Neurobiologie als »Unterbau« einer Psychologie im Geiste Wilhelm Wundts? Einladung zu einer Debatte

Gerd Jüttemann

Zusammenfassung

Ausgehend von einer Rückbesinnung auf Wundt wird die Frage aufgeworfen und zur Diskussion gestellt, ob es – vor allem im Hinblick auf eine Anwendung bildgebender Verfahren – möglich wäre, zwischen der geisteswissenschaftlichen Psychologie einerseits und der Neurobiologie andererseits eine direkte Verbindung herzustellen, die u. U. zur Begründung eines umfassenden neuen Forschungsprogramms führen könnte.

Schüsselwörter: Psychische Kausalität, bildgebende Verfahren.

Summary

The reversion to Wilhelm Wundt and his psychology provokes a scientific discussion – above all with regard to the use of imaging procedures – concerning a direct connection between humanistic psychology and Neurobiology with the aim to establish a comprehensive research program.

Keywords: Psychic causality, imaging procedures

Wundts Zwei-Stufen-Modell der Psychologie

Während der gesamten Zeit seines über 60 Jahre dauernden beruflichen Lebens war Wilhelm Wundt davon überzeugt, dass die Psychologie in einen Oberbau und einen Unterbau zu gliedern sei (vgl. u. a. Wundt 1920, 201). Der Unterbau ist für ihn die experimentelle Psychologie, die er auch als »Individualpsychologie« bezeichnet und weitgehend mit »physiologischer Psychologie« gleichsetzt (Wundt 1922, 30). Den Oberbau bildet in seinem Modell die Psychologie als Geisteswissenschaft. Hier ist allerdings zu beachten, dass sich die Gebäudemetapher prinzipiell mit unterschiedlichen Wertungen verbinden lässt. Einerseits ist – vor allem aus statischer Sicht – der Unterbau als sog. Fundament die wichtigste »Grundlage« des Hauses. Andererseits geht es, zumindest in der Regel, nicht nur bei Eigenheimen, sondern bei allen Immobilien um Verwendungszwecke, die nicht das Kellergeschoss, sondern die jeweiligen Stockwerke, also den »Oberbau«, als den eigentlich interessanten Teil erscheinen lassen. Wundt nennt deshalb den geisteswissenschaftlichen Ansatz auch die »eigentliche Psychologie« (so u. a. Wundt 1922, 30 u. 390), während er dem experimentalpsychologischen Ansatz den Rang eines – mehr oder weniger fundamentalen – Unterbaus zubilligt.

Wenn diese Tatsache heute völlig in Vergessenheit geraten ist und fast alle Fachvertreterinnen und Fachvertreter meinen, Wundt sei der Prototyp des naturwissenschaftlichen Psychologen und gleichsam der Garant des Mainstreams, dann ist diese extreme Fehleinschätzung Ausdruck und Folge einer kapitalen Geschichtsfälschung, deren Opfer Wundt wurde (vgl. Jüttemann 2006).

Unbekannt ist zudem, dass die große Gründerpersönlichkeit der Disziplin die Psychologie sogar für die »Grundlage« aller Geisteswissenschaften hielt (Wundt 1922, 18). Eine zweistufige Sichtweise wendet Wundt somit nicht nur auf die Binnenverhältnisse des Fachs, sondern auch auf die Beziehung der Psychologie zu den übrigen Geisteswissenschaften an, die von ihm – mit Ausnahme der Philosophie – ganz wörtlich als »Angewandte Psychologie« verstanden werden. Zu dieser Auffassung hat er sich sogar ausführlich geäußert, und zwar in einer vom Umfang her gesehen kleineren, aber in ihrer – noch unentdeckten – tatsächlichen Bedeutung wahrscheinlich sehr wichtigen Abhandlung, die die Überschrift »Reine und angewandte Psychologie« (Wundt 1911, 302-338) trägt. Wundt verweist hier auf »die große Anzahl jener Geisteswissenschaften […], die nicht durch einzelne praktische Anwendungen, sondern durch die Vertiefung in die psychologische Seite ihrer Probleme in gewissem Sinn zu Anwendungsgebieten der Psychologie geworden und im Grunde auch immer gewesen sind« (307).

