Kinderperspektiven: Partizipation in gesellschaftlicher Praxis

Charlotte Højholt

Zusammenfassung

Der Artikel befasst sich mit der Frage, wie das alltägliche Leben von Kindern mit seinen Problemen, Situationen und Bedingungen aus der Perspektive der Kinder erforscht werden kann. Auf der Grundlage empirischen Materials wird dabei gezeigt, dass zur Untersuchung von Kinderperspektiven deren Partizipation in sozio-materieller Praxis beleuchtet werden muss. Vor diesem Hintergrund werden die alltägliche Lebensführung von Kindern, deren Lernprozesse im Alltag, aber auch Ausgrenzungsprozesse diskutiert. Das empirische Material zeigt, wie auf Kinderperspektiven aufbauende Erkenntnis zu einem Verständnis nicht beabsichtigter Konsequenzen der professionellen Unterstützung von Kindern beitragen kann. Ein solcher Ansatz hinterfragt das herkömmliche Konzept universeller Erkenntnis und verweist auf die Wichtigkeit einer situierten Neugierde auf die Bedeutung des konkreten Zusammenspiels, wenn wir aus der Sicht des Kindes in die soziale Welt blicken.

Schüsselwörter: partizipative Kinderforschung, Kinderperspektive, Kindergemeinschaften, situierte Erkenntnis, Entwicklung durch Partizipation, sozio-materielle Praxis

Summary

This article takes its point of reference in the challenge of investigating situations, dilemmas or new conditions for being a child from the perspectives of children. The aim is to unfold a theoretical discussion of this problem informed by empirical material from the everyday life of children. Through this it will be argued that to investigate children’s perspectives we must explore and analyze children’s participation in social practice. In this way the article will touch on children’s conduct of life, learning processes related to everyday life and processes of segregation. The empirical material illustrates that knowledge from the perspectives of the children can illuminate how efforts in relation to supporting children may have unintended consequences for the children. This challenges a traditional concept of universal knowledge and points to a situated curiosity about the meanings of concrete interplay when we look “from the child out into the social world”.

Keywords: participatory child research, children’s perspectives, children’s communities, situated knowledge, development through participation, socio-material practice

Wie können wir Erkenntnisse darüber gewinnen, wie Situationen aus der Perspektive anderer Personen aussehen? Erwachsene müssen einerseits Verantwortung für die Lebensbedingungen von Kindern übernehmen, auf der anderen Seite können sie sich aber oft nicht vorstellen, was die konkreten Lebensbedingungen tatsächlich für Kinder bedeuten. Um Kinder zu verstehen und um eine günstige Welt für sie und für ihr Leben und Lernen zu schaffen und zu organisieren, benötigen wir Erkenntnisse, wie Situationen aus der Sicht der Kinder aussehen. Wie erlebt ein Kind eine Situation, was bewegt es und womit befasst es sich, was erscheint aus seiner Sicht bedeutungsvoll?

Je nach Berufsgruppe verstehen Professionelle, die mit Kindern arbeiten, ihre Aufgaben und Verantwortlichkeiten im Bezug auf die Probleme im Leben der Kinder ganz unterschiedlich. Gemeinsam aber ist ihnen, dass sie nicht im Voraus wissen können, wie die Dinge im Leben der Kinder funktionieren, was ihre Aktivitäten tatsächlich bedeuten und wie ihre wirklichen Interessen aussehen. Professionelle sind mit einem Mangel konfrontiert, einem Mangel an Wissen, um das Verhalten eines Kindes zu verstehen. Wie könnte Forschung dazu beitragen, dieses Dilemma zu überwinden?

Im Folgenden versuche ich zu zeigen, dass die Frage nach den “Kinderperspektiven” den Blick der wissenschaftlichen Forschung auf die sozialen Situationen der Kinder richtet, an denen sie teilnehmen und zu denen sie sich, vor dem Hintergrund dessen, was für sie auf dem Spiel steht, ins Verhältnis setzen. Um zu verstehen, wie Kinder auf ihre je eigene Art und Weise Situationen in ihrem Leben erfahren, können wir ihre persönlichen Handlungsgründe aus ihrer Position im situierten Zusammenspiel analysieren. Auf diese Weise wird das Konzept der “Kinderperspektiven” als ein analytischer Begriff entwickelt, um persönliche Bedeutungen in konkreter gesellschaftlicher Praxis zu verankern. Damit soll ein Beitrag zu der theoretischen Diskussion geleistet werden, wie die Subjektivität von Kindern im Bezug auf die gesellschaftlichen Bedingungen, mit denen sie auf ihre je persönliche Weise konfrontiert sind, verstanden werden kann. Der Begriff der “Kinderperspektive” verweist somit auf das Bestreben, den Zusammenhang zwischen dem Kind als handelndem Subjekt sowie den den kindlichen Aktivitäten zugrundeliegenden gesellschaftlichen Bedingungen zu konzeptualisieren.

Ausgangspunkt dabei ist ein in gesellschaftlicher und historischer Praxis verankertes Verständnis von menschlicher Subjektivität. Die Entwicklung von Subjektivität wird verstanden als ein Aspekt der Partizipation in gesellschaftlicher Praxis (Axel 2009; Holzkamp 1983, 1998; Højholt 1999; Dreier 2008; Schraube 2012; Tolman 1994). Das Praxiskonzept ermöglicht es, die Dynamik zwischen kollektiver Aktivität und subjektiver Handlung in das Blickfeld zu bekommen (Jensen 1987, 1999; Dreier 2003; Hedegaard/Chaiklin/Jensen 1999; Højholt 2011; Lave 2008; Lave/Wenger 1991; McDermott 1993). Darauf aufbauend, kann mithilfe des Konzepts “Kinderperspektiven” konkretisiert werden, welche Bedeutung Interaktionen mit anderen in der gesellschaftlichen Praxis für die Kinder haben. Ausgehend vom einem Verständnis des Kindes als aktives Wesen, als ein Subjekt, das sich zusammen mit anderen erfahrend und handelnd in der Welt bewegt und diese Welt auch mit hervorbringt, benötigen wir Erkenntnisse, die mit der Absicht entwickelt werden, die Bedeutungen, Engagements und persönlichen Handlungsgründe der Kinder mit situierten Analysen gesellschaftlicher Praxis zu erforschen.

Um das Verhältnis von Menschen und ihren sozialen Möglichkeiten zu verstehen, beziehe ich dabei auch das Konzept der Partizipation mit ein (Hedegaard 2008; Rogoff 2003). “Partizipation” baut auf dem Handlungsbegriff auf und ermöglicht es, das konkrete “Handeln” als “An-etwas-Teilnehmen” zu konzeptualisieren (Leontjew 1982). Kinder lernen und entwickeln sich durch ihre Partizipation an gesellschaftlicher Praxis gemeinsam mit anderen Personen, und sie konstituieren wichtige Entwicklungsmöglichkeiten füreinander.

