedwigs Weiblichkeit* zeigt sich während des gesamten Stücks nur in ihrer Performativität, in unterschiedlichen Variationen von Weiblichkeit (vgl. Park 2015, 126). »Diese Undefinierbarkeit fordert die Objektivierung und Naturalisierung binärer Normen heraus. Hedwig performiert diese Uneindeutigkeit in ihren* unterschiedlichen, geschlechtlichen Manifestationen, die beständig und widerständig uneindeutig verbleiben« (A. Stephenson 2025, o.S.).

Wendy Hsu (2011, 106) verwendet für Hedwigs Gender-Performance den Begriff »gender-y« als Ausdruck für unterschiedliche Aspekte von vergeschlechtlichter Performanz, die Hedwig jenseits binärer Zuschreibungen verorten. So kann sie* sowohl in überzeichneter Drag-Weiblichkeit auftreten (z.B. Wig in the box) als auch in tragisch-verletzlich-wütender Männlichkeit (z.B. The Angry Inch). »Hedwig’s complicated gender-y performances depart from and break down the conventional one-dimensional gender dichotomy between masculinity and feminity« (Hsu 2011, 106).

Eine verletzlich-weibliche Seite ihrer* vergeschlechtlichten Performanz zeigt Hedwig in dem Song The Origin of Love, den ich im Folgenden näher betrachten werde.

2 The Origin of Love

Eine zentrale Rolle in dem Musical spielt das Lied The Origin of Love, das am Anfang von Hedwigs Lebensgeschichte steht. Das Lied erzählt eine mythische Entstehungsgeschichte menschlicher Sexualität, die auf Platons Symposion gründet (vgl. Benshoff und Griffin 2006, 14),4 und bietet ein Narrativ an, wie Liebe und Begehren in die Welt kamen: Zu Beginn gab es drei Arten menschlicher Lebewesen mit zwei Köpfen, vier Armen und vier Beinen – männlich-männliche, weiblich-weibliche und männlich-weibliche. Der Zorn der Götter über die Maßlosigkeit der Menschen veranlasste Zeus dazu, die Kugelmenschen in der Mitte zu spalten und voneinander zu trennen. »The birth of love is thus the emergence of the human desire to recover the wholeness of the Original form« (Hsu 2011, 104). Liebe und Begehren seien folglich nur der Ausdruck der Suche nach der verloren gegangenen Hälfte.

Alles Glück, alle Freude, alle persönliche Entwicklung sind abhängig davon, das bedeutsame Andere zu finden, das das Eigene erst komplett macht. Diese Suche nach der zweiten Hälfte ist gerahmt davon, dass Hedwig ständige Zurückweisung erfährt, sowohl im beruflichen Bereich bleibt ihr die Anerkennung als Künstler*in verwehrt als auch in Bezug auf ihre privaten Beziehungen (vgl. Beyt 2019, 2).

Am Ende des Songs The Origin of Love formuliert Hedwig ihren* Wunsch, ihre* andere Hälfte zu finden, und fragt danach, wie diese andere Hälfte wohl sein wird: männlich oder weiblich, so wie sie* oder ganz anders, und sie* überlegt, ob der Geschlechtsakt eine Möglichkeit sei, wieder eins zu werden, wieder ganz zu sein und die gewaltsame Trennung durch die Götter aufzuheben (vgl. Hsu 2011, 109).

Im Anschluss beginnt Hedwig die Geschichte ihrer* drei Lieben zu erzählen, die Geschichte der drei Menschen, mit denen Hedwig eine Beziehung hatte. Der erste von ihnen ist Luther Robinson, jener GI, der Hansel zur Geschlechtsumwandlung überredet und als seine Frau* Hedwig mit in die USA nimmt. Als Luther Hansel zum ersten Mal begegnet, hält dieser ihn für ein Mädchen, das sich auf dem Bauch liegend am Fuße der Berliner Mauer in einem Bombenkrater sonnt. Hansel entdeckt, wie es ist, Macht über einen Menschen aufgrund dessen sexuellen Begehrens zu haben. Das Machtgefälle verkehrt sich jedoch spätestens dann in sein Gegenteil, als Luther Hansel als Preis für seine Freiheit zur Geschlechtsumwandlung zwingt. In der Beziehung mit Luther ist Hansel ein »bottom gay boy« (Hsu 2011, 109).

Mit Tommy ist Hedwig eine »bottom femme« (Hsu 2011, 110), die* für dessen Lusterfüllung zu sorgen hat und ihm ihr (musikalisches) Wissen zur Verfügung stellt. Sie* ermöglicht ihm seine (Wieder-)Geburt als Tommy Gnosis, indem sie* ihm seinen Namen und sein Erkennungszeichen gibt.

Yitzhak hingegen wird von Hedwig dominiert, erniedrigt und gezwungen, ein anderer zu sein, als er sein möchte. Yitzhak wird von einer Frau dargestellt, die maskuline Stereotype in Aussehen, Bewegung und Kleidung überzeichnet. In der Beziehung mit Yitzhak übernimmt Hedwig das unterdrückende und beschämende Verhalten, das ihr* selbst von ihrem* ersten Ehemann Luther entgegengebracht wurde. Sie* zwingt Yitzhak, seinen Drag-Anteil zurückzulassen, um in die Freiheit des Westens zu gelangen.

Die zentrale Botschaft des Stückes könnte so verstanden werden, dass die ursprüngliche Idee Aristophanes’ gequeert wird, dass es keine vorgegebene, essenzialistische Geschlechtlichkeit gebe, sondern dass diese sich stets jenseits homo- oder heteronormativer Vorgaben bewege. »Instead, one’s sexuality is defined and redefined moment-to-moment by the particular gender of the other person involved and the dynamic between the two people« (Hsu 2011, 114).

