Wissenschaft und Narration

Mark Freeman

Zusammenfassung

Im Folgenden möchte ich mich unter anderem auf einen Aufsatz von Martin Heidegger mit dem Titel »Wissenschaft und Besinnung« (1953) beziehen und dabei argumentieren, dass die narrative Forschung den Weg ebnen kann für ein erweitertes und adäquateres Wissenschaftsverständnis, als man es in der Regel in den Sozialwissenschaften vorfindet. Auch Sigmund Freud sah sich schon früh in seiner Karriere mit der Notwendigkeit der Reformulierung des Wissenschaftsbegriffs konfrontiert. Früh erkannte er, dass seine Fallstudien vielmehr den Charakter von Kurzgeschichten annahmen und sie »des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehr[t]en«. Beeindruckt davon, dass »die Natur des Gegenstandes« dafür verantwortlich zu sein schien und dass die Mittel der traditionelleren Wissenschaft »nicht zur Geltung« kamen, konzentrierte er seine Arbeit auf die Narration und erschuf und reformulierte die psychoanalytische Theorie. Freud stand vor einem Paradox: Obwohl seine Fallstudien aus der Sicht der damaligen wissenschaftlichen Methodik und Methodologie äußerst fragwürdig waren, brachten sie doch genau das angestrebte Verständnis hervor. Das herkömmliche Verständnis von Wissenschaft stellt sich aus dieser Perspektive auch heute noch als restriktiv und problematisch dar. Eine Umdeutung des Wissenschaftsbegriffs ist angezeigt, weg vom Ausschluss, hin zur Einbeziehung von Geschichten, die, wie uns die narrative Psychologie zeigt, so zentral sind in unseren Versuchen, menschliches Handeln und menschliches Leben im Allgemeinen zu verstehen und zu erklären.

Schüsselwörter: Wissenschaft, Narration, Psychoanalyse, poetische Wissenschaft, Heidegger, Freud

Summary

Drawing especially on an important essay by Martin Heidegger entitled »Science and Reflection« (1977), it is argued in the present essay that that narrative inquiry can pave the way toward a more expansive and indeed adequate understanding of science than is generally found in the social sciences. This issue was brought to the fore early on in Freud’s career upon his realization that his case studies read like short stories and that they lacked »the serious stamp of science.« Consoled by the fact that »the nature of the subject« was responsible for this and that more traditional scientific procedures «[led] nowhere,« he would continue with such narrative work and, through it, continue to fashion and re-fashion psychoanalytic theory. Freud therefore arrived at something of a paradox: even while by traditional standards his case studies seemed questionable in regard to their scientific utility, it was precisely these studies that yielded the desired understanding. This suggests that the meaning of »science,« as customarily conceived, is problematically restrictive and that it ought to be reconceived in such a way as to include, rather than exclude, the kinds of literary pursuits that narrative psychologists have found to be so central to their efforts to understand and explain the movement of human lives.

Keywords: Science, story, narrative research, psychoanalysis, Heidegger, Freud

1. Die Neuschreibung der Geschichte der Wissenschaft

Das Hauptargument, das ich in diesem Artikel verfolge, ist, dass die narrative Forschung – und etwas weiter gefasst, die qualitative Forschung im Allgemeinen – den Weg bereiten können für ein breiteres und adäquateres Wissenschaftsverständnis, als wir es heute in den Sozialwissenschaften in der Regel antreffen. Die Transformation des Wissenschaftsbegriffs ist nicht nur eine philosophische, sondern vielmehr eine politische Frage: Wie viele Narrationsforscher nur zu gut wissen, halten die Gatekeeper eines einseitigen und extrem engstirnigen Wissenschaftsverständnisses Ansätze aus anderen Bereichen allzu oft zurück, aus Angst sie könnten den Glanz des mühsam errichteten Gebäudes trüben. Das wiederum führt nicht selten zu Rückzugsbewegungen nicht unähnlich denen, die Freud nach der Veröffentlichung der Traumdeutung machen musste. Viele Narrationsforscher, die um die Aufnahme in den Kreis der Wissenschaftler kämpften, mussten sich dafür in ein weniger aufdringliches und konventionelleres, wissenschaftliches Gewand hüllen. Man kann sie dafür nicht verurteilen; die momentane politische Situation, besonders im Feld der Psychologie, lässt eine wissenschaftliche Karriere ohne eine zumindest teilweise Kapitulation vor dem Status quo beinahe nicht zu.

Diese Situation ist tragisch und ironisch. Tragisch, weil die Karrieren von Wissenschaftlern von oben beschriebenen Mechanismen negativ beeinflusst werden und ironisch, da diese Wissenschaftler doch – zumindest in den allermeisten Fällen – nichts anderes wollen, als das Leben der Menschen zu untersuchen. Das bringt mich zu der meiner Meinung nach allerersten und wichtigsten Anforderung an Wissenschaft: Gewissenhaftigkeit gegenüber dem Phänomen, das im Bereich der narrativen Forschung in den allermeisten Fällen aus dem besteht, was ich einmal »das lebende, liebende, leidende und sterbende menschliche Wesen« (Freeman 1997, 171) genannt habe. Aus diesen Überlegungen folgert meine Kernaussage, nämlich dass insofern dieses lebende, liebende, leidende und sterbende menschliche Wesen das Phänomen ist, der Großteil der Sozialwissenschaften nicht einmal annähernd wissenschaftlich genug mit ihrem Gegenstand umgeht. Ist es doch genau dieser Gegenstand in seiner Ambiguität und Verworrenheit, der allzu oft aus oben genanntem Gebäude ausgeschlossen wird; verbannt in die Welt der Philosophen und Dichter, die scheinbar eine größere Bereitschaft zeigen, sich in das Dickicht menschlicher Erfahrung zu begeben. Die narrative Forschung mit ihrem Anspruch der Gewissenhaftigkeit gegenüber dem Phänomen, versucht nun, auf einem ihr eigenen Weg, wissenschaftlicher zu sein – eine authentischere Wissenschaft zu repräsentieren – als die stärker auf Systematik und Präzision ausgerichteten quantitativ-empirischen Verfahren, die durch die wissenschaftliche Tradition als Standard festgeschrieben wurden.

Freud hat diesen paradoxen Zustand früh in seiner Karriere erkannt, war sich jedoch unsicher, was er damit anfangen sollte. Zu Beginn der Epikrise zur Krankengeschichte von Fräulein Elisabeth v. R. in den Studien über Hysterie (1893-1895) schreibt Freud:

Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vorletzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen. (Freud 1952a, 227)

Es ist nicht klar, ob Freud sich jemals vollständig mit diesem Widerspruch ausgesöhnt hat. Klar ist jedoch, dass Freud als Wissenschaftler, als tatsächlicher Wissenschaftler, der sich auf die traditionellen Methoden innerhalb seines Feldes verließ, ausgebildet wurde. Das Problem war für ihn jedoch, dass diese klassischen Methoden und Prozeduren bei seinen Untersuchungen »nicht zur Geltung« kommen konnten. Was funktionierte, war Poesie, Erzählung; Narrationen einer bestimmten Art, nicht unähnlich dem, was wir in Kurzgeschichten finden können. Es lässt sich eine Spur von Verlegenheit in seinen Worten finden; Freud weiß sehr wohl, dass seine Arbeiten »des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren«. Zweifellos weiß er auch, dass er dazu verurteilt ist, harsche Kritik von seinen an traditionellen wissenschaftlichen Standards orientierten Kollegen einstecken zu müssen. Wo sind die Daten? Sein einziger, wenn auch bedeutender, Trost bleibt, dass das Fehlen einer als wissenschaftlich angesehenen Methode, nicht seiner »Vorliebe« geschuldet ist, sondern eine Funktion »der Natur des Gegenstandes« darstellt. Seine Gewissenhaftigkeit hat ihm so doch gestattet »eine Art von Einsicht« zu gewinnen. Am Grunde seiner Überlegungen war Freud also doch dem wissenschaftlichen Unterfangen verschrieben: Er hat einen methodologischen Ansatz gewählt, der dem Phänomen adäquat erschien und der zur Erklärung des Phänomens beigetragen hat und so sein Verständnis des Untersuchungsgegenstandes voranbringen konnte. Das Problem scheint also nicht mit der Wissenschaft als solcher verbunden zu sein, sondern eher mit dem »ernsten Gepräge«, das ihr zugeschrieben wird. Was ist nun das Wesen dieses ernsten Gepräges? Wie ist es entstanden? Und: Ist es berechtigt?

2. »Realität«

Um mich mit diesen Fragen auseinandersetzen zu können, wende ich mich einem bedeutenden Essay von Martin Heidegger mit dem Titel »Wissenschaft und Besinnung« (1953) zu. Unter anderem versucht Heidegger in diesem Aufsatz aufzuzeigen, wie das moderne Verständnis von Wissenschaft entstehen konnte. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es sich hier um einen Ansatz unter vielen handelt, ja sogar um einen sehr spezifischen. Ich glaube jedoch, dass Heideggers Narration an dieser Stelle sehr hilfreich sein kann, um unseren Blick auf den Ursprung und die fundamentalen Charakteristiken dieses Wissenschaftsverständnisses zu schärfen. Während Heideggers Aufsatz in keinster Weise anti-wissenschaftlich gehalten ist, so liegt seinen Aussagen doch eine kritische Haltung zugrunde.

