Karl Marx hat nicht lediglich Hegels Philosophie, wie Engels bemerkt »vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt«. Besonders in den ökonomisch-philophischen Manuskripten präsentiert er den Entwurf eines eigenen Humanismus, den er dem in Hegel erkannten »falschen Positivismus« gegenüberstellt. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie dieser Geist des Humanismus durch das im Manifest der Kommunistischen Partei beschworene Gespenst seinen Ausdruck findet.
Schüsselwörter: Marx, Hegel, Sprache, Humanismus, end of history
Karl Marx did not only realize, as Engels put it, that Hegel was »standing on his head,« the economic and philosophic manuscripts introduced a concept of humanism with which he opposed Hegel’s »false positivism.« In the following, I outline the ways in which this spirit of a new humanism is articulated through the specter Marx invokes in the communist manifesto.
Keywords: Marx, Hegel, language, humanism, end of history
»Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus« – so lauten die berühmten einleitenden Worte des Manifests der Kommunistischen Partei (Marx und Engels 1972, 461). Marx und Engels zeichnen das Bild einer Welt zweier wesentlicher Stände, die im antagonistischen Verhältnis zueinander platziert sind. Während das Proletariat als ausgebeutete Klasse zunächst noch unverbunden der Macht der Bourgeoisie und damit der Ausbeuter ausgeliefert ist, wächst es im Durchlaufen verschiedener Entwicklungsstufen zunehmend – zunächst noch hervorgerufen durch die Spiegelung des Zusammenwachsens der Bourgeoisie selbst, später durch den Kampf gegen die Ausbeuter – zu einer großen Masse zusammen. Diese sich so herausbildende Klasse des Proletariats ist die eigentliche und auch einzige revolutionäre Klasse. Sie wird sich zur herrschenden Klasse erheben, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital entreißen und somit «[a]n die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft« eine Assoziation setzen, in der »die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist« (ebd., 482). Katalysator für diesen Prozess der Auflösung der Klassengesellschaft sind die Kommunisten – also die Verfasser dieses Manifests, die aktiv am gewaltsamen Umsturz arbeiten und so im bekannten Schlusssatz zur Vereinigung der Proletarier aller Ländern aufrufen.
Das kommunistische Manifest und seine Rezeption sind wesentliche Grundlage einer marxistischen Entwicklungslogik, wie sie sich im orthodoxen Marxismus zeigt. Durch die Vereinigung der Bourgeoisie in ihrer Kapitalakkumulation wird auch das Proletariat – durch zunächst erzwungene Zusammenrottung mit dem Ziel der Erhöhung der Produktivität – vereinigt und beginnt zu handeln. Immer mehr Aufstände gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die herrschende Klasse führen schließlich zur Vereinigung Aller, die durch Revolution die klassenlose Assoziation von Individuen herbeiführen. Obwohl dieser orthodoxe Marxismus schon von Karl Korsch, Georg Lukács, Antonio Gramsci und nicht zuletzt der Frankfurter Schule, die das Subjekt in den gesellschaftlichen Umständen in den Fokus rückte, kritisiert worden war, schimmert diese Logik in der Auseinandersetzung mit Marx, wenn auch in teilweise abgeschwächter Form immer wieder hindurch; nicht zuletzt bei Louis Althusser, für den eigentliche Veränderung nur mehr durch eine Wissenschaft des dialektischem Materialismus möglich wird, eine Wissenschaft, die am Ende einer (darwinschen) Evolution steht, und alle bisherige Philosophie krönt und abschließt.
Außer Acht bleibt hier das Gespenst, das Marx und Engels dem Manifest an den Anfang gestellt haben. Denn es ist nicht schlicht der Kommunismus, der in Europa umgeht, die Revolution des Proletariats, der Klassenkampf oder der sich anbahnende gewaltsame Umsturz. Vielmehr haben wir es mit einem Gespenst zu tun, das umhergeistert. Es spukt also in Europa.
