Von William T. Preyer zu William Stern: Über die Durchführung und Nutzung von Tagebuchstudien in den Kindertagen der deutschen Entwicklungspsychologie

Siegfried Hoppe-Graff & Hye-On Kim

Zusammenfassung

Der 125. Jahrestag des Erscheinens von William Thierry Preyers Die Seele des Kindes ist Anlass, aus methodologischer Perspektive einen Blick auf die Frühgeschichte der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie zu werfen. Preyer hat in dieser ersten umfassenden Darstellung der frühen Kindheit vor allem auf Tagebuchaufzeichnungen zurückgegriffen, die er zur Entwicklung seines Sohnes Axel in den ersten drei Lebensjahren angefertigt hatte. Bei aller Anerkennung, die Preyer als Begründer der modernen Entwicklungspsychologie erfahren hat, ist er schon sehr bald von seinem »Nachfolger« William Stern mit den Argumenten kritisiert worden, seine Psychologie sei im Grunde eine Physiologie und seine Tagebuchmethodik wiese etliche Schwächen auf. Vor diesem Hintergrund werden wir in unserem Beitrag zunächst die methodischen Prinzipien und das Vorgehen Preyers bei den Tagebuchaufzeichnungen, soweit bekannt, nachzeichnen, um sie anschließend mit den Ansprüchen und der Praxis der Sternschen Entwicklungstagebücher zu vergleichen. Es zeigt sich, dass Preyer und Stern unterschiedliche methodische Standards in den Vordergrund rückten. Im letzten Teil setzen wir unsere Erkenntnisse über die »klassischen« Entwicklungstagebücher zum Status der Tagebuchmethodik in der heutigen Entwicklungspsychologie in Beziehung.

Schüsselwörter: Geschichte der Entwicklungspsychologie, William Preyer, William Stern, Tagebuchstudie, Qualitative vs. quantitative Forschungsmethodik, Entwicklung des Selbstkonzepts

Summary

Exactly 125 years have passed since William Thierry Preyer published in 1882 The mind of the child, a publication which is known as the first textbook of modern developmental psychology. To a great extent, The mind of the child is based on diary notes that Preyer collected about his son Axel during the first three years of the child’s life. Although Preyer very soon became famous as the »founder of developmental psychology,« one of his prominent German successors, William Stern, was very critical of Preyer’s general orientation and his empirical methods. In our article, we first describe Preyer’s and Stern’s practices of taking diary notes and compare their explicit and implicit methodological standards. It turns out that Preyer and Stern adhered to different standards; thus, Stern’s critique is partly misleading. In the second part of our paper, we present in more detail Preyer’s and Stern’s diary notes on the development of the self concept, thereby pointing out that their diaries continue to be an vital source of information for developmental research. We conclude by comparing the classical diary studies with the current practice of collecting diaries within the framework of the qualitative vs. quantitative methods distinction.

Keywords: history of developmental psychology, William Preyer, William Stern, diary studies, qualitative vs. quantitative methods, development of the self concept

1. Einleitung

Vor genau 125 Jahren erblickte in Jena die wissenschaftliche Entwicklungspsychologie das Licht der Welt, denn 1882 erschien William Thierry Preyers »Die Seele des Kindes«. Preyer war seit 1866 Dozent in Jena, hier lernte er den Darwinisten Ernst Haeckel persönlich kennen, und hier versuchte er, zunächst mit embryologischen Studien, Haeckels Aufforderung, »die stufenweise Entwicklung der Kindes-Seele« zum Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher Beobachtung zu machen, in die Tat umzusetzen (Haeckel 1874, 704; zit. nach Eckardt 1989).

Ist es legitim, Preyers Werk als Geburtsdatum der modernen Entwicklungspsychologie zu betrachten? Eine frühe Würdigung stammt vom bedeutenden deutschen Psychologen William Stern, der das Vorwort zu seiner »Psychologie der frühen Kindheit« mit dem folgenden Satz beginnt: »Es ist gerade ein Menschenalter her, dass William Preyer die Seelenlehre von der frühen Kindheit als Wissenschaft begründete« (Stern 1914, V; Hervorhebung von uns). Und: »Dann aber veröffentlichte 1882 Wilhelm Preyer seine 'Seele des Kindes', ein Buch, das geradezu als Eröffnungswerk der modernen Kinderpsychologie gelten kann« (ebd., 4; Hervorhebung von uns). Zwar haben seither nicht alle Psychologiehistoriker mit dieser Einschätzung übereingestimmt (vgl. Cairns u. Cairns 2006), aber an der überragenden Bedeutung von Preyers Publikation für die weitere Entwicklung unseres Faches am Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert dürfte kein Zweifel bestehen. Um aus dem historischen Rückblick von Cairns und Cairns (2006, 96) zu zitieren: »Nonetheless, Preyer’s book served as a powerful catalyst for the further study of development in psychology and biology, and 1882 seems to be a reasonable date for us to begin this story of the development of developmental psychology«.

»Die Seele des Kindes« war von Preyer ursprünglich als Teil eines umfassenderen Projekts konzipiert worden. Seine Absicht war es, die Entwicklung des Kindes sowohl vor als auch nach der Geburt zu untersuchen und bei der nachgeburtlichen Entwicklung sowohl die körperliche als auch die geistige Entwicklung einzubeziehen. »Die Seele des Kindes« ist seine Darstellung der geistigen Entwicklung. Gegliedert ist die Monographie in drei Teile: »Von der Entwicklung der Sinne und Gefühle« (Teil I), »Von der Entwicklung des Willens« (Teil II) und »Von der Entwicklung des Verstandes und der Sprache« (Teil III). Auf einen besonderen Abschnitt des dritten Teils, »Von der Entwicklung des Ichbewusstseins«, werden wir unten ausführlicher eingehen.