Die Logik der Komplementarität, wie sie sowohl in Platons Symposion als auch in verschiedenen religiösen Grundverständnissen gedacht wird, entstammt den Schöpfungsideen, die in den jeweiligen kulturell-religiösen Zusammenhängen als Basis der Entstehung der Menschheit entfaltet werden. So zeigt sich im christlich-katholischen Glauben das Narrativ, dass die erste Frau aus der Rippe des Mannes erschaffen worden sei. Auch hier wird ein ursprünglich verbundenes Ganzes durch das Einwirken göttlicher Macht getrennt, und beide haben nun die Aufgabe, sich für die Erschaffung weiterer Menschen wieder zu verbinden. Durch die einzige Legitimierung der körperlichen Vereinigung in der Erschaffung neuen Lebens findet nur die Verbindung zwischen männlichen und weiblichen Körpern im christlich-katholischen Glauben Anerkennung. Die Schöpfungsgeschichte, wie sie im Buch Genesis dargestellt ist, wird damit als Hauptargument für die Ablehnung aller Verkörperungen und Vergeschlechtlichungen gesehen, die sich nicht der geschlechtlichen Binarität, der Heteronormativität oder der Komplementaritätslogik unterwerfen (vgl. Beyt 2019, 5).

3 Tiefenhermeneutische Interpretation von The Origin of Love

Im Folgenden wird nun zuerst die Methode der Tiefenhermeneutik kurz vorgestellt, anschließend der Text des Songs The Origin of Love aus dem Musical Hedwig and the Angry Inch dargeboten – mit der Einladung an alle Leser*innen, die eigenen Assoziationen, Emotionen und Irritationen, die während des Lesens auftreten, zuzulassen –, darauf folgt eine inhaltliche Beschreibung des Videos aus dem zugehörigen Film und im Anschluss daran die tiefenhermeneutische Rekonstruktion des Interpretationsprozesses.

3.1 Die Methode der Tiefenhermeneutik

Bei der tiefenhermeneutischen Interpretation handelt es sich um eine psychoanalytisch informierte Methode der qualitativen Sozialforschung, die auf den Reformulierungen von Sigmund Freuds Sozial- und Kulturtheorie durch Alfred Lorenzer beruht. Lorenzer wollte die psychoanalytische Methode auf die Analyse sozialer Wirklichkeit anwendbar machen und erarbeitete die Methode des Szenischen Verstehens als Grundlage der Tiefenhermeneutik (vgl. Wimmer et al. 2023).

Das Szenische Verstehen wird der inhaltlichen Interpretation und der psychologischen Interpretation, also der Interpretation von Gestik, Mimik, Ausdruck etc., zur Seite gestellt. Das Szenische Verstehen richtet sich an das unbewusste Erleben, an die Wirkung des Materials auf die Interpret*innen, das sich über das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen erschließen lässt. Die Subjektivität der Forscher*innen wird folglich nicht mehr als Einschränkung der Erkenntnisse kontextualisiert, sondern als Instrument für die Erschließung latenter Botschaften, die sich in dem Material finden lassen. Die Interpret*innen gehen von ihren eigenen Emotionen und Assoziationen aus, die durch die Wirkung des Materials ausgelöst werden, und betrachten diese als »kulturelle Objektivationen sozialen Handelns« (König 2019, 15). Dabei wird das Material als Abfolge von Szenen verstanden, bei denen die manifesten Inhalte die dahinter liegenden latenten Wünsche, Ängste oder Abwehrhaltungen verdecken. Über die spontanen Assoziationen und Gefühlsregungen der Interpret*innen, die diese möglichst ungefiltert an die Oberfläche treten lassen, werden im gemeinsamen Austausch entlang des Materials die verborgenen Sinnebenen des Textes erforscht.

»Wenn die Gruppe […] darum kämpft, die divergierenden Verstehenszugänge zueinander in eine Konstellation zu setzen, um aus der Vielzahl der Lesarten eine Deutung zu konstruieren, dann lässt sich am Ende dieses Interpretationsprozesses beschreiben, wie sich die Bedeutung des Textes in der Spannung zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn entfaltet« (ebd., 29).

Der Interpretationsprozess beginnt mit der Verortung des Materials im Rahmen des jeweiligen Forschungsprozesses, wobei hier noch wenig Information zu der konkreten Forschungsfrage gegeben wird, um die freien Assoziationen nicht vorab bereits in eine vorgegebene Richtung zu lenken. Anschließend wird entweder das Material gemeinsam betrachtet – wie z.B. bei der Interpretation von The Origin of love – oder das Material wurde bereits im Vorfeld zugeschickt – z.B. wenn es sich um ein längeres Interview handelt. Die Interpretation beginnt mit einer »Blitzlichtrunde«, die dazu dient, dass alle Teilnehmer*innen ihre Emotionen, Assoziationen und Irritationen teilen, ohne dabei von anderen unterbrochen zu werden. Anschließend beginnt die freie Diskussion, die sich entlang des Materials entfaltet. Dabei wird auf einzelne Inhalte und Szenen Bezug genommen, bei Interviews werden einzelne Passagen erneut mit verteilten Rollen gelesen oder Sequenzen von Videos erneut betrachtet. Am Ende einer Interpretationsrunde werden gemeinsam die manifesten und latenten Inhalte gesammelt, die im Laufe des Prozesses angesprochen wurden.

