»Roh, fehlbar und menschlich«

Frank Ocean als Confessional Singer-Songwriter des Digitalen

Risto Lenz

Journal für Psychologie, 33(1), 80–101

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2025-1-80 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Der Artikel geht von der Beobachtung aus, dass vor allem seit den 2010er Jahren die Figur des Singer-Songwriters ein »Revival« als Bezugsfolie in Selbst- und Fremdinszenierungen von Musikschaffenden zu erleben scheint. Regelmäßig wird dabei die in der Figur eingeschriebene Vorstellung des Solo-Künstlers aufgerufen, dessen musikalische Darstellung gerade durch ihre Reduziertheit politisches Engagement und emotionales »Involvement« hervorruft. Sicherlich ist diese Entwicklung durch die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Bob Dylan im Jahre 2016 noch verstärkt worden, auffallend ist aber, dass auf die Singer-Songwriter-Figur längst auch jenseits des weiß und männlich konnotierten Folkrock-Paradigmas Bezug genommen wird, in das sie sich sowohl musikästhetisch als auch weltanschaulich vergleichsweise problemlos »einpassen« lässt. So werden in der jüngeren Vergangenheit vermehrt Künstlerinnen und Künstler als Singer-Songwriter in Szene gesetzt, die sich jenseits dieses Musters befinden. Am Beispiel des Musikers Frank Ocean soll aufgezeigt werden, welche neuen Bewertungsinstanzen im sogenannten Web 2.0 zum Einsatz kommen, um diesen als (Confessional) Singer-Songwriter adressierbar zu machen.

Schlüsselwörter: Singer-Songwriter, Authentizität, Autonomie, Autorschaft, Confessional, Frank Ocean

»Raw, fallible, and human«

Frank Ocean as confessional singer-songwriter in the digital age

The article is based on the observation that, especially since the 2010s, the figure of the singer-songwriter seems to be experiencing a »revival« as a reference foil in musicians’ stagings of themselves and others. The idea of the solo artist inscribed in the figure is regularly invoked, whose musical representation evokes political commitment and emotional »involvement« precisely through its reduction. This development has certainly been reinforced by the award of the Nobel Prize for Literature to Bob Dylan in 2016, but it is striking that the singer-songwriter figure has long been referred to beyond the white and male-connoted folk rock paradigm, into which it can be »fitted« relatively easily both in terms of musical aesthetics and ideology. In the recent past, more and more artists have been presented as singer-songwriters who are outside of this pattern. Using the example of the musician Frank Ocean, the aim is to show which new evaluation instances are used in the so-called Web 2.0 to make him addressable as a (confessional) singer-songwriter.

Keywords: singer-songwriter, authenticity, autonomy, authorship, confessional, Frank Ocean

Über den afroamerikanischen Musiker Frank Ocean schreibt das Kulturmagazin Vice, dieser sei einer der »most confessional singer-songwriter« (He 2016), und auch das Wall Street Journal stellt fest, es sei Oceans »confessional songwriting«, dass ihn zu einem »Spiegel seiner Generation« mache (Shah 2019). Und betrachtet man Oceans Künstlerseite bei Apple Music, so steht dort, dieser habe die Gabe des »confessional songwriting« (Apple Music 2024). Diese Beschreibungen erinnern an die frühen 1970er Jahre, als Künstler wie Joni Mitchel und Neil Young als confessional singer-songwriter bezeichnet wurden – eine Kategorie, die ihrerseits angelehnt war an die sogenannten confessional poets. So wurden Dichterinnen wie Sylvia Plath und Anne Sexton bezeichnet, deren tagebuchartigen Gedichte explizit autobiografisch wirkten. »I feel that I have, without right or desire, been made a third party to her conversations with her psychiatrist« (Colburn 1988, 148), bemerkte etwa der Dichter und Kritiker Charles Gullans über Sextons Gedichte. Die Werke wirkten dabei gerade durch ihre scheinbar radikale Intimität gesellschaftsdiagnostizierend: Der Blick ins vermeintliche Ich wurde zum Blick auf die Gesellschaft. Die expressive Introspektion wurde so Ausdruck eines spezifischen Zeitgeistes. Im Musikbereich wurden solche Musiker fortan schließlich als »Singer-Songwriter« bezeichnet. Wie beim literarischen Stil kam es dabei nicht so sehr darauf an, ob die Details tatsächlich autobiografisch waren, sondern darauf, dass sie in einer Form dargestellt wurden, die den Eindruck erweckten, dass sie es sind.

50 Jahre später hat das Phänomen der authentischen inneren Stimme nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Und wieder liegt der Begriff des Singer-Songwriters nahe. Über die britische Musikerin FKA Twigs schreibt etwa der Guardian, diese sei eine »Vorreiterin im Pop, R&B und Afrofuturismus«, aber »vor allem« sei sie ein »Singer-Songwriter«, deren Charakter von »brutaler Ehrlichkeit« sowie »der Abneigung, vor den dunkelsten Teilen ihrer selbst zurückzuschrecken«, geprägt sei (Morris 2022). Der Singer-Songwriter-Begriff wird hier nicht als Genre definiert, sondern mit einer Ausdrucksweise verknüpft, die Ehrlichkeit und Wahrhaftgkeit widerspiegelt – worauf bereits die Überschrift »FKA Twigs: ›I don’t have secrets, I’m not ashamed of anything‹« hindeutet. Außerdem ist auffällig, dass FKA Twigs als dunkelhäutige, weibliche Künstlerin, die mit digitalen Technologien musiziert, wenig mit der klassischen Singer-Songwriter-Figur gemein hat: dem weißen, (meist) männlichen Sänger mit Akustikgitarre.

Diese Öffnung des Singer-Songwriter-Idioms ist in der jüngsten Vergangenheit keine Seltenheit. In den letzten Jahren wurden vermehrt Musikschaffende als Singer-Songwriter bezeichnet, die mit elektronischen Elementen arbeiten oder die der Club- und Samplekultur entstammen. Der aus dem Dubstep-Bereich kommende James Blake etwa, der Moore zufolge mit seiner »persönlich-emotionaler Samplekunst« Fragen darüber aufwerfe, »was es bedeutet, im 21. Jahrhundert ein Singer-Songwriter« zu sein (Moore 2016, 174). Oder der aus dem Hip-Hop stammende Kendrick Lamar, der laut New York Times nicht nur »Rapper«, sondern »ein Singer-Songwriter« sei, der mit seiner »Dylan-ähnlichen Fähigkeit […], vom Verspielten zum Mystischen zu wechseln, alltägliche Details in tiefgründige Offenbarungen umwandelt« (Goodman 2014, 32).

Was Kategorien wie Ethnizität und Gender angeht, ließe sich argumentieren, dass auch hier eine Entwicklung hin zu mehr Diversität zu beobachten ist. Als Beispiel für diese Tendenz sei das 2018 von Universal kompilierte Album The Singer-Songwriter genannt, auf dem sowohl viele nicht-weiße als auch weibliche Musikschaffende vertreten sind. Vergleicht man dieses Album etwa mit dem Singer Songwriter Project Album von 1965 – welches erstmals den Begriff »Singer Songwriter« im Titel führte und ausschließlich weiße, männliche Musikschaffende beinhaltete –, ist eine deutliche Öffnung erkennbar.

Doch auch der klassische (weiße) Typus dieser Figur ist heute allgegenwärtig. Zu den weltweit erfolgreichsten Musikschaffenden der letzten Jahre gehören Ed Sheeran und Taylor Swift, die beide mit ihren »konfessionellen und persönlichen Songs« (Billboard) ein Beispiel für die Relevanz des Singer-Songwriter-Phänomens als Genre sind. Doch woher kommt dieses scheinbar neue Interesse am Singer-Songwriter und in welchen Kontexten wird diese Figur überhaupt als solche in Stellung gebracht? Inwiefern werden die Echtheitsdiskurse und -bekundungen, die diese Figur umgeben, entlang technologisch-medialer Transformationsprozesse geführt? Und warum werden Musikschaffende wie FKA Twigs, James Blake oder eben Frank Ocean überhaupt mit einer Kategorie in Verbindung gebracht, die bereits vor fünf Dekaden entstand?