2. Grundsätze und Regeln für die Durchführung und Nutzung von Tagebuchstudien bei Preyer und Stern

Preyer verstand sich ausdrücklich als empirisch arbeitender Forscher, und diese Attitüde hat er aus seiner Herkunftsdisziplin, der Physiologie, auf die Psychologie übertragen. Allerdings wählte er nicht das Laborexperiment, sondern die Beobachtung unter natürlichen Bedingungen als den Königsweg, denn im Fokus seiner Entwicklungspsychologie steht »die chronologische Untersuchung der geistigen Fortschritte …«, auch wenn die »tägliche Registrierung von Erfahrungen, welche nur in der Kinderstube gewonnen werden können«, schwierig sei (Preyer 1923, V). Seine wichtigste Quelle war dabei ein Tagebuch, das er von der Entwicklung seines 1877 geborenen Sohnes Axel anfertigte. Preyer schreibt dazu:

«… ich habe … ein Tagebuch durchgeführt von der Geburt meines Sohnes an bis zum Ende seines dritten Lebensjahres. Da ich mit zwei unerheblichen Unterbrechungen fast täglich mindestens dreimal, morgens, mittags und abends, mich mit dem Kind beschäftigte und es vor den üblichen Dressuren möglichst schützte, so fand ich auch fast täglich eine psychogenetische Tatsache zu verzeichnen. Der wesentliche Inhalt dieses Diariums ist in das vorliegende Buch [Die Seele des Kindes] übergegangen.« (1923, V).

Preyer hatte, auch nach heutigen Maßstäben, ein hoch entwickeltes Methodenbewusstsein. Er war sich durchaus der Probleme bewusst, die bei der Generalisierung von Einzelfallbeobachtungen entstehen. So bezeichnet er es als wünschenswert, »über die geistige Entwicklung vieler Säuglinge, über ihre Sinnestätigkeit und ihre Bewegungen, zumal das Sprechenlernen, Tatsachen statistisch zu sammeln«, relativiert aber: »die genauere, täglich wiederholte Beobachtung eines gesunden, weder auffallend schnell noch auffallend langsam ohne Geschwister sich entwickelnden Kindes erschien zum mindesten ebenso wünschenswert« (VI). Wenn man so will, kann man in dieser Äußerung Preyers ein frühes, heute vergessenes Plädoyer für die Verbindung von quantitativer und qualitativer Methodik sehen.

Weitere strikt einzuhaltende methodische Kriterien, die sich Preyer bei seinen Tagebuchstudien auferlegte, waren die Folgenden (zit. nach Cairns u. Cairns, 2006, 97):

»All observations were recorded immediately and in detail, regardless of whether they seemed uninteresting or 'meaningless articulations'. To the extent possible, observations were unobtrusive and 'every artificial strain upon the child' was avoided. ’Every interruption of one’s observation for more than a day demands the substitution of another observer, and, after taking up the work again, a verification of what has been perceived and noted down in the interval.’ ’Three times, at least, every day the same child is to be observed, and everything incidentally noticed is to be put upon paper, no less than that which is methodologically ascertained with reference to definite questions.’«

Preyer hat sich in »Die Seele des Kindes« nicht nur auf seine eigenen Beobachtungen gestützt, sondern auch auf die Tagebücher von Darwin (1877), von Sigismund (1897/1856) und anderen. Auch dafür werden wir später Beispiele liefern. Er hatte übrigens aus seiner Sicht zwei gute Argumente, von Einzelfällen aus zu verallgemeinern. Erstens war er nicht an der Gewinnung von Altersnormen und an individuellen Differenzen im Entwicklungstempo interessiert, sondern an Entwicklungssequenzen, also an der Reihenfolge, in der Leistungen und Fähigkeiten erworben werden. Und zweitens nahm er an, dass Entwicklungsprozesse in hohem Maße erblich vorgezeichnet seien.

Auch wenn Preyer vornehmlich auf natürliche Beobachtungen »aus der Kinderstube« zurückgegriffen hat, so hat er andererseits auf kontrollierte quasi-experimentelle Beobachtungen nicht verzichtet. Ein Beispiel sind seine systematischen Beobachtungen zur Entwicklung des Farbsinnes mittels der »Magnus’schen Tafel zur Erziehung des Farbsinnes«, die er vom Ende des zweiten Lebensjahres an fast täglich seinem Sohn mit der Aufgabe, die Farben zu erkennen, vorlegte (»Wo ist das Grün?« »Wo ist das Rot?«). Die Ergebnisse stellt er so exakt dar, dass jeder quantitativ orientierte Forscher auch heute noch seine Freude daran hätte.

Tabelle 1: Ergebnis der Prüfung der korrekten Benennungen von Farben mittels der Magnus’schen Tafeln bei Preyers Sohn Axel am 970., 981. und 1021. Lebenstag (übernommen aus Preyer 1882, 45).

Tabelle 1 ist nur ein Auszug aus einer Kette von Einzelresultaten, die von Preyer in der folgenden Gesamtdarstellung zusammengefasst wurden, aus der er dann die Reihenfolge der Farbbenennung ableitet.

Tabelle 2: Zusammenfassung der Ergebnisse aller Einzelprüfungen der Farbbenennung bei Preyers Sohn Axel (übernommen aus Preyer, 1882, 15).

Daraus zieht er die Schlussfolgerung (1882, 16): »Von den vier Hauptfarben werden also Gelb und Roth viel früher richtig benannt, als Grün und Blau, und zwar zuerst Gelb – Braun ist lichtschwaches Gelb – dann Roth.«

Mögen Preyers methodische Anstrengungen aus heutiger Sicht Anerkennung oder wenigstens Bewunderung verdienen, so hat sich William Stern doch eher negativ dazu geäußert. Wir zitieren abermals aus der »Psychologie der frühen Kindheit«: «… [Preyers] Buch 'Die Seele des Kindes' ist bereits jetzt historisch geworden; das neue Forschungsgebiet ist seitdem in der Vielseitigkeit der Problemstellungen, in der Schärfe der Beobachtungen und der Vorsicht der Deutungen, in der Anwendung neuer Methoden weit über Preyer hinausgeschritten« (1914, V.). Und: »Dass die Deutungen, die er seinen Beobachtungen gibt, oft falsch, vor allen Dingen zu intellektualistisch ausfielen, war kein Wunder; wir bedurften eben einer jahrzehntelangen Schulung, ehe eine gewisse Sicherheit in der Interpretation dieser vagen und vieldeutigen Seelenäußerungen primitiver Art gewonnen wurde.« (ebd., 4).