Den Zusammenhang zwischen Kindern und ihren sozialen Möglichkeiten zu verstehen ist nicht nur eine Frage der Theorie. Vielmehr erfordern die in der Praxis auftretenden, konkreten Probleme ein umfassendes Verständnis der praktischen, sozialen und materiellen Zusammenhänge, in denen die Kinder ihr Leben führen, und zwar vor allem auch, weil bislang die Hilfsangebote, Beschreibungen, Untersuchungsmethoden und Verständniskategorien in der professionellen Praxis immer noch oft auf das isolierte, dekontextualiserte Kind ausgerichtet sind.

Dabei zeigen Beobachtungen – auf Spielplätzen sowie in Klassenzimmern –, wie intensiv Kinder miteinander beschäftigt sind und wie sie sich kontinuierlich darum bemühen, in relevanten Gemeinschaften gleichaltriger Kinder mitzumachen, eben um bei den Aktivitäten in diesen Gemeinschaften dabei zu sein, um neue Aktivitäten zu initiieren, aber auch um über diese zu streiten (Højholt 2008). Vor allem scheinen Kinder miteinander beschäftigt und umeinander besorgt zu sein: Sie gehen neue Aufgaben und Möglichkeiten gemeinschaftlich an und setzen sich mit Fragen des “Dazugehörens” auseinander. Manche Kinder rutschen jedoch in sozialen Prozessen der Macht- und Einflusslosigkeit in eine marginalisierte Position.

Die im Folgenden beschriebenen empirischen Beispiele sollen die theoretische Diskussion um die Perspektiven der Kinder, ihr Engagement sowie ihre persönlichen Handlungsgründe exemplarisch konkretisieren. Sie stammen aus einem größeren Forschungsprojekt (das vom Dänischen Forschungsrat unterstützt wurde), in dem Kinder aus Kopenhagen und Umgebung über zwei Jahre im Rahmen ihres Übergangs vom Kindergarten zur Schule sowie zu Institutionen nachschulischer Betreuung forschend begleitet wurden. Mithilfe teilnehmender Beobachtung wurden die Situationen der Kinder im Klassenzimmer, auf dem Schulhof, auf den Spielplätzen und im Hort erkundet, es wurden Gespräche mit Gruppen von Kindern und Interviews mit ihren Eltern sowie den professionell mit den Kindern Arbeitenden (LehrerInnen, ErzieherInnen, PsychologInnen) durchgeführt.

Um darzustellen, wie analytisch mit Kinderperspektiven gearbeitet werden kann, präsentiere ich, nach einigen methodologischen Überlegungen, Beobachtungen des kindlichen Alltags, die über verschiedene Kontexte hinweg gemacht wurden. Diese Beobachtungen verweisen auf allgemeine Herausforderungen im Alltag von Kindern, die oft übersehen werden. Daran anknüpfend frage ich, wie die Aktivitäten von Kindern angemessen analysiert werden können und wie die persönlichen Bedeutungen und Handlungsgründe der Kinder mit den Problemen aus dem gemeinsamen alltäglichen Leben und den dort vorhandenen Möglichkeiten verknüpft sind. Auf Grundlage dieser Diskussion entwickle ich schließlich das Konzept der “Kinderperspektiven” und versuche zu begründen, warum Untersuchungen dieser Perspektive “nach außen” gerichtet sein müssen, d.h. auf die anderen Kinder sowie auf die Bedeutungsstrukturen, die sie miteinander teilen.

Methodologische Überlegungen

Das Konzept der “Kinderperspektiven” hat Konsequenzen für die Entwicklung psychologischer Erkenntnis. Die Perspektivität impliziert, dass Erkenntnisse an unterschiedlichen Orten und Positionen in gesellschaftlicher Praxis verankert sind – mithin, dass Personen ihre Perspektiven anhand ihres spezifischen Engagements in und mit der Welt entwickeln (Dreier 2003; Hedegaard et al. 1999; Jensen 1987; Stetsenko 2008).

Als menschliche Wesen teilen wir uns eine gemeinsame soziale Welt, wodurch unsere jeweiligen Perspektiven zugleich unterschiedlich, aber auch verknüpft sind. Wir beteiligen uns und arrangieren unsere Leben in Bezug auf gemeinsam erlebte Probleme. Daher sagen uns die besonderen persönlichen Erfahrungen und Perspektiven immer auch etwas über das Allgemeine in all seinen Variationen (Axel 2009; Dreier 2008).

Die Anerkennung einer solchen Perspektivenpluralität konfrontiert die Forschenden mit dem Problem, wie mit den unterschiedlichen Perspektiven aus verschiedenen Standorten in der sozialen Praxis analytisch gearbeitet werden kann. Dies erfordert theoretische Zugänge, die es ermöglichen, konzeptionell die unterschiedlichen Perspektiven in der gesellschaftlichen Praxis zu verankern, und die damit den Blick auf die Voraussetzungen eröffnen, in denen die Subjekte ihre Perspektiven entwickeln. Ziel dieser analytischen Arbeit ist die Gewinnung verallgemeinerbarer Erkenntnisse auf der Grundlage gerade der Unterschiedlichkeit der Erfahrung, die in den standortgebundenen Strukturen sozialer Praxis gemacht werden. Die Aktivitäten und die Stimmen der Kinder können uns auf die richtige Spur bringen; die analytische Arbeit besteht jedoch auch in der Erforschung der Zusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen und deren persönlichen Bedeutungen im Alltag des Kindes. Hierbei geht es nicht lediglich um eine einzige isolierte Perspektive, sondern um die Zusammenhänge in der Pluralität der Perspektiven.

Zur Erforschung der “Kinderperspektiven” müssen also unterschiedliche Erkenntnisquellen kombiniert werden. Dazu gehört, dass der Forschende beobachtet, zuhört, am Geschehen teilnimmt sowie Erfahrungen und Perspektiven aus unterschiedlichen Situationen des Kinderalltags verknüpft. Eine wichtige Erkenntnisquelle bildet dabei das forschende Begleiten von Kindergruppen über einen längeren Zeitraum, um die einzelnen Kinder, ihr Zusammenspiel, ihre jeweilige Position, ihre Beschäftigungen und Perspektiven genauer kennenzulernen und so Einsichten in ihre Lebensführung, ihre Aktivitäten und ihre Bewegungen im sozialen Raum zu gewinnen (Dreier 2008; Kousholt 2011). Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass wir als Beobachtende unsere physische Präsenz, die Entwicklung unseres Forschungsdesigns sowie unsere Teilnahme am Leben der Kinder, d.h. die gesamte Forschungsplanung, an den zu untersuchenden Problemen der Kinder ausrichten. In der vorliegenden Untersuchung lag mein Forschungsinteresse auf der Frage, wie Kinder ihr alltägliches Leben über ihre verschiedenen Lebenskontexte hinweg führen (Kindergarten, Schule, Freizeitinstitutionen, Spielplätze, Familien, etc.). Hierfür beobachtete ich die kontextbezogenen Aktivitäten der Kinder, hörte ihnen zu, wenn sie über ihre Interessen, Beschäftigungen und Ziele sprachen, redete mit ihnen, interviewte die am Alltag beteiligten Erwachsenen (eben die Eltern, professionell Erziehenden, PsychologInnen usw.) und nahm an den kinderbezogenen Treffen der Erwachsenen teil. Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf Beobachtungen aus der Schule und den Freizeitinstitutionen.