Die Linzer Tiefenhermeneutik-Gruppe der Sigmund Freud PrivatUniversität ist eine regelmäßig stattfindende tiefenhermeneutische Interpretationsgruppe, die sich zweimal monatlich trifft – einmal monatlich in weitgehend gleich bleibender Besetzung aus Studierenden, Absolvent*innen und Staff-Mitgliedern und einmal monatlich als offene Gruppe mit Teilnehmer*innen, die über unterschiedlich viel Erfahrung in der Tiefenhermeneutik verfügen, teilweise an anderen Institutionen und Universitäten verortet sind und sich unter Umständen vorher noch nie getroffen haben. Die Interpretation des Liedes The Origin of Love fand im Rahmen der geschlossenen Gruppe statt. Die Zusammensetzung dieser Gruppe bestand aus Teilnehmer*innen, die das Stück kannten und live die Wiener Inszenierung im Vindobona gesehen hatten, und aus Teilnehmer*innen, die nur das Lied im Rahmen der Interpretationsgruppe kennenlernten.

3.2 The Origin of Love

When the earth was still flat,
And clouds made of fire,
And mountains stretched up to the sky,
Sometimes higher,
Folks roamed the earth
Like big rolling kegs.
They had two sets of arms.
They had two sets of legs.
They had two faces peering
Out of one giant head
So they could watch all around them
As they talked; while they read.
And they never knew nothing of love.
It was before the origin of love.
[…]

And there were three sexes then,
One that looked like two men
Glued up back to back,
Called the children of the sun.
And similar in shape and girth
Were the children of the earth.
They looked like two girls
Rolled up in one.
And the children of the moon
Looked like a fork shoved on a spoon.
They were part sun, part earth,
Part daughter, part son.
The origin of love.

Now the gods grew quite scared
Of our strength and defiance
And Thor said,
»I’m gonna kill them all
With my hammer,
Like I killed the giants.«

And Zeus said, »No,
You better let me
Use my lightning, like scissors,
Like I cut the legs off the whales
And dinosaurs into lizards.«
Then he grabbed up some bolts
And he let out a laugh,
Said, »I’ll split them right down the middle.
Gonna cut them right up in half.«

And then storm clouds gathered above
Into great balls of fire
And then fire shot down
From the sky in bolts
Like shining blades
Of a knife.
And it ripped
Right through the flesh
Of the children of the sun
And the moon
And the earth.
And some Indian god
Sewed the wound up into a hole,
Pulled it round to our belly
To remind us of the price we pay.
And Osiris and the gods of the Nile
Gathered up a big storm
To blow a hurricane,
To scatter us away,
In a flood of wind and rain,
And a sea of tidal waves,
To wash us all away,
And if we don’t behave
They’ll cut us down again
And we’ll be hopping around on one foot
And looking through one eye.

[…]

(Mitchell und Trask 1998/2014, 29–32)

Der Song The Origin of Love5 wird von Hedwig gerahmt als eine Erzählung, die Hedwigs Mutter dem kleinen Hansel als Gutenachtgeschichte erzählt haben soll. Er beginnt mit leisen E-Gitarrenklängen, einem weichen Schlagzeugrhythmus und mit sanfter Erzählstimme. Im Hintergrund sind zum Text passende Animationen zu sehen, die den Inhalt des Liedes illustrieren. Bei der Beschreibung der Kugelmenschen übernehmen die Illustrationen das ganze Bild und die Musik wird schneller. Beim Refrain sind wieder Hedwig und ihre* Band »The Angry Inch« zu sehen. An diesem Punkt klingt der Song noch sehr geordnet, harmonisch, fast wie ein Kinderlied. Anschließend werden wieder die Illustrationen gezeigt, die bunter werden und ineinander übergehen. Die unterschiedlichen Geschlechter werden nun vorgestellt: die Kinder der Sonne (männlich – männlich), die Kinder der Erde (weiblich – weiblich) und die Kinder des Mondes (weiblich – männlich). Hedwig verbleibt stimmlich in ihrem sanften Erzählmodus, auch wenn sich im Hintergrund bereits das drohende Unheil ankündigt, indem die Band und vor allem das Schlagzeug lauter werden. Die musikalische Harmonie verändert sich stetig mit der Erzählung, als die Götter darüber diskutieren, wie sie die Menschen für ihre Stärke und ihren Übermut bestrafen könnten. Die Worte holpern und stolpern über die Melodie, der Song wird rhythmischer, schneller und lauter. Nach der Zeile »And then storm clouds gathered above into great balls of fire« pausiert die Musik für einen Moment – Hedwig und ihre Bandmitglieder sehen zum Himmel, als würde das Gewitter direkt über sie hereinbrechen, mit dem Schlagzeug rollt der Donner heran. Die Melodie des Songs ist unterbrochen, Hedwig und Yitzhak rufen die nächsten Textzeilen gemeinsam mehr heraus, als dass sie sie singen. Die Musik schwillt an, die Bewegungen der Musiker*innen werden gehetzter, unruhiger, die Stimmen lauter und schreiender. Mit der Textzeile »Last time I saw you we had just split in two« kehren Hedwig und The Angry Inch wieder zur Melodie zurück, das Schlagzeug verbleibt jedoch laut und rhythmisch im Hintergrund. Hedwig wird in Großaufnahme gezeigt. Bei der Textzeile »That’s the pain, cuts a straight line down through the heart: We called it love« lächelt Hedwig zum ersten Mal während des Songs, ein trauriges, melancholisches Lächeln. Am Ende des Songs, lang gezogene Töne auf das Wort »love«, wird eine Illustration eingeblendet, die das bekannteste Symbol des Musicals und des Films werden sollte: Zwei getrennte Gesichtshälften.