Doch von diesem Gebäudemodell der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, dessen »Unterbau« nach Meinung Wundts die Psychologie darstellt, soll im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter die Rede sein. Im Hinblick auf die innere fachliche Situation bzw. das Forschungsprogramm der Psychologie intendiert Wundt einen anderen Stufenaufbau. Was Wundt hier als »Oberbau« ansieht, steht in einer gewissen Opposition zum experimentellen Ansatz bzw. zu seiner »physiologischen Psychologie«, wie u. a. der folgende Satz aus seinen Memoiren zeigt: »Als ich ebenfalls um das Jahr 1860 den Gedanken faßte, der experimentellen Psychologie, die sich ihrer ursprünglichen Absicht wie den ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln gemäß auf die Tatsachen des individuellen Seelenlebens zu beschränken hatte, einer Art von Oberbau beizufügen, […] da erschien mir nun bald diese Aufgabe als die höhere und in Wahrheit als die eigentlich abschließende der Psychologie« (Wundt 1920, 201).

Für die hier gemeinte Psychologie, die er explizit als »geisteswissenschaftlich« kennzeichnet und auf die »höheren psychischen Vorgänge und Entwicklungen« (Wundt 1922, 30) bezieht, verwendet Wundt sehr häufig – unglücklicherweise, aber seiner Zeit gemäß – auch das Kompositum »Völkerpsychologie«. Erst Spranger hat den Namen »geisteswissenschaftliche Psychologie« geprägt (auch wenn der Spranger‘sche Ansatz dem Wundt‘schen Programm nicht gerecht wird; vgl. hierzu u. a. Scheerer 1985 und 1989).

Wundts große Leistung und deren heute mögliche programmatische Konsequenz

Die zentrale Bedeutung Wundts kommt – völlig unabhängig von der einseitig hervorgehobenen Gründung des ersten experimentalpsychologischen Laboratoriums 1879 in Leipzig – vor allem in der von ihm vorgenommenen Differenzierung zwischen einer »geschlossenen« physischen und einer »offenen« psychischen »Kausalität« zum Ausdruck (vgl. Jüttemann 2006, 17f.). Wundt orientiert sich im Hinblick auf die »Naturkausalität« und die naturwissenschaftliche Psychologie an einem deterministischen Menschenbild, das er – möglicherweise in Anlehnung an F. A. Lange und O. Külpe – »materialistisch« nennt, und weist der Experimentalpsychologie die Aufgabe einer »Analyse der einfacheren psychischen Vorgänge« (Wundt 1922, 30) zu. Die »psychische Kausalität« ist für Wundt demgegenüber das zentrale Thema der »eigentlichen« Psychologie.

Die große Leistung Wundts besteht aber nicht nur darin, dem deterministischen Menschenbild der »physiologischen Psychologie« eine Psychologie »der höheren psychischen Vorgänge und Entwicklungen« und damit eine genetische Auffassung vom Menschen gegenüberzustellen, sondern die beiden Ansätze im Rahmen eines »integrativen Modells« (vgl. Jüttemann 2006) auch eng aufeinander zu beziehen: »Es gibt nur eine Art psychologischer Kausalerklärung, und diese besteht in der Ableitung komplexerer psychischer Vorgänge aus einfacheren, in welche Interpretationsweise […] physiologische Zwischenglieder immer nur aushilfsweise eingehen können« (Wundt 1922, 30; Hervorh. i. Orig.).

Wie hoch das Integrationspotential des Wundt‘schen Programms zu veranschlagen ist und wie sehr es auch im Sinne einer Verbindung von Neurobiologie und geisteswissenschaftlicher Psychologie entwickelt werden könnte, zeigt die folgende Äußerung über »komplexe Bewusstseinsvorgänge höherer Ordnung« (Wundt 1911, 86): »So wenig die Vorgänge der Sinneswahrnehmung und der Assoziation als bloße subjektive Spiegelungen rein physiologischer Prozesse angesehen werden können, ebenso wenig bilden nun die verwickelteren Bewußtseinsvorgänge, welche die herkömmliche Benennung als Phantasie- und Verstandestätigkeiten bezeichnet, ein Gebiet rein psychischer Funktionen, das sich losgelöst von den Wirkungen des physischen Mechanismus denken ließe« (Hervorh. i. Orig.).

Seine integrative Denkweise interpretiert Wundt selbst als »Prinzip des psychophysischen Parallelismus« (22 ff.), artikuliert aber in einer Zeit, in der die Idee einer Entwicklung »bildgebender Verfahren« in der Wissenschaft wahrscheinlich als eine unseriöse Utopie abgetan worden wäre, nicht den Gedanken eines gehirnphysiologischen oder neurobiologischen Nachweises komplexerer psychischer Phänomene. Diese sind vor allem im Rahmen »qualitativer«, geisteswissenschaftlicher Forschungsprogramme untersucht worden und betreffen beispielsweise den Überschneidungsbereich zwischen Kultur- und Persönlichkeitspsychologie, die Tradition der Psychoanalyse oder das noch auszuarbeitende Konzept einer subjekt- und wirklichkeitsgerechten, konkreten Psychologie (vgl. Jüttemann 2004 und 2007, Kap.1).