»Die Wirklichkeit,« so schreibt Heidegger »innerhalb der sich der heutige Mensch bewegt und zu halten versucht, wird nach ihren Grundzügen in zunehmendem Maße durch das mitbestimmt, was man die abendländisch-europäische Wissenschaft nennt. Wenn wir diesem Vorgang nachsinnen, dann zeigt sich, daß die Wissenschaft im Weltkreis des Abendlandes und in den Zeitaltern seiner Geschichte eine sonst nirgends auf der Erde antreffbare Macht entfaltet hat und dabei ist, diese Macht schließlich über den ganzen Erdball zu legen.« (Heidegger 1953, 39)

Starke und klare Worte: Wissenschaft – moderne Wissenschaft als Monolith mit mächtigem Einflussbereich. Wie soll dieser Monolith nun charakterisiert werden? »Die Wissenschaft«, so antwortet Heidegger, »ist die Theorie des Wirklichen« (ebd., 40).

Um dieser Behauptung Bedeutung abringen zu können, ist es wichtig, ihre Schlüsselbegriffe »Theorie« und »Wirkliches« zu verstehen. Weiterhin wird es notwendig sein, aufzuzeigen, wie diese beiden Konstruktionen miteinander verbunden sind. Nur dann, so meint Heidegger, werden wir in der Lage sein, die Essentialien der modernen Wissenschaft klarer erkennen zu können. Beginnen wir mit dem Begriff des »Wirklichen«. Ohne die Tiefe des Artikels völlig auszuschöpfen (Heidegger erarbeitet etymologische Herleitungen, die uns von unserem Fokus weit abbringen würden), lässt sich sagen, dass der Begriff im alten Griechenland eine wesentlich weiter gefasste Bedeutung hatte, als heute. »Das Wirkliche«, so erklärt Heidegger, »ist das Wirkende, Gewirkte: das ins Anwesen Her-vor-bringende und Her-vor-gebrachte«. Es bezieht sich also sowohl auf den Prozess als auch auf das Produkt, es ist das »ins Anwesen hervor-gebrachte Vorliegen, das in sich vollendete Anwesen von Sichhervorbringendem« (ebd., 43). Das Wirkliche, wie es verstanden wurde, ist das, was emergiert, enthüllt ist, aus dem Versteckten hervorgeholt wurde. Es ist also nicht unverwandt mit den Prozessen und Dynamiken, die in der Therapie oder im Interview stattfinden: Wörter werden gesprochen, ausgetauscht; und gelegentlich sticht etwas aus dem Fluss des Gespräches heraus, das bedeutungsvoll erscheint und weiterer Aufmerksamkeit wert ist.

Schließlich verändert sich die Bedeutung des Wirklichen wie folgt:

»Das Her- und Vor-gebrachte erscheint jetzt als das, was sich aus einer operatio er-gibt. Das Ergebnis ist das, was aus einer und auf eine actio folgt: Er-folg. Das Wirkliche ist jetzt das Erfolgte. Der Erfolg wird durch eine Sache erbracht, die ihm voraufgeht, durch die Ursache (causa).«

Das, was Heidegger das Her- und Vor-gebrachte nennt, wird also verdrängt vom Vokabular des Kausalen:

»Das Erwirkte im Sinne des Erfolgten zeigt sich als Sache, die sich in einem Tun, d.h. jetzt Leisten und Arbeiten herausgestellt hat. Das in der Tat solchen Tuns Erfolgte ist das Tatsächliche. Das Wort 'tatsächlich' spricht heute im Sinne des Versicherns und besagt so viel wie 'gewiß' und 'sicher'. Statt 'es ist gewiß so' sagen wir 'es ist tatsächlich so', 'es ist wirklich so'. Daß nun aber das Wort 'wirklich' mit dem Beginn der Neuzeit, seit dem 17. Jahrhundert, so viel bedeutet wie 'gewiß', ist weder ein Zufall, noch eine harmlose Laune des Bedeutungswandels bloßer Wörter.« (ebd., 44f.)

Es kann sein, dass Heidegger seine etymologische Herleitung überbewertet. »Das Wirkliche«, so könnte man argumentieren, referiert nicht nur auf das »Tatsächliche« per se, sondern auf das, was immer »ist«, als positive, wenn nicht sogar notwendiger Weise fühlbare Anwesenheit. Gleichzeit hat Heidegger sicher Recht, wenn er von einer starken Korrelation von »Wirklichem« und »Tatsächlichem« redet. Weiterhin erscheint sein Verweis auf den Einfluss und schließlich wohl auch auf die Vorherrschaft des Diskurses der Kausalität in der Konstituierung des Wirklichen als äußerst bedeutend. Genau hier beginnen die Probleme: Im Allgemeinen können die Daten, die in der narrativen Forschung gewonnen werden, nicht als »Tatsächliches« angenommen werden, wenn wir mit dem »Tatsächlichen« so etwas wie »Gewissheit« in Verbindung bringen. An dieser Stelle könnte man behaupten, dass Teile der Probleme, die Freud in der Formulierung seiner (un-) populären Verführungstheorie hatte, nicht nur aus seiner Verwechslung des Psychischen mit dem Materiellen resultierten, sondern in viel stärkerem Maße aus der Konfusion von Tatsächlichem und Wirklichem. Gleichzeitig sollte auch dieser Punkt nicht überbewertet werden. Freud hat sich niemals gegen die Idee der Existenz von Verführungen gerichtet; war und ist es doch schmerzlich offensichtlich, dass diese geschehen. Jedenfalls erkannte Freud schon sehr früh, dass der psychoanalytische Diskurs eben nicht nur ein Diskurs des Tatsächlichen sein konnte: Zum einen hatten manche Ereignisse, die er zunächst für Tatsächliches gehalten hatte, niemals stattgefunden, zum anderen konnte es innerhalb der Psychoanalyse keinen Diskurs der Gewissheit geben, da schon allein das angewendete Verfahren der Deutung dagegen sprach.

Bedenken wir an dieser Stelle für einen Moment, was Freud in der Traumdeutung (1900) mit Verweis auf den Realitätsaspekt von Träumen und die deutenden Verfahren, die notwendig sind, um die verschiedenen Bedeutungen freizulegen, zu sagen hat: Zum einen vergleicht Freud Träume mit einem Rebus, einem Bilderrätsel.[1] Mit diesem Vergleich scheint er anzudeuten, dass die Bedeutung eines Traumes gefunden, seine Verirrungen aufgelöst werden können, bis das Gesamtbild deutlich wird. Jedoch stellt er später im Text fest, dass Träume immer zu einem gewissen Grad unbestimmt bleiben, und eine gewisse Unbegrenztheit besitzen, die es in Puzzeln nicht gibt.

»In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen.«[2] (ebd., 530)

Es ist möglich, dass Freud auch an dieser Stelle eine gewisse Verlegenheit in Bezug auf die Unvollkommenheit seiner Theorie verspürte: So sehr er seine Wirklichkeit auch vollständig erkennen wollte, so war das doch nicht möglich; in jedem Falle nicht in Bezug auf Träume, es war eben die Natur des Gegenstandes [im Original: the very nature of things], die das verhinderte. Doch war es nicht nur im Fall der Träume, dass Freud auf diese Problematik stieß. Biographien waren ebenso keine Bilderrätsel, sie konnten nicht einfach gelöst werden, lediglich das Deuten erschien möglich und dieser Prozess setzte sich fort ohne definitives Ende. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Narrationen kann so nicht losgelöst von fundamentaleren Fragen, die sich mit der Natur der Dinge und dem Prozess des Deutens auseinandersetzen, betrachtet werden. Was Freud uns gezeigt hat, ist, dass das vorliegende Phänomen nicht vollständig umfasst und beschrieben werden kann; es ist ungewiss. Dementsprechend konnte er dann auch nicht die Art von erklärender Gewissheit liefern, die er sich, als ein »tatsächlicher« Wissenschaftler gewünscht hätte.