3.3 Tiefenhermeneutische Rekonstruktion

Ein großes Thema in der tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppe war das (eigene) Verständnis von Liebe. Entsteht Liebe aus der (romantischen bzw. romantisierten) Sehnsucht nach der verlorenen Hälfte? Oder steht die machtvolle Trennung durch die zornigen Götter im Widerspruch zu dem, was wir unter Liebe verstehen (wollen)? Ist es wirklich denkbar, dass aus der rohen, männlichen Gewalt heraus, die zerstört und zerhackt, Liebe erschaffen wurde? Ist Liebe der Trost über den erlittenen und verloren gegangenen Schmerz? Und wenn die zwei Liebenden einmal eins waren, werden sie in der Wiederannäherung wieder eins oder bewahren sie sich ihr in der Zwischenzeit erworbenes, unverwechselbares und individuelles Sein?

Das Lied berührt die existenzielle Frage danach, was Liebe ist, ob es diese andere, vorbestimmte Hälfte gibt und ob wir diese je finden werden. Und schließlich auch die Frage danach, was dann mit uns selbst geschieht, ob wir uns selbst verlieren, wenn wir eins mit diesem anderen werden, oder ob das Erkennen des Anderen als »anders« die eigentliche Basis für Liebe ist.

Im Laufe des Interpretationsprozesses thematisierte die Gruppe, wie sehr wir von in uns latent wirksamen Konzepten davon, wie Liebe ist bzw. wie sie zu sein hätte, bestimmt sind. Die Vorstellung, dass Liebe nur aus Schmerz entstanden sein könnte, aus Gewalt, Hass und Zorn der »angry« Götter, war für einige von uns schwer auszuhalten. Wir versuchten, die Dialektik Liebe-Schmerz in der Dialektik Trennung-Verbindung neu zu denken. Nichts kann verbunden sein, das nicht vorher getrennt war. Und nichts kann getrennt werden, das nicht vorher verbunden war. Am Anfang unserer menschlichen Entwicklung steht eine Trennung: die Zellteilung. Die entstehenden Zellen fügen sich wieder zu Zellverbänden zusammen und nur durch diese Kombination von Trennung und Verbindung kann Leben entstehen. Am Beginn unseres Lebens steht die Trennung von dem Körper, dessen Teil wir zuvor waren, vom Körper der Mutter. Ärzt*innen (»Gött*innen in Weiß«) durchschneiden (»like scissors«) die Nabelschnur – der Nabel ist das Mahnmal für diesen Schmerz der ersten großen Trennung, so wie in dem Song der Nabel der Punkt ist, an dem ein »indian god« die durch die Spaltung entstandenen Wunden vernähte (»And some Indian god sewed the wound up into a hole, pulled it round to our belly to remind us of the price we pay«). Die Person, die die Mutter bei der Geburt begleitet, ist auch jene Person, die das Geschlecht des Kindes benennt. Die Trennung von der Mutter und die Einordnung des Kindes in die Geschlechtsbinarität ist ein ähnlich macht- bzw. gewaltvoller Akt wie die Trennung der Kugelmenschen, wie sie in dem Song beschrieben wird.

Auch bei Hedwig verbleibt ein Mahnmal, das sie* für immer an ihre* Entscheidung zur Geschlechtsumwandlung erinnern wird: der »Angry Inch«, das Stück des Penis, das durch den Einschnitt des betrunkenen Chirurgen in ihren* Männerkörper zurückblieb, jener Schnitt, der sie* von männlich zu weiblich werden lassen sollte und stattdessen in die Uneindeutigkeit warf. Der »Angry Inch« verbleibt als Mahnmal an ihrem* Körper und ist schließlich auch der Grund dafür, warum Tommy sich von ihr* abwendet und sie* verlässt: Er hält die Uneindeutigkeit von Hedwigs Körper nicht aus.

Wenn wir Tommy, wie im Musical angedeutet, als Alter Ego von Hedwig verstehen, dann wendet sich ein Persönlichkeitsanteil von ihrem* uneindeutigen Körper ab. Erst in der Integration jener Persönlichkeitsanteile, die Hedwigs Körper ablehnen und Eindeutigkeit fordern, mit der Akzeptanz des eigenen Körpers in seiner Uneindeutigkeit, wird Hedwig zu jenem Ganzen, das sie* sich in Origin of Love erhofft. Der »Angry Inch«, das Mahnmal für Hedwigs Uneindeutigkeit und der Name ihrer* Band, mit der Hedwig durch die heruntergekommenen Etablissements tingelt, wird von Hedwig unentwegt abgelehnt – auch nach außen: Die Bandmitglieder inklusive Hedwigs zweiten Ehemanns Yitzhak werden beschämt, beschimpft und abgewertet, Hedwig bekämpft das Eigene im Außen. Erst in dem Moment, in dem Hedwig sich selbst erkennt und anerkennt, ihre* Uneindeutigkeit annimmt, erst dann kommt es zu einer tatsächlichen Resignifizierung des »Angry Inch«: Die Band wird wertgeschätzt, Hedwig überlässt Yitzhak die Bühne, der »Angry Inch« wird plötzlich zu einem wertvollen Teil nicht nur in Hedwigs Leben, sondern auch in der Gesellschaft und damit kann auch Hedwig selbst sich als wertvollen Teil der Gesellschaft verstehen.