Wenden wir uns deshalb Sterns eigener Methodik, seinen Leitlinien und seiner Praxis zu, um zu sehen, wo der Fortschritt in der Forschungsmethodik in den 32 Jahren seit der Publikation von »Die Seele des Kindes« liegt. Erleichtert wird dieser Vergleich dadurch, dass er genau wie Preyer Tagebuchaufzeichnungen von Beobachtungen der Entwicklung bei den eigenen Kindern – den Töchtern Hilde und Eva und dem Sohn Günther – zur wichtigsten Grundlage seines Lehrbuches machte. Während uns aber die Tagebuchaufzeichnungen von Preyer nicht zugänglich waren – und wir haben auch nirgends einen Verweis darauf gefunden, dass jemand anderes darauf zurückgreifen konnte –, liegen die Tagebücher zur Entwicklung der Stern-Kinder in Abschrift vor. Folglich gibt es die Möglichkeit, die Standards, die William Stern selbst formuliert hat, daran zu messen.

Sterns methodische Grundsätze, die er im ersten Kapitel von »Die Psychologie der frühen Kindheit« relativ ausführlich beschreibt, lassen sich, in unseren eigenen Worten, folgendermaßen knapp zusammenfassen:

1. Die Methode der Wahl ist die Beobachtung, aber die Beobachtung ist unausweichlich gekoppelt mit der Interpretation des Beobachteten, denn: »Seelisches Leben ist jedem Menschen unmittelbar nur an ihm selbst gegeben; was Vorstellungen und Empfindungen, Gefühle und Willensregungen seien, wissen wir direkt allein durch Eigenerlebnis und Selbstbeobachtung. Das Seelische des anderen dagegen müssen wir erdeuten aus dem, was uns der andere äußerlich zeigt, aus seinen Ausdrucksbewegungen, Sprachlauten, Reaktionen, Handlungen usw.« (ebd., 7). Andererseits aber stelle man keine Behauptungen auf, für die es nicht tatsächliche Beobachtungen als zureichende Belege gibt.

2. Beobachtung und Deutung sind streng voneinander zu unterscheiden. »Man registriere beides getrennt, und gebe, wo immer möglich, sich und anderen Rechenschaft von der Zuverlässigkeit oder Wahrscheinlichkeit der vorgenommenen Deutung« (ebd., 8).

3. Zu bevorzugen ist die unmittelbare Beobachtung von Kindern durch solche Personen, die mit ihnen in ständiger vertrauter Gemeinschaft leben, also die Mutter. Sie »scheint … vor allem berufen, der Kindespsychologie Dienste zu leisten. Freilich bedarf es hierzu auch wissenschaftlicher Schulung; zudem wird es stets nur wenigen Müttern möglich sein, die für Forschungszwecke erforderliche objektive Gedanken- und Interessenrichtung mit ihrer notwendig subjektiv gefärbten Liebe und Zärtlichkeit zu vereinbaren« (ebd., 8).

Folgerichtig hat die Tagebücher zu den Stern-Kindern nicht William Stern oder ein Fachkollege, sondern Williams Ehefrau Clara geführt. Wie die von ihm betonte wissenschaftliche Schulung ausgesehen hat, haben wir nicht herausfinden können, wohl aber, welche »Techniken der Tagebuchführung« dabei vermittelt worden sein müssen, denn diese werden in »Psychologie der frühen Kindheit« relativ präzise beschrieben (12-14). Neben der abermaligen Betonung der Trennung von Beobachtung und Deutung gehören dazu: der Grundsatz, die Unwissentlichkeit des Kindes zu erhalten, Angaben zur Gestaltung der Tagebuchseiten und die Empfehlung, die Beobachtungen chronologisch aufzuschreiben, zunächst ohne Gruppierung nach sachlichen Gesichtspunkten, um alle Möglichkeiten der späteren Bearbeitung offen zu lassen.

Auch die Sterns haben die Beobachtungen spontanen Verhaltens durch quasi-experimentelle Beobachtungen ergänzt – sie sprechen von der Beobachtung reaktiven Verhaltens –, dabei aber ebenso wie Preyer keinen Zweifel daran gelassen, dass sie das spontane Verhalten für wichtiger halten und sich dabei keine Einschränkung auferlegen, denn: »Alles am Kind ist beachtenswert und beobachtungsbedürftig, und nur wer ständig seine Aufmerksamkeit auf die verschiedensten Regungen des kindlichen Geistes zu richten weiß, erlangt einen wirklichen Überblick über das merkwürdige Ineinandergreifen und Miteinanderverschmolzensein aller erwachenden seelischen Funktionen« (ebd., 10).

3. Preyers und Sterns Methodenverständnis: ein Vergleich

Gemeinsamkeiten

Beide, Preyer und Stern, verstanden Entwicklungspsychologie bereits als empirische Wissenschaft im heutigen Sinne. Und beide hatten ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bedeutung der heute üblichen Standards empirischer Forschung: für die Kriterien der Objektivität und des Theoriebezugs, für die Standardisierung der Beobachtungsbedingungen und die Kontrolle möglicher Verfälschungen bei der Protokollierung des Beobachteten.