Bei der Durchführung der Beobachtungen versuche ich eine Position einzunehmen, die einen guten Einblick in das Spiel der Kinder, ihre Dialoge sowie ihre Bewegungen im sozialen Raum ermöglicht. Das impliziert nah dran und zugleich in der Lage zu sein, mich frei zu bewegen, einfach nur um zuzuschauen oder aber auch, um mit ihnen über ihre Handlungen zu reden, offen für ihre Fragen und ihre Neugier. In der Forschung wird darüber diskutiert, welche Stellung der Forschende für die beobachteten Kinder einnimmt. Aus meiner Sicht entsteht diese Stellung im Zusammenspiel zwischen Kindern und Forschenden und in dem Maße wie sie miteinander agieren und sich in diesem Prozess kennenlernen (vgl. auch Epstein 1998; Mandell 1991). So sagte etwa ein Mädchen zu einigen Jungs, die sich darüber unterhielten, ob denn die Beobachterin untersucht, was sie so alles anstellen: “Nein, sie will nur wissen, wie es ist, in die erste Klasse zu kommen.”

Das Material umfasst auch Kleingruppeninterviews mit den Kindern, in denen sie über die unterschiedlichen Orte in ihrem Leben sprachen, wobei sie unerwartet schnell auf ihre Freunde zu sprechen kamen und darüber reflektierten, was ein enger oder guter Freund sei, was sie gerne zusammen machen etc. Wenn die Situation es erlaubte, fragte ich die Kinder während der Beobachtungen nach deren Übergang vom Kindergarten in die Schule, was diese Veränderung für sie bedeutet, wie sie die unterschiedlichen Orte erfahren oder auch was sie momentan am meisten bewegt. Ich lernte im Laufe des Prozesses, dass wir Erwachsene mehr über die Kinderperspektiven erfahren, wenn wir uns mit den Anliegen der Kinder befassen und daran teilnehmen, anstatt sie einfach auszufragen. Zweifellos müssen die Methoden der partizipativen Kinderforschung dennoch weiterentwickelt werden.

Neue Kontexte gemeinsam kennenlernen: Prozesse des Orientierens und Dazugehörens

Ich werde nun die Frage der “Kinderperspektiven” in Bezug auf einige Situationen aus der gesellschaftlichen Praxis der Kinder weiter erörtern. Diese sozialen Situationen versuche ich aus der Position der Kinder zu beschreiben und dabei auch die Art und Weise, wie sie sich über die unterschiedlichen Lebenskontexte hinweg bewegen, in den Blick zu nehmen. Zugleich benötigen wir Erkenntnisse darüber, was der Schulanfang für die Kinder bedeutet. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die unterschiedlichen Interessen und Standpunkte der Erwachsenen einen wichtigen Bezugspunkt für die Kinder darstellen, aber auch dass in den Diskussionen zwischen Erwachsenen die Perspektive des Kindes häufig außer Acht gelassen wird oder dass die Perspektiven der Kinder als Teil von Konflikten der Erwachsenen gesehen und aus dem Erwachsenenzusammenhang heraus interpretiert werden.

Was den Schulstart betrifft, so beschäftigen sich in Dänemark die mit Kinder arbeitenden Berufsgruppen mit der Frage, wie die Kinder individuell auf die Schule vorbereitet, willkommen geheißen und wie ihnen Orientierung gegeben werden kann. Es gibt dabei heftige politische Debatten über das Bildungssystem, vor allem auch darüber, wer für was verantwortlich ist, z.B. wer den Kindern was beibringen soll. Sollen die Kinder im Kindergarten mehr “schulähnliche Sachen” lernen? Wie können Kinder, die Schwierigkeiten haben, in der Schule unterstützt werden? Und wie können Eltern derart in die Verantwortung genommen werden, dass sie zuhause die Schule unterstützen und gut vorbereitete und “wohlerzogene” Kinder in der Schule abliefern? Das Thema Kinder ist oft von grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Erwachsenen über Kinder geprägt, Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und Professionellen, zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen der Professionellen und zwischen Politikern (Højholt 1999, 2001, 2006).

Bei meinen Beobachtungen und Gesprächen mit Kindern über ihren Schulstart war ich überrascht über deren Engagement. Die Kinder schienen nicht mit denselben Fragen befasst zu sein wie die Erwachsenen, ihre Aufmerksamkeit war vielmehr von Beginn an aufeinander bezogen. Gleich am ersten Schultag organisierten die Kinder gemeinsame Spiele, obwohl sich manche zuvor gar nicht kannten, sie redeten, stellten Fragen und hatten Spaß miteinander.

Wenn die Kinder unsicher waren, wie man sich in diesem neuen Kontext verhalten solle, was erlaubt und verboten sei, was man nun in diesem Moment tun solle (so kann es z.B. schwierig sein den Stundenplan zu verstehen), dann fragten sie einander, etwa: Welches Fach haben wir jetzt? Obwohl sich die Lehrenden bemühten, die Kinder zu informieren, sie in ihrem neuen Umfeld zu unterstützen und ihnen die Aufgaben in der Schule sowie die Verhaltensregeln zu erklären, schienen die Kinder sich vor allem gegenseitig als soziale “Ressourcen” zu gebrauchen, um zu lernen, wie sie an dem neuen Kontext teilnehmen können.

Die Kinder agierten aber nicht nur gemeinsam, um den neuen Herausforderungen zu begegnen – sie waren auch mit ihrer Gemeinschaft selbst und mit der Frage, wie sie zu dieser Gemeinschaft gehören konnten, beschäftigt (Stanek 2011). Sie befassten sich also mit ihrer Dazugehörigkeit sowie den unterschiedlichen Gemeinschaften im schulischen Alltag. Oft werden diese Aktivitäten der Kinder als dem eigentlichen Lernen nicht zugehörig oder sogar als den Lernprozess störend betrachtet (Lave 2008). Die vorliegende Analyse hingegen zeigt, dass diese Form kindlicher Beschäftigung nicht in Opposition zu den Aufgaben der Schule steht. Die Kinder begegnen der Schule, den neuen Aufgaben sowie den Lernprozessen gemeinsam – sich einbringend, erforschend und die Lerngemeinschaften in der Schule mitgestaltend. Diese gemeinsamen Orientierungsprozesse können aus der Sicht des Lehrenden als Lärm aufgefasst werden, dabei geht es in den Gesprächen sogar oft um schulische Belange.