Die Vorstellung, dass der Mensch, wenn er mit sich selbst ganz eins ist, zu mächtig sein könnte und deshalb von einem patriarchalen Gott zerschnitten werden muss, zeigt sich in der Zeile »Now the gods grew quite scared of our strength and defiance«. Diese Textpassage lässt sich auch aus einer macht- und herrschaftskritischen Perspektive lesen: Herrschaftsformen, auch in demokratischen Gesellschaftsstrukturen, folgen dem »divide et impera« (»teile und herrsche«)-Prinzip. Die Spaltung der Gesellschaft in einander bekämpfende Untergruppen ist ein politischer Akt, der dazu führt, dass die einander bekämpfenden Untergruppen nicht mehr die Herrschenden bekämpfen. Gleichzeitig führt eine Reduktion von Komplexität auch dazu, dass Gruppen und Menschen leichter beherrschbar werden. Das Lied enthält also zutiefst sozialkritische Aspekte, die weit über die vordergründigen Themen Geschlechtsbinarität, Homo- und Transphobie hinausgehen und hochaktuell sind: die Einteilung von Menschen aufgrund sozial und politisch konstruierter Zugehörigkeiten bzw. Identitätskategorien zu Gruppen, die Negierung von Diversität durch konstruierte Homogenität in der Spaltung der Gesellschaft und damit die Vereinfachung der Möglichkeit, die gesamte Gruppe zu beherrschen, weil diese damit beschäftigt ist, entweder nach denen zu suchen, die zur eigenen Gruppe dazugehören, oder jene zu bekämpfen, die verAndert und ausgeschlossen werden. Die Spaltung der Gesellschaft ist seit einigen Jahren aus gesellschaftspolitischer Sicht ein wichtiges Thema, da die Gesellschaft, ganz besonders seit der COVID-19-Pandemie, auseinanderzudriften scheint. Diese zunehmende Zuordnung von Menschen zu Identitätsgruppen, die von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft bedroht werden, erklärt auch die zunehmende Attraktivität rechtspopulistischer Parteien für viele Menschen in ganz Europa: Die Parteien offerieren einfache Lösungen, Klarheit, Normativität und Normalität und damit ein schlichtes Konzept von einer zunehmend komplexer werdenden globalen Welt. Komplexität zu ignorieren bzw. durch gezielte Spaltungsmaßnahmen zu reduzieren scheint ein Vermächtnis des Kugelmenschen-Mythos zu sein.

Durch die Zuordnung zu einer homogenen Identitätsgruppe wird auch die Komplexität in unserem Inneren reduziert. Sich selbst als eindeutig zu denken – in geschlechtlicher, ethnischer, kultureller oder anderer Zugehörigkeit – ermöglicht uns, die eigenen Widersprüche zu ignorieren, das Eigene als homogen und ganz zu erleben und damit offen zu sein für das Andere, das uns komplettiert. Doch der Schmerz der Trennung, gleichsam wie der Schmerz, der durch die Ignoranz gegenüber der eigenen Vielseitigkeit und Vielfältigkeit ausgelöst wird, trübt unseren Blick:

»But I could not recognize, cause you had blood on your face; I had blood in my eyes. But I could swear by your expression, that the pain down in your soul, was the same as the one down in mine.«

Das Eigene hat sich in der Trennung verändert, Schmerzen erlitten, sich weiterentwickelt. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob das Ursprüngliche in der Wiedervereinigung überhaupt wieder hergestellt werden kann, oder ob es sich dann um eine Beziehung handelt, »a relationship that allows the two halves to coexist without having to conform to the original or prescribed shape« (Hsu 2011, 114).

Die vordergründige Botschaft des Songs liegt darin, dass Liebe nur durch die Spaltung in die Welt gekommen sei. In der näheren Auseinandersetzung mit dem Text kann Liebe allerdings als Ausdruck andauernder Abfolgen von Verbindungen und Trennungen kontextualisiert werden. Nur dadurch, dass es ein anderes, von einem selbst abgetrenntes Sein gibt, ist es möglich, im Erkennen dieses anderen Seins Liebe zu empfinden. Die Verbindung ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine geistige, die aber immer wieder durch Trennung aufgelöst wird. Eine tatsächliche, unverbrüchliche Vereinigung findet nicht statt, denn würde aus dem zuvor Getrennten ein verbundenes Einziges erstehen, dann wäre es keine Liebe mehr, sondern ein Sein. Trennung und Verbindung als einander nicht hierarchisch unterzuordnende Qualitäten des Lebens zu erkennen, sondern als Entwicklungen, die einander gegenseitig bedingen, erlaubte der Interpretationsgruppe die anfänglich wirksame Spaltung der Teilnehmer*innen in jene, die den Kugelmenschen-Mythos als romantische Geschichte kontextualisierten, und den anderen, die diesen Mythos als zu patriarchal und brutal empfanden, als dass die Liebe daraus erwachsen könnte, zu reduzieren. Denn dieses Spaltungs-Narrativ hatte sich direkt auf unsere Gruppe übertragen und erschuf zwei einander teilweise argumentativ bekämpfende Gruppierungen, die sich in scheinbarer Unvereinbarkeit gegenüberstanden. Durch die Neuinterpretation der Spaltung als Element eines Trennungs-Verbindungs-Geschehens, das unser gesamtes Leben durchläuft, uns beständig herausfordert und gleichzeitig aber auch Liebe und Freundschaft hervorbringt, fanden diese beiden Gruppen wieder zueinander.

Die innere Spaltung Hedwigs in die beiden Anteile Tommy (männlich, erfolgreich, unabhängig) und Hedwig (weiblich, erfolglos, abhängig) kann als dissoziative Traumareaktion gelesen werden. In der Textpassage »And if we don’t behave, they’ll cut us down again and we’ll be hopping around on one foot and looking through one eye« wird von der Drohung der Götter gesprochen, dass sie die Menschen erneut spalten würden, wenn sie sich nicht zu benehmen wüssten.