Dieser Artikel möchte sich der Antwort auf diese Fragen nähern, indem zwei Hauptaspekte beleuchtet werden. 1) Die Figur des Singer-Songwriters ist einer ständigen Aktualisierung unterworfen, birgt aber stets drei Grundzuschreibungen, die m.E. auch für den Eindruck des Konfessionellen entscheidend sind: Autonomie, Autorschaft und Authentizität. Die sich fortwährend verändernden Bedingungen für diese Zuschreibungen sind verlinkt mit medialen Veränderungsprozessen. 2) Die Kommunikationsangebote des Digitalen beinhalten selbst das Verspechen von Intimität – und somit des Konfessionellen – und tragen auf diese Weise zu einem »Revival« der Singer-Songwriter-Figur bei. Am Beispiel von Frank Ocean soll veranschaulicht werden, wie die Figur des Confessional Singer-Songwriters durch medientechnologische Entwicklungen reproduziert und nutzbar gemacht wird.

Um zu verdeutlichen, wie diese Figur qua definitionem ein Echtheitsversprechen in sich trägt, soll ein kurzer Überblick über die historische Entstehung des Begriffs »Singer-Songwriter« erfolgen. Die Historisierung hilft dabei, verständlich zu machen, wie heute auf dieselben, wenn auch anders akzentuierten Topoi – wie etwa das des »wahren Selbst« – zurückgegriffen wird. Schließlich soll in einem zweiten Schritt deutlich gemacht werden, wie sehr sich Ocean selbst bestimmter Inszenierungspraktiken bedient, in denen Intimität im Zentrum steht, und welche Rolle Soziale Medien als »Motor des Konfessionellen« dabei spielen.

Das Aufkommen des Singer-Songwriters

Bereits der Name »Singer-Songwriter« suggeriert, dass hier das musikalisch-lyrische Werk untrennbar mit dem Musiker bzw. der Musikerin verbunden ist. Dennoch heißt das nicht, dass jede/r als Singer-Songwriter bezeichnet wird, die oder der eigens geschriebene Songs singt. Eine mindestens ebenso wichtige Voraussetzung scheint eine gewisse Illusion der Nicht-Inszenierung zu sein, in der die Distanz zwischen künstlerischer Persona und der »tatsächlichen Person« verringert wird. Diese Konstellation kann zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten auch unterschiedliche Formen annehmen.

1963 dokumentierte der Filmemacher Murray Lerner einen jungen Zuschauer des Newport Folk Festivals, der auf die Frage, warum er das Festival besuche, antwortete: »The music doesn’t tend to hand me up any Tin Pan Alley drivel. It gives me a lot more than the popular music of our own time does. I don’t like the feeling that I’m being cant. I like to hear about the way things really are« (Lerner 1967). Zum Zeitpunkt des Interviews war die Singer-Songwriter-Figur noch nicht als solche formuliert. Der Begriff bekam erst zwei Jahre später, im Titel der 1965 veröffentlichten Compilation Singer Songwriter Project Album, eine größere Aufmerksamkeit. Auch viele der Musikschaffenden, die in Newport auftraten, sollten nur wenige Jahre später als Singer-Songwriter bezeichnet werden – darunter Judy Collins, Joan Baez und Bob Dylan. Das Zitat des Festivalbesuchers ist insofern interessant, als sich darin ein gewisser Wandel andeutet: Im Aufkommen des sogenannten Folk Revivals – für welches das Newport Festival als größte jährlich stattfindende Veranstaltung eine Art Mikrokosmos darstellt – wurde Folk- bzw. Revivalmusik als Rückbesinnung auf Tradition und als Gegenbewegung zu den als korrupt wahrgenommenen Tendenzen der modernen Musikproduktion inszeniert. Michael Borshuk (2016) spricht von einem Paradigmenwechsel, der sich in dieser Zeit vollzieht: Musik, die ein Produkt repräsentiert, wird von einer Musik abgelöst, die für persönlicheres Material steht:

»The 1960s marked a paradigm shift in American popular music, from the workmanlike output of New York’s contracted composers to the more baldly personal material from the singer-songwriters that followed […] that decade saw the ascendance of the introspective voice in songwriting« (ebd., 89).

Die hier beschriebene Entwicklung wurde zudem von einer medialen Transformation begleitet, die der von Lerner interviewte Zuschauer andeutet und zugleich zu begrüßen scheint: das Ende des fordianischen Musikbetriebs »Tin Pan Alley« und das Aufkommen des Autoren-Prinzips. Der Musikhistoriker David Kamp argumentiert, mit dem kurzen Erfolg des sogenannten Brill-Building-Sounds ging in den 1960er Jahren auch das Zeitalter der Tin Pan Alley zu Ende. Diese habe die letzte Ära eines sogenannten »assembly-line-manufactured pop« repräsentiert, eine Industrie und Produktionsweise, die für eine vertikale Integration in der Musikproduktion stand (Kamp 2001). In dieser Welt – die, grob gesagt, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umfasste – arbeiteten Komponistinnen, Texter und Arrangeure Tür an Tür in Musikverlagen und praktizierten eine Art Musik-Fordismus. Die in New York City angesiedelte Industrie entwickelte sich zu einem neuen, modernen Geschäftszweig, der das Songwriting und das Musikverlagswesen zu spezialisierten und standardisierten Berufen machte. Anders gesagt: Musik wurde durch Tin Pan Alley zu einer Ware und der Songwriter zu einem Teil der Produktionskette. Auch wenn diese Arbeitsteilung nicht immer konsequent verfolgt wurde und es auch im Tin Pan Alley-Geschäft Sängerinnen und Sänger gab, die eigens geschriebene Songs sangen, war der allgemeine Eindruck der, dass der Song das Endprodukt eines »Fließbandprozesses« war. Ähnlich wie beim Begriff »Hollywood« wurde Tin Pan Alley so zu einem Metonym für einen Ort, eine Industrie und eine Produktionsweise, die das Künstliche, das Standardisierte verkörperte. Indem der junge Festivalbesucher behauptet, er wolle nicht mehr von Tin Pan Alley hintergangen werden (»I don’t like the feeling that I’m being cant«), beschreibt er ein allgemeines Verlustgefühl, das mit der Modernisierung einhergeht und das gleichzeitig das Verlangen nach Wahrhaftigkeit (»I like to hear about the way things really are«) rechtfertigt. Die Rückbesinnung auf Tradition zeigte sich zudem in einem reduzierten, schlichten, akustischen Sound, der im Kontext der modernisierungskritischen Folk-Bewegung als Alternative zum aufwendigen Brill-Building-Pop symbolisch aufgeladen wurde. Diese Welt hat eine andere Ära hervorgebracht, die sich diametral zu den Eigenschaften positionierte, für die Tin Pan Alley stand: eine Ära, die Begriffe wie »Wahrheit« und »Bedeutung« der »künstlichen« Welt von Tin Pan Alley entgegenhielt.

In dieser Phase ist auch eine lyrische Entwicklung zu sehen, die den musikalischen Output von verschiedenen Musikschaffenden bestimmt: einerseits die aus der Folkszene stammenden Van Morrison, Joni Mitchell, Leonard Cohen und James Taylor. Andererseits zählen aber auch Personen wie Carole King, Billy Joel oder Randy Newman dazu, die auf klassische Pianoarrangements spezialisiert sind. Allen ist gemein, dass das Nach-außen-Kehren einer Innenwelt und das Offenbaren von persönlichen Erlebnissen mehr als alles andere ins Zentrum gestellt wird. Shumway (2014) hat in dieser Hinsicht von einem »confessional stance« gesprochen und betont, bestimmte autobiografisch-geprägte Songs würden fortan als »confessional songwriting« bezeichnet – in Anlehnung an die bereits oben genannte »confessional school of poetry«.