Da Kinder ihr Leben in unterschiedlichen Bedingungen und über verschiedene Orte hinweg führen, wird auch ein neues, situiertes Verständnis von Lernen erforderlich. Lernen findet durch die Einbezogenheit in gesellschaftliche Praxis statt und durch die (Mit-) Gestaltung der kontinuierlichen und immer auch widersprüchlichen Veränderungen der konkreten Praxis. Ein solches Verständnis verknüpft Lernen mit dem Partizipationskonzept und trägt zu theoretischen Bemühungen bei, je eigene Lernprozesse in der Beteiligung an gesellschaftlicher Praxis sowie in der Teilhabe an und somit der Einflussnahme auf unterschiedliche soziale Gemeinschaften zu verankern (Lave/Wenger 1991; Dreier 2008; Hedegaard 2008; Rogoff 2003).

Zurückkehrend zu den Beobachtungen der Kinder sowie ihren sozialen Engagements möchte ich hervorheben, wie Kinder ihre Gemeinschaften verhandeln und stetig daran arbeiten, sie zu erhalten, zu entwickeln und zu beeinflussen. Während meiner Beobachtungen wiesen die Kinder häufig darauf hin, wie sie durch gemeinsame Aktivitäten und Angelegenheiten verbunden waren: “Du wirst hier sitzen, oder?” “Wir werden dies zusammen tun, nicht?” Die Art und Weise, wie die Kinder einem neuen Kontext gemeinsam begegnen und sich im selben Moment zu der dortigen Praxis sowie zueinander ins Verhältnis setzen, möchte ich anhand eines Beispiels genauer erläutern:

In der Vorschulklasse finden oft gleichzeitig unterschiedliche Aktivitäten statt. William und Peter spielen gemeinsam auf dem Fußboden. Jasper fragt, ob er teilnehmen kann, und das ist okay. Kurz nachdem er jedoch Teilnehmer am Spiel geworden ist, wird Jasper auf ein anderes interessantes Spiel im Nebenraum aufmerksam. Er sagt: “Nebenan springen sie auf den Kissen, schaut, schaut, das sieht lustig aus.” William versucht der bevorstehenden Auflösung des Spiels entgegenzuwirken: “Nein, das sieht nicht lustig aus. Wir wollen das nicht!” Jedoch kann er weder Jasper von seinem Vorhaben abbringen, noch Peter, der kurz darauf auch Interesse an der neuen Aktivität zeigt. Dann verwendet William ein anderes Argument: Peter muss aufräumen! Damit schafft es William, die Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, und nach dem gemeinschaftlichen Aufräumen nehmen die drei Jungen gemeinsam am anderen Spiel teil.

William kommt aus unstabilen Familienverhältnissen und die Professionellen waren besorgt, wie er mit dem Schulleben zurechtkommen würde. Doch bis jetzt überraschte er alle positiv. Im Laufe der Beobachtungen schien seine Strategie zu sein, die Nähe seiner (alten) Kindergartenfreunde zu suchen und, allgemeiner gesprochen, aus einer einflussreichen Position heraus an den Aktivitäten der Jungen teilzunehmen.

Dieses Beispiel eines sozialen Zusammenspiels soll deutlich machen, wie die Kinder sich aktiv ins Verhältnis zu den Möglichkeiten, Regeln und Herausforderungen in ihrem Leben setzen. Sie befolgen nicht nur Anweisungen, wie sie sich zu verhalten und zu lernen haben – sie erkunden, nehmen teil, reproduzieren und sind imstande, den neuen Kontext in ihrem gemeinsamen Leben “einzufangen”. Dadurch schaffen sie gemeinsam Bedeutungsstrukturen. Und dadurch werden die Bedeutungen für die Dinge, Bedingungen sowie Vorkommnisse in ihrem Leben – etwa welcher Ort ihnen zugewiesen wird, welche Medientechnologien zur Verfügung stehen, welche Verhaltensregeln existieren usw. – vermittelt durch die Gemeinschaften, die die Kinder gemeinsam aufbauen. Die Kinder entdecken in diesen Prozessen gemeinsam ihre Lebenssituationen, sie beteiligen sich an unterschiedlichen Aktivitäten und entwickeln persönliche Präferenzen, sie lernen, gemeinsam an ihrer Welt teilzunehmen. Dabei müssen sie Strategien entwickeln, um mit den widersprüchlichen Anforderungen und Verpflichtungen in ihrem Leben umgehen zu können.

Mit widersprüchlichen Tagesordnungen und Engagements zurechtkommen

Die Entwicklungsverläufe der Kinder zeigen, wie sie in ihrer alltäglichen Lebensführung mit einer Vielzahl von Tagesordnungen zurechtkommen müssen; sie sind mit verschiedenen, gleichzeitig stattfindenden Dingen und mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert sowie mit unterschiedlichen Möglichkeiten, sich an relevanten Aktivitäten zu beteiligen.

Im Klassenzimmer scheint das Lehren die dominierende Aktivität. Wenn man aber das Geschehen von einem Platz zwischen den Kindern aus betrachtet, erkennt man, dass zur gleichen Zeit viele weitere Dinge stattfinden. Diese können sich direkt auf den Unterricht beziehen, etwa wenn sich die Kinder untereinander bei den Aufgaben helfen oder wenn sie sich gemeinsam das Unterrichtsmaterial angucken. Es gibt jedoch keine eindeutige Grenzlinie zwischen den unterschiedlichen Beschäftigungen: Wenn manche Kinder sich etwas mehr mit den Bildern in einem Buch beschäftigen, so kann sich vielleicht die Frage stellen, ob dies noch der Agenda des Lehrers entspricht. Ganz sicher allerdings wird dieser ärgerlich werden, wenn einige Jungs nur noch im Kopf haben, wie sie am schnellsten an den Fußball rankommen können.

Einige der Jungs in meinen Beobachtungen entwickelten nun Strategien, die jeweiligen Lernaufgaben so zu handhaben, dass sie möglichst in eine optimale Ausgangslage gerieten, um in der Pause als Erster am Ball zu sein. William nahm eine gute Position innerhalb der Jungsgruppe ein und organisierte seine Freunde derart, dass sie rechtzeitig vor der Pause mit den Schulaufgaben fertig waren, während er den Zugang zum Ball kontrollierte, etwa indem er, als sein Mitschüler Martin den Ball berührte, zum Lehrer sagte: “Man darf das nicht machen – nicht wahr?” Martin schien von dieser doppelten Anforderung offensichtlich gestresst – oder von den Konflikten, die er ebenso wie die anderen Jungs mit dem Lehrer hatte. In jedem Falle konnte er sich nicht richtig auf die Aufgaben konzentrieren, berührte den Ball zu früh und bekam am Ende den Ball nicht. Dieses Beispiel zeigt die Pluralität der Anforderungen und Tagesordnungen, mit denen die Kinder gleichzeitig umgehen müssen, die sich über den Kontext des Klassenraums erstrecken und auch darüber hinaus Einfluss nehmen, z.B. darauf, was dann auf dem Pausenhof geschieht.