»Hedwig verkörpert diese wahr gewordene Drohung, ist in sich selbst gespalten in einen männlichen und einen weiblichen Anteil, Ost-Deutscher und Amerikanerin, Sohn und Mutter, Opfer und Täterin. In der Spaltung in Ost-Deutscher und Amerikanerin, die sich in männlich in Ost-Deutschland und weiblich in den USA materialisiert, verkörpert Hansel*Hedwig nicht nur ihre* eigene, persönliche Spaltung, sondern auch die Spaltung der Welt zur Zeit des Kalten Krieges. Gleichzeitig materialisiert Hansel*Hedwig die Teilung Berlins in Ost- und West-Berlin, eine Teilung, die an die gewaltvolle Spaltung der Kugelmenschen durch eine höhere Macht erinnert« (A. Stephenson und T. Stephenson 2025, o.S.).

Der Mensch wird in dem Narrativ der ersten Spaltung durch die Götter als grundtraumatisiert verhandelt, eine traumatische Trennung, die bereits mit Lebensbeginn stattfindet.

Wenn die Spaltung durch die Götter nicht nur im Kontext der Erschaffung zweier Menschen gelesen wird, sondern auch in Bezug auf die innere Spaltung des Menschen in unterschiedliche Persönlichkeitsanteile, wie die Persönlichkeitsanteile Hansel-Hedwig-Tommy nahelegen, ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten. So kann die Vielfalt des Einzelnen, die Ambivalenz des Selbst als bedrohlich für die Machthaber*innen verstanden werden, da sie die Einschätzbarkeit und die Beherrschbarkeit des Subjekts gefährden. Der Text bringt uns immer wieder an die Grenzen des dualistischen, binären Denkens. Dieses dualistische Denken enthält entweder eine absolute Immanenz oder eine absolute Differenz. Der Begriff der Vielfalt brachte uns in der Interpretationsgruppe zu dem Begriff der Falte: Wenn wir an Falten in einem Stoff denken, die ent-faltet werden, dann zeigt sich, dass die Vielfalt in der Einheit des Ganzen liegt und damit weder die absolute Immanenz noch die absolute Differenz die Wahrheit zeigen. Immanenz und Differenz werden nicht mehr gegeneinandergestellt, sondern die Differenz zeigt sich in der Immanenz und umgekehrt. Der Dualismus ist wie die Spaltung durch die Götter: Sie zerteilt ein Ganzes in nun zwei voneinander getrennte Teile, die nicht mehr in ihrer Zusammengehörigkeit gedacht werden können. Auch im Inneren gibt es diese Differenzen, die miteinander in guter Integration gelebt werden können oder sich abspalten müssen, wenn sie unaushaltbar werden. In der Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung, die eben nicht in einer zeitlichen Abfolge gedacht werden, sondern als einander erschaffende Bedingungen, erschließt sich uns ein neuer Zugang zur Liebe, die den Dualismus und die Spaltung überwindet.

Hedwig ist ursprünglich der Name von Hansels Mutter. Nachdem Hansel sich zur Geschlechtsumwandlung als Bedingung für seine Flucht aus Ost-Berlin und seine imaginierte Freiheit im Westen entschieden hat, bietet ihm seine Mutter ihren eigenen Pass an, ihren eigenen Namen. Hansel kehrt somit in den Körper der Mutter zurück – jenen Körper, von dem er sich im Zuge seiner Geburt trennen musste. Er verschmilzt und verbindet sich mit diesem Mutterkörper und schreibt den Namen der Mutter in seinen eigenen Körper ein. Hansels Mutter verschwindet an diesem Punkt der Geschichte aus seinem Leben – ein einziges Mal spricht er* als Hedwig dann noch von ihr, davon, dass sie nach Jugoslawien geflohen und dort glücklich sei. Aber er* sieht sie nicht wieder. Die Liebe wurde durch das Sein ersetzt. Gleichzeitig vereint der Name »Hedwig« die beiden englischen Worte »head« (Kopf) und »wig« (Perücke) miteinander. Hansel ist Hedwig durch die Perücke, die er*sie sich auf den Kopf setzt. Als Hansel*Hedwig von Luther Robinson verlassen wird, von jener Person, die er*sie als seine zweite Hälfte vermutet hat, singt er*sie den Song Wig in a Box. Er*sie trennt sich von der hässlichen Perücke, die Luther ihm*ihr zur Verlobung geschenkt hat, und entdeckt die neuen Möglichkeiten, wie er*sie sich neu erfinden und präsentieren kann. Wendy Hsu (2011, 108) liest Hedwigs Performance in Wig in a Box als den Moment ihrer* geschlechtlichen Transformation, in dem sie* aus der ihr* zugemuteten Viktimisierung, aus ihrem Opferstatus, heraustritt, sich in unterschiedlichen Rollen von Weiblichkeit erprobt und schließlich als Punk-Rock-Drag-Star aufersteht. Sie* antwortet hier auf das in Platons Symposion erzählte Narrativ der klar getrennten vergeschlechtlichten Körper mit ihrem uneindeutigen, nonbinären Körper.

