Editorial

Martin Dege

Sprache hat als Untersuchungsgegenstand in den Sozialwissenschaften seit dem linguistic turn und im Speziellen in der Psychologie seit dem narrative turn verbunden mit den Arbeiten Theodor Sarbins und Jerome Bruners in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erheblich an Bedeutung gewonnen. Dieses Themenheft des Journal für Psychologie möchte hinter diese Entwicklung blicken und die Bedeutung von Sprache für die Konzeption des Verständnisses des Psychischen und damit des Gegenstands psychologischer Forschung genauer betrachten. Im Besonderen geht es dabei um den Stellenwert von Sprache für kritische Ansätze in der Psychologie.

Ausgehend von den Arbeiten Giambattista Vicos und Johann Gottfried Herders lassen sich zwei unterschiedliche Entwicklungen des Verständnisses von Sprache ausmachen. Auf der einen Seite steht das Verständnis von Sprache als Werkzeug, das von Akteuren eingesetzt wird um sich kommunikativ auseinanderzusetzen. Sprache wird hier zu einer spezifischen menschlichen Fähigkeit, einem zu untersuchendem System, das losgelöst von einer vorhandenen Realität existiert, allenfalls also die Möglichkeit bietet als Werkzeug des Zugangs und der Beschreibung dieser Realität gebraucht zu werden. Sprache ist hier also kein aktives, gestaltendes Element, sondern lediglich eine Fähigkeit zum Beschreibenden und Erfassenden, zum Hindeuten auf und Austauschen über eine Realität.

Die andere Seite versteht Sprache bzw. den Versuch der Definition von Sprache immer auch als einen Versuch das In-der-Welt-sein von Individuen zu beschreiben. Kategorien wie »Welt«, »Gesellschaft«, »Realität«, »Sprache«, etc. werden verstanden als Konstruktionen mittels Sprache, die nur durch spezifische Diskurse und zum Zwecke der Analyse von ihr getrennt werden können. Sprache wird in dieser Tradition, statt als passives Werkzeug, als aktive Praxis von Subjekten zur Gestaltung von Welt wahrgenommen.

Einen möglichen Ankerpunkt für diese Lesart von Sprache liefert Karl Marx, gleichwohl die Auseinandersetzung mit Sprache in seinem Werk randständig bleibt. Die deutlichste Referenz findet sich wohl in den Feuerbach-Thesen, in denen er einem idealistischen Verständnis von Bewusstsein ein dynamisch-dialektisches gegenüberstellt. Sprache als praktisches Bewusstsein vereint dort den schöpferischen Charakter von Sprache als Aktivität und Erfahrung mit dem analytischen Charakter von Sprache als sozialen Zugang zur Realität.

Marx' Schriften haben sowohl in Michail Bachtins und besonders Walentin Woloschinows Arbeiten als auch in der kulturhistorischen Schule eine zumindest implizite Präsenz. Bachtin und Woloschinow bringen die Einsicht voran, dass ein Zeichen niemals äquivalent zum Bezeichneten ist, sondern seine Bedeutung aus sozialen Konventionen bezieht. Es ist diese Einsicht, die zum einen ein positivistisches Verständnis von Sprache verwirft, zum anderen aber auch der Auffassung von Sprache als individuelles Mittel der Kommunikation eine Absage erteilt. Sprache wird statt dessen zum sozialen Element durch das Subjekte in einer Gemeinschaft gemeinsam Handeln. Die entscheidende psychologische Wendung Bachtins ging dann schließlich von Lew Wygotski aus, dessen Untersuchungen der Sprachentwicklung als Betrachtung der Internalisierung sozialer Zeichen, also dem Erlernen einer Kultur, verstanden werden können. Es ist diese Basis auf der schließlich Jerome Bruner seine narrative Psychologie aufbaut.