In den Freizeitinstitutionen für Kinder wird noch deutlicher, wie viele unterschiedliche Aktivitäten gleichzeitig stattfinden. Im Kontext der Freizeitinstitutionen können die Kinder weitgehend selbst organisieren, was sie gerne tun möchten; sie sind etwa damit beschäftigt, Aktivitäten in Gang zu setzen, oder sie verhandeln darüber, wer beim Spiel mitmachen darf, was die Regeln sind, die Positionen und wie der Verlauf des Spiels genau sein soll. Die Organisation und die Aufrechterhaltung der Aktivitäten und Beziehungen sind offensichtlich anstrengend – die Zeit des Spiels ist geprägt von Veränderungen, Aufbrüchen und neuen Konstellationen der Mitspielenden. Die Kinder müssen Entscheidungen treffen, ihren Weg finden, sich arrangieren, koordinieren, Verabredungen treffen, sich gemeinsam organisieren usw. Ihre Stärke scheint dabei darin zu liegen, Dinge gemeinsam zu tun und mit etwas befasst zu sein, was als persönlich sinnvoll empfunden wird.

Diese Koordination und Organisation der Aktivitäten beinhaltet Möglichkeiten richtig einzuschätzen, Prioritäten zu setzen und Ideen (weiter) zu verfolgen – und zwar mit dem Ziel, die Bedingungen und Verhältnisse zu gestalten. Dabei müssen die Möglichkeiten ausgelotet und arrangiert werden und gleichzeitig müssen bestimmte Gesichtspunkte verfolgt und notfalls an die verschiedenen Orte, Anforderungen und Verpflichtungen angepasst werden. Damit befinden sich die Kinder in einem Prozess, ihre persönliche Lebensführung zu entwickeln (Dreier 2008; Holzkamp 1996; Kousholt 2011). Und im Zusammenhang mit diesem Prozess sind die Kinder kontinuierlich damit beschäftigt herauszufinden, wann und wo sie jene (Zusammen-)Spiele und Situationen verwirklichen können, die sie zugleich explorieren und erlernen möchten. Die Kinder müssen herausfinden, welche Möglichkeiten zur Partizipation, für eigenes Engagement und für Einflussnahme auf die Situationen in ihrem alltäglichen Leben sie haben.

Die Erforschung sozialer Situationen im schulischen Alltag aus der Perspektive Martins und seiner Klassenkameraden verschob den Fokus der Analysen auf die allgemeinen Herausforderungen, die sich aus der Teilnahme der Kinder an unterschiedlichen – teils widersprüchlichen – Aktivitäten sowie aus der Entwicklung der Möglichkeit, ein soziales Leben über verschiedene Kontexte hinweg zu führen, stellen. Das empirische Material zeigt, dass die Kinder generell mit diesen Herausforderungen konfrontiert sind und dass für einige der Kinder die Bedingungen, um mit diesen Herausforderungen umgehen zu können, zunehmend restriktiv und problematisch werden.

In der Zeitspanne, in der ich die Kinder beobachtet habe (ungefähr zwei Jahre vor Kindergartenende bis in die erste Klasse hinein), entwickelten sie enge und dauerhafte Beziehungen sowie ihre je eigene Art und Weise, am Schulleben sowie in anderen Kontexten teilzunehmen. Natürlich gab es auch Trennungen und Veränderungen in den Beziehungen und Konstellationen der Kinder. Für manche Kinder mögen diese Prozesse als Erweiterung der persönlichen Handlungsmöglichkeiten und Partizipation in Richtung Mitwirkung an und Einflussnahme auf ihre Lebenssituationen verstanden werden (Haavind 1987). Die Frage nach den “Kinderperspektiven” richtet die Aufmerksamkeit des Forschenden auf die konkreten sozialen Situationen der Kinder sowie auf das, was dort für sie auf dem Spiel steht. Gemeinsam müssen die Kinder ihre Möglichkeiten der Partizipation, des Engagements sowie der Einflussnahme auf die Alltagssituationen ausloten. Und die Kinder scheinen Strategien zu entwickeln, um mit diesen Widersprüchen zurechtzukommen. Jedoch sind die Möglichkeiten der Kinder, mit diesen allgemeinen Herausforderungen umzugehen, keineswegs für alle gleich, wie der nächste Abschnitt zeigen wird.

Konflikte zwischen Erwachsenen und Partizipationsmöglichkeiten unter Kindern

Wie bereits diskutiert scheinen Kinder die für sie relevanten Strukturen gemeinsam zu schaffen, und dies gilt auch für die eher traditionellen Aufgaben, die sie von den LehrerInnen erhalten. Die Kinder scheinen dabei einen anderen Ansatz zur Bewältigung einiger dieser schulischen Aufgaben zu haben als Erwachsene. Sogar eine – aus der Perspektive der Beobachterin – ziemlich neutrale Angelegenheit wie das Briefschreiben kann zum Gegenstand gemeinsamer Debatten und Präferenzbekundungen werden. Nachdem ein Junge beispielsweise eine Buchstabenreihe mit lauter “E” niedergeschrieben hat, erzählt er mir begeistert: “Das ist mein Lieblings-E.” Es ist paradox, dass Lernen in der Schule als ein individualistisches Projekt organisiert wird, bei dem andere als Konkurrenten angesehen werden – im Wettbewerb um Ressourcen und Leistungen –, oder aber als Störfaktoren, die die individuellen Konzentrationsmöglichkeiten behindern. Und trotzdem können im Klassenzimmer immer noch viele Arten des sozialen Zusammenspiels, der Kooperation und des gemeinsamen Engagements beobachtet werden.

In einer Mathematikstunde der ersten Klasse sollen die Kinder aus Gummibändern und kleinen, mit Stäbchen versehenen Tellern Figuren basteln. Die Kinder reden viel über die Aufgabe, helfen einander, zeigen sich gegenseitig ihre Ergebnisse usw. Martin jedoch hat nicht die Möglichkeit, dabei mitzumachen, da eine zusätzliche Lehrerin sich neben ihn setzt, um ihm zu helfen. Anscheinend sind die beiden Lehrkräfte unterschiedlicher Meinung, sowohl was die Herangehensweise an die Aufgaben als auch die Hilfe für Martin betrifft. Eine der Lehrerinnen sagt, dass sie und Martin die Aufgabe gemeinsam auf ihre eigene Art und Weise angehen werden.

Es ist unklar, was genau im Dialog zwischen der Assistenzlehrerin und Martin geschieht, aber offensichtlich sind sie sich immer wieder uneinig, was genau die Aufgabe sei. Martin findet offensichtlich, dass die Lehrerin die Regeln nicht befolgt und vor allem, dass sie nicht glaubt, was er sagt (hier sei eingeschoben, dass zwischen den Lehrenden und Martins Eltern heftige Konflikte bestehen, etwa ob Martin lügt oder nicht, etc). Martin sieht nun aus, als ob er sich betrogen fühle; er wird wütend, sie streiten, er wird traurig und gibt auf – und sitzt dann einfach da und beachtet die anderen Kinder.