Eine Anziehungskraft, die diese Poesie auf die Lesenden ausübte, war ihr Gefühl der Authentizität; sie schien nicht nur die »Wahrheit« zu sagen, sondern auch über Probleme zu berichten, die jede Person erleiden könnte. Dabei geht es Shumway zufolge nicht darum, dass das tatsächliche Leben der Autorinnen und Autoren Eingang in die Gedichte findet, sondern, dass das Hauptaugenmerk auf der Art und Weise liegt, wie das Selbst in den Gedichten dargestellt wird: Der »confessional stance« ist also dann präsent, wenn der Eindruck entsteht, die Autorinnen und Autoren träten als sie selbst und nicht in der Konvention eines erfundenen »Sprechers« auf (ebd., 18).

Diese Wandlung von einer Sprache des Kommunalismus zu einer Sprache von Individualismus hatte auch mit einem strukturellen Übergang vom Fordismus zum Postfordismus zu tun, welcher in den frühen 1970er Jahren die Musikindustrie grundlegend veränderte. Anstelle der standardisierten Massenproduktion von Musik (siehe Tin Pan Alley) gewann eine flexiblere, fragmentierte Produktionsweise an Bedeutung, die auf Nischenmärkte und individuelle Konsumpräferenzen einging. Die kommerziell überaus erfolgreiche Rock-Revolution ließ zudem den Musikmarkt expandieren, wovon zum einen Independent-Labels profitierten und zum anderen die Experimentierfreudigkeit der großen Plattenfirmen stieg. Dies hatte auch einen Einfluss auf die Radiokultur, in der der Diskurs über die Musik wichtiger wurde. Die Einführung des Langspielalbums führte außerdem dazu, dass Musik auf eine noch nie dagewesene Art und Weise präsentiert wurde: als Gesamtpaket. Songs erweiterten dadurch sozusagen ihre Daseinsberechtigung. Die Musikindustrie verstand, dass Songs nicht mehr Hits sein mussten, sondern sich einem größeren Ganzen fügen konnten. Radiostationen spielten nicht mehr nur die aktuellen Billboard-Charts, sondern selektierten Albumtitel für bestimmte Sendungen. Radio-DJs besprochen die Texte, kontextualisierten die Musik für ihre Hörerschaft. Dies veränderte die Art und Weise, wie diese mit Musik interagierte. Der Konversationsaspekt der Musik wurde wichtiger, was sich auch im Marketing der Labels widerspiegelte. Während bei früheren Anzeigen die Betonung bestimmter Hit-Singles im Vordergrund stand und selbst Albumanzeigen nicht ohne den Hinweis auskamen, dieser oder jener Song sei bereits aus Radio oder TV bekannt, wurde in den 1970er Jahren oft der Fokus auf die Individualität des Künstlers gelegt. Der Singer-Songwriter wurde dabei die »seriöseste« Figur der Popmusik. In ihr wurde die Musik nicht mehr in der Tradition eines Genres beleuchtet, sondern in der Tradition einer eigenen, introspektiven, individuellen Stimme.

Die Entstehungsgeschichte der Singer-Songwriter-Figur zeigt also, dass Musikpraktiken und Rezeptionsweisen gleichermaßen von medialen, technologischen und künstlerischen Entwicklungen geprägt sind. In den letzten zehn bis 15 Jahren haben Soziale Medien und Streamingdienste gänzlich neue digitale Möglichkeiten hervorgebracht, die zugleich Raum für Inszenierung als auch vermeintliche Teilhabe schaffen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung bestimmter Kategorien wie Autorschaft, Autonomie und Authentizität bzw. darauf, wie diese Kategorien in Sozialen Medien auf neue Weise adressiert werden.

In der modernen Popmusik liegt der Fokus vor allen Dingen auf der Herstellung des Besonderen. Der Singer-Songwriter-Begriff lässt sich – sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdinszenierung – aufgrund des ihm eingeschriebenen Echtheitsversprechens hervorragend für die Produktion von Besonderheit einsetzen. Um also (die Diskurse um) Frank Ocean als Singer-Songwriter zu untersuchen, ist es wichtig, deutlich zu machen, dass die veränderte Verfügbarkeit, Rezeptionsweise und Vermarktung von Musik im sogenannten Web 2.0 eine Neubewertung und Neuaushandlung dieser Parameter nach sich ziehen. Inwiefern werden in Oceans Werk und Persona das semantische und performative Repertoire der klassischen Singer-Songwriter-Figur wiederholt (Introspektion, Reduktion, Emotionalität), diese aber durch neue Praktiken und Technologien in Form eines digitalen Minimalismus aktualisiert?

Die interaktiven Möglichkeiten der Sozialen Medien haben Nancy Baym (2018) zufolge eine neue Nachfrage nach Intimität mit sich gebracht. Musikschaffende sind heute in der Lage, in Echtzeit Botschaften an ihre Followerschaft in der ganzen Welt zu senden, was einerseits das Verlangen nach, gleichzeitig aber auch das Misstrauen über die vermeintliche Intimität erhöhe: »Today, musicians encounter a new sense of being real, which is to communicate with audiences as you would with friends […]. This demands the relational labor of developing strategies for choosing when and when not to communicate with audiences« (ebd., 172f.). Während das Publikum im 20. Jahrhundert noch keine »echte« Beziehung zu »unerreichbaren« Interpreten hatte, suchen Musikschaffende heute unermüdlich nach Beziehungen zum Publikum. Sie folgen der Zuhörerschaft von Plattform zu Plattform und versuchen, für sich selbst eine Präsenz zu schaffen und Verbindungen aufzubauen. Die Arbeit dieses Beziehungsaufbaus ist laut Baym nie abgeschlossen. Die Intimität – also das privilegierte Wissen über »das Innerste« – ist dabei zu einer entscheidenden Währung geworden, über deren »Echtheit« ein ständiger Diskurs herrscht. Dies führt oft zu einem Spagat zwischen künstlerischer Freiheit und der Notwendigkeit, sich an Algorithmen und Trends anzupassen. Die Herstellung des Besonderen wird so zu einer strategischen Notwendigkeit, die die Autonomie der Kunstschaffenden sowohl erweitert als auch einschränkt.

Frank Ocean und die Aktualisierungen der Singer-Songwriter-Figur

Bevor die musikalisch-künstlerische Arbeit Frank Oceans beleuchtet werden soll, ist es wichtig, aufzuzeigen, inwiefern ein ihm eigener Kommunikationsstil in den Sozialen Medien mitentscheidend dafür ist, dass dieser als konfessionell wahrgenommen wird. Im Jahr 2012, kurz vor Veröffentlichung seines zweiten Albums Channel Orange, veröffentlichte Frank Ocean auf seinem Tumblr-Blog einen Beitrag, in dem er bekannt machte, dass die Hauptinspirationsquelle des Albums seine »erste Liebe« sei. Er verriet außerdem, dass diese Person männlich sei (Ocean 2012). Das Aufsehen, das der Sänger dadurch erregte, war groß. Zwar war meist zu hören, ein solches »Coming Out« sollte 2012 nichts Besonderes mehr darstellen, gleichzeitig wurde aber auf die historische Dimension dieser Verkündung im Kontext des musikalischen Milieus verwiesen, dem Oceans Musik oft zugeordnet wird. So schrieb NPR, in der »hyper-heterosexuellen R&B-Welt« sei Oceans »Offenbarung nahezu beispiellos« (King und Powers 2016). Die Los Angeles Times sprach gar vom »glass ceiling moment for music« und fügte hinzu: »Especially black music, which has long been in desperate need of a voice like Ocean’s to break the layers of homophobia« (Kennedy 2012). Über Nacht wurde Ocean somit zu einer Symbolfigur der LGBTQ+-Bewegung, obwohl seine Mitteilung nichts dezidiert Politisches enthielt. Es war vielmehr der intime Einblick in das Private, das seine Nachricht politisch machte.

