Editorial

Günter Mey

Das aktuelle Heft »Qualitative Forschung in der Psychologie« steht in einer Tradition vorangegangener Hefte des Journal für Psychologie (JfP), denn neben immer wieder einmal veröffentlichten Einzelartikeln oder Methodenbeiträgen innerhalb von Themenschwerpunktausgaben gab es bereits drei Themenhefte mit methodenbezogenem Fokus: »Subjektwissenschaftliche Methoden« (1996, Heft 4/3), »Introspektion als Forschungsmethode« (1999, Heft 7/2) und »Dialogische Methoden« (2000, Heft 8/1). Alle drei Hefte haben in besonderer Weise gezeigt, dass innerhalb der Psychologie eine eigenständige Debatte um den Stellenwert und die Angemessenheit qualitativer Forschung existiert – ungeachtet des schwierigen Standes in der Auseinandersetzung mit der Mainstream-Psychologie oder in Kontrast zur Soziologie oder anderer Disziplinen, in denen sich qualitative Forschungsstrategien selbstverständlicher etabliert haben.

Mit dem vorliegenden Themenheft soll die Bandbreite qualitativer Forschung innerhalb der Psychologie und für psychologische Fragestellungen angedeutet werden: es wurde eine »stellvertretende« Auswahl getroffen; andere Beispiele sind denkbar, um den Reichtum und die Verankerung, aber auch Herausforderungen und Grenzen qualitativ-psychologischer Forschung zu diskutieren.

In seinem Einleitungsbeitrag skizziert Günter Mey entlang einiger historischer Entwicklungslinien den schwierigen Stand qualitativer Methodik in der Psychologie, ein Bild, dass sich in seiner Perspektive nicht eindeutig zeichnen lässt, will man nicht in ein pessimistisches Zerrbild verfallen angesichts der Jahrzehnte langen Marginalisierung innerhalb der Psychologie einerseits und einer mittlerweile im Kanon aller sozial- und humanwissenschaftlicher Disziplinen nachrangigen Position andererseits. Schlusspunkt seiner knappen Analyse ist, dass sich Methoden in ihrem disziplinären Kontext konturieren müssen (ohne nur ein Spezialfall zu sein), es also im vorliegenden Fall um die Psycho-Logik von Methodenentwicklung/-anwendung geht.

Antje Lettau und Franz Breuer heben in ihrem Beitrag zunächst ebenfalls auf die Nachrangigkeit von qualitativer Methodik in der Psychologie aufgrund deren Favorisierung eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals und Vertrauens in mathematisch-statistische Modellierungen ab, um dann die besondere Subjektivitäts- und Interaktionscharakteristik qualitativer Forschung für die Erkenntnissituation in den Humanwissenschaften herauszustellen. Aufgezeigt wird methodologisch (insbesondere mit Rekurs auf den Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux) und konkret an einem Forschungsbeispiel, dass personale und interpersonale Effekte im epistemologischen System aus Subjekt, Objekt und Forschungsthema nicht als »Fehler« misszuverstehen sind, sondern überhaupt erst wichtige »Erkenntnisfenster« öffnen, die für die Theoriebildung nutzbar gemacht werden müssen und damit zu den Stärken eines qualitativen Forschungsstils gehören.

Auch Philipp Mayring beklagt die vorherrschende einseitige Orientierung der Psychologie auf ein naturwissenschaftlich-experimentelles Verständnis und plädiert für mehr Methodenkombination sowie für die Integration qualitativer und quantitativer Ansätze. Ihm geht es dabei darum aufzuzeigen, dass die verfügbaren Grunddesigns (Explorative Studie, Deskriptive Studie, Zusammenhangsanalyse und Kausalanalyse) jeweils qualitative und quantitative Ausarbeitungen aufweisen und die Grundlage für ein integratives Verständnis von Forschungsmethoden in der Psychologie bilden (können). Für die qualitative Forschung unterstreicht Mayring, dass auch ihr ein Design, ein am allgemeinen wissenschaftlichen Standard orientierter Projektplan zugrunde liegen muss.