Und natürlich stellte sich dann die Frage, was mit diesen ungewissen Daten, deren Deutung für immer unabschließbar war, geschehen sollte. Sie mussten irgendwie in seinem Schreiben berücksichtigt werden, in Fallstudien, die sich wiederum wie Kurzgeschichten einer merkwürdigen Art lesen würden. Wie könnte auch nur ein kleiner Teil von diesem Vorgehen stattfinden im Namen der Wissenschaft? Und dennoch, es gibt einen wichtigen Punkt der in Verbindung mit dieser Frage in die Betrachtung mit einbezogen werden muss: Es war auch in diesem Falle das Wesen des Phänomens, das verantwortlich war für die Ungewissheit und Unbestimmtheit. Freud würde versuchen, sich mit Gewissenhaftigkeit dem Gegenstand zu nähern – selbst wenn das bedeuten würde, sich von denjenigen zu entfremden, die seine Perspektive nicht teilen können. Der entscheidende Punkt war jedoch, dass die althergebrachte Wissenschaft nicht funktionierte, Freuds dagegen sehr wohl – oder so schien es zumindest. Die Aufgabe war es also, eine neue Vorstellung von Wissenschaft zu formulieren, die diese merkwürdigen neuen und zugleich aufschlussreichen Phänomene einschließt. Freud selbst schaffte es nie, dies zu tun; im Gegenteil, versuchte er doch diese Phänomene immer wieder an die althergebrachte Vorstellung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit anzupassen. Eine der zentralsten Aufgaben von narrativer Forschung im Speziellen und qualitativer Methodik im Allgemeinen ist es daher, diesen Pfad bis zum Ende zu beschreiten und das Projekt der Neuentwicklung von Wissenschaft mit der Möglichkeit des Einschließens dieser spezifisch menschlichen Phänomene voranzutreiben. 3. »Theorie«

Kehren wir zu Heidegger zurück. »Das »Wirkliche« im Sinne des »Tatsächlichen«, so fährt er fort, »bildet jetzt den Gegensatz zu dem, was einer Sicherstellung nicht standhält und sich als bloßer Schein oder als nur Gemeintes vorstellt.« Das Wirkliche wird niemals nur das, so präzisiert Heidegger: »Allein auch in dieser mannigfach gewandelten Bedeutung behält das Wirkliche immer noch den früheren, aber jetzt weniger oder anders hervorkommenden Grundzug des Anwesenden, das sich von sich her herausstellt.« (Heidegger 1953, 45). Doch hat ein Prozess der Abgrenzung und Umgrenzung stattgefunden, der dazu führte, dass der »frühere Grundzug«[3] – aus dem das tatsächlich Wirkliche hervortritt – stufenweise in den Hintergrund gedrängt wird. Wie wird nun diese neue Anwesenheit, die sich zu Beginn der Neuzeit herausbildet, genannt? »Wir nennen jetzt die Art der Anwesenheit des Anwesenden, das in der Neuzeit als Gegenstand erscheint, die Gegenständigkeit.« (ebd., 45)

Das Wirkliche gerät so in Verbindung mit dem »Gegenständigen« und wird gleichgesetzt mit dem Rohen und Animalischen der Welt, dem Ungedeuteten und Unkonstruierten. Aber das ist noch nicht alles: Das Wirkliche wird auch verbunden mit dem Hier, ja als koexistent mit dem Jetzt, d.h. mit dem wahrnehmbar Anwesenden, verstanden. Mit anderen Worten: Das Wirkliche wird essentiell verbunden mit der Uhrzeit[4], der Zeitlinie, mit Zeitsequenzen, einzelnen Momenten, aufgereiht wie Perlen an einer Kette. Daraus ergibt sich ein zweifaches Problem. Zum einen werden durch die Reduzierung des Wirklichen auf das nur mehr Gegenständige Phänomene, wie etwa Erzählungen, die nicht als tatsächlicher Gegenstand habbar sind, in den Bereich des Unwirklichen, ja der Fiktion abgeschoben, lediglich tauglich, um der rohen und animalischen Welt eine Art von Ordnung zu geben. Zum anderen werden durch die Assoziation von Wirklichem mit der Zeit der Uhr andere Modi der Zeit – wie etwa die gelebte Zeit – Schritt für Schritt als zu flüchtig und zu subjektiv abgetan und damit von der Wirklichkeit losgelöst. Das Resultat ist ein Verständnis von Wirklichkeit und Zeit, das vielmehr auf die Welt der Gegenstände abzielt, als auf die Welt der Menschen (Freeman 2003a).

Genau an diesem kritischen Punkt wird es Heidegger möglich zu fragen: »Was ist das Wirkliche in Bezug auf die Theorie und somit in gewisser Weise mit durch diese?« (Heidegger 1953, 45). In Übereinstimmung mit der altgriechischen Bedeutung von »Wirklichkeit«, wurde Theorie verstanden als ein Prozess, indem »sich etwas zeigt, [als] die Ansicht, in der es sich darbietet.« Theorie als Prozess meint somit »den Anblick, worin das Anwesende erscheint, ansehen, und durch solche Sicht bei ihm sehend verweilen«. Oder, wie Heidegger wenig später schreibt, ist Theorie – θεωρία – »die Lebensart des Schauenden, der in das reine Scheinen des Anwesenden schaut« (ebd., 46). Eben Einsicht und Erleuchtung, also jener Prozess des genauen Zuhörens und Hinschauen, der einen Großteil der narrativen Forschung kennzeichnet. Doch auch dieses Verständnis von Theorie wandelte sich schnell:

»Die Römer übersetzen θεωρείν durch contemplari, θεωρία durch contemplatio. Diese Übersetzung, die aus dem Geist der römischen Sprache und d.h. des römischen Daseins kommt, bringt das Wesenhafte dessen, was die griechischen Worte sagen, mit einem Schlag zum Verschwinden. Denn contemplari heißt: etwas in einen Abschnitt einteilen und darin umzäumen.«

In dieser Übersetzung und damit Transformation, so erklärt uns Heidegger,

»meldet sich das bereits im griechischen Denken mitvorbereitete Moment des einschneidenden, aufteilenden Zusehens. Der Charakter des eingeteilten, eingreifenden Vorgehens gegen das, was ins Auge gefaßt werden soll, macht sich im Erkennen geltend.« (ebd., 48)

Diese Transformation verheißt nichts Gutes für die Psychoanalyse bzw. die narrative Forschung im Allgemeinen: Theorie wird durch diese Umdeutung orientiert in Richtung auf das, »was ins Auge gefaßt werden soll«. Das, was so nicht erfasst werden kann, vor allem das, was statt vom Auge vom Ohr aufgenommen wird, erscheint zunehmend verdächtig. Statt mit Einsicht oder Erleuchtung befassen wir uns mit Beobachtung. »Theorie« wird so »die Betrachtung des Wirklichen« (ebd., 49).

Genau aus diesem Grund behaupten viele Wissenschaftler – unter ihnen sogar einige Narrationsforscher – dass Narration nur sehr wenig mit dem Wirklichen zu tun hat: sie ist eben weit entfernt von der Art von Sichtbarkeit und Beobachtbarkeit die normaler Weise mit Empirie in Verbindung gebracht wird – eben jene Art von Empirie, die zu sehen ist, sich genau vor uns abspielt und nicht etwa in den diesigen Lücken der Erinnerung zu finden ist – eine Erinnerung, die allzu oft verstanden wird als weit entfernt vom Wirklichen. In der Psychoanalyse stellen die oben genannten Probleme des Wesens des Phänomens und die Probleme im Prozess des Deutens schon an sich große Herausforderungen dar. Hinzu kommt nun noch, dass diese »Wissenschaft« sich eben nicht mit konkreten, vorfindbaren und beobachtbaren Daten aktueller Empirie befasst, sondern mit Erinnerung und Rekonstruktion. Und natürlich kommt hier noch das weitere, noch viel stärker irritierende Problem des Unbewussten hinzu – was, einfach auf Grund seines Wesens, nicht in den Prozess der »Beobachtung« eingegliedert werden kann, sondern nur durch Ableitungen zu erschließen ist und dies wiederum auch nur für die, die stark genug an seine Existenz glauben. An dieser Stelle wird die Problematik psychoanalytischer Narrative noch komplexer: Im Herzen der Theorie steht ein (vermeintliches) Phänomen, das sich, zumindest in den Augen einiger, wahrscheinlich sogar vieler, einer klaren theoretischen Beschreibung entzieht. Die Fallstudie wird so verstanden als Fiktion (weil Erzählung) einer Fiktion (weil zusammengesetzt aus Gesprochenem, das aus der Erinnerung verbalisiert wird), die wiederum auf einer Fiktion (dem Unbewussten) fußt. Damit scheint Psychoanalyse dann wohl endgültig so weit entfernt vom Wirklichen, dass man sie völlig aus dem Bereich des Wissenschaftlichen verbannen kann. Und dennoch: Solche (Lebens-) Geschichten, ungeachtet ihres wissenschaftlichen oder unwissenschaftlichen Charakters, scheinen sehr häufig in der Lage zu sein, dem Phänomen in all seinen Tiefen, Ambiguitäten und seinem Facettenreichtum auf eine Art und Weise gerecht zu werden, mit der »wissenschaftlichere« Vorgehensweisen nicht aufwarten können. Wie ist das möglich?