Die anderen Kinder arbeiten konzentriert und befassen sich mit ihren Figuren. Sie rufen laut nach mehr Gummibändern und zeigen einander ihre Figuren. Martin versucht es ein weiteres Mal, aber die Situation zwischen ihm und der Lehrerin ist festgefahren. Nun verzweifelt er sichtlich, und auch die Assistenzlehrerin scheint aufzugeben. Martin sitzt alleine da, und dann kommt die Mathematiklehrerin zu ihm und versucht ihm zu helfen. Schon früher konnte ich beobachten, wie sie Beharrlichkeit und Zwang mit Loben verbindet. Aber das Wichtigste ist vielleicht, dass sie Martins Äußerungen über das Geschehen Glauben schenkt und sie an einem Strang ziehen. Auf jeden Fall macht Martin weiter, alleine, und nur wenig später schreit er auf und zeigt sein Ergebnis den Mitschülern.

Bemerkenswert an dieser Episode ist, mit welcher Energie der Junge immer wieder aufs Neue versucht, an dieser gemeinsamen Aktivität teilzunehmen. Wiederholt überwindet er das Gefühl, verloren zu sein und alles aufgeben zu wollen, bis es dann doch geklappt hat. Mein Interesse gilt genau diesem “Überwinden” und “Überschreiten”, also dem Gegenteil des “Sich-Aufgebens”, all den kleinen Momenten, an denen man als Beobachtende erkennt, wie die Teilnehmenden trotz Konflikten und Problemen erfolgreich am sozialen Zusammenspiel mitwirken. Deshalb erwähnte ich auch den letzten Teil des Beispiels – und nicht um die eine Lehrende auf Kosten der anderen zu loben. In meinen Beobachtungen des situierten Zusammenspiels zwischen den Teilnehmenden zeigen sich oft Bemühungen, gemeinsame Möglichkeiten wahrzunehmen und zu schaffen. Aber sobald die Prozesse in Konflikten und Machtlosigkeit festgefahren sind, Resignation zu weiterer Resignation führt, scheinen die Parteien die Bemühungen der anderen nicht mehr wahrzunehmen. Es scheint typisch auch für dieses Beispiel: Zwischen den Professionellen gibt es ein kontinuierliches Bemühen, die Probleme, die sie mit Martin haben, zu verstehen und mit ihnen umzugehen, aber hier sah die eine Lehrerin die Situation als einen erneuten Beleg dafür, wie “unmöglich” Martin sei – “Du hast es doch gesehen: Er hatte eine mentale Blockade.”

Anhand dieses Beispiels möchte ich ein paar Dinge diskutieren. Erstens: Die zugrundeliegende Uneinigkeit in Hinsicht auf Lernmethoden, Prozeduren und Regeln (und damit verbunden die Uneinigkeit darüber, woran die Kinder eigentlich partizipieren) verweist auf die Mehrdeutigkeit gesellschaftlicher Praxis. Die mit den Kindern arbeitenden Professionellen arbeiten mit und innerhalb einer Struktur, in welcher Verantwortung zwischen Orten und Parteien aufgeteilt ist: Eltern, Erziehende, Lehrende und PsychologInnen tragen jeweils Verantwortung für unterschiedliche Bereiche kindlichen Lernens und kindlicher Entwicklung. In den Interviews zeigte sich, dass die verschiedenen Parteien ganz unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, wie Lernen optimal abläuft, wie sich Kinder entwickeln und wie ihnen geholfen werden kann. Wenn darüber hinaus besondere Hilfe benötigt wird, werden weitere Professionelle eingebunden und die Verteilung von Aufgaben, Methoden und Verfahren wird noch verkompliziert. Und je mehr zusätzliche Unterstützung die Kinder an einer Stelle erhalten, desto mehr verlieren sie sie an anderer: ein Vorgehen bei der Verteilung von Ressourcen, das in meinen Augen die zentrale Bedeutung der Kindergemeinschaften oft unterschätzt (vgl. auch Morin 2008).

Zweitens: Kinder sollen in der Schule nicht nur Ergebnisse liefern und Fakten und Definitionen lernen, sondern sich auch in den Schulalltag einbringen. Sie lernen in verschiedenen sozialen Kontexten zu handeln, Aktivitäten zu planen und in der Praxis „klarzukommen“.

Und drittens: Die im Schulkontext zur Anwendung kommenden Methoden und Vorstellungen über den Lernprozess verorten allzu oft soziale Konflikte in der Persönlichkeit und den individuellen Kompetenzen des Kindes (Højholt 2001; McDermott 1993; Mehan et al. 1986; Mehan 1993; Varenne/McDermott 1998). Das Kind wird zum Problem, während die vom Kind erfahrenen Probleme aus dem Blickfeld geraten. Damit sind wir wieder zurück bei der Frage nach der Perspektive des Kindes – was ist für Martin wichtig? Womit ist er beschäftigt und was möchte er gerne erreichen?

Martins Handlungen sind kaum zu verstehen, wenn nicht ins Blickfeld genommen wird, woran er eigentlich teilnimmt. Weder Forschende noch Professionelle können seine Strategien verstehen, wenn sie nicht etwas über das soziale Zusammenspiel wissen, mit dem er beschäftigt ist, auf das er sich einlässt und mit dem er umgeht. Kinderperspektiven müssen im Verhältnis zu den Bedingungen erforscht werden, unter denen die Kinder an unterschiedlichen Situationen partizipieren können.

Wie andere Menschen bewegt Martin sich innerhalb sozialer und materieller Kontexte, und seine Handlungsgründe können in Hinblick auf seine Möglichkeiten untersucht werden, in bestimmten Situationen seinen Interessen nachzugehen (Schraube 2012). Je eigene Gründe sind immer mit etwas Konkretem im Leben verknüpft, und um die Handlungen eines Kindes zu verstehen, müssen wir erforschen, in welchem Zusammenhang diese Handlungen stehen, womit das Kind beschäftigt ist, und welchen Dilemmata es gegenübersteht.

Während der Beobachtung von Martins Bewegungen – im Klassenraum, auf dem Schulhof und in der Freizeiteinrichtung – fiel mir auf, wie oft er versuchte, bei einer bestimmten Gruppe von Jungen mitzumachen, die ihn jedoch immer wieder abwies. Im Zusammenhang mit diesen Prozessen begann ich daher zu erforschen, welche Gründe die anderen Kinder für ihre Ablehnung Martins hatten und mir wurde klar, dass eine Analyse dieser Gründe in Bezug auf die Gemeinschaft der Kinder erfolgen müsste. In diesem konkreten Fall erschien mir die Klasse als eine mehr oder minder unsichere Gemeinschaft, mit ständigen Auseinandersetzungen um Macht und Einfluss sowie um Zugehörigkeit. Dies sollte nicht kategorisierend verstanden werden; wenn man Kinder über längere Zeit beobachtet, findet man immer Entwicklung von Solidarität, Freundschaft und Fürsorge, aber auch von Ablehnung, Streit und Ausgrenzung. Was für unsere Diskussion vielmehr wichtig ist, ist die Tatsache, dass diese innergemeinschaftlichen Schwierigkeiten der Kinder niemals zum Gegenstand der Untersuchungen, Diskussionen und Überlegungen der Professionellen wurden.