Doch die Kenntnis dieser Kriterien hinderte sowohl Preyer als auch Stern nicht daran, die Tagebuchaufzeichnung von Alltagsbeobachtungen als Methode der Wahl zur Beobachtung der frühkindlichen Entwicklung zu präferieren und auch bevorzugt einzusetzen. Beobachtungen unter quasi-experimentellen Bedingungen hatten für beide nur eine ergänzende Funktion. Die Präferenz für Beobachtungen des Kindes im Alltag und für deren Protokollierung im Tagebuch beruhte auf der Hochschätzung der Lebensnähe – heute würde man wohl von ökologischer Validität sprechen – als Qualitätsmerkmal entwicklungspsychologischer Daten.

Beide, Preyer und Stern, führten umfassende Tagebücher, im Unterschied zu den thematisch begrenzten topical diaries, die heute aktuell sind, und beide hatten dafür gute Gründe, die im nächsten Abschnitt unter dem Stichwort Konvergenz angesprochen werden. Unterschiede

Preyer bemühte sich, mit einem hohen Grad an Systematisierung und Standardisierung der Beobachtungen zu einer möglichst »vollständigen« und ausgewogenen Beschreibung des Entwicklungsverlaufs zu kommen (vgl. seine Empfehlungen, jeden Tag dreimal, möglichst zur gleichen Zeit zu beobachten). Diese erwünschte objektiv-ausgewogene Beschreibung kann am ehesten der objektiv-distanzierte Forscher liefern.

Hingegen stellte Stern die Vertrautheit mit dem Kind und der Lebenswelt des Kindes in den Vordergrund der methodischen Desiderata. Ihm ging es in erster Linie darum, charakteristische und prägnante Veränderungen des Kindes zu entdecken und angemessen zu interpretieren. Deshalb war die mit dem Kind am besten vertraute Mutter, sofern sie zusätzlich in wissenschaftlicher Beobachtung geschult worden war, die ideale Beobachterin. – Diese Überlegung ist übrigens in den Tagebüchern zur Entwicklung der Stern-Kinder konsequent umgesetzt worden; nur in Ausnahmen wurden die Tagebücher nicht von Clara, sondern von William Stern geführt.

Preyer legte den Fokus seiner Bemühungen auf die Qualität der Beobachtungen selbst und schenkte dem Problem der Interpretation, soweit sich das verfolgen lässt, wenig Aufmerksamkeit. Für Stern hingegen stand, zieht man die methodischen Darlegungen in »Die Psychologie der frühen Kindheit« heran, die Frage der Trennung von Beobachtung und Interpretation im Vordergrund. Auch der Blick in die Tagebücher zeigt, wie wenig sich die Sterns um die Einhaltung eines »Erhebungsplans« gekümmert haben. Öfters findet man wochenlang keine Eintragungen, im Kontrast dazu aber auch unter der Überschrift »Ein Tag aus dem Leben unseres Kindes« am 27.12.01 über mehrere Seiten einen Tag im Leben der gut eineinhalbjährigen Hilde.

4. Die Nutzung von Tagebuchaufzeichnungen, illustriert am Beispiel der Entwicklung des Selbstbildes

Der Jenenser Psychologe Georg Eckardt, der wohl beste Kenner von Preyers Werk, hat resümierend konstatiert, Preyer sei Zeit seines Lebens Physiologe geblieben und habe »als Physiologe Kinderpsychologie« betrieben (1989, 33). Wenn diese Einordnung richtig ist, so muss es überraschen, dass sich Preyer sehr wohl gründlich und ideenreich mit der Entwicklung von psychischen Funktionen befasst hat, die – anders als die Sinnesfunktionen – von physiologischen Beobachtungen und Konzepten weit entfernt sind.

Im dritten Teil von »Die Seele des Kindes«, der der Entwicklung des Verstandes gewidmet ist, befasst er sich zunächst ausführlich mit der Sprache (Kapitel 17-19), dann aber auch mit dem Ichgefühl (Kapitel 20). Auch dieser Darstellung liegen in erster Linie Tagebuchaufzeichnungen zu seinem Sohn Axel zugrunde, daneben rekurriert Preyer aber auch auf einschlägige Beobachtungen aus den Tagebuchaufzeichnungen von Darwin und Sigismund. Die Entwicklung des Ichgefühls würden wir, in unserer heutigen Sichtweise und Terminologie, der Genese des Selbstkonzepts zuordnen, speziell der Entstehung des Selbst als Objekt der eigenen Erkenntnis (oder in James' Terminologie: Me-self). Nach Harter (1998) weiß man heute, dass dieses Wissen über sich selbst im Alter von etwa 15 bis 18 Monaten entsteht. Wir werden etwas ausführlicher aus dem Sammelreferat von Harter zitieren, weil sich auf diese Weise zeigen lässt, dass Preyer wenigstens in diesem Zusammenhang bereits vor 125 Jahren über erstaunliche Ideen und Einsichten verfügt hat, was sowohl seine Beobachtungsmethoden als auch seine psychologische Deutung der Beobachtungen angeht (siehe hierzu auch Cairns u. Cairns 2006, die zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen).

«… visual recognition studies reveal that infants can, for the first time, recognize their own facial features in a mirror (Bertenthal & Fischer, 1978; Lewis 6 Brooks-Gunn, 1979). From this observation it is inferred that infants have developed a perceptual model for what they look like, an internal representation that can be compared to their external mirror image (see also Case, 1991). Interestingly, recent research (Pipp, 1993) has revealed that infants develop featural recognition for caregivers before they can recognize themselves. The fact that the eyes are directed outward should bias infants to acquire visual knowledge of their mothers face before they form a schema for their own face.« (Harter 1998, 562, Hervorhebung von uns)

Preyer nennt als Quellen für die Entwicklung des Ichgefühls unter anderem schmerzhafte Gefühle, die als erste dem Kind helfen, seine ihm selbst sichtbaren und fühlbaren Körperteile als zu ihm selbst gehörig zu erkennen, sowie das Erfassen von Zusammenhängen zwischen einer vom Kind selbst ausgeführten Tätigkeit und dem darauf folgenden Sinneseindruck. Die wichtigste Datenquelle, um nachzuzeichnen, wie das Kind vom »dunklen Ichgefühl« »durch weitere Abstraktionen in den Besitz des »Ich-Begriffs« gelangt, sind die Fortschritte des Verstandes beim Betrachten des Spiegelbilds« (ebd., 364).