Mark Freeman – dankenswerterweise wurde dessen Beitrag »Wissenschaft und Narration« von Martin und Carmen Dege übersetzt – will mit Bezug auf Heideggers Aufsatz »Wissenschaft und Besinnung« und in Auseinandersetzung mit Freuds Arbeit aufzeigen, dass die narrative Forschung – und, etwas weiter gefasst, die qualitative Forschung im Allgemeinen – den Weg bereiten kann für ein erweitertes und adäquateres Wissenschaftsverständnis, das über das in der Regel in den Sozialwissenschaften vorfindbare hinausweist. In seine Analyse eingebunden ist auch eine Auseinandersetzung mit den Ritualen von Wissenschaftsproduktion (und den dahinterstehenden »mächtigen« Produzenten). Freemans Ausführungen lassen sich lesen als ein Plädoyer dafür, Wissenschaft mit Hingabe für die untersuchten Phänomene zu betreiben, und als Warnung, dass ein Großteil von Forschung Gefahr läuft, eben keinen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der je interessierenden Phänomene zu leisten, wenn »harte Standards« und ein enger Wissenschaftsbegriff dominieren.

Unter der Rubrik »Wiedergelesen« nehmen Siegfried Hoppe-Graff und Hye-On Kim den 125. Jahrestag des Erscheinens von William Preyers »Die Seele des Kindes« zum Anlass, sich der Frühgeschichte der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie anzunehmen. Sie leisten dies insbesondere aus methodologischer Perspektive, da Preyer als einer der ersten (fast zeitgleich mit Charles Darwin und viel früher als das Ehepaar Stern) systematische Aufzeichnungen in (Forschungs-) Tagebüchern begründet hat. Hoppe-Graff und Kim verstehen ihren Beitrag (bei dem sie Preyers Vorgehen mit dem des Forscherpaars Stern vergleichen und deren explizite Kritik an Preyer berücksichtigen) als eine späte Würdigung der erstaunlichen methodischen und entwicklungspsychologischen Einsichten Preyers, aber auch als Beitrag zur Erhellung einer bedeutsamen Etappe in der Geschichte der deutschen Entwicklungspsychologie – einem Zeitabschnitt, der erst langsam wieder bei der Ausarbeitung einer qualitativen Orientierung in dieser Teildisziplin entdeckt wird und an Bedeutung gewinnt.

Bereits diese Beiträge lassen kenntlich werden, dass es auch in der psychologischen Forschung nicht die eine qualitative Forschung gibt, sondern dass qualitative Forschung immer nur im Plural zu haben ist. – Mit den vorliegenden Beiträgen im Themenschwerpunkt und den unterschiedlichen, in ihnen wirksamen Blickrichtungen auf die Frage von qualitativer Forschung in der Psychologie hoffen wir, dass die Bedeutsamkeit qualitativ-psychologischer Forschung erkennbar und breiter rezipiert/rezipierbar wird – sowohl innerhalb der Psychologie als auch in den Nachbardisziplinen.

Die breite Rezipierbarkeit ist vor allem möglich, weil das JfP als elektronische Zeitschrift aus der zunehmenden »Unsichtbarkeit« eines kleinen Printmediums in den hinteren Regalen von Fachbibliotheken in die weite Welt – das World Wide Web – getreten und zudem als Open-Access-Journal für alle Interessierten kostenlos verfügbar ist. Dass sich das JfP zu diesem Weg entschlossen hat, nehmen Günter Mey und Katja Mruck zum Anlass, um den Verbreitungsstand und die Perspektiven von Open Access (innerhalb der Psychologie) zu diskutieren.

Und: Als Online-Journal verändern sich die Publikations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Mittels des im JfP integrierten »Diskussionsforums« können Debatten eröffnet, Fragen gestellt und Anmerkungen eingegeben werden u.v.m. Das Forum ist aber auch Ort für »Kommentare« in Textform. Diesmal findet sich ein solcher Kommentar von Werner Deutsch – passend zum Themenschwerpunkt – ausgehend von seiner Lektüre des »Handbuchs Qualitative Entwicklungspsychologie«. Wir hoffen, dass diesem viele Kommentare folgen und dass Themen der aktuellen Ausgabe im Forum aufgegriffen und diskutiert werden.

Berlin im Oktober 2007, Günter Mey

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