Kehren wir zurück zu Heideggers Betrachtung des Begriffs »Theorie«, den er verbunden hatte mit der »Betrachtung des Wirklichen«. Und genauer: »die moderne Wissenschaft ist als Theorie im Sinne des Be-trachtens eine unheimliche eingreifende Bearbeitung des Wirklichen« (Heidegger 1953, 49), so dass sie aufgeht in dem was weiter oben Gegenständigkeit genannt wurde. Heidegger beschreibt das Problem wie folgt:

»Die Wissenschaft stellt das Wirkliche. Sie stellt es darauf hin, daß sich das Wirkliche jeweils als Gewirk, d.h. in den übersehbaren Folgen von angesetzten Ursachen darstellt. So wird das Wirkliche in seinen Folgen verfolgbar und übersehbar. Das Wirkliche wird in seiner Gegenständigkeit sichergestellt. Hieraus ergeben sich Gebiete von Gegenständen, denen das wissenschaftliche Betrachten auf seine Weise nachstellen[5] kann. Das nachstellende Vorstellen, das alles Wirkliche in seiner verfolgbaren Gegenständigkeit sicherstellt, ist der Grundzug des Vorstellens, wodurch die neuzeitliche Wissenschaft dem Wirklichen entspricht.« (Heidegger 1953, 50)

Diese Perspektive auf Theorie, so fährt Heidegger fort, »wäre für den mittelalterlichen Menschen ebenso befremdlich, wie es für das griechische Denken bestürzend sein müßte« (ebd., 50). Wissenschaftliche Theorie heißt dem Wirklichen »nachzustellen« in seinen »übersehbaren Folgen von angesetzten Ursachen« und muss so Modi von Repräsentation enthalten, die diese theoretische Entscheidung adäquat verkörpern. Aber auch das ist noch nicht alles. Wie Max Planck einmal sagte und wie wohl auch ein Großteil heutiger Sozialwissenschaftler aufrechterhalten würde, »ist das wahr, was gemessen werden kann«. Dieses Kriterium ist vielleicht ein wenig weicher, als die anderen, die wir bis jetzt identifiziert haben. Manche Wissenschaftler würden wohl so argumentieren, andere nicht. In jedem Falle können wir sagen, dass die »Erfassungsfähigkeit«[6], die Wissenschaft ständig sucht, manifestiert wird, in der Forderung nach Quantifizierung und in dem, was man »gegenständliche Exaktheit« nennen könnte. Mit dieser Feststellung im Hinterkopf lässt sich einfach sehen, dass die meisten wissenschaftlichen Theorien versuchen, Modi der Repräsentation zu adaptieren, die den Diskurs der Kausalität einschließen um, wann immer möglich, in Richtung Quantifizierung zu tendieren.

Das bringt uns direkt zu einem weiteren Problem, das den Diskurs der Kausalität selbst, den wir weiter oben schon in einem ähnlichen Zusammenhang diskutiert haben, und seine Verbindung zu der Aufgabe des »Vermessens« der Welt betrifft. Wie Heidegger schon angedeutet hat, wird das Verhältnis von Variablen in den meisten Wissenschaftszweigen als wenn-dann-Bedingung angegeben, also in Übereinstimmung mit der kosmologischen Zeit. In den Humanwissenschaften ist es natürlich relativ schwierig an solche exakten wenn-dann-Beziehungen zu kommen. Aus diesem Grund behilft man sich dann häufig mit wenn-wahrscheinlich-dann-Konstruktionen, also statistischen Zusammenhängen. In beiden Fällen verläuft die Zeit gleichmäßig vorwärts und die fundamentale Annahme ist, dass die Temporalität der Antezedenz-Konsequenz- Bedingung in das wissenschaftliche Unterfangen unabänderbar eingeschrieben ist. Doch auch hier wird eine größere Portion Sand ins Getriebe der sich so verstehenden Wissenschaft gestreut. Bedenken wir Freuds Diskussion der Nachträglichkeit. Schon im Jahre 1895 schrieb er: »Es liegt hier der Fall vor, daß eine Erinnerung einen Affekt erweckt, den sie als Erlebnis nicht erweckt hatte, weil unterdes die Veränderung der Pubertät ein anderes Verständnis des Erinnerten ermöglicht hat.« (Freud 1975, 356)

1896 schrieb Freud:

»Wenn aber das sexuelle Erlebnis in die Zeit sexueller Unreife fällt, die Erinnerung während oder nach der Reife erweckt wird, dann wirkt die Erinnerung ungleich stärker erregend als seinerzeit das Erlebnis« (Freud 1952b, 384).

Es ist unklar, ob Freud wusste, was er mit dieser Situation anfangen sollte. Auf der einen Seite wollte er diese Rekonstruktionen nicht als Entstellung oder gar Falsifikation der Vergangenheit akzeptieren. Sie waren das auch nicht, sie waren »Neubeschreibungen« (Hacking 1995), die frühere Erinnerungen in einen neuen interpretativen Kontext einfügten. Schon dieser Umstand stellte eine außergewöhnliche Entdeckung dar. Was weiterhin aufgezeigt wurde, war, dass es wohl ebenso wenig möglich sein konnte, menschliches Leben im Sinne der kosmologischen Zeit zu verstehen, als es mit Hilfe des Diskurses der Kausalität erklärt werden konnte. Der Versuch des Verstehens musste also in einer völlig anderen Art und Weise vorangetrieben werden; ein Vorgehen, das mit Hilfe der Erinnerung die Vergangenheit neu erschaffen kann – durch den nachträglichen Prozess der Transformation von Bedeutung, der ermöglicht wurde durch neue Erfahrungen und Prozesse der Reifung. Jonathan Lears (1998) Bemerkungen zur Freudschen Verführungstheorie könnten sich an dieser Stelle als hilfreich erweisen:

»The seduction theory, in its broad significance, is […] not about seduction per se: it is about the role 'reality' is to play in psychological explanation. To abandon the seduction theory, on this understanding, is not to say that actual seduction is not important or that there are no important differences between actual and phantasized seductions (of course there are). Abandoning the seduction theory is, fundamentally, abandoning the idea that citing any actual event could be the end of one’s psychological-explanatory activity. One needs to know how that event (or nonevent) is taken up into a person’s imaginative life; how it is metabolized in phantasy. Whether the seduction is actual or phantasized or both, the important point is that in each case one must go on to understand what psychological significance attaches to these events.« (Lears 1998, 127f.)

Freuds Aufgabe der Verführungstheorie war daher nicht nur Ausdruck seiner Anerkennung der Kraft der Fantasie sondern auch der Kraft der Narration: frühere Erfahrungen müssen als Episoden in einer sich entfaltenden Erzählung verstanden werden – einer Erzählung, so scheint es, die nicht vorherbestimmt werden konnte.

Diese Ideen schienen Freud Unbehagen zu bereiten. Daraus lässt sich begründen, dass er 1920 weiterhin darauf bestand, dass »die Kausalkette immer mit Sicherheit festgestellt werden kann, wenn wir dem Pfad der Analyse folgen« (Freud 1947 [Orig. 1920], 271). Für Freud schien also festzustehen, dass Geschichte in ihrer zurückschauenden Perspektive nach wie vor auf eine bestimmte Art und Weise in eine vorwärts gerichtete Antezendenz-Konsequenz-Bewegung übersetzt werden könnte: vielleicht ist es seinem Glauben an die Gesetzmäßigkeit des historischen Wandels geschuldet, die er im Individuum und darüber hinaus verankert, dass die Retrospektive zu der Prospektive führen kann, dass die Zeit weiterhin als essentiell gerichtet verstanden wird. Daher nahm ich an (1985), dass Freud sich wahrscheinlich Hempels deduktiv-nomologischem, geschichtsphilosophischem Ansatz (1942) zugewandt hätte, welcher davon ausgeht, dass Geschichte, unabhängig von der Problematik der Retrospektion, mithilfe von gesetzmäßigen Aussagen erklärt werden kann. Das bedeutet nicht, dass Geschichte vorhersagbar ist, jedenfalls nicht in der Praxis. Doch Wissenschaft muss nach Hempel der logischen Abfolge von Vorhersage und Erklärung folgen. Andernfalls könnten die Geschichten erzählt von Geschichtswissenschaftler nichts anderes als Fiktionen sein. Somit war für Freud wie für Hempel die Notwendigkeit der Retrospektion nichts anderes als das Produkt einer praktischen Beschränktheit: häufig konnte man einfach nicht frühzeitig genug wissen, was zu was führen würde; man musste den Verlauf der Zeit abwarten. Doch bedeutet dies nicht, dass das aus der Retrospektion gewonnene Verständnis von den Bindungen der wenn-dann-Kausalprozesse befreit ist oder, dass Geschichte (die individuelle oder die allgemeine), aus dem wissenschaftlichen Bereich, wie er traditionell verstanden wurde, ausgeschlossen werden muss.