4 Zur Bedeutung des Songs für die Populärkultur

Der Song The Origin of Love, den ich für diesen Beitrag ausgewählt habe, ist kein aktueller Song – immerhin stammt er aus dem Jahr 1998 und ist damit schon über ein Vierteljahrhundert alt. Nichtsdestotrotz beschäftigt er auch die aktuelle Populärkultur in seiner Einbettung in dem Musical Hedwig and the Angry Inch, das nach wie vor weltweit aufgeführt wird. Ganz besonders in einer Zeit, in der rechtsradikale, queer- und transfeindliche Parteien und Ideologien weltweit auf dem Vormarsch sind, in denen Gender- und Identitätsfragen in konservative Diskurse rückgeführt werden, nehmen queere Kunst und Kultur einen besonderen Stellenwert für die Sichtbarkeit queerer Personen ein. In der aktuellsten Inszenierung, die seit Jänner 2023 regelmäßig im Wiener Vindobona aufgeführt wird, übernahm Drew Sarich die Rolle der Hedwig und seine Ehefrau Ann Mandrella die Rolle des Yitzhak – eine durchaus interessante Kombination, da es sich hier nicht nur um die übliche gegengeschlechtliche Besetzung handelte, sondern auch noch um ein im »echten Leben« verheiratetes Paar. Der anhaltende Erfolg des Stücks zeigt, dass dieses Musical Menschen aller Altersgruppen immer noch berühren und mitreißen kann. Obwohl das Stück, das im englischsprachigen Raum durchaus Kultstatus hat, in Österreich vorab kaum bekannt war, zeigt sich, dass auch ein Glam-Rock-Punk-Musical mit einer außergewöhnlichen, teilweise unsympathischen Hauptfigur durchaus das Publikum ins Theater lockt.

Die Subjekttheorie geht davon aus, dass das Subjekt in der Anrufung durch ein anderes Subjekt hervorgebracht wird. Gesellschaftliche Normen, so Judith Butler (1997), werden performativ durch wiederholte Subjektivierungsprozesse hervorgebracht, manifestiert und schreiben sich in den Körper ein. Das Subjekt, das sich diesen Normen unterwirft, wiederholt diese verkörperten Praktiken und erhält dadurch Intelligibilität. Hedwig unterwirft sich in dem Song The Origin of Love der Komplementaritätslogik westlicher, christlicher Kulturen, indem sie* diese annimmt und als leitend für ihre eigene Sinnsuche anerkennt. Erst als sie* diese Prämisse ihres Lebens verwirft und sich auf sich selbst, ihre* eigenen Kraft und ihr* individuelles Sein besinnt, kann sie* sich selbst finden und sich selbst so annehmen, wie sie* ist, in aller Uneindeutigkeit, Vielseitigkeit und Widerständigkeit.

In der tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppe erschlossen sich uns neben der manifesten Erzählung des Kugelmenschen-Mythos und der daraus folgenden Ansprache an die zweite Hälfte Hedwigs unterschiedliche latente Bedeutungsebenen. Traurigkeit, Irritation und Sehnsucht wurden durch den Text des Songs in der Interpretationsgruppe ausgelöst und brachten uns zu der existenziellen Frage nach der Liebe und der Auseinandersetzung mit der These, die im Kugelmenschen-Narrativ angesprochen wird, dass die Liebe ausschließlich aus dem Schmerz der gewaltvollen Trennung der Menschen durch die Götter entstanden sei. Der Song berührt uns, indem er unsere kulturell und individuell verankerten Begrifflichkeiten von Liebe, Geschlechtlichkeit und Sexualität infrage stellt. Liebe wird in der Gleichzeitigkeit von Verbindung und Trennung neu gedacht und schreibt sich in unsere Körper bereits bei der Geburt als erstem (gewaltvollen) Trennungsakt ein. Die Geburt ist jener Moment, in dem auch die Geschlechtlichkeit des Neugeborenen in der Binarität festgeschrieben wird, die sich mit Judith Butler als Subjektivierung in gesellschaftlich konstituierte und konstituierende Normen lesen lässt. Der Text erinnert auch daran, wie jede*r Einzelne in Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist, wie diese auf jede*n Einzelnen einwirken. Gewaltvolle, durch patriarchale Mächte gesteuerte Spaltung betrifft uns auf gesellschaftlicher, partnerschaftlicher und individueller Ebene, im Außen wie im Innen. Sie versucht über die Reduktion von Komplexität auf das Individuum Einfluss zu nehmen und es zu beherrschen. Doch es gilt den Dualismus auf seine Wirkmächtigkeit hin zu überprüfen, infrage zu stellen und neu zu verhandeln. Im Laufe des Interpretationsprozesses erschloss sich uns an verschiedenen Stellen die psychotherapiewissenschaftliche Bedeutung des Musicals, ganz besonders in Bezug auf Traumatheorie und Dissoziation.

Queer-Theorie verbleibt nicht in der Diskussion um Geschlechtlichkeit, Vergeschlechtlichung und sexueller Orientierung, sondern spricht macht- und herrschaftskritische Themen an, die alle gesellschaftlichen Prozesse betreffen. Das Musical Hedwig and the Angry Inch nimmt in der queeren Populärkultur nach wie vor einen herausragenden Platz ein. Das Musical basiert auf einem zentralen Aspekt der Queer-Theorie, nämlich dem, dass Identität keine statische, unveränderliche Komponente des Seins darstellt, sondern fluid ist und performativ hergestellt wird (vgl. Benshoff und Griffin 2006, 13). Durch die nonbinäre Uneindeutigkeit der Hauptfigur Hansel*Hedwig, die beständig widerständig verbleibt und sich in kein Stereotyp einordnen lässt – sie* unterläuft die binäre Vorstellung von Geschlechtlichkeit und heteronormative Vorannahmen, aber auch homonormative Vorstellungen und Thesen zu Transidentität. Sie* ist ein durch und durch queerer Charakter: subversiv und uneindeutig. »The final image of the film shows a naked Hedwig – or is it Tommy? or Mitchell? – walking directly away from the camera into a new world of possibilities« (ebd., 13).