Auffällig ist, dass solche »Einblicke« bei Ocean knapp gehalten und sparsam dosiert sind. Es ist das von Baym beschriebene Spiel von Absenz und Präsenz, das in vielen Porträts über Frank Ocean eine prägende Rolle spielt und welches die Zeitschrift Vogue dazu veranlasste, diesen einen quiet icon zu nennen (Bobb 2017). Ocean, so die Autorin, äußere sich sehr selten, aber wenn er es tue, dann wirkungsmächtig. Diese Wirkungsmacht resultiert auch daraus, dass Ocean denjenigen Social-Media-Beiträgen, die sich auf politische und gesellschaftsrelevante Ereignisse beziehen, häufig mit persönlichen Berichten begegnet: Als Reaktion auf das Orlando-Shooting, bei dem ein Attentäter 2016 in einem queeren Nachtklub 49 Menschen erschoss, verarbeitete Ocean seine Trauer in den Sozialen Medien mit einem Erlebnisbericht als Kind. Er habe seine erste Erfahrung mit Homophobie mit seinem eigenen Vater gemacht, der eine Transgender-Person in einem Restaurant als »Schwuchtel« (»faggot«) bezeichnete (Ocean 2016a). Als der Oberste Gerichtshof die gleichgeschlechtliche Ehe in allen US-Bundesstaaten legalisierte, reagierte Ocean mit einem Gedicht, in dem er die Entscheidung poetisch mit seinem eigenen Leben verwob: »i could say that i’m happy / they let me and my boyfriend become married / i could say that i’m happy / but cross my heart i didn’t notice / hope to die, no never, we voted« (Ocean 2016b). Nachdem der Film Moonlight – über die Liebesbeziehung zweier männlicher afroamerikanischer Teenager – als bester Film bei den Oscar-Verleihungen prämiert wurde und damit eine Debatte über Schwarze Maskulinität und Sexualität auslöste, reflektierte Ocean mit dem schlichten Tweet: »There’s something overtly political about a queer, black man« (Ocean 2018). Dass er in den sechs Jahren, seit der Bekanntmachung seiner Beziehung zu einem Mann, diese Aussage offensichtlich durch eigene Erfahrung verkörperte, verlieh diesem Moment erst seine Intimität.

Die Verarbeitung von externen Ereignissen durch die »interne Stimme« korrespondiert mit der oft als »persönlich« wahrgenommenen Musik Frank Oceans. Oceans Kommunikationsstil, der oft als deckungsgleich mit seiner Musik und seinen Texten wahrgenommen wird, führt somit zu einer Art doppelten Authentifizierung. In ihrem Artikel »Singer-Songwriters in the Digital Age« (2016) argumentiert Bennett, dass die Kommunikationspraktiken auf Social-Media-Plattformen den »konfessionellen und persönlichen Charakter« der Singer-Songwriter-Figur ergänzten, da sie den Fans »scheinbar beeindruckende und wertvolle Einblicke in alltägliche und »intime« Momente« bieten (ebd., 329). Man könnte hinzufügen, dass Oceans Social-Media-Minimalismus diese Momente der Introspektion umso glaubwürdiger erscheinen lässt, da sie sich einer kommerziellen Social-Media-Logik (Erfolg durch Hypervisibilität) weitestgehend entziehen. Ocean, so scheint es, dreht diese Logik um. Gerade durch die Sparsamkeit seiner Beiträge kommt es paradoxerweise zu einer größeren Mobilisierungsdynamik. Der häufige Vermerk auf die Seltenheit seiner Statements sind immer auch eine Authentizitätsbescheiningung, da sie Oceans generelle Zurückgezogenheit auf seinen »tatsächlichen« Charakter zurückführen. Dadurch entsteht, was Baym (2018) die »Illusion der Wahrhaftigkeit« nennt (ebd., 179). Als Ocean beispielsweise mit einem T-Shirt auftrat, auf dem zu lesen war, »why be racist, sexist, homophobic, or transphobic when you could just be quiet«, wurde dies als Ausdruck eines Künstlers gelesen, der selbst bekannt dafür sei, »still und reserviert« (Bobb 2017), eben ein quiet icon, zu sein. In einer Zeit der Allgegenwart ist diese Kunst des Verschwindens – eine Kunst, die Knappheit statt Überfluss verkörpert – oft wirkungsvoller. Das Streben nach Sichtbarkeit um jeden Preis, das kontinuierliche Kommentieren, kann die Wirkung und Effektivität von Social-Media-Protesten einschränken. Mit anderen Worten: Gerade weil Frank Ocean diesen Ansatz der Knappheit auf verschiedenen Ebenen verfolgt, tritt er als Diagnostiker einer Generation in Erscheinung, die diese Leerstellen sowohl als Reaktion auf die Informationsflut ihrer Zeit als auch als Zeichen von Symptomen derselben begreift. Dadurch verstärken sich schließlich die Eindrücke, dass Ocean uns intime Einblicke in sein Innerstes zu geben scheint. Der Künstler wirkt dadurch »radikal verletzlich«, wie es etwa Britt Julious in einem Artikel der Zeitschrift Vice formuliert. Oceans Musik, so Julious, sei einzig und allein dazu da, »Oceans Geschichte zu erzählen«, und erinnere dabei an Tagebucheinträge:

»Lyrics feel less like carefully calculated lines and more like entries from a journal or the internal ramblings we have when we feel particularly distraught over incidents in our own lives […]. He is never afraid to put himself out there (or if he is afraid, he does it because something internally compels him to do so)« (Julious 2016).

Ocean selbst hat eine solche Lesart bereits 2012 in einem Interview mit The Quietus kritisiert. Auf die Frage, wie viel persönliche Erlebnisse seinen Songs zugrunde lägen, antwortete er: »Nobody gets upset with a director when a director’s film isn’t about his life. People think that with a recording artist [it] has to be like a play of their whole life, but it’s not. It’s imagery.« Für Vice-Redakteur Julious scheint die Musik Frank Oceans jedoch gleichgesetzt zu sein mit »Oceans Geschichte«, sie ist autobiografisch geprägt. Dieser Eindruck könnte auch damit zusammenhängen, dass die Wahrnehmung von Frank Oceans »authentischem individuellen Ausdruck« – nach Shumway die Definition des Singer-Songwriters (Shumway 2016, 19) – tatsächlich erst zur vollen Entfaltung kommt, wenn sie in Bezug zur digital-algorithmischen Medienwelt gesetzt wird. Oceans eigenwilliges Navigieren durch diese Welt wird zugleich als Reflexion über diese Welt interpretiert. Die Haltung, die sich daraus ergibt – der Verweigerer –, beglaubigt ihn zum Singer-Songwriter einer Generation, die vor allem darin dessen authentischen individuellen Ausdruck sieht.

Während Shumway das Singer-Songwriter-Phänomen jedoch als Genre behandelt, wäre es m.E. sinnvoller, von einer Singer-Songwriter-Figur zu sprechen. Ocean eignet sich diese Figur sogar bewusst an. Im oben genannten Interview bezeichnet er sich als »Singer-Songwriter«, da es ihm dabei helfe, nicht nur als »R&B-Sänger« wahrgenommen zu werden. Oceans Selbsttitulierung ist also ein Befreiungsversuch, eine Figuration, um sich einer bestimmten Generisierung – einer Fixierung auf einen Typen – zu entziehen. Der Begriff, so Ocean, ermögliche es ihm, überhaupt erst als »vielseitig« betrachtet zu werden:

»The former [singer-songwriter] implies versatility and being able to create more than one medium, and the second one [r&b singer] is a box, simple as that. The second one is ›that’s what you do, that’s what you are‹, and that’s a little unfair, to me, because I don’t just do that. So, I like singer/songwriter because it allows me to move a little bit more freely« (ebd.).