Anhand ausgewählter Tagebuchbeobachtungen, die Preyer mehr oder weniger konkret zitiert, zeichnet er eine Entwicklungssequenz nach, die auf der Beobachtungsebene die Veränderungen beim Betrachten des Spiegelbilds beschreibt, auf der Interpretationsebene aber »den Übergang vom ichlosen Zustande des Säuglings, der noch nicht deutlich sehen kann, zum Zustande des entwickelten Ich, das sich vom Spiegelbilde bewusst unterscheidet« (ebd., 367). Nur einige von Preyer als wichtig erachtete Etappen sollen hier wiedergegeben werden.

»In der 25. Woche streckte es [das Kind] zum ersten Male seine Hand nach dem eigenen Spiegelbild aus, hielt es also für greifbar.« (ebd., 365)

»In der 26. Woche freut sich das Kind als es vor dem Spiegel mich mit demselben sieht, wendet sich nach mir um und vergleicht sichtlich das Original mit dem Bilde.«

[…]

»In der 57. Woche […] hielt ich dem Kinde einen kleinen Handspiegel dicht vor das Gesicht. Es sah sein Bild an und fuhr dann mit der Hand hinter den Spiegel, dieselbe suchend hin- und herbewegend. Hierauf nahm es den Spiegel selbst und betrachtete und betastete ihn auf beiden Seiten. Als ich nach mehreren Minuten ihm den Spiegel wieder vorhielt, wiederholte sich genau dasselbe Manöver. […]«

[…]

»Aber sehr bald kam die Einsicht, welche dem Vierhänder [gemeint ist: den höheren Affen] fehlt. Denn in der 60. Woche sah das Kind seine Mutter im Spiegel, und auf die Frage »Wo ist Mama« zeigte es auf das Spiegelbild und drehte sich dann nach der Mutter lachend um. Da es auch sonst vor dieser Zeit schalkhaft sich gerirte, so ist nicht zu zweifeln, dass jetzt, nach 14 Monaten, Original und Bild als solche sicher unterschieden werden, zumal auch das eigene Photogramm nicht mehr Befremden erregte.« (ebd., 366)

[…]

»In der folgenden Woche [67. Woche] sah ich das Kind zum ersten Male vor dem Spiegel Grimassen schneiden. Es lachte darüber. Ich stand hinter ihm und rief es beim Namen. Sofort drehte es sich um, obgleich es mich im Spiegel deutlich sah. Es wusste offenbar, dass die Stimme nicht vom Bilde herkam.« (ebd., 366-367)

»In der 69. Woche werden Zeichen von Eitelkeit wahrgenommen. Das Kind betrachtet sich gern und oft im Spiegel. Wenn man ihm etwas auf den Kopf setzt und 'schön' sagt, so verändert sich der Gesichtsausdruck, er wird eigenthümlich fremdartig befriedigt, die Brauen heben sich und die Augen werden weit geöffnet.« (ebd., 367)

Diese und andere Beobachtungen zur Entstehung des Ichgefühls bzw. Ichbegriffs resümiert Preyer: »Alle diese Fortschritte, im Einzelnen nur mit grosser Mühe zu verfolgen, bilden gleichsam convergirende Linien, die im vollkommenen Gefühle des Geschlossenseins der Persönlichkeit und ihres Abgegrenztseins von der Aussenwelt gipfeln« (ebd., 368). Dieses Fazit könnte genau so gut von William Stern 32 Jahre später in der »Psychologie der frühen Kindheit« gezogen worden sein, denn es ist völlig in Einklang mit Sterns philosophischer Rahmentheorie, dem kritischen Personalismus. Und in der Tat finden wir bei Stern (1914, 19) eine nahezu identische Formulierung, um den Grundsatz der Konvergenz (sic!) auszudrücken: »Alle Trennungen innerhalb der Persönlichkeit sind nur relativ, nur Abstraktionen (die freilich für gewisse Zwecke der Betrachtung und Behandlung gefordert sind); alle Teilentwicklungen einzelner Funktionen sind stets getragen von der persönlichen Gesamtentwicklung.«

Anders als bei Preyer steht dieser Grundsatz der Konvergenz bei Stern in aller Ausführlichkeit aber nicht am Ende einer empirisch untermauerten Beschreibung der frühkindlichen Selbstkonzeptentwicklung, sondern in den als Kapitel 2 der Entwicklungsbeschreibung vorangestellten philosophischen Grundüberzeugungen Sterns vom Wesen des Menschen. In dem empirisch orientierten Kapitel über »die persönlichen Selbstgefühle[…] und ihre[…] Betätigung« (1914, Kapitel XXVIII) wird es nur mit wenigen Sätzen gestreift: »Das persönliche Selbstgefühl hat zwei Merkmale. Erstens ist es ein Gefühl von der Persönlichkeit als eines Ganzen und unterscheidet sich dadurch von den bisher erörterten Einzelgefühlen. […] Dazu gehört aber zweitens die Abgrenzung des eigenen Ich gegen andere Persönlichkeiten« (ebd., 312).