Anmerkungen

[1]
Ich verwende hier bewusst den Begriff »Geschlechtsumwandlung«, da Hansels Operation aufgrund einer pragmatischen Notwendigkeit vorgenommen wird und nicht im Sinne einer geschlechtsangleichenden Operation im Zuge einer Transidentität Hansels.
[2]
Im Rahmen dieses Projektes entstanden, neben dem vorliegenden Artikel, zwei Vorträge, die sich aktuell im Publikationsprozess befinden. Ein Beitrag beschäftigt sich mit dem Überschneidungsbereich zwischen Psychotherapie, Wissenschaft und Kunst in der Auseinandersetzung mit dem Musical (A. Stephenson und T. Stephenson 2025), ein weiterer Beitrag verbindet die tiefenhermeneutische Rekonstruktion des Songs Exquisite Corpse mit der psychotherapiewissenschaftlichen Traumaforschung (A. Stephenson 2025).
[3]
Das Musical Hedwig and the Angry Inch, geschrieben von John Cameron Mitchell und Stephen Trask und 1998 Off-Broadway uraufgeführt, wurde im Jahr 2001 mit John Cameron Mitchell in der Titelrolle verfilmt und debütierte im Jahr 2014 mit Neil Patrick Harris als Hedwig am Broadway.
[4]
Das Stück Hedwig and the Angry Inch wurde von John Cameron Mitchell mit dem Auftrag geschrieben, Platons Symposion und den Kugelmenschen-Mythos neu zu interpretieren (vgl. Garcia 2015, 173).
[5]
Ich beziehe mich an dieser Stelle auf jene Version des Songs, wie sie in dem Film Hedwig and the Angry Inch aus dem Jahr 2001 mit John Cameron Mitchell in der Titelrolle zu sehen ist (https://www.youtube.com/watch?v=6UGaJBv6YSM). In den unterschiedlichen Interpretationen des Stücks werden die wesentlichen Elemente, vor allem die Projektionen im Hintergrund, beibehalten.

Literatur

Benshoff, Harry M. und Sean Griffin. 2006. Queer Images. A History of Gay and Lesbian Films in America. Oxford: Rowman & Littlefield.

Beyt, Adam. 2019. »›Beautiful and New‹: The Logic of Complementarity in Hedwig and the Angry Inch«. Religions 10: 620. https://doi.org/10.3390/rel10110620.

Butler, Judith. 1991. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler, Judith. 1997. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Garcia Jr., Lorenzo F. 2015. »John Cameron Mitchell’s Aristophanic Cinema: Hedwig and the Angry Inch (2001)«. In Classical Myth on Screen, hrsg. v. Monika S. Cyrino und Meredith E. Safran, 173–182. New York: Palgrave Macmillan.

Hsu, Wendy. 2011. »Reading an Queering Plato in Hedwig and the Angry Inch«. In Queer Popular Culture. Literature, Media, Film, and Television, hrsg. v. Thomas Peele, 103–117. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

König, Hans-Dieter. 2019. Die Welt als Bühne mit doppeltem Boden. Tiefenhermeneutisch Rekonstruktion kultureller Inszenierungen. Wiesbaden: Springer.

Leibetseder, Doris. 2010. Queer Tracks. Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik. Bielefeld: Transcript.

Mitchell, John Cameron und Stephen Trask. 1998/2014. Hedwig and the Angry Inch. Complete Text & Lyrics to the Smash Rock Musical – Broadway Edition. New York: Overlook Duckworth.

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Richardson, Niall und Frances Smith. 2023. Trans Representations in Contemporary, Popular Cinema. The Transgender Tipping Point. New York: Routledge.

Stephenson, Agnes. 2025. »Exquisite Corpse. Tiefenhermeneutik, Trauma und Musical«. In Psychotherapie und Kunst. 3. Linzer Forschungstage, hrsg. v. Agnes Stephenson, Elisabeth Schäfer, Maria Würzburger und Thomas Stephenson, o.S. Wien: LIT-Verlag (in Vorbereitung).

Stephenson, Agnes und Thomas Stephenson. 2025. »Hedwig and the Angry Inch. Psychotherapiewissenschaftliche Forschung im Überschneidungsbereich zwischen Psychotherapie, Wissenschaft und Kunst«. In An der Schnittstelle von Kunst und Psychotherapie, hrsg. v. Georg Franzen und Karl-Heinz Menzen, o.S. Köln: Claus Richter (in Vorbereitung).

Vázquez-Rodríguez, Lucia-Gloria, Francisco-José García-Ramos und Francisco A. Zurian. 2021. »The Role of Popular Culture for Queer Teen Identities’ Formation in Netflix’s Sex Education«. Media and Communication 9 (3): 198–208.

Wimmer, Eva, Agnes Stephenson und Markus Brunner. 2023. »Die Tiefenhermeneutik und ihre Bedeutung für die Psychotherapieforschung. Interpretationsgruppen und Anwendungsgebiete an der Sigmund Freud PrivatUniversität«. SFU Forschungsbulletin SFU Research Bulletin 11 (1): 44–57.

Die Autorin

Agnes Stephenson, Magistra, MA, Psychoanalytische Pädagogin und Sonder- und Heilpädagogin, Master Global Citizenship Education, Promovendin am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der AAU Klagenfurt, Universitätsassistentin am Department Psychotherapiewissenschaft der Sigmund Freud PrivatUniversität Linz. Forschungsschwerpunkte: Psychotherapie und Gesellschaft, Psychotherapie und Pädagogik, Global Citizenship, Gender Studies, Qualitative Sozialforschung (Tiefenhermeneutik).

Kontakt:
agnes.stephenson@sfu.ac.at