Ich würde behaupten, dass es ausreichend Gründe dafür gibt, diese Art von Geschichtsphilosophie abzulehnen – Gründe, die Freud selbst geahnt aber nie wirklich akzeptiert hat. Obwohl es Situationen geben mag, in denen die Retrospektive in die Prospektive übersetzt werden kann, gibt es andere Situationen, in welchen dies nicht möglich ist. Absolut unvorhergesehene Dinge tragen sich zu, Unfälle passieren, und dies kann plötzlich die vorher bestehende Bedeutung transformieren. Allgemeiner kann mit Paul Ricoeur (z.B. 1981) und anderen (z.B. Carr 1986; Danto 1985; Freeman 1993; Kerby 1991; McIntyre 1981) gesagt werden, dass die »narrative Zeit« (die phänomenologische Zeit) einer anderen Ordnung entspricht als die kosmologische Zeit. Gemäß Ricoeur (1981) gibt es zwei unterschiedliche Dimensionen der Narration: das Episodische, was sich auf die Ereignisse bezieht, die eine Erzählung ausmachen, und das Konfigurative, was sich auf den Prozess bezieht, in dem sich ein Muster durch die Fortfolge von Ereignisse herausbildet. Er spricht daher von der »zeitlichen Dialektik«, die die Narration charakterisiert. Er geht davon aus, dass es in jeder Geschichte eine Tendenz zur linearen Repräsentation von Zeit gibt, d.h. zur kosmologischen Zeit. Darüber hinaus gibt es jedoch insgesamt eine andere zeitliche Bewegung, eine, die maßgeblich zurückblickt, die »the end in the beginning and the beginning in the end« (Ricoeur 1981, 176) sieht. Aus dieser Perspektive sind Narrationen nicht nur durch »wenn-dann«-Relationen charakterisiert, sondern, so möchte man gleichsam sagen, durch »dann-wenn«-Relationen, in welchen es eben gerade die Konsequenz ist, welche die Antizedenz determiniert.

Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass Freuds Fallgeschichten – sowie Fallberichte, Lebensgeschichten und andere biographische Formen – sich wie Kurzgeschichten lesen. Es sind Geschichten, und sie sind an eben jener gleichen zeitlichen Dialektik beteiligt, die man in fiktionaler Literatur am Werk findet. Insofern »Wissenschaft« darauf besteht, sich fest an den Diskurs der Kausalität zu binden, werden narrative Daten zwangsläufig verdächtig. Es gibt meiner Ansicht nach jedoch keinen zwingenden Grund, den Diskurs der Kausalität, wie er traditionell verstanden wird, als notwendige und unveränderliche Charakteristik der Wissenschaft zu betrachten. Ricoeur und anderen folgend, ist das Phänomen, das wir umgangssprachlich »Leben« nennen (sowie andere Phänomene), durch und durch ein historisches. Es ist daher ein unwiderruflich historischer Prozess, dieses Phänomen zu verstehen, ein Prozess der Betrachtung des »Dann« aus dem Blickwinkel des »Jetzt« und dies immer wieder und wieder, in Abstimmung mit den stets sich wandelnden Existenzbedingungen und den sich stets wandelnden Bedeutungen, die daraus erwachsen.

Aus einer bestimmten Perspektive kann die hier vorgestellte Betrachtung einfach methodologisch beschrieben werden: Narrationsforschung als eine Form geschichtlicher Forschung ist unvermeidbar retrospektiv; sie geht über die kosmologische Zeit und den Diskurs der Kausalität hinaus, und Narrationsforscher sollten sich dessen akut gewahr sein, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen. Indem ich hier Freuds Gedanken der Nachträglichkeit in groben Zügen folge, möchte ich diese Angelegenheit noch über die methodologische Ebene hinausheben. In einigen meiner vorherigen Arbeiten (z.B. Freeman 2003b), habe ich mich mit dem beschäftigt, was ich »human lateness« genannt habe. Hier beziehe ich mich auf den Gedanken, dass das Blickfeld der unmittelbaren Erfahrung, der Jetzt-Erfahrung, ganz gleich wie physisch und wirklich und unanfechtbar sie sein mag, begrenzt ist – vor allem, wenn man sie mit den poetischeren Formen der Erinnerung und der Erzählung vergleicht. Sie ist besonders aufgrund ihres »Eingesperrtseins« in den Grenzen des gegenwärtigen Bewusstseins begrenzt, mit seinen mannigfaltigen Voreingenommenheiten und blinden Flecken. Aus diesem Grund müssen wir oft das Verstehen abwarten – das bedeutet, warten, bis die Zeit vergangen ist, so dass wir einen umfassenderen und beizeiten wahrheitsgemäßeren Blick auf die Dinge gewinnen können.

Tragischerweise ist das besonders im moralischen Bereich der Fall, in dem eine Tendenz besteht, zuerst zu handeln und später zu denken. Realisierungen dessen, was sich herausgestellt hat, sind verspätet; sie tauchen spät am Ort des Geschehens auf. Die Wirkung ist daher verschoben, vertagt. Primo Levis Reflektionen über die Scham seines Buches Die Untergegangenen und die Geretteten (1989) befasst sich in schmerzhafter Klarheit mit diesem Problem: Nur in der Folge seiner eigenen »Befreiung« von Auschwitz konnte er seine eigene Strafbarkeit und Mitschuld an der Verdorbenheit und dem Horror begreifen. Wie so viele andere, war er von Zeit zu Zeit im Moment gefangen, manchmal auf Kosten anderer. Mit der Zeit und größerer Distanz empfand er, dass er jene Momente wahrnehmen konnte, wie sie sich wirklich zugetragen hatten. Daher seine Scham und sein Leid. Zum Guten und manchmal auch zum Schlechten, dient die Erzählung als Korrektiv für die Begrenztheit und sogar Blindheit, die häufig die gegenwärtige Erfahrung charakterisiert.

Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass gegenwärtige Erfahrungen ohne Narrationen sind. Als ich mich kürzlich eingängiger mit Virginia Woolfs Die Fahrt zum Leuchtturm befasst habe (1991), wurde mir um einiges klarer, dass der unmittelbare Moment, obwohl er häufig als physisch real angenommen wird, absolut untrennbar ist von der Ordnung der Erzählung: Er ist selbst überflutet mit Wellen der Erinnerung und der Voraussicht; mit Momenten der Rückschau und vorausblickenden Vorstellungen, die einhergehen mit Schüben und Rücknahmen und verblassenden Szenen und einer beliebigen Anzahl an anderen entschieden nicht-linearen, nicht-kosmologischen, zeitlichen Bewegungen. Die Fahrt zum Leuchtturm ist natürlich ein fiktionales Werk und man muss vorsichtig damit sein, Verbindungen zwischen fiktionalen Schriften und »wirklichem Leben« zu ziehen. Es ist jedoch schwierig, dieses Buch zu lesen ohne in Woolfs Schilderung des menschlichen Bewusstseins und des menschlichen Lebens einige hervorstechende Merkmale unserer eigenen inneren Welten wiederzuerkennen.

An dieser Stelle müssen wir schlicht fragen: Ist ein menschliches Leben »wirklich«? Sicherlich ist es das. Und wenn es dies ist, ist es zwingend, Formen des Verstehens, des Erklärens und des Repräsentierens dieser Wirklichkeit zu entwickeln, die ihr gerecht werden. Narrationsforschung (wenigstens gute Narrationsforschung) – darauf muss ich gleich noch zu sprechen kommen – leistet genau dies. Sie aus dem wissenschaftlichen Gebäude auszuschließen wäre daher ziemlich töricht. Tatsächlich beinhaltet die Narrationsforschung im Wesentlichen die Fähigkeit, dieses Gebäude zu verändern und es dadurch besser bewohnbar zu machen.

4. »Das Unumgängliche«

Wenn Heidegger recht hat, gibt es etwas »Verborgenes« in der wissenschaftlichen Perspektive, verstanden als die Theorie des Wirklichen. Was ist es? »Die Theorie stellt das Wirkliche […] in ein Gegenstandsgebiet fest.« Indessen »kommt die Theorie an der schon anwesenden Natur nie vorbei und sie kommt in solchem Sinne nie um die Natur herum« (Heidegger 1953, 55). Heidegger fährt wie folgt fort: »Das wissenschaftliche Vorstellen vermag das Wesen der Natur nie zu umstellen, weil die Gegenständlichkeit der Natur zum voraus nur eine Weise ist, in der sich die Natur herausstellt« (ebd., 56.). Heidegger behandelt an dieser Schnittstelle des Aufsatzes die Physik, um ein einfaches Argument zu präsentieren. Physik handelt nicht von der »Ganzheit« wesenhafter Beschaffenheit und kann dies auch nicht. Sie betrachtet daraus nur einen Ausschnitt. »Die Natur bleibt so für die Wissenschaft der Physik das Unumgängliche« (ebd., 56.). Wir können das Gleiche über dieses Phänomen sagen, was wir vorher ein »Leben« genannt haben: es bleibt ebenfalls das, was unumgänglich ist. Es ist der Hintergrund, gegen den sich vieles innerhalb der Sozialwissenschaften richtet; es ist das, was übrig bleibt, nachdem das, was objektiviert wurde, durch die Theorie gesichert wurde.

Auf eine bestimmte Weise, spricht sich Heidegger dafür aus, dass man erwarten müsse, dass »das gekennzeichnete Unumgängliche im Wesen jeder Wissenschaft [waltet]« (ebd., 59). Das bedeutet, es müsste ihr möglich sein, über ihre eigenen Grenzen hinauszublicken, über den Bereich der Gegenständigkeiten hinauszugehen, der durch die Theorie gesichert wurde.