Die Erwachsenen bilden dabei selbst einen zentralen Bestandteil der gesellschaftlichen Bedingungen für Kinder, und die Gründe für Martins Zurückweisung in der Gruppe könnten auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Erwachsenen selbst sich in einem Konflikt mit Martin und vor allem über Martin befinden. Martins “Dazugehören” wird durch seine Teilnahme an weiteren Hilfsangeboten verkompliziert, da diese meist außerhalb der Kindergemeinschaft stattfinden. In jedem Fall haben nicht alle Kinder denselben Zugang zu den gemeinsamen Lernressourcen, einige Kinder nehmen aus einer “Außenseiterposition” heraus an den Lernprozessen teil, und genau dies kann zu sozialen Schwierigkeiten beitragen.

Kinder haben einen unterschiedlichen Zugang zu den Ressourcen, die für sie zur Verfügung stehen. Die Bedingungen, unter denen sie an den Kindergemeinschaften teilnehmen und im sozialen Zusammenspiel ihre Erfahrungen machen, sind verschieden. Vor allem wenn Erwachsene sich um ein Kind Sorgen machen, konzentrieren sie ihre Interventionen auf die besonderen, individuellen und isolierten Funktionen des Kindes. Und sie übersehen dabei die allgemeinen Herausforderungen des Alltags, in welchem die Kinder ihr Leben gemeinsam und über verschiedene Situationen hinweg leben, in denen verschiedenste Dinge auf dem Spiel stehen. Der allgemeine Zusammenhang, wie Kinder ihr Leben über unterschiedliche Kontexte, Aktivitäten, widersprüchliche Anforderungen, soziale Konflikte und Möglichkeiten des Engagements hinweg organisieren, fällt aus dem Blick. Um hier weiterzukommen, werde ich im folgenden Abschnitt einige Überlegungen vorstellen, wie mit dem Konzept der “Kinderperspektiven” epistemologisch gearbeitet werden kann.

Kinderperspektiven

Es scheint offensichtlich, dass unterschiedliche Personen gegenüber dem Gleichen unterschiedlich verortet sind und aus unterschiedlichen Blickwinkeln verschiedene Perspektiven und Standpunkte über eine Situation entwickeln. Das Konzept der Kinderperspektiven aber steht im Kontrast zu einem Erkenntnisbegriff, der die Gewinnung von Erkenntnis als einen universellen, eindeutigen, unparteiischen Prozess auffasst, möglichst entwickelt von einem Standpunkt von “außerhalb”, und auf dieser Grundlage dann die “inneren” Bedürfnisse der Kinder, deren kognitive Struktur usw. konzeptualisiert (Schraube 2012). Im Gegensatz dazu verweist das Konzept der “Kinderperspektiven” auf einen situierten und differenzierten Begriff von der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis, welche unterschiedlichen Orten und partikulären Praxisstrukturen entspringt und daher als ein grundsätzlich unabgeschlossener Prozess verstanden werden muss (Jensen 1987; Dreier 2008; Lave/Wenger 1991). Dies mag nicht sonderlich revolutionär klingen, widerspricht aber fundamental dem vorherrschenden Erkenntnisbegriff in der Arbeit mit Kindern, wie er etwa, wenn es um Entscheidungen über Kinder geht, zur Anwendung kommt (Røn Larsen 2011; Mehan 1993).

Diese Ausführungen machen deutlich, dass es bei der Diskussion über “Kinderperspektiven” auch um eine allgemeinere Diskussion über Erkenntnis geht. Anna Stetsenko argumentiert für einen in der gesellschaftlich-materiellen Praxis verankerten Erkenntnisbegriff und betont: “There is […] no knowledge and no human being that exists prior to and can be separated from transformative engagement with the world including, importantly, other people” (2008, S. 484). Vor diesem Hintergrund ist Erkenntnis an unterschiedliche Perspektiven und verschiedene Engagements in der Welt geknüpft, und anstatt einige Perspektiven als wahrer als andere zu bewerten, müssen wir Forschende die unterschiedlichen Perspektiven im Verhältnis zu ihren jeweiligen Positionen in der gesellschaftlichen Praxis, aus der sie stammen, analysieren. Auf diese Weise können persönliche Perspektiven zu der Erkenntnis beitragen, wie gesellschaftlich-materielle Praxis aus unterschiedlichen Positionen und Standorten heraus erfahren wird und Bedeutung erlangt – eben etwa auch aus der spezifischen Position des einzelnen Kindes heraus.

Um die Forschung über Kinder zu kontextualisieren, müssen wir untersuchen, wie Kinder ihre Leben leben, was sie tun, was die verschiedenen sozialen Kontexte für sie bedeuten, mit was die Kinder konkret beschäftigt sind und wie dies aus ihrer Perspektive aussieht. Um die Subjektivität eines Kindes verstehen zu können, seine Engagements und Perspektive, müssen wir uns nicht nur das Kind anschauen, sondern auch “vom Kind her auf die Welt schauen”, schauen, was es konkret im Blick hat, womit es sich beschäftigt, woran es partizipiert. Eine Kinderperspektive kann so als eine persönliche Perspektive auf eine Sache von einer bestimmten Position in gesellschaftlicher Praxis verstanden werden.

Die Arbeit mit “Kinderperspektiven” stellt damit ein methodologisches Argument dar: für die Entwicklung von Erkenntnis aus der Position der Kinder in gesellschaftlicher Praxis. Dies ist auch daher relevant, weil sich die Erkenntnisse üblicherweise auf Diskussionen zwischen Erwachsenen beziehen und darauf, was diese – aus ihren jeweils verschiedenen Perspektiven – denken, was für die Kinder am besten sei. Häufig entwickeln sich daraus prinzipielle Uneinigkeiten zwischen den Erwachsenen, und die Frage, was die Situationen, Konflikte etc. im konkreten Leben der Kinder bedeuten, scheint unterzugehen. Ein Beispiel dafür wären die Diskussionen zwischen Erwachsenen über den Umgang der Kinder mit den neuen Medien, in denen sich oft Sorgen einerseits und Enthusiasmus anderseits unvermittelt gegenüberstehen (Chimirri 2012).

In diesem Sinne ist es nicht das Ziel des “Kinderperspektiven”-Konzepts, etwas Ursprünglicheres, Wahreres oder Privateres aus dem Leben der Kinder herauszufiltern oder sagen zu können, wie Kinder wirklich sind oder was sie tatsächlich denken. Stattdessen müssen Kinder als ihr Leben in die Hand nehmende, handelnde Personen verstanden werden, deren Handlungen, wie bei allen Menschen, auf etwas oder jemanden gerichtet ist. Kinder machen nicht einfach Sachen nach, sie reagieren nicht wie Marionetten oder passen sich schlicht an. Im Gegenteil, meine Beobachtungen zeigen, dass Kinder teilnehmen, dass sie etwas wollen, und dass sie mit dem, was sie tun, etwas erreichen wollen.