Die in diesem Heft vertretenen Beiträge befassen sich mit möglichen Wegen zu einem kritischen Sprachverständnis. Im Zentrum stehen dabei die folgenden Fragen: Kann Sprache als per se emanzipatorisches, weil stets gestaltendes und damit kritisches Mittel verstanden werden? Inwieweit kann Sprache bestehende Realitäten transformieren? Ist es möglich mittels Sprache bestehende Illusionen, Ideologien und Fetischformen aufzuzeigen, sie zu entnaturalisieren? Inwieweit lassen sich unter Einbeziehung sprachtheoretischer Überlegungen kritische Momente in der Psychologie als der Wissenschaft vom Subjekt entwerfen?

Martin Dege befasst sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung der Sprache im Werk von Karl Marx und Friedrich Engels. Besonderes Anliegen des Autors ist es dabei ausgehend von der im Manifest der kommunistischen Partei beschworenen Figur des Gespenstes eine andere Lesart der Marx’schen Theorie vorzustellen, die nicht einer spezifischen Entwicklungslogik folgt, sondern Sprache als immer neues, kritisches Potenzial zur Veränderung gesellschaftlicher Umstände begreift.

Anna-Lisa Müller zeigt auf, wie Judith Butler unter Zuhilfenahme von Louis Althussers Modell der Anrufung (interpellation), John L. Austins Theorie der performativen Sprechakte und Jacques Derridas Konzepten der Iterierbarkeit, der différance und des Ereignisses ein eigenes Modell von Sprache und Gesellschaft entwickelt. Das kritische Potenzial der Sprache findet die Autorin dann besonders in einer performativen Konzeption von Sprache, die nicht mehr lediglich von Sprache als Mittel der Kommunikation ausgeht, sondern davon, dass Sprache handelt, etwas tut. Um diesem Tuen genauer auf die Spur zu kommen, bleibt Müller nicht auf der theoretischen Ebene stehen sondern zeigt im Gegenteil die Macht der Sprache anhand empirischer Beispiele auf.

Manfred Buchner stellt in seinem Beitrag Überlegungen zur Symbol- und Sprachtheorie Alfred Lorenzers an. Im Fokus steht für den Autor die Sprache, wie sie innerhalb von individuell-kollektiven Auseinandersetzungen zum Vorschein tritt. Wesentlich ist dabei, dass Buchner mit Lorenzer Sprache als immer eingebettet in konkrete Lebenspraxis versteht. Der Autor enthüllt dabei ein Doppelgesicht von Sprache, kann sie doch sowohl befreiend als auch verstellend, ja blendend mit Bezug auf neue Handlungsmöglichkeiten wirken. Befreiende Wirkung kann die Sprache dabei nur entfalten, wenn sie immer wieder an das konkrete Leben, die eigene Praxis zurück gebunden wird.

Harald Strauß begibt sich in seinem Beitrag auf die Suche nach dem Mathem der Macht. Dabei bildet die Philosophie Immanuel Kants den Rahmen für eine symboltheoretische Auseinandersetzung mit dem emanzipatorischen Potenzial der Sprache. Zentral sind für den Autor die Begriffe des Schönen und des Erhabenen aus denen er neue Perspektiven für eine Kritik von Herrschaft ableitet. Das Erhabene, so zeigt Strauß, wird zum eigentlichen Motiv um das Kommune in der Idee der Kommunikation wieder herzustellen. Im Zentrum dieser Rückgewinnung kann für den Autor dabei nicht der Entwurf einer neuen Welt, jenseits und losgelöst der herrschenden Zustände sein, sondern der Eintritt der Minoritäten in eine durch gegenseitige Anerkennung geprägte Kommunikation.

Andrés Haye, Héctor Carvacho und Antonia Larraín zeigen in ihrer Auseinandersetzung mit Bakhtin und Volosinov den Zusammenhang von Ideologie und Sprache auf. Besonders heben Sie dabei hervor, dass sich die Ideologie in der Sprache des alltäglichen Lebens zeigt. So bedient sich jeder Sprecher, der durch das Entäußern eines Sprechaktes eine bestimmte Position einnimmt einer dieser Position entsprechenden Ideologie. Das kritische Potenzial von Sprache machen die Autor/innen so in einer Hinterfragung der Ideologie aus, die zu einer neuen Ideologie und somit einer Permutation der ideologischen Standpunkte führt.