»Allein, gerade dies trifft nicht zu und zwar deshalb, weil dergleichen wesensmäßig unmöglich ist. Woran läßt sich dies erkennen? Wenn die Wissenschaften jeweils selber in ihnen selbst das genannte Unumgängliche sollten vorfinden können, müßten sie vor allem anderen imstande sein, ihr eigenes Wesen vorzustellen. Doch hiezu bleiben sie jederzeit außerstande. […] [D]ie Wissenschaften sind außerstande, mit den Mitteln ihrer Theorie und durch die Verfahrensweisen der Theorie jemals sich selber als Wissenschaften vor-zustellen. […] [Daher] vermögen es die Wissenschaften vollends nicht, auf das in ihrem Wesen waltende Unumgängliche zuzugehen« (ebd., 59f).

Das bringt uns zu dem sonderbarsten, und, wieder einmal ironischen Ausgangspunkt: Auf eine gewisse Weise scheint Heidegger den bereits an früherer Stelle genannten Gatekeepern dabei zuzustimmen, dass Wissenschaft vielmehr dies ist als das – d.h., dass Wissenschaft definitionsgemäß der Wirklichkeit in seiner Gänze nicht gerecht werden kann, sondern nur dem gerecht wird, was in der Gegenständigkeit der Wirklichkeit gesichert wird. Dies erklärt ein weiteres Mal, warum die tieferen Regionen des Seins oft den Dichtern und Philosophen überlassen werden, denen, welche weniger verstrickt sind in ihren eigenen Verstrickungen – oder, positiver gesprochen, denen, welche bereit sind, neue Formen von Vorstellungen zu entwerfen, solche, die eine größere Gewissenhaftigkeit gegenüber der Fülle an Wirklichkeit entgegenbringen. Mit anderen Worten: Wissenschaft kann aus ihrer ihr eigenen Wesenhaftigkeit heraus dieser Fülle, diesem Überfluss, schlichtweg nicht gerecht werden. Das Unumgängliche bleibt daher hinter den Kulissen: »Jenes unzugängliche Unumgängliche [bleibt] im Unscheinbaren. […] Der Sachverhalt, der das Wesen der Wissenschaft, d.h. der Theorie des Wirklichen durchwaltet, ist das stets übergangene unzugängliche Unumgängliche.« Wenn Heidegger Recht hat, dass «[sich] der unscheinbare Sachverhalt in den Wissenschaft verbirgt. Aber«, und das ist zentral, »er liegt nicht in ihnen wie der Apfel im Korb. Wir müssen eher sagen: die Wissenschaften ruhen ihrerseits im unscheinbaren Sachverhalt wie der Fluß im Quell.« (62f.)

Anders gesagt: Die Wissenschaften emergieren aus etwas sehr viel Ursprünglicherem; aus etwas, das sie ausschließen und unzugänglich machen, etwas, was jedoch nichts gänzlich anderes ist, sondern vielmehr ihre eigentliche Quelle und ihr eigentliches Fundament darstellt.

Doch hier müssen wir fragen: Muss es so sein? Präziser: Ist es möglich, die Bedeutung der Wissenschaft selbst auf eine Weise neu zu denken, die zumindest ein wenig von dem einschließt, was vordem unzugänglich gemacht wurde. Hartgesottene mögen sagen: nein, es ist, was es ist. Aus anderen Gründen würde Heidegger vielleicht etwas Ähnliches sagen; nochmal, es obliegt nicht der Wissenschaft, über ihre eigenen Grenzen hinauszugehen. Aber natürlich gesteht Heidegger selbst zu, dass er die Wissenschaft in diesem Aufsatz als »Theorie des Wirklichen« fasst, was »stets und nur die neuzeitlich-moderne Wissenschaft meint« (Heidegger 1953, 40). Dies bezieht sich nicht darauf, was Wissenschaft sein kann oder sein soll, sondern darauf, was Wissenschaft im modernen Zeitalter ist. Daher können wir die vorliegende Frage reformulieren: Muss Wissenschaft das sein, was sie aktuell ist? Die Antwort auf diese Frage ist sicherlich nein; die Bedeutung von Wissenschaft hat sich verändert und wird sich zweifellos weiterhin über die Zeit verändern. Die Frage entwickelt sich also weiter: Gibt es irgendeinen zwingenden Grund dafür, das wissenschaftliche Unternehmen, gefasst als »die Theorie des Wirklichen«, zu überdenken? Und noch konkreter, gibt es irgendeinen zwingenden Grund, das Wesen der modernen Wissenschaft zu reflektieren? 5. »Reflektion«

Ich habe bereits einen wichtigen Grund für die Notwendigkeit zur Reflektion vorgestellt – den Anspruch der Gewissenhaftigkeit. Die erste Forderung der Wissenschaft ist, so glaube ich, den Phänomenen treu zu sein – selbst wenn sie komplex, ambigue und widerspenstig sind, wie das menschliche Leben. Aus eben jenen Gründen der Komplexität, Ambiguität und Widerspenstigkeit, denke ich, dass ein Großteil zeitgenössischer Sozialwissenschaft, im Besonderen die Psychologie, sich für sicherere, diskretere Gegenstände ausgesprochen hat, für Gegenstände, die sich zur Objektivierung, Quantifizierung und Replikation eignen. Das ist in Ordnung: Es gibt ohne jede Frage Aspekte menschlicher Wirklichkeit, die auf diese Weise eingegrenzt werden können. Und das zu tun, kann sehr produktiv sein. Das Problem besteht daher nicht so sehr darin, was Psychologie tut – dies richtet sich an eine eigene Sphäre der Validität – es besteht vielmehr darin, was sie nicht tut und was sie behauptet nicht tun zu können und nicht tun zu sollen.

Insofern die psychologische Wissenschaft die Ansicht unterstützt, dass die Wirklichkeit deckungsgleich ist mit dem, was als Gegenstand gesichert werden kann, wird sie notwendigerweise ein radikal beschränktes Bild der menschlichen Existenz entwerfen. Einfacher ausgedrückt: Sie wird der menschlichen Existenz nicht gerecht werden und wird daher gewaltsam die erste Forderung der Wissenschaft verletzt haben. Warum »gewaltsam«? Sie wird einige jener Merkmale entfernt und herausgeschnitten haben, welche die menschliche Wirklichkeit menschlich machen und wird daher genau jenes Wesen entmenschlicht haben, das sie zu verstehen suchte; sie wird es verwandelt haben in einen Gegenstand und sich diesen so vorstellen, dass seine Gegenständigkeit seine Wirklichkeit ausschöpft.

Was ist dann zu tun? Wie muss »Wissenschaft« neu gedacht werden? Vielleicht können wir zumindest eine Teilantwort auf diese Frage in Freuds etwas ambivalentem Rekurs auf Fallstudien finden, die schließlich wie Arbeiten »fiktionaler Schriftsteller« gelesen werden können. Tatsächlich war Freud selbst ein solcher Schriftsteller – nicht in exakt der gleichen Weise wie ein Romanschreiber, doch auf ähnliche Weise dem fiktionalen Ausdruck verbunden, bestrebt, eine Sprache zu finden, die der Natur des Gegenstandes gerecht wird. Er realisierte, dass die Art der Sprache, die in traditionellen wissenschaftlichen Ansätzen angewandt wurde, nicht ausreichte; ihre Theoretizität – ihr Grad an Verstricktheit – machte es unmöglich, dass dieser Gegenstand sich weiter in der Gegenwart zum Leben erweckt wurde. Daher musste eine Art Sprache verwendet werden, die über diese Verstricktheit hinausging, die alles dieses Subjekt Betreffende offen hielt, was wert war hinterfragt zu werden.

Wie könnte sich eine solche Sprache herausbilden? Welche Art von »Haltung« müsste ihre Voraussetzung sein? Ich möchte mich ein letztes Mal Heidegger zuwenden.

»Eine Wegrichtung einschlagen, die eine Sache von sich aus schon eingenommen hat, heißt in unserer Sprache sinnan, sinnen. Sich auf den Sinn einlassen, ist das Wesen der Besinnung. Dies meint mehr als das bloße Bewußtmachen von etwas. Wir sind noch nicht bei der Besinnung, wenn wir nur bei Bewußtsein sind. Besinnung ist mehr. Sie ist die Gelassenheit zum Fragwürdigen.« (Heidegger 1953, 63)

In psychoanalytischer Begrifflichkeit ist sie ein andächtiges Hinschauen – nicht unähnlich «[der] Lebensart des Schauenden, [die] in das reine Scheinen des Anwesenden schaut«, was wir früher in dem griechischen Wort θεωρία ausgedrückt fanden. Wir können von dieser Haltung als einer Haltung sprechen, die hermeneutische Reflektion einschließt.