Kinder haben Intentionen, die sich auf ihr Leben und was ihnen dabei wichtig ist, beziehen, und dies erfordert eine situierte und “dezentrierte” Forschung, um die persönlichen Gründe der Kinder im Verhältnis zu ihren Engagements in den konkreten sozialen Situationen und in dem, was auf dem Spiel steht, untersuchen zu können. Was diese Dinge genau für die unterschiedlichen Kinder bedeuten, können wir nicht im Voraus wissen (Schraube 2012).

Die Gründe der Kinder sind dabei gleichzeitig persönlich und sozial. Sie beziehen sich auf die unterschiedlichen Bedeutungen, die bestimmte soziale Situationen für verschiedene Teilnehmende annehmen können, entsprechend ihrer sozialen Position. Die “Kinderperspektiven” sagen uns damit nicht nur etwas über die Kinder selbst, sondern vor allem etwas über ihre Beziehungen zu konkreten sozialen Situationen und damit wiederum auch etwas über diese Situationen selbst, beispielsweise über die Strukturen, die Kindern mit Problemen helfen sollen, also über Unterstützungsmaßnahmen für “gefährdete” Kinder bzw. Kinder in Schwierigkeiten. Betrachten wir etwa die für Kinder mit Problemen geschaffenen Hilfsangebote: Wenn wir die Perspektive der Kinder und das Zusammenspiel in ihren Beziehungen erforschen, kann uns dies Erkenntnis darüber vermitteln, wie Kinder in ihrem Alltag zwischen öffentlichen Institutionen und Hilfsangeboten gerade durch diese Angebote in für sie schwierige Situationen geraten können. Und so können wir damit auch Erkenntnisse über die unbeabsichtigten Konsequenzen unserer Hilfsangebote gewinnen, die uns zuvor nicht bewusst waren (Højholt 2011).

Das Konzept ermöglicht Phänomene im Leben von Kindern zu erforschen, die im Zusammenhang damit stehen, was in ihrem Leben geschieht und wie sie ihr eigenes Leben organisieren. Die Art und Weise, wie Kinder an den Arrangements teilnehmen, ihre Sichtweisen und Erfahrungen, können uns etwas über die Bedingungen sagen, denen wir sie aussetzen. Diese Bedingungen sind nicht eindeutig und stabil, die Kinder handeln in ihnen – gemeinsam – und zeigen dadurch, was sie für sie bedeuten. Es sind Bedeutungen, die aufgrund veränderter Lebensbedingungen der Kinder variieren oder sich von Kindergemeinschaft zu Kindergemeinschaft unterscheiden können.

Schlußfolgerungen

Die Erforschung des alltäglichen Lebens der Kinder führt zu Erkenntnissen über die Herausforderungen, Widersprüche und sozialen Konflikte, mit denen sich Kinder auseinandersetzen, und zu Einsichten in ihr Engagement, ihre Möglichkeiten und Versuche, Schwierigkeiten zu überwinden. Analysen der Kinderperspektiven zeigen die große Bedeutung, die Kinder füreinander in ihrem Leben und in ihren Lernprozessen haben. Kinder sind mit anderen Kindern beschäftigt und stellen wichtige Bedingungen füreinander dar.

Die spezifischen Probleme von Kindern müssen im Zusammenhang mit den allgemeinen sozialen Widersprüchen und Konflikten in ihrem Leben betrachtet werden. Die Beispiele zeigen, dass für das individuelle Kind die konkreten situativen Bedingungen, unter denen sie mit diesen allgemeinen Herausforderungen in ihrem alltäglichen Leben umgehen, nicht dieselben sind. Kinder nehmen etwa, auch wenn sie im gleichen Klassenzimmer sitzen, aus unterschiedlichen Positionen am Geschehen teil und haben auch unterschiedliche Möglichkeiten, es zu beeinflussen.

Nach wie vor existiert ein Verständnis von Kindern mit Problemen und wie diese durch Professionelle unterstützt werden können, das diese Probleme und die Unterstützung isoliert betrachtet und sie nicht in einem Zusammenhang mit den alltäglichen Konflikten und den alltäglichen Kontexten der Kinder sieht (deutlich wird das etwa in den Situationen mit Martin). Die institutionelle Organisation der Unterstützung bezieht damit weder die Perspektiven der Kinder selbst mit ein noch kommen die spezifischen Bedingungen für deren Handeln und Engagement ins Blickfeld. Wenn wir aber die Kinderperspektiven nicht ernst nehmen, haben wir einen schwachen Ausgangspunkt, um ein Kind zu verstehen und um gute Verhältnisse für sein Leben zu schaffen, die ihm dabei helfen, mit den alltäglichen Problemen umzugehen und seine Lebensführung zu entwickeln.

Die Bemühungen, die Kinder zu unterstützen, werden durch den Mangel an Erkenntnis darüber beeinträchtigt, wie sich die Lage der Kinder aus deren Perspektive darstellt. Auch wenn Professionelle der Frage nachgehen, wie bestimmte Situationen von verschiedenen Kindern erfahren werden und was sie für die Kinder bedeuten, so haben sie, um die Zusammenhänge im Leben der Kinder wirklich zu verstehen, oft zu wenig Zugang zu den Vorgängen zwischen den Kindern. Zudem ist das professionelle Vokabular durchdrungen von hermetischen Kategorisierungen innerer Defizite des Kindes. Das Konzept der “Kinderperspektiven” ermöglicht einen Blick, der, statt “in das Kind” zu schauen, sich ausgehend von und mit den Kindern der Welt zuwendet und untersucht, wie die Selbst- und Welterfahrung der Kinder über die Welt, in der wir Alle uns begegnen und unser Leben führen, vermittelt ist.

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Übersetzung: Niklas A. Chimirri & Ernst Schraube

Autorenhinweis

Charlotte Højholt

Charlotte Højholt ist Associate Professor für Psychologie am Institut für Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Roskilde. In ihrer Forschung untersucht sie das alltägliche Leben von Kindern und arbeitet mit “Praxisforschung”, einer Einheit von empirischer Forschung und Entwicklungsarbeit. Den Schwerpunkt bildet dabei die Untersuchung der Partizipation der Kinder in unterschiedlichen Kontexten gesellschaftlicher Praxis (wie Familie, Schule, Kindergarten, Freizeitinstitutionen etc.) mit besonderem Blick auf Kindergemeinschaften, persönliche Lebensführung von Kindern sowie die Zusammenarbeit der Erwachsenen (Eltern, LehrerInnen, PädagogInnen, PsychologInnen). In ihren Büchern und Artikeln schreibt sie u.a. über Entwicklung, Lernen, Professionalität, interdisziplinäre Arbeit und Methodologie. Sie ist Leiterin des Promotionsprogrammes Social Psychology of Everyday Life der Universität Roskilde sowie der interuniversitären Forschungsgruppe Practice Research in Development.

Charlotte Højholt Department of Psychology and Educational Studies Roskilde University Universitetsvej 1 DK-4000 Roskilde Dänemark

E-Mail: charh@ruc.dk