Klaus-Jürgen Bruder nimmt seinen Ausgangspunkt bei Jacques Lacan dem es gelang, die gesellschaftliche Dimension in die Psychoanalyse zu reintegrieren ohne dabei das Subjekt aus dem Zentrum zu reißen. Für Bruder steht nicht die Sprache als solche im Zentrum, vielmehr hebt er darauf ab, dass für den Psychologen das Sprechen der entscheidende Gegenstand sein muss. Er nähert sich so dem des Sprechens fähigen Subjekt.

Désirée Laubenstein befasst sich mit dem sonderpädagogischen Diskurs und dort im besonderen mit der Konstruktion des Phänomens »Behinderung«. Kernanliegen der Autorin ist es, eine Beobachtungstheorie zu entwerfen, die nicht lediglich auf der Ebene des Symbolischen verhaftet bleibt, sondern die Elemente des imaginären und des Realen berücksichtigt. Für diesen Entwurf bedient sich Laubenstein wesentlich im Theoriegebäude Jacques Lacans. Um tatsächliche Lebenswirklichkeiten jenseits von wissenschaftlichen Objektivierung zu greifen, stellt die Autorin besonders die Interaktion als Möglichkeit der Integration des Symbolischen, Imaginären und Realen in der Reflexion heraus.

Jürgen Messing und Anke Werani werfen in Ihrem Beitrag das Licht auf eine Problematik innerhalb der akademischen Psychologie. Dabei attestieren die Autor/innen der Disziplin ein konsequentes Ausblenden der Sprache als Untersuchungsgegenstand und analysieren die Konsequenzen dieses Zustandes für die psychologische Forschung. Messing und Werani zeigen so auf, dass die Psychologie sich in eine fatale Situation manövriert hat. Selbst ein Hinzufügen der Sprache und des Sprechens zum existierenden Theoriecorpus würde nach Ansicht der Autor/innen die Problemlage nicht lösen können. Stattdessen schlagen sie eine Psychologie des sprechenden Menschen vor.

Carolin Demuth befasst sich in ihrem Beitrag mit der frühkindlichen Entwicklung. Dabei geht sie von den Arbeiten Bakhtins aus und basiert ihre Auseinandersetzung damit auf der Debatte um das dialogische Selbst. Um ihre theoretischen Überlegungen zu untermauern führt die Autorin eine empirische Vergleichsstudie an in der sie die Mutter-Säuglins-Interaktion von StudienteilnehmerInnen in Münster und Kamerun auf der Mikroebene der Interaktion untersucht. Neben den Untersuchungsergebnissen selbst, leistet der Beitrag vor allem eine Explikation der Möglichkeiten eines dialogischen Verständnisses von Sprache und Selbst für die Entwicklungspsychologie und dort im Besonderen für das empirische Arbeiten. Einzelbeitrag

Aladin El-Mafaalani und Stefan Wirtz behandeln in einem Einzelbeitrag die psychologische Relevanz des Bourdieu’schen Habitusbegriffs. Die Autoren wenden sich gegen die von Michael Zander (2010) vorgebrachte Forderung nach einer psychologischen Fundierung des Habitusbegriffs indem sie aufzeigen, dass Bourdieu mit dem Habitusbegriff (zumindest für die »verstehende Psychologie«) bereits eine psychologische Gegenstandsbestimmung vorgenommen hat. Unter Betrachtung von Bildungsprozessen und der Möglichkeiten der Habitustransformation weisen El-Mafaalani und Wirtz auf das im Konzept des Habitus liegende Potential etwa für psychologische Forschung zu sozialer Ungleichheit hin.

Martin Dege

Autorenhinweis

Martin Dege

Martin Dege arbeitet an der Clark University in Worcester, Massachusetts. In seiner Dissertation befasst er sich mit dem Subjektverständnis in der Handlungsforschung.

Martin Dege Clark University Frances L. Hiatt School of Psychology 950 Main Street, Worcester, MA 01610 USA

E-Mail: mdege@clarku.edu