Es mag zunächst verwundern, dass Stern bei seiner Beschreibung der Entstehung des Selbstgefühls nicht auf Preyer zurückgreift, obwohl er – das geht aus anderen Passagen seines Buches eindeutig hervor – Preyers »Die Seele des Kindes« sehr gründlich studiert hat. Jedoch hat er dafür Gründe, die er gleich am Anfang des Kapitels benennt:

»In älteren Kindespsychologien ist die Frage nach dem Ich-Bewußtsein oder Selbstbewusstsein des Kindes mehrfach erörtert worden, aber, wie mir scheint, insofern unzureichend, als man dabei zu intellektualistisch vorging. Man fragte nach dem Entstehen der Ich-Vorstellung, sah womöglich in dem Auftreten des sprachlichen Ausdrucks »Ich« ein Symptom des erwachenden Ich-Bewußtseins. Wenn aber irgendwo, so trifft gerade hier das Gesetz zu, dass sich die Entwicklung des Kindes vom Affektiv-Willensmäßigen erst langsam zum Intellektuellen hin vollzieht. Das Ich-Bewußtsein des Kindes ist in seinen frühesten Phasen nicht ein Wissen um sich selbst, sondern ein Fühlen seiner selbst; ein Wollen für sich selbst; und auch weiterhin bleibt trotz steigender Intellektualisierung der gefühls- und willensmäßige Faktor der eigentliche Kern des menschlichen Ich-Bewußtseins.« (ebd., 312)

Sterns Vorwurf der (überzogenen) Intellektualisierung der Entwicklung des Ich-Bewusstseins bei Preyer (siehe auch oben) können wir nicht teilen. Selbst aus den zuvor auszugsweise vorgetragenen Beobachtungen und Deutungen sollte klar geworden sein, dass Preyer zwar als Entwicklungsrichtung eine zunehmende Bewusstheit des Selbsterlebens – bis hin zum bewussten Ich-Begriff – annahm, aber den Ausgangspunkt ausdrücklich in einem »dunklen Ichgefühl« (siehe oben) lokalisiert und, wie die Beobachtung zur Eitelkeit bei der Betrachtung des Spiegelbildes belegt, sehr wohl um die fortwährende affektive Besetzung des Selbstbildes wusste.

Für unseren Argumentationszusammenhang hat Sterns vehemente Zurückweisung der älteren Arbeiten zur Entwicklung des frühkindlichen Selbstkonzepts zwei bedeutsame Konsequenzen. Erstens: Stern wendet sich nur einzelnen Selbstgefühlen zu, wie etwa dem Eigensinn und dem Trotz, oder dem Ehrgefühl und dem Ehrgeiz. Zweitens: Obwohl Stern, wie wir im Folgenden zeigen werden, sehr ähnliche Tagebucheintragungen zum Umgang seiner Kinder mit ihrem Spiegelbild vorlagen, griff er in »Die Psychologie der frühen Kindheit« im Zusammenhang mit der Entwicklung des Selbstbildes nicht darauf zurück.

Allein in den Tagebüchern zu der ältesten, am 7. April 1900 geborenen Stern-Tochter Hilde finden sich für die ersten drei Lebensjahre zehn Beobachtungen des Kindes vor dem Spiegel oder in Konfrontation mit der eigenen Fotographie, einige davon zeugen von besonderer Sorgfalt beim Beobachten und Protokollieren. Pars pro toto seien hier zwei Tagebucheintragungen, offenbar von der Mutter Clara Stern angefertigt, zitiert.

»Spiegelbild und Ichbewusstsein.

Kürzlich wurde einmal diskutiert, ob Kinder im Alter von Hilde schon eine Ahnung haben, dass ihr Spiegelbild kein zweites Kind, der Mutter Spiegelbild keine andere Mama bedeute. Es wurde von Vielen behauptet, die Kinder meinten, da sei noch ein Kind, noch eine Mama. Bei Hilde ist mir das ganz unwahrscheinlich. Sie sagt, auf ihr Spiegelbild deutend, Hilde, auf meines: Mama u.s.w. freut sich, wenn ich ihr im Spiegel zunicke und guckt sich dann nach mir um. Ebenso, wie die Spiegelbilder, benennt sie die Schatten, die durch Sonne oder Lampenlicht im Freien und im Zimmer entstehen. Sie erkennt ihren und meinen Schatten sehr wohl, so dass sie sie unterscheidet und juchzte z.B. heute laut, als sie uns plötzlich auf einer grell beschienenen Mauer, auf die wir gerade zuschritten, vom Boden herauswachsen sah. »Hilde« rief sie und 'wackel' bei ihrem Hin- und Herwackeln und als ich auf meinen Schatten deutend, fragte: 'wer ist denn das?' sagte sie sofort 'Mama'. Dass H. die Schatten richtig benennt, ist doch eigentlich als Argument gegen die Auffassung von 'Noch einem Kind', 'Noch einer Mama' anzusehen.

[…] Wenn nun aber Hilde ihr Spiegelbild, ihren Schattenumriss nicht für ein anderes Kind, sondern für sich selbst, für 'Hilde' ansieht, dann muss doch sicherlich ein Bewusstsein ihrer selbst 'ein Ichbewusstsein' vorhanden sein. Siehe Preyer S. 455ff. … . (C. u. W. Stern, Tagebuch Hilde II, 78-79 [unveröffentlicht])

Knapp zweieinhalb Monate später, unter dem Datum vom 26. Februar 1902, finden wir die folgende Eintragung:

»Spiegel.