Zwar lenkt der Genrebegriff (als Abkommen verschiedenster Akteure) die Aufmerksamkeit auch auf die Gemachtheit kultureller Kategorien, der Figurenbegriff impliziert jedoch, dass der Singer-Songwriter ja gerade in ganz unterschiedlichen Genres verschiedene Gestalten annimmt. Die Genre-Perspektive, die Shumway (2016) sowie auch Marc und Greene (2016) verfolgen, läuft daher Gefahr, die entsprechenden Charakteristika – das »diskursive Konstrukt«, das sie als »loses Abkommen« zwischen Herstellern, Vermittlern und Verbrauchern populärer Musik verstehen(Green und Marc 2016, 2) – ausschließlich über Ästhetikdiskurse zu definieren. Die Figur-Perspektive hingegen macht das historische Versprechen deutlich, das mit dem Singer-Songwriter-Attribut einhergeht: besonders zu sein, vielfältig zu sein, ein Original zu sein.

Eben diese Eigenschaften wurden Frank Ocean im Laufe der Jahre nach und nach anerkannt. So behauptete der Guardian 2016, Ocean erfände sich mit jedem Album neu und irritiere dadurch die Erwartungshaltungen seines Publikums: »Reallign your expectations« mahnt Autor Tim Jonze seine Leserschaft und erklärt, Oceans Musik sei ausschließlich das Resultat von dessen »eigenen Visionen« (Jonze 2016). Das New York Times Magazine porträtierte Ocean unlängst als eine Art Antidot der Streaming-Ära. Autorin Jenn Pelly schreibt, Ocean verweigere sich durch seine Unvorhersehbarkteit der heutigen »on-demand culture of convenience«, die ihr zufolge eine vermehrt »formelhafte Kultur« sei (Pelly 2023). Der New Yorker nennt Ocean zudem einen »genuine misfit«, dessen Vielseitigkeit neue Maßstäbe setze. Man könne den Musiker nicht mehr nur einen R&B-Erneuerer nennen, da dieser in keine Schublade mehr passe: »If Ocean was ever interested in toying with genre conventions, he has since widened his gaze. These days, his work feels not only post-genre but post-album, and even post-song«, schreibt die Autorin und fügt hinzu: »He raps; he sings; he speaks; he recites […]. His free-form lyrics are a no-hashtag zone« (Battan 2016, 80).

Es ist auffällig, dass solche Würdigungen von Vielseitigkeit und Unvorhersehbarkeit auf einen Bereich besonders abzielen: den des Streaming. Es ist nicht verwunderlich, dass Pelly Oceans Werk als »roh, fehlbar und menschlich« bezeichnet wird, drei Attribute, die dem gegenüberstehen, für das Spotify und andere Streamingdienste oft stehen: Gleichschaltung, Vorhersehbarkeit und Technologisierung. Durch die primäre Nutzung von Musik als Playlist geht bei Streamingdiensten wie Spotify eine oftmals beklagte Entwertung der Musik einher. Die gezielte Vermarktung des Songs als »Begleit-Soundtrack« für bestimmte Stimmungen (Musik für das Fitnessstudio, Musik für das Homeoffice, Musik zum Candlelight-Dinner) verändert die Art und Weise, wie Musik wahrgenommen wird und provoziert damit auch Abwehrhaltungen, die solche Künstler goutiert, die sich dieser funktionalen Entwicklung scheinbar widersetzen. Zudem hat die Abrechnungslogik von Spotify nachgewiesenermaßen dazu geführt, dass sich Songstrukturen zunehmend verändern, in der Form, dass etwa derjenige Teil eines Songs mit dem größten Wiedererkennungswert – meist der Refrain – in den ersten 30 Sekunden untergebracht wird, da ein Lied, um bei Spotify als gespielt zu gelten, mindestens 31 Sekunden lang gestreamt werden muss. In solchen Zeiten wirken die Songs von Frank Ocean – die oftmals als fragmentarisch beschrieben werden, in denen Arrangements nur angedeutet und Refrains nicht selten einfach abgebrochen werden – als dieser Entwicklung entgegenstehend. So schreibt die FAZ, Oceans Musik sei »um Luft herumgebaut«, sie lebe »von Abwesenheit und Spannungsruhe, von der Präsenz eines Künstlers, der sich mal für ein paar Melodien in seinem brüchigen Tenor zeigt, dann aber wieder abtaucht« (Rüther 2016). Ocean stehe, so der Artikel, mit seinem musikalischen Ansatz für »das Zögern« und »eine sachte Vorläufigkeit« (ebd.). Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher hat diese Art von Musik in Anlehnung an Jaques Derrida als eine Dimension von Hauntology bezeichnet. In seinem vielbeachteten Essayband Ghosts of my Life (2016) beschreibt Fisher eine bestimmte Form von zeitgenössischer Musik, in der das Vage, Gebrochene, das Unkonkrete und Fehlerhafte zum soundgewordenen Abbild einer Gegenwart wird, in der die Verhältnisse einer neoliberalen, kapitalistischen Gesellschaft einen Zukunftspessimismus offenbaren, der in der Gestalt eines »Gespensterpop« künstlerisch verarbeitet wird:

»In the last 10 to 15 years […] the internet and mobile telecommunications technology have altered the texture of everyday experience beyond all recognition. Yet, perhaps because of all this, there’s an increasing sense that culture has lost the ability to grasp and articulate the present. Or it could be that, in one very important sense, there is no present to grasp and articulate any more« (ebd., 9).

Diese Hauntology-Dimension, wie sie Fisher definiert, trifft m.E. auch auf Frank Ocean zu: und zwar sowohl auf das Angedeutete, Vage seiner Musik als auch auf das Unsichtbare und Abtauchende seiner Persona. Und zieht man ein oftmals zitiertes Bild heran, Singer-Songwriter seien »authentische Inseln«, wie Barker und Taylor (2007) es etwa beschreiben, so besteht Oceans Fähigkeit hier darin, innerhalb der Streaming-Welt eine solche Insel des »Stillstands« und der »Unbeweglichkeit« zu verkörpern und dadurch einen »Spiegel« zu symbolisieren, durch den die datengesteuerte Musikindustrie in ihrer Kultur der Vorhersehbarkeit zur Irritation gebracht wird. Betrachtet man auf diese Weise die Reaktionen auf Oceans vorübergehende Weigerung, als Headliner des 2023 Coachella Festivals seine eigene Show wie üblich als Live-Stream anzubieten, werden diese als Emanzipationsversuch aus ebenjener Vorhersehbarkeit deutlich – als Versuch, sich jener Entwicklung der Streaming-Ära zu widersetzen. Jenn Pelly drückt diesen Aspekt im New Yorker folgendermaßen aus: »Ocean’s absence from the official stream felt like a refusal of that frictionless status quo [in which] music companies want to find patterns, to engineer us further into a culture of predictability« (Pelly 2023).

Diese von Pelly beschriebene Anti-Streaming-Haltung ist insofern interessant, als Frank Ocean keinesfalls ein Streaming-Verweigerer ist. Im Bereich des Live-Streams gilt er gar als Pionier. So ist das Album Endless (2016) ein visuelles Album, das auf dem Streamingdienst Apple Music als Live-Stream erschien. Es zeigt Ocean, wie er 45 Minuten lang, zum Soundtrack seines eigenen Albums, eine Art Wendeltreppe baut. Oceans Fähigkeit besteht nicht in der Ablehnung solcher zeitgenössischen Digitalformate, sondern darin, dass er das Gefühl vermittelt, nur er selbst entscheide, wo, wie und wann er mit seiner Musik in Erscheinung trete. »Without his serene indifference to stardom and any of its attendant demands, he wouldn’t be their hero«, beschreibt Jayson Greene Oceans Verhältnis zu seinem Publikum (Greene 2017). Auch hier ist das Medium die Botschaft: Die Wahl des visuellen Albums kann eben auch so wahrgenommen werden, dass es der gefühlten Kurzlebigkeit des Playlist-Streamings eine neue Konzepthaftigkeit entgegensetzt – ähnlich wie es das Langspielalbum in den 1970er Jahren mit der 45-rpm-Hit-Single tat.