Gleichsam analog zum Zwei-Stufen-Modell – aber ohne Bezugnahme auf Wundt – wird in den Neurowissenschaften auch bisher schon zwischen top-down-Vorgängen und bottom-up-Vorgängen differenziert, und zwar zwischen »Prozessen und Zuständen, die durch das selbstreflektierte Subjekt bestimmt werden in Abgrenzung zu solchen,.die automatisch durch Umwelt- oder Körperreize ausgelöst werden« (Windmann 2004, 50; dort auch Hinweise auf die einschlägige Forschung).

Wundt sieht die Notwendigkeit, nicht nur die von ihm unterschiedenen Stufen psychologischer Gegenstandsbetrachtung deutlich voneinander abzuheben, sondern auch jene Verknüpfung zu klären, die wir heute als einen emergenten Sachverhalt bezeichnen. Genau darauf bezieht sich aber die Frage, die hier zur Diskussion gestellt werden soll: Inwieweit erscheint es sinnvoll, im Hinblick auf geisteswissenschaftlich isolierbare psychische Phänomene die Forderung zu erheben, im Rahmen neurobiologischer Untersuchungen mit Hilfe bildgebender Verfahren gehirnphysiologisch darstellbare Äquivalente nachzuweisen? Diese Fragestellung repräsentiert heute eine durchaus naheliegende Vorstellung und zugleich eine Thematik, die zunächst einmal auf einer breiten fachlichen Basis erörtert werden müsste.

Der vorliegende Beitrag stellt eine Einladung zu einer derartigen Debatte und darüber hinaus – im Falle einer positiven Resonanz – zur Elaboration eines großangelegten Forschungsprogramms (»Wundt-Programm«) dar, dessen prinzipielle Realisierbarkeit sich inzwischen bereits in einigen jetzt schon bekannten Untersuchungsergebnissen in Form erster, eher unsystematisch entwickelter Ansätze erwiesen oder zumindest angekündigt hat.

Literatur

Jüttemann, Gerd (2004): Annäherungen an die menschliche Seele: Zur Bedeutung von »Drama« und »Wunsch« für eine konkrete Psychologie. In Gerd Jüttemann (Hg.), Psychologie als Humanwissenschaft. Ein Handbuch (134-164). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Jüttemann, Gerd (2006): Wilhelm Wundt – der missverstandene Geisteswissenschaftler. In Gerd Jüttemann (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe. Ein Missverständnis löst sich auf. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Jüttemann, Gerd (2007): Persönlichkeit und Selbstgestaltung. Der Mensch in der Autogenese. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Scheerer, Eckart (1985): Organische Weltanschauung und Ganzheitspsychologie. In Carl F. Graumann (Hg.), Psychologie im Nationalsozialismus (15-53). Berlin; Heidelberg; New York; Tokyo: Springer.

Scheerer, Eckart (1989): Psychologie. In Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7 (1599-1654). Basel: Schwabe & Co.

Windmann, Sabine (2004): Das Subjekt in den Neurowissenschaften. In Gerd Jüttemann (Hrsg.): Psychologie als Humanwissenschaft (46-60). Ein Handbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Wundt, Wilhelm (1896/1922): Grundriss der Psychologie. Leipzig: Engelmann (1. Aufl. / 15. u. zugleich letzte Aufl.).

Wundt, Wilhelm (1911): Über psychische Kausalität. In Wilhelm Wundt, Kleine Schriften, Bd.2. Leipzig: Engelmann.

Wundt, Wilhelm (1911): Reine und Angewandte Psychologie. In W. Wundt, Kleine Schriften, Bd.2. Leipzig: Engelmann.

Wundt, Wilhelm (1920): Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart: Kröner.

Autorenhinweis

Gerd Jüttemann

Prof. Dr. Gerd Jüttemann ist seit 1974 Hochschullehrer im Fachgebiet Persönlichkeitspsychologie der Technischen Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Methoden, Biografieforschung, Persönlichkeitspsychologie und Historische Psychologie.

Prof. Dr. Gerd Jüttemann Westhofener Weg 25 D-14129 Berlin.

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Web: http://gerd.juettemann.org/