Hilde kennt jetzt genau den Spiegel und seine Eigenschaft, das Bild des Hereinschauenden wiederzugeben. Gestern Nachmittag, als ich ihr ein 'feines' Kleidchen angezogen hatte, lief sie gleich mit dem Ruf 'Piegel' zum grossen Schrankspiegel, sich zu betrachten. – Nachmittags, als ich ihr im Esszimmer einen Papierhelm aufgesetzt und ein Schiffchen in die Hand gegeben hatte, … lief sie an die geschlossene Schlafzimmerthür wieder 'Piegel' verlangend. Ich ließ sie hineinlaufen und richtig, vor dem Spiegel machte sie Halt. Den Grund zu diesem Treiben habe ich zum Teil wohl selbst gelegt; ich sagte öfter zum Kind, wenn sie drollig angekleidet war (z.B. mit Muff, Boa und Hut von mir): 'lauf mal zum Spiegel, guck mal, wie die Hilde aussieht.' Sich in den Spiegel zu gucken – aber noch ohne besonderen äußeren Anlass – machte H. schon immer Spaß. … (C. u. W. Stern, Tagebuch Hilde III, 35 [unveröffentlicht]) 5. Ein Jahrhundert später: Einige Anmerkungen zum Verständnis und zur Nutzung der Tagebuchaufzeichnung in der heutigen Entwicklungspsychologie

Von Tagebüchern ist in der modernen Entwicklungspsychologie in vielfältiger Weise die Rede. Kochinka (2005) hat deshalb eine hilfreiche Einteilung vorgenommen. Je nachdem, welche Rolle die Forschenden bei der Entstehung der Tagebücher haben, unterscheidet er, (a) ob sie die Tagebücher selbst erstellen, (b) ob die Tagebücher von den Heranwachsenden oder mit ihnen vertrauten Personen erstellt werden, jedoch auf Anregung und unter Anleitung des Forschers und folglich mit wissenschaftlicher Absicht geschrieben werden und (c) ob sie ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Zielsetzung entstanden sind, wie etwa die Tagebücher Heranwachsender, die auch als Gattung autobiographischen Schreibens betrachtet werden können (vgl. Winterhager-Schmid 1997). Die letztgenannte Kategorie steht hier nicht zur Debatte; zu der Unterscheidung der ersten beiden Typen von Tagebücher ist anzumerken, dass sich in ihnen die unterschiedlichen Auffassungen Preyers und Sterns wiederspiegeln, wer denn der ideale Tagebuchschreiber sei (siehe oben Abschnitt 2 und 3).

In zwei Aufsätzen hat der Erstautor (Hoppe-Graff, 1989; 1998) die historische Entwicklung der Methode der Tagebuchaufzeichnung seit den Anfängen bei Preyer und den Sterns bis hin zur aktuellen Forschung nachgezeichnet. Es zeigt sich, dass sie nach einer langen Zeit der ausgesprochenen Geringschätzung – vereinfacht gesagt: während der behavioristischen Epoche der Psychologie – eine gewisse Renaissance erfahren hat, ohne dass man sie zu den favorisierten Datenerhebungsverfahren der heutigen Entwicklungspsychologie zählen könnte. Wir sehen drei Gründe für das neu entfachte Interesse:

1. Ein Nebeneffekt der sog. kognitiven Wende in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhundert war die erhöhte Sensibilität dafür, dass sich unser Denken und Handeln immer in Bedeutungszusammenhängen vollzieht. Unsere Erfahrungen sind immer (auch) Konstruktionen im Sinne von Deutungen, einschließlich der (Be-) Deutung der Handlungen und Gedanken unseres Gegenübers. Auch im wissenschaftlichen Kontext gelingen Deutungen umso besser, je höher die Interpretationskompetenz des Beobachters ist (vgl. zum Konzept der Interpretationskompetenz Hoppe-Graff 1998). Die Tagebuchaufzeichnung unterstützt diese Kompetenz in besonderer Weise, denn in der Regel »werden in erster Linie Beobachtungen spontanen Verhaltens in der alltäglichen Lebenswelt gesammelt; … ist die Stichprobe der Beobachtungen sehr umfangreich. Im Extremfall nimmt der Beobachter ständig am Leben der beobachteten Personen teil …, kennt der Beobachter die beobachtete Person sehr gut und kann deshalb deren Handlungen und Äußerungen nicht nur 'theoriebezogen', sondern auch 'personbezogen' einordnen und interpretieren; wird die Datenerhebung nicht auf ein spezielles Verfahren begrenzt.« (Hoppe-Graff, 1998, 272).

2. Zunehmend wird die Frage nach der Validität bzw. der Generalisierbarkeit der gewonnenen Beobachtungen nicht nur an die »weichen« (qualitativen) Methoden, wie etwa die Tagebuchaufzeichnung und die Gruppendiskussion, herangetragen, sondern auch an die sog. »harten« (quantitativen) Verfahren, wie den standardisierten Fragebogen, die Laborbeobachtung oder den Leistungstest, wenn auch mit einer anderen Nuancierung. Lässt sich gegen die weichen Methoden der durchaus ernst zu nehmende Einwand vortragen, die Generalisierung vom Einzelfall (oder wenigen Fällen) auf eine »Gesamtheit« von Personen stelle ein Problem dar, so findet bei den harten Methoden das Bedenken der mangelhaften oder nicht abgesicherten ökologischen Validität zunehmend Gehör. Anders gesagt, die Übertragbarkeit von der artifiziellen und/oder vom Alltag abgetrennten Beobachtungssituation auf die Geltung im üblichen Lebenskontext wird angezweifelt.

3. Schließlich hat, quasi von außen herangetragen, der Methodenpluralismus in den anderen Sozialwissenschaften, der in der Folge der Debatte um qualitative vs. quantitative Methoden entstanden ist, nunmehr auch die Entwicklungspsychologie erreicht (siehe hierzu das von Mey 2005 herausgegebene Handbuch).

Da nicht nur Geschichte generell, sondern insbesondere auch die Wissenschaftsgeschichte ein offener Prozess ist, wäre es höchst spekulativ, aus diesen Trends Extrapolationen darüber abzuleiten, welche Akzeptanz und welche spezifische Ausgestaltung die Methode des Erstellens von Entwicklungstagebüchern in den nächsten Jahrzehnten annehmen wird. Wir sehen aber in den, in den letzten Jahren unter dem Terminus mixed methods aufgekommenen Versuchen (vgl. Hoppe-Graff u. Lamm-Hanel 2006), die Vorzüge von qualitativen und quantitativen Methoden miteinander zu verbinden, eine viel versprechende Perspektive, denn diese Forschungsstrategie geht davon aus, dass es nicht den methodischen Königsweg geben kann, sondern sich Methodik und Methodologie immer nach den Vorannahmen und Eigenheiten von Forschungsinteresse, Gegenstand und Fragestellung zu richten haben.