Die Ocean attestierte Unvorhersehbarkeit und Irritationslust betont schließlich die Autonomie seiner Persona und stilisiert ihn öffentlich als Verweigerer. Inflationär wurde das Wort in der Beschreibung von Bob Dylan verwendet, der regelmäßig als Contrarian porträtiert wird (Pareles 2005). Der Vergleich zu Dylan ist insofern interessant, als beide ihren Ruf mit einem einzigen viel beachteten Konzert untermauerten. Dylan als Headliner des Newport Folk Festival 1965, Ocean als Headliner des Coachella Festivals 2023. Dylan, so der mediale Tenor, weigerte sich damals, als »Spokesman of a Generation« zu gelten, einer Reputation, die unter anderem durch sogenannte Freedom Songs wie »Blowin in the Wind« oder »Masters of War« entstanden war und visuell verbunden war mit der Akustikgitarre. »Has there ever been a rock star as contrary as Bob Dylan?«, fragt Jon Pareles in der New York Times und erklärt, dass der laute Sound der elektrischen Gitarre dem Purismus und der Reinheit der Folk-Akustikgitarre entgegenstand (ebd.). Diese performative Autonomie schien Dylans Eigenständigkeit zu unterstreichen.

Performative Reduktion

Während es bei Dylan der Lärm war, der für Irritation sorgte, war es in Oceans Fall das Element Stille. Wie Dylans Konzert wurde Oceans Auftritt von den einen als Zumutung und Enttäuschung und von anderen als Werk eines Visionärs interpretiert. Neben einer Reihe von ungewöhnlichen Entscheidungen war die auffälligste wohl diejenige, dass Ocean während seines Konzerts Stille als eine Art Werkzeug benutzte. So begann das Konzert mit einer 15-minütigen stillen Performance von im Kreis gehenden Personen. Zwischen den verschiedenen Songs ließ der Musiker das Publikum für ungewöhnlich lange Zeitspannen warten, während auf der Bühne nichts passierte, außer dass die verschiedenen Musikschaffenden – für das Publikum nicht hörbar – sich unterhielten. Der Journalist Ethan Davies, der vor Ort war, fasste diese Momente folgendermaßen zusammen:

»There was so much space between pretty much every song that he performed. It would make everyone wait in silence. And I’m not talking about fifteen seconds. I’m talking about at least five minutes of silence between every song, him not saying anything […]. Sometimes he would just talk to the other musicians on stage and then – very rarely – he would address the audience directly, and when he did, every single person was completely glued to the stage and he had their complete attention« (Davies 2023).

Während dieses Vorgehen von manchen als Zumutung gesehen wurde (Davies berichtet von Zuschauern, die das Konzert verließen), war es für andere – wie Davies selbst – ein Moment der Wahrhaftigkeit im Zeitalter Sozialer Medien. Ocean, so wurde vermutet, setzte die Stille bewusst ein, um seine Kommunikation mit dem Publikum intimer, die einzelnen Songs rarer und damit kostbarer zu machen. New York Times-Journalistin Jenn Pelly bestätigte diesen Eindruck mit den Worten, sie habe den Auftritt als Kritik an einer Medienlandschaft gelesen, in der »biedere, reibungslose Abläufe« einer Live-Show mittlerweile der Normalzustand seien. In einer Zeit der gefühlten visuellen und akustischen Dauerbeschallung durch Streamingdienste – immer einer Algorithmuslogik folgend, die schon den nächsten personalisierten Song für die Nutzer bereithält – wird eine längere Stille zwischen einzelnen Songs unweigerlich zu einer zwingenden Angelegenheit. So sieht es auch Davies:

»We’re glued to our phones, we need stimulation all the time and constantly. And space is so uncomfortable because it forces you to think. Silence forces you to think […]. To me, it seemed like […] the five-minute breaks were one way of saying that people are stuck in this loop of stimulation and don’t have the ability to sit in silence or even think deeply about anything« (ebd.).

So wie auch Oceans fragmentarische Songs oft keine vorhersehbaren Endpunkte haben, so kam auch das Ende des Konzerts unvorhergesehen und plötzlich. Davies schreibt auch, »überrascht und frustriert« über den plötzlichen Abbruch gewesen zu sein, doch sah er diesen auch als notwendiges Element an, das den Auftritt Oceans noch authentischer, weil »lebendiger« mache:

»The set was so chaotic, so much space, so good when it was good, and so uncomfortable at times. And just like that it was over before we were ready for it to be. And honestly that’s how life is in a lot of ways. And more than anything this performance made me reflect […]. After this set, I actually thought I had spent some time with him in the studio« (ebd.).

Der persönliche Charakter von Oceans Darbietung – die Wirkung, man verbringe Zeit mit ihm im Studio, statt nur einer Live-Performance beizuwohnen – kreiert ein Gefühl von Nähe und Intimität, die aber alleine schon durch die gigantische Leinwand als bewusste Inszenierung erscheint. Nun sollte man meinen, dass sich Inszenierung und das Authentische gegenseitig ausschließen. Eine bewusste Darbietung kann keine Unmittelbarkeit mehr haben: Dies gilt aber nur dann, wenn die Authentizität normativ, als Positionierung des Natürlichen gegen das Künstliche, entsteht. Bei Frank Ocean wird die Inszenierung jedoch nicht als Täuschung oder als Gegensatz zum Authentischen verstanden, sondern als dessen Medium. Sie reflektiert die Art und Weise, wie Identität und künstlerischer Ausdruck in einer digitalen, mediatisierten Welt erlebt und vermittelt werden. Oceans radikale Verwendung von Stille ist keine bloße Ablehnung traditioneller Konzertformate, sondern eine übersteigerte Geste, die den Mythos von Unmittelbarkeit entzaubert und zugleich neu erschafft.

Dadurch wird der Musiker mit dem Aspekt der Reduktion in Verbindung gebracht, der Shumway zufolge in der Adressierbarmachung von Singer-Songwritern einen zentralen Platz einnimmt (Shumway 2016, 13). Während es bei traditionelleren (Folk-)Singer-Songwritern oftmals um eine Reduktion in der Sound- und Bildästhetik geht (Joanna Newsom alleine Harfe spielend auf der Bühne; Joan Baez a cappella singend bei einer Versammlung), wird Oceans Reduktion innerhalb einer Web 2.0-Logik sichtbar. Die »intimen« Momente werden nicht etwa dadurch erreicht, dass der Sänger eine akustische Unplugged-Version seiner Lieder performt, sondern indem er sich weigert, überhaupt auf eine bestimmte Weise zu performen, wie es scheinbar von einem Headliner eines der weltweit größten Festivals erwartet wird. So passt auch die Beschreibung Rüthers, dass auf Oceans Album Blond(e) »die leeren Stellen zwischen den Auftritten des Helden interessanter sind als die Auftritte selbst«, zu ebenjener Auftrittspraxis, die Ocean beim Coachella-Festival zum Verdruss der einen und zur Faszination der anderen auf die Bühne brachte – weil sie Werk und Künstler vereinen und ihm somit eine bestimmte Aura verleihen, die dem Verschwinden mehr Raum gibt als dem Sichtbaren. Ähnlich sieht es auch David Hartley, der über einen möglichen Zusammenhang zwischen Oceans Veröffentlichungspolitik und seiner Popularität spekuliert:

»Usually, headlining Coachella would be a slot reserved for an artist on tour, promoting an album, or at least consistently releasing music we know and love. But not Frank Ocean. He hasn’t released an album in seven years. He’s 35, and he’s only released two normal albums […] He’s number 164 in the world on Spotify. And yet, he’s one of the most critically acclaimed artists of his generation. It doesn’t make sense« (Hartley 2023).

Auch wenn es Hartley nicht explizit ausspricht: Sein Hinweis auf die langen Pausen zwischen den Alben impliziert, dass diese – wie Rüthers es in der Musik selbst wahrnimmt – als bewusste Leerstellen, als Teil des Gesamtwerks, gelesen werden. Stille, Abwesenheit, Reduktion, Zurückgezogenheit: Intimität wird bei Oceans Werk als kohärentes Merkmal vermutet.