Freud war nicht immer das beste Leitbild dieser Haltung. Wenn man beispielsweise an den Fall von Dora denkt, wird klar, dass das andächtige Hinschauen manchmal durch theoretisch verwurzelte Einschüchterung ersetzt wurde, gekoppelt mit einem tief sitzenden Verlangen, seine eigenen hochgeschätzten Ideen bestätigt zu sehen. Freud hat sich weniger mit hermeneutischer Reflektion beschäftigt und anstelle dessen gleichsam eine Art hermeneutischer Verstrickung praktiziert – was heißen soll, einen teuflischen interpretativen Zirkel, der ohne Zweifel einiges der zu beobachtenden Antipathie gegenüber der Psychoanalyse geschürt hat: Sie ist nicht falsifizierbar; sie ist eine Weltsicht; sie ist einfach nur eine Geschichte; sie ist eine Praxis, keine Wissenschaft. Freud einmal beiseite gelassen, ist es einfach zu verstehen, warum sich diese Kritik ausgebreitet hat: Ganz gleich, wie aufgeschlossen der Analytiker erscheinen mag, es ist nicht zu leugnen, dass er oder sie zu dem analytischen Setting ein kodifiziertes, theoretisches Schema mitbringt, das die Daten unvermeidlich auf eine psychoanalytische Lesart ausrichtet. Keiner dieser Einwände spricht jedoch gegen die Möglichkeit, dass es eine Art achtsames, aufmerksames Hinschauen gibt, wie es oben beschrieben wurde. Gute Analytiker und gute Narrationsforscher allgemein halten sich an diese reflektierende Haltung.

Doch diese Haltung, so lobenswert sie auch sein mag, besonders wenn sie verglichen wird mit Menschen wie Freud, »entschuldigt« den Narrationsforscher kaum. Zumindest hatte Freud eine Methode (für wie unhaltbar sie auch erachtet werden mag). Im Falle der Narrationsforschung, in dem das vorrangige Ziel einfach darin bestehen mag, Lebensgeschichten zu gewinnen, den Geschichten der Menschen zuzuhören, vielleicht im Zusammenhang mit einer Frage oder einem Problem, das der Forscher weiter untersuchen möchte, in diesem Falle gibt es eine Anzahl anderer Probleme, die nach wie vor daran gebunden sind diejenigen zu ärgern, die das Banner der wissenschaftlichen Methode schwenken: Es gibt keine Methode, mögen sie sich beschweren; es gibt nur das Sprechen zwischen zwei (oder mehr) Menschen, nicht weniger; das Sprechen ist häufig orientiert an der Erinnerung, die notorisch unzuverlässig ist; der gesamte Prozess ist mit deutenden Vorurteilen der einen oder der anderen Sorte durchsetzt; es gibt keine Hypothesen, keine Quantifizierung, keinen Versuch der Generalisierung. Es ist nicht nur das Problem der narrativen Forschung, dass sie einigen der Kriterien, die mit »Wissenschaft« allgemein assoziiert werden, nicht gerecht wird. Häufig ist es das Problem, dass sie allen diesen Kriterien nicht gerecht wird. Daher wundert es kaum, dass sich Freud und viele andere seit dieser Zeit, in einer Situation wiederfinden, in der sie sich »befremdlich« fühlen. Während ihre Kollegen auf dem selben Gang geschäftige Subjekte sind, die eifrig dieses oder jenes Experiment durchführen, mögen Narrationspsychologen einschließlich Psychoanalytikern in bequemen Stühlen sitzen und mit ihren Analysanden und Interviewpartnern sprechen, bestrebt, Notizen der Sitzung aufzuschreiben und schlussendlich diese Notizen in gute und mitreißende Texte zu überführen. »Warum bezeichnest du dich als Psychologen?«, fragte einmal einer meiner Kollegen, nachdem ich einen Vortrag gehalten hatte. »Warum nicht als Literaturkritiker?«

Ich bin ganz und gar nicht daran interessiert, eine Grenze zwischen dem Narrationsforscher und dem Literaturkritiker zu ziehen; nur wenige Übungen würden witzloser sein. Was ich jedoch hätte sagen sollen (wäre ich zu dieser Zeit ein wenig geistesgegenwärtiger gewesen), wäre etwas in dieser Richtung: Folgen wir der Psychoanalyse und den damit verbundenen Bereichen, erscheint ein Aspekt von Psychologie in der Narration ein äußerst wertvolles Werkzeug zu finden, um nah an die vorliegende Wirklichkeit heranzukommen. Dieser Aspekt liegt in der Orientierung der Disziplin an der gesamten Person und dem gesamten menschlichen Leben – dem Erzählen eines Lebens oder eines Lebensabschnitts – begründet. Es ist wohl wahr, dass man vorsichtig mit einer überstarken Verallgemeinerung dieser Form von Daten umzugehen hat; der Einzelfall kann uns nur bestimmte Dinge über eine gegebene Idee oder ein Untersuchungsfeld sagen. Zugleich muss man jedoch lediglich eine gut durchdachte, verständliche und mit literarischem Anspruch verfasste Fallgeschichte oder Lebensgeschichte lesen, um zu sehen, dass sie über sich selbst hinausreicht, dass sie sich auf mehr als das bloße Individuum bezieht, dessen Geschichte erzählt wird. Wann immer man versucht, die Aussagekraft eines gegebenen Falles auszuweiten, bedarf es eines Untersuchungsstils, der angemessen offen, prüfend, hinterfragend, reflektierend ist, ansonsten begibt man sich wieder in die Gefahr, mehr zu sagen als man sagen sollte. Doch der gute Analytiker oder Narrationspsychologe kann dies in jedem Falle tun, weil er das Gebiet vieler Leben erforscht hat und sich durch Wissenschaft, durch seine eigene Forschung und durch sein in-der-Welt-Sein ein Einschätzungsvermögen und Verständnis darüber angeeignet hat, wie Menschen leben. Und er kann es beispielsweise so tun, dass er unserem kollektiven Verständnis eines gegebenen Untersuchungsgebiets – Trauma, Erinnerung, Liebe, Tod – etwas hinzufügt. Noch einmal: Er wird seine Arbeit vorsichtig ausführen müssen, sein Ziel wird vielleicht eher sein vorzuschlagen als zu überzeugen, eher eine »Region« der Wahrheit zu öffnen, wie ich es bezeichnet habe (Freeman 2002; siehe ebenso 1999), als darauf aus zu sein, eine bestimmte Wahrheit zu präsentieren. In ähnlicher Weise wird er vielleicht eher mahnen, appellieren und anfechten als argumentieren, er wird sich mehr auf die Poesie stützen als auf die Theorie – zumindest hat sich das so herausgebildet. Sein vorrangiges, über allem stehende Ziel wird jedoch sein (so müsste ich zusammenfassen), Gewissenhaftigkeit gegenüber dem Wirklichen zu praktizieren. 6. Poetische Wissenschaft

Wie bei allen Forschungen, die danach trachten, auf die eine oder andere Weise zur Wissenschaft beizutragen, bedarf es Strenge und Präzision des Denkens. Wie Freud jedoch an jenen allerersten Fallstudien sehen konnte, war auch ein reichliches Maß an Schreibfähigkeit notwendig, die Fähigkeit, die Sprache kunstvoll zu verwenden. Warum? Betrachten wir einmal den Dichter in diesem Kontext: Durch seine oder ihre Worte mögen einige Merkmale der Wirklichkeit ans Licht gekommen sein, »unverborgen«. Und der Grad, zu dem dies auftritt, ist eine Funktion des Grades, zu dem der Dichter Sprache kunstvoll und im Dienste der Aufgabe gebrauchen kann. Wir kommen daher zu einem Fazit, das an der Oberfläche »merkwürdig« und sogar widersprüchlich erscheint – nicht fern dessen, zu dem Freud vor einer langen Zeit kam: Je mehr Kunst, desto mehr Wissenschaft. Je mehr seine Arbeit poetisch bereichert und inspiriert wurde, desto näher kam er »der Natur des Gegenstandes« und desto wahrscheinlicher wurde, dass das, was er zu sagen hatte, wissenschaftlich gültig und bedeutsam war. Auf gewisse Weise musste er daher, um seine Verantwortungen als Wissenschaftler wahrhaftig zu erfüllen – welche in erster Linie dem Phänomen gelten – so viel Kunst wie es ihm möglich war einführen; nur dann konnten die tieferen Wahrheiten der menschlichen Geschichte erzählt werden. In gleicher Weise habe ich kürzlich (2004) vorgeschlagen, dass die narrative Forschung sich nicht am Denken sondern am Fühlen orientieren müsste und dass zusätzlich zur Unterstützung des herkömmlichen epistemologischen Ziels des wachsenden Wissens und Verständnisses des Menschlichen, die Narrationsforschung das ethische Ziel einer wachsenden Fürsorge und eines wachsenden Mitgefühls verfolgen sollte. Sie kann daher den Lesenden die Möglichkeit genau dieser Art von gefühltem Engagement geben, die sich in literarischen Texte widerspiegelt, wenn sie versuchen, die tieferen Wirklichkeiten des Lebens von Menschen zu enthüllen.