6. Schlussfolgerungen

Offensichtlich lohnt es sich aus verschiedenen Motiven, sich auch noch 125 Jahre nach der Veröffentlichung von Preyers »Die Seele des Kindes« mit den Gründervätern der deutschen Entwicklungspsychologie zu befassen. Die erste Lektion, die man lernen kann, ist ein unkonventioneller Blick auf das heute vorherrschende Methodenverständnis. Der heutzutage häufig anzutreffende Automatismus: »Ein hohes Methodenbewusstsein schließt die Datenerhebung per Entwicklungstagebücher aus« hat für Preyer und Stern trotz erstaunlicher Kenntnis und Beachtung von Kriterien empirischer Forschung nicht bestanden.

Zweitens konnten wir am Beispiel der Entwicklung des Ichbewusstseins in concreto zeigen, wie Tagebucheintragungen von Preyer und Stern zu theoretischen Deutungen Anlass geben können und Annahmen bestätigen oder widerlegen, die heute noch aufschlussreich sind.

Drittens zeigt der Vergleich von Preyers »Die Seele des Kindes« mit Sterns »Psychologie der frühen Kindheit« hinsichtlich der Darstellung des Selbstkonzepts, dass schon in der Frühphase unseres Faches in Lehrbüchern keinesfalls Wissensbestände in einem linearen Sinne kumuliert wurden. Weil Stern Preyers Auffassung von der Entwicklung des Ichbewusstseins als »zu intellektualistisch« ablehnte, hat er in seinem Lehrbuch dessen frühere Darstellung nicht berücksichtigt, obwohl er sie durch eigene Beobachtungen, die Preyers Aufzeichnungen sehr ähnlich waren, hätte ergänzen können.

Literatur

Cairns, Robert B. u. Beverly D. Cairns (2006): The making of developmental psychology. In Richard M. Lerner (Hg.), Handbook of child psychology. Vol. 1: Theoretical models of human development (90-165). New York: Wiley.

Darwin, Charles (1877): A biographical sketch of an infant. Mind, 2, 285-294.

Eckardt, Georg (1989): Einleitung. In William Th. Preyer, Die Seele des Kindes (eingeleitet und mit Materialien zur Rezeptionsgeschichte versehen von Georg Eckardt, 11-52). Berlin (DDR): VEB der Wissenschaften.

Haeckel, Ernst. (1874): Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen (Keimes- und Stammesgeschichte). Leipzig: Engelmann.

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Hoppe-Graff, Siegfried (1989): Die Tagebuchaufzeichnung: Plädoyer für eine vergessene Form der Längsschnittbeobachtung. In Heidi Keller (Hg.), Handbuch der Kleinkindforschung (233-251). Berlin: Springer.

Hoppe-Graff, Siegfried (1998): Gespräche, spontane Äußerungen und Tagebücher: Zugänge zum Verstehen von Kindern und Jugendlichen. In Heidi Keller (Hg.), Lehrbuch für Entwicklungspsychologie (261-294). Bern: Huber.

Hoppe-Graff, Siegfried u. Lamm-Hanel, Nicole (2006). Diaries and questionnaires: Mixed methods research on maternal discipline techniques. Qualitative Research in Psychology, 3, 1-16.

Kochinka, Alexander (2005): Tagebuchanalysen. In Günter Mey (Hg.), Handbuch Qualitative Entwicklungspsychologie (349-380). Köln: Kölner Studien Verlag.

Mey, Günter (Hg.): Handbuch Qualitative Entwicklungspsychologie. Köln: Kölner Studien Verlag.

Preyer, William Th. (1923): Die Seele des Kindes (Nach dem Tode des Verfassers bearbeitet und herausgegeben von Karl Ludolf Schaefer; 9. Auflage). Leipzig: Grieben.

Preyer, William Th. (1989): Die Seele des Kindes (Nachdruck der Erstauflage von 1882; eingeleitet und mit Materialien zur Rezeptionsgeschichte versehen von Georg Eckardt). Berlin (DDR): VEB der Wissenschaften.

Sigismund, B. (1897). Kind und Welt. Braunschweig: Vieweg.

Stern, William (1914): Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre. Mit Benutzung ungedruckter Tagebücher von Clara Stern. Leipzig: Quelle & Meyer.

Stern, William (1921). Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre. Mit Benutzung ungedruckter Tagebücher von Clara Stern (2. Auflage). Leipzig: Quelle & Meyer.

Winterhager-Schmid, Luise (1997): Jugendtagebuchforschung. In Barbara Friebertshäuser u. Annedore Prengel (Hg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (354-370). Weinheim: Juventa.

Autorenhinweis

Siegfried Hoppe-Graff

Professor für Pädagogische Psychologie an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Sein Arbeitsgebiet umfasst die Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie mit den aktuellen Forschungsschwerpunkten: Verbindung von qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden, empirische Lehrerbildungsforschung und kulturvergleichende Entwicklungspsychologie.

E-Mail: hoppe@uni-leipzig.de

Hye-On Kim

Professorin für Pädagogische Psychologie am Department of Education der Mokpo National University. Ihr Arbeitsgebiet umfasst vornehmlich die Pädagogische Psychologie, aber auch entwicklungspsychologische Fragestellungen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Psychologische Grundlagen des E-learning, empirische Forschungsmethoden und interkulturelle Erziehung.

Prof. Dr. Hye-on Kim Mokpo National University Department of Education Dorim-ri, Chunggye-myun, Muan-gun, Chonnam 534-729 Republik Korea

E-Mail: hokim@mokpo.ac.kr