Der zusätzliche Hinweis auf den Improvisationscharakter von Musik und Darbietung – bei der die verschiedenen Elemente als ungeplant, ungewollt und sprunghaft beschrieben werden – erscheinen im Angesicht der schieren Dimension des Musik­events als radikal intim, da allein die Aufführungspraxis Einblicke in den Charakter des Protagonisten suggeriert. Diese gefühlte personalisierte Ehrlichkeit – »such honesty calls people to be artists« (Pelly 2023, 7) –, die den Zuschauer zur Reflexion zu zwingen scheint, ist auch Teil der Rezeption Frank Oceans als Autor.

Autorschaft und Textualität

Es ist auffallend, wie Frank Ocean vor allem in der afroamerikanischen Literaturszene nicht nur als Songwriter, sondern auch als Dichter wahrgenommen wird. So ist zum Beispiel der Schriftsteller Jason Parham der Meinung, Oceans Begabung für Erzählungen gingen »über das des Songwriting hinaus« (Parham 2018). Er nimmt diese Erkenntnis zum Anlass, vier weitere afroamerikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu befragen, wie diese Oceans »literarische Ästhetik« beschreiben würden. Die Befragten – Morgan Parker, Danez Smith, Darnell Moore und Brit Bennett – kommen überein, Oceans Texte müssten in der Tradition der »großen afroamerikanischen Literatur« betrachtet werden. Parker sieht Ocean »als Poet« in »einer Linie mit Fred Moten, Terrance Hayes und Jericho Brown«. Sein Talent, Geschichten zu erzählen, vergleicht sie mit »der Zärtlichkeit von Gayl Jones, der Komplexität von Zadie Smith und der Geradlinigkeit von Alice Walker« (ebd.). Smith bestätigt, Ocean schreibe mit einem »poet’s eye«: »He blends the colloquial with the fantastic with the gospel in almost masterful ways that create something lush«, und fügt hinzu, jemand müsse Oceans Songtexte »als Gedichtband veröffentlichen«. Moore findet, Ocean schreibe »undressed«, »prescient«, und »unafraid« und seine Texte spiegelten den »poetischen und prophetischen Stil des Black Arts Movement« wider – der afroamerikanischen Literatur- und Kunstbewegung der 1960er und 70er Jahre. Bennett stimmt zu und vergleicht Ocean mit James Baldwin, dem Hauptvertreter jener Bewegung. Oceans Album Channel Orange erinnere an Baldwins Giovanni’s Room: »His language sort of slithers – as soon as you try to grab the line, it flickers off into a new direction […]. Like stream of consciousness almost […]. There’s definitely a literary quality to his writing« (ebd.).

Kristen He argumentiert, dass Oceans Texte zwar voller Bekenntnisse seien – über Blind Dates, Sex, Drogen und Freundschaft –, diese aber subjektiv, mit unzuverlässigen Worten, erzählt würden: »There is no objective truth, and we can’t pretend to know the ›real‹ Frank Ocean« (He 2016). Diese Unsicherheit korrespondiere schließlich wieder mit der Rätselhaftigkeit von Ocenas Persona.

Dieser Meinung ist auch der Musiker Justin Timberlake, der Ocean erneut mit Bob Dylan vergleicht:

»Frank is like this great R&B singer and Bob Dylan at the same time. The expression and the honesty that comes through […]. You talk about a person that writes in a Rubik’s Cube of cryptic material, but the emotion of the vocal gives you a glimpse into how genius the lyrics are. It’s almost like everything with the lyrics is so cerebral but everything with his voices is all heart« (Low 2018).

Dylan wird oft als der »Singer-Songwriter par excellence« porträtiert (Schäfer 2016). Auch wenn er selbst unterschiedlichste Stile verarbeitet hat, steht Dylan für eine genuin amerikanische Songtradition, für deren »poetische Erneuerung« er 2016 auch – als erster Musiker überhaupt – den Nobelpreis für Literatur erhielt (»for having created new poetic expressions within the great American song tradition«). In der Entscheidung des Nobelkomitees für einen Songwriter, dessen Texte mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt haben als alle anderen des 20. Jahrhunderts, wurden auch Stimmen laut, die in der Entscheidung vor allem einen »verschleierten Konservatismus« sahen, ganz zu schweigen von der »schmerzlichen retrospektiven Anerkennung« einer Liedtradition, die vor allem von weißen Songwritern geprägt sei (Gogarty 2019). So schrieb etwa Natalie Kon-yu im Guardian: »Giving the award to any white male writer, no matter what form he writes in, is in no way innovative or inspired. It is simply a return to the status quo – albeit in a different genre« (Kon-yu 2016).

R&B – vor allem in der Form, in der Frank Oceans Werk oft rezipiert wird (Contemporary R&B) – stand lange Zeit außerhalb dieses Kanons »literarischer Musiktraditionen«. Matthew Shnipper vom Musikmagazin The Fader hat diesen Umstand einmal wie folgt ausgedrückt: »R&B is widely considered to music what the romance novel is to literature« (Shnipper 2011). Anders gesagt: Während sich Dylan in einer bereits etablierten Singer-Songwriter-Tradition befindet, in der die Lyrics von Kollegen wie Leonard Cohen oder Bruce Springsteen unabhängig von der Musik als textuell wertvoll geadelt werden – wovon Lyrikbücher von großen Verlagen zeugen (und worauf Danez Smith womöglich anspielt, wenn er behauptet, jemand müsse Oceans Songtexte »als Gedichtband veröffentlichen«) –, wird Ocean in einem Genre verortet, das als eher monothematisch gilt (Songs über Liebe/Sex). Zwar wird auch Hip-Hop eher außerhalb einer literarischen Musiktradition rezipiert, jedoch zeigt der Pulitzerpreis 2018 an Kendrick Lamar, dass Künstler, die mit Hip-Hop assoziiert werden, mittlerweile auch in solchen Bereichen gewürdigt werden, in denen diese sonst selten stattgefunden haben. Während Hip-Hop schon länger als fester Bestandteil einer Schwarzen Protestkultur gesehen wird, die die politische Energie von Funk und Spoken-Word-Aktivismus beerbt hat – und somit wenn auch nicht direkt literarische, aber zumindest gesellschaftspolitische Relevanz genießt –, war das Image von R&B lange Zeit vergleichsweise unpolitisch. Justin Timberlakes Zitat ist auch deshalb so interessant, weil er mit seinem als Kompliment gemeintem Vergleich Oceans Musik eigentlich als paradox darstellt: R&B sei »all heart«, könne also nicht »cerebral« sein – ist es Timberlake zufolge aber in Oceans Fall. Damit bekräftigt er eigentlich den alten Vorwurf, R&B sei affektierte, emotionsgeladene Musik, die den Trieben und nicht dem Verstand folge – und somit auch nicht den nötigen Reflexionsgeist mit sich bringe, den es dafür brauche, als Singer-Songwriter, im Stile eines Bob Dylan oder Leonard Cohen, wahrgenommen zu werden.