Meiner Meinung nach müssen wir als Gemeinschaft von Narrationsforschern und -wissenschaftlern Freuds Aufruf Folge leisten. Die Tendenz heutiger Forschungsarbeiten ist immer noch, die künstlerische Dimension zu minimieren und die Dimension der Wissenschaftlichkeit, wie sie traditionell verstanden wurde, zu maximieren und damit diese tieferen Wirklichkeiten den Dichtern und Philosophen zu überlassen. Der Sozialwissenschaftler sollte meiner Ansicht nach diesem Bestreben folgen und, wenn die Situation dies erfordert, so fantasie- und kunstvoll wie möglich Texte und Arbeiten entwerfen, die nicht nur Wissen für diesen oder jenen Bereich anbieten, sondern die das Schreiben nutzen, die Formen auf eine Weise nutzen, die wahrhaftig den in Frage stehenden Inhalten – und den Menschen – dienen. Sie müssen sozusagen in den Texten aufleben. Die Herausforderung ist eine poetische – daher »poetische Wissenschaft«.

Für den Fall, dass dies zu sehr nach billigem und plumpem Ästhetizismus klingt, oder dass es die kritische Schwelle, die in den Sozialwissenschaften oft gesucht wird, irgendwie nivellieren könnte, möchte ich zum Schluss aufzeigen, wie und warum diese kritische Schwelle äußerst präsent bleiben wird. Mein Ausgangspunkt an dieser Stelle ist ein kleines Buch mit dem Titel Die Permanenz der Kunst: Wider eine bestimmte Marxistische Ästhetik (1977), das vor einiger Zeit von Herbert Marcuse geschrieben wurde. In dem Buch versucht er mit Gewalt, einige der Mängel der marxistischen Ästhetik herauszustellen, indem er auf das befreiende Moment des Ästhetischen selbst fokussiert.

»Irgendwie bricht in die Welt des Kunstwerks dieses Andere ein: es konstituiert die der Kunst eigene Dimension. Und in dieser Dimension geschieht, auf dem Grunde der ursprünglichen Sublimierung, eine Entsublimierung in der Erfahrung, im Denken und Fühlen der Individuen – sie offenbart, in erschreckender Konkretion, was die Realität den Menschen und Dingen antut. Die ästhetische Form ist eine Form der Wahrheit. 'Ästhetische Formgebung' kann vorläufig bestimmt werden als die verwandelnde Mimesis, die aus einem Stoff (Inhalt, Teil der Realität) durch Gestaltung des Materials (Wort, Farbe, Ton, etc.) eine in sich geschlossene Totalität (Roman, Drama, Gedicht etc.) macht: das Werk. Es sind vornehmlich die spezifisch ästhetischen Qualitäten: das Schöne, das in Gemeinschaft mit anderen Qualitäten (innere Logik) die Gestaltung des Materials leiten und das Werk als (relativ) autonom der bestehenden Realität verfremdend entgegenstellen.« (Marcuse 1977, 17) Und »Die Wahrheit der Kunst liegt in der Durchbrechung des Realitätsmonopols, wie es in der bestehenden Gesellschaft ausgeübt wird.« (ebd., 18)

Das führt uns den ganzen Weg zurück zu der Idee von Wissenschaft als »der Theorie des Wirklichen«. Narrationsforschung, oder zumindest der Teil davon, der als poetische Wissenschaft gedacht wird, birgt das Potenzial, nicht nur die Wissenschaft neu zu definieren, sondern die Wirklichkeit selbst neu zu schaffen. Ob das, was Narrationsforscher tun, nun als »Kunst« betrachtet wird, bleibt eine offene Frage. Vieles davon trägt jedoch sicherlich eine ästhetische Dimension, der in Frage kommende »Inhalt« »hat an Form gewonnen«. Die narrative Forschung bringt daher zugleich das Potenzial hervor, die Distanz zwischen »Wissenschaft« und »Kunst« zu minimieren und dabei einige der gewöhnlichen Kategorien abzuschütteln oder sogar zu zerstören. Das ist natürlich eine große Anforderung. Doch diese erscheint mir in Reichweite zu liegen.

(Aus dem Englischen von Martin & Carmen Dege) Literatur

Carr, David L. (1986): Time, narrative, and history. Indianapolis, IN: Indiana University Press.

Danto, Arthur C. (1985): Narration and knowledge. New York: Columbia University Press.

Freeman, Mark (1985): Psychoanalytic narration and the problem of historical knowledge. Psychoanalysis and Contemporary Thought, 8, 133-182.

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Freeman, Mark (1997): Why narrative? Hermeneutics, historical understanding, and the significance of stories. Narrative Inquiry, 7, 169-176.

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Freeman, Mark (2003b): Too late: The temporality of memory and the challenge of moral life. Journal fur Psychologie, 11, 54-74.

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Freud, Sigmund (1942): Die Traumdeutung. Gesammelte Werke, II/III. London: Imago Publishing. (Originalversion 1900)

Freud, Sigmund (1947): Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität. Gesammelte Werke, XII. London: Imago Publishing (Originalversion 1920)

Freud, Sigmund (1975): Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902. Frankfurt/Main: S. Fischer.

Freud, Sigmund (1952a): Studien über Hysterie. Gesammelte Werke, I. London: Imago Publishing (Originalversion 1892-1899)

Freud, Sigmund (1952b): Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen. Gesammelte Werke, I. London: Imago Publishing. (Originalversion 1896)

Hacking, Ian (1995): Rewriting the soul: Multiple personality and the sciences of memory. Princeton, NJ: Princeton University Press.

Heidegger, Martin (1953): Wissenschaft und Besinnung. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann

Hempel, Carl G. (1942): The function of general laws in history. Journal of Philosophy, 39, 35-48.

Kerby, Anthony Paul (1991): Narrative and the self. Indianapolis, IN: Indiana University Press.

Lear, Jonathan (1998): Open minded: Working out the logic of the soul. Cambridge, MA: Harvard University Press.

Levi, Primo (1989): The drowned and the saved. New York: Vintage International.

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Marcuse, Herbert (1977): Die Permanenz der Kunst: Wider eine bestimmte Marxistische Ästhetik. München: Carl Hanser Verlag.

Ricoeur, Paul (1980): Narrative time. In W.J.T. Mitchell (Hg.), On narrative (165-186). Chicago, IL: University of Chicago Press.

Woolf, Virginia (1927): To the lighthouse. San Diego, CA: Harcourt, Inc.

Endnoten:

[1]

Im Original picture puzzle. Der englische Ausdruck »picture puzzle« suggeriert viel stärker als der Ausdruck »Bilderrätsel« eine Abgeschlossenheit. Während »Rätsel« zwar auch eine mögliche Lösung impliziert, doch aber gleichzeitig die Möglichkeit der »Unlösbarkeit« offen lässt – wie Freud seine Interpretation von Träumen verstanden hatte, suggeriert »Puzzle« die Möglichkeit die Teile zu einem Ganzen zusammen zu setzen. Dieser Bedeutungsunterschied in der Übersetzung macht den Hinweis auf die Nichtabgeschlossenheit des Deutungsprozesses von Träumen notwendig. (Anm. der Ü.)

[2]

Der letzte Satz des Zitates lautet in der englischen Version der Traumdeutung: »The dream-thoughts to which we are led by interpretation cannot, from the nature of things, have any definite endings. They are bound to branch out in every direction into the intricate network of our world of thought.« Der Autor hebt hier im Besonderen die Stelle »from the nature of things« hervor, die im deutschen Originaltext so nicht vorfindbar ist. (Anm. d. Ü.)

[3]

»früherer Grundzug« ist in der englischen Heidegger-Version übersetzt mit »primordially fundamental characteristic«, was eine größere Emphase auf die Ursprünglichkeit legt und vom Autor öfter aufgegriffen wird (Anm. der Ü.).

[4]

Im Original »clock time«, was sich stärker auf die messbar verstreichende Zeit bezieht, als auf einen spezifischen Moment in der Zeit. Der Autor spielt auf die Unterscheidung zwischen kosmologischer und phänomenologischer Zeit an, die er als »lived time« bezeichnet, im Folgenden übersetzt mit: »gelebte Zeit« (Anm. der Ü.).

[5]

»nachstellen« ist in der englischen Version des Heidegger-Textes mit »to entrap« übersetzt. Neben der Verwendung in diesem Bedeutungszusammenhang kann »entrap« auch noch fangen, verführen, verleiten, verstricken bedeuten. Bedeutungen, auf die der Autor im weiteren Textverlauf anspielt (Anm. d. Ü.).

[6]

der Autor verwendet hier im Original den Neologismus »surveyability« (Anm. d. Ü.).

Autorenhinweis

Mark Freeman

Arbeitsschwerpunkte: Erinnerung, Selbst, autobiografischen Erzählungen sowie Psychologie der Kunst und Religionspsychologie.

Mark Freeman, PhD Professor am College of the Holy Cross Worcester, MA USA

E-Mail: mfreeman@holycross.edu