Dass diese Vorurteile kleiner werden, hat aber auch damit zu tun, wie sehr sich der Blick gerade auf R&B in den 2010er Jahren gewandelt hat. Seit der Social-Media-gesteuerten Mobilisierung sozialer Bewegungen wie Black Lives Matter und der LGBTQ+-Bewegung haben Künstlerinnen und Künstler, die als Stimme solcher Bewegungen gelten, eine erhöhte Aufmerksamkeit. Musikschaffende, die mit ihren Werken auf künstlerische Weise die kollektiven Aktionen dieser Bewegungen unterstützt haben, gehören tatsächlich zu den erfolgreichsten. Die mit Preisen ausgezeichneten Alben von Beyoncé (Lemonade), D’Angelo (Black Messias), Childish Gambino (Awaken, My Love) oder Solange (A Seat at the Table) haben Künstlerinnen und Künstler an die Spitze der Charts gebracht, die dem Genre R&B zu neuer Ernsthaftigkeit verholfen haben. Frank Ocean ist auch deswegen zu einer Stimme dieser Zeit geworden, weil er in dieser Repolitisierungsphase von Pop meist eben nicht offen politisch war, sondern als schwarzer, queerer Mann vielmehr das verkörpert, für das soziale Bewegungen wie Black Lives Matter und die LGBTQ+-Bewegung einstehen. Dies trug dazu bei, dass Frank Oceans Musik als noch moderner, persönlicher und autobiografischer rezipiert wurde, und half dabei, seinen gesellschaftlichen Status als »Stimme einer Generation« zu verfestigen. So nannte ihn etwa das Lifestyle-Magazin GQ 2019 den »most modern singer-songwriter« seiner Generation. Pitchfork wählte Oceans Album Blond(e) zum »Album des Jahrzehnts« und würdigte ihn als »true voice of a generation«. Der Podcast CAS behauptete, Ocean gebe »einer unzufriedenen Generation eine Stimme«. Und das Medienunternehmen Insider Inc. wählte ihn zum Artist of the Decade der 2010er Jahre und betont, Oceans Texte fänden bei denjenigen Resonanz, die sich »alleine« und »unterdrückt« fühlten:

»His lyrics are still so intimate, so jarringly honest and tenderly perceptive, that it’s like he has no idea anyone will ever hear them. For those of us who have ever felt alone or heartsick or repressed – and particularly for those of us in the LGBTQ community – this is barely less than a revelation« (Ahlgrim 2019).

Die Entscheidung, Ocean zum Artist of the Decade der 2010 Jahre zu wählen, scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, da der Musiker auf keinen der Listen auftaucht, welche die kommerziell erfolgreichsten Artists dieses Jahrzehnts würdigen. Wenn man aber die Begründung dafür berücksichtigt, wird klar, dass der Musiker für die Autorin einen neuen Typus darstellt, der die Rolle Musikschaffender auf eine Weise transformiert hat wie kein anderer in diesem Jahrzehnt – auf der Ebene des Songwriting, der Geschäftspraktiken, des Umgangs mit den Medien:

»It speaks to Ocean’s stature in our culture, the way he’s changed our very understanding of modern music, that it almost feels irrelevant to point out how good his music is […]. The way Ocean earnestly grapples with themes like youth, innocence, lost love, loneliness, desire, and mortality – in a way that feels fresh and extraordinary, in a way that makes the introspective sound universal – is why he's one of the defining artists of our time« (ebd.).

Eine solche gefühlte Gleichzeitigkeit zwischen radikaler Introspektion einerseits und einer wahrgenommenen Universalität andererseits ist für Donald Brackett die Essenz des Singer-Songwriters: »Expressing only what matters to him or her, while at the same time, and strangely enough, managing to speak to all of us« (Brackett 2008, xii).

Schlussbetrachtung

Die Figur des Singer-Songwriters unterliegt ständiger Aktualisierung, behält aber drei zentrale Merkmale, die für den Eindruck des Konfessionellen entscheidend sind: Autonomie, Autorschaft und Authentizität. Diese Merkmale sind eng mit medialen Veränderungsprozessen verknüpft. Wie deutlich wurde, spielte bereits beim Aufkommen der Singer-Songwriter-Figur der medientechnologische Wandel hin zum Postfordismus eine prägende Rolle. In der jüngsten Vergangenheit scheint die Aktualisierung dieser Figur – vor allem ihres historisch eingeschriebenen Authentizitätsversprechens – vom Aufkommen der Sozialen Medien und des Streaming-Zeitalters beeinflusst. Dies sollte exemplarisch am Beispiel des Sängers und Musikers Frank Ocean aufgezeigt werden.

Die Zuschreibungen (und Selbstzuschreibungen) um Frank Ocean sind eng verbunden mit den technologischen und kulturellen Veränderungen des sogenannten Web 2.0. Anhand ihrer Analyse sollte nachvollziehbar gemacht werden, wie während dieser Zeit nicht nur die Beziehung von Publikum und Musikschaffenden grundlegend verändert, sondern auch neu definiert wurde, was in der Populärmusik heute als konfessionell betrachtet wird (und was nicht).

Eine zentrale Beobachtung ist, dass in der allgegenwärtigen Informationsflut Reduktion ein entscheidendes Merkmal geworden ist, um Intimität herzustellen. Erst dann, wenn der Einsatz von Social Media nicht mehr (nur) als Werkzeug der Selbstvermarktung wahrgenommen wird, kann überhaupt der Eindruck einer inneren Realität (die Kenntnis von Intimus als dem Innersten) entstehen. Der Anschein des Rückzugs, gepaart mit spärlichen, aber persönlich gerahmten Beiträgen, wird zugleich autobiografisch als auch als künstlerisch-kulturelles Statement, als eine Haltung, rezipiert. Die Balance zwischen Offenlegung und Verschleierung, zwischen dem Persönlichen und dem Universellen, spielt in Oceans Wahrnehmung eine große Rolle: Indem er selektiv Details preisgibt und gleichzeitig Räume für Spekulationen lässt, schafft er sowohl Nähe als auch eine Aura der Rätselhaftigkeit. Die Reduktion wird zu einem künstlerischen Werkzeug, um Intimität zu erzeugen.

Die empfundene Kohärenz von künstlerischem Werk und öffentlicher Persona steigert zudem diesen Eindruck und macht den Musiker zu einer »authentischen Insel« innerhalb einer als formelhaft verstandenen Streaming-Kultur. Ziehen wir die Idee des »authentischen individuellen Ausdrucks« heran, die David Shumway zufolge die Voraussetzung für eine Adressierung zum Singer-Songwriter ist, so entsteht diese bei Ocean vor allem durch dessen künstlerischen Bezug zur digitalen Welt und ihren Kommunikationsangeboten. Dieser Bezug führt erst zu einer »Illusion der Wahrhaftigkeit«, die von seinem Publikum als »radikal ehrlich« empfunden wird. Die wahrgenommene Authentizität wird dabei also nicht normativ – als Gegensatz zum Künstlichen – verstanden, sondern entsteht vielmehr in der Spannung zwischen Inszenierung und Echtheit.

Auch die Frage der Autorschaft wird im Kontext des Web 2.0 neu verhandelt. Die digitale Kultur fördert eine neue Art der Textualität, in der Songtexte nicht nur als musikalische Begleittexte, sondern als eigenständige literarische Werke wahrgenommen werden. Dies wird durch die Art und Weise verstärkt, wie Social Media und Streamingdienste Inhalte präsentieren und diskutieren. Denn deren Versprechen von Partizipation tragen aktiv dazu bei, dass Songtexte oft isoliert betrachtet werden. Die Vergabe des Literaturnobelpreises an Bob Dylan ist in diesem Sinne interessant. Denn im Angesicht dieses ambivalent rezipierten Ereignisses kam es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit etablierten Traditionslinien und den damit verbundenen Ausgrenzungen und Exklusivitätsansprüchen. Die Figur des Singer-Songwriters wurde auf diese Weise zu einem umkämpften Feld und deren Aneignung zu einem bewussten Akt der Selbstermächtigung. Künstlerinnen und Künstler, die in der jüngsten Vergangenheit jenseits des traditionellen Folkrock-Paradigmas operierten, beanspruchten vermehrt diesen Begriff für sich, wie am Beispiel Frank Oceans aufgezeigt wurde. Diese Selbstpositionierung zeigt, wie sich unter digitalen Bedingungen die Hervorbringung und Beglaubigung von Echtheit verändert. In einer Kultur der Vorhersehbarkeit und des ständigen Verfügbarmachens von Musik wirkt Frank Ocean wie ein Gegenentwurf – ein (Confessional) Singer-Songwriter des Web 2.0.

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Der Autor

Risto Lenz, Dr. phil, Historisches Institut, Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Popular Music Studies, Social and Cultural History of the United States, History of Knowledge, History of Music.

Kontakt: risto.lenz@uni-koeln.de