Dieses Bild des Übernatürlichen, des Unheimlichen steht im krassen Gegensatz zur wissenschaftlich bestimmten Entwicklungslogik des dialektischen Materialismus. Das Gespenst erscheint im Schwebezustand zwischen Übernatürlichem und (wissenschaftlich) Erklärbarem, das gleichwohl beseelt bleibt mit einer menschlichen Natur, ein Januskopf aus Geist und Körper. Es ist diese Zwiespältigkeit, die dem Immateriellen eine Materialität verleiht, so ein Objekt zwischen zwei Welten erschafft, das als Gespenst identifiziert wird. Und dieses Gespenst spukt. Der Spuk ist der Ausdruck einer nicht näher bestimmbaren, gleichwohl bewussten Ahnung, die die Menschen umtreibt. Denn, so wird im Manifest der kommunistischen Partei klar, geschieht der Umsturz nicht von allein, nicht als reiner Automatismus aneinandergereihter, entwicklungsgeschichtlicher Zwangshandlungen. Es braucht die »Ansichten und Absichten« der Menschen zum »gewaltsamen Umsturz« (ebd., 493). Der Spuk selbst entsteht also durch das Handeln der Menschen, die in ihrem Handeln einem Geist, der sie beseelt, eine Entität verleihen, ihn so in besagten Schwebezustand überführen. Das, was zunächst nur im Geiste existiert, wird durch die Aufstände der Proletarier, durch die Erhebung der Regierten gegen die Regierenden, sichtbar, gewinnt an Materialität, ohne sich jedoch vollends zu zeigen. Es bleibt ein Gespenst zwischen den Welten. Es bleibt, um es mit Derrida zu sagen, im Kommen begriffen. Der Entwicklungslogik einer unmittelbar bevorstehenden Revolution wird also eine Erscheinung entgegengesetzt, die nicht mehr von einer anvisierten und vorgestellten Zukunft aus operiert, sondern im Hier und Jetzt sich zeigt, an der Grenze zwischen Materiellem und Immateriellem, die aus der Gegenwart heraus, aus dem Agieren in den konkreten Lebensumständen, auf ein anders Sein verweist. Sie enthält eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist, sowie eine in die Gegenwart eingeschriebene Zukunft. Das Gespenst ist so die Andeutung einer Idee im Geiste, ein die Menschen einender Humanismus, der, gleichwohl nicht explizierbar, im Angesicht der existierenden Verhältnisse zum Handeln antreibt. Es erscheint als Ahnung vom Möglichen, es greift die Gegenwart auf und weist über sie hinaus, bleibt aber dennoch ungreifbar. »Man weiß es nicht – aber nicht aus Unwissenheit, sondern weil dieser Nicht-Gegenstand, dieses oder eines Entschwundenen nicht mehr dem Wissen untersteht« (Derrida 1998, 22).
Die entwicklungslogische Lesart von Marx, sieht sich mit Blick auf den Vorhersagecharakter seines Werks mit einem Dilemma konfrontiert. Während Marx' Analysen nach wie vor nichts von ihrer Stichhaltigkeit verloren zu haben scheinen, treten seine daraus abgeleiteten Vorhersagen nicht ein. Trotz immer wieder aufkeimender Erhebungen der Unterdrückten gegen ihre Herrscher bleibt eine globale Vereinigung, ein Überkommen der Klassengesellschaft, mithin eine Welt in der die freie Entwicklung des Einzelnen die freie Entwicklung aller ist, aus. Aufklärungsversuche für diese Aporie gibt es zahlreiche, etwa die Kritische Theorie, der schon genannte Louis Althusser mit der Betonung einer Wissenschaft vom dialektischen Materialismus, Versuche Marx zu psychologisieren, da er diese und damit doch das singuläre Individuum vergessen hätte, bis hin zu entschuldigenden Einbettungen der historischen Person Karl Marx in seine Zeit und der damit notwendigerweise verbundenen mangelnden Fähigkeit, alle Entwicklungen der Zukunft en detail vorhersagen zu können.
Ein etwas anderes Bild entwirft Don DeLillo in seinem Roman Cosmopolis (2005). Er zeichnet ein Bild der neuen Finanzwelt als konsequent inkludierendes Verfahren, das jede Kritik in sich einschließt und für sich als Kreativpotenzial zu nutzen weiß (Vogl 2010, 13f). Als dringlich visuellen Marker einer solchen Lesart gesellschaftlicher Verhältnisse lässt DeLillio in einer Szene seines Romans eine Gruppe von Demonstranten das Display des Börsentickers an der Außenfassade einer Investmentbank manipulieren. Statt der aktuellen Börsenkurse ist dort von der Manifestation eines neuen Geistes in großen Lettern zu lesen: »Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst des Kapitalismus« (DeLillo 2005, 107). Nicht nur wird Europa durch die Welt ersetzt, damit also die anvisierte Vereinigung (der Proletarier) aller Länder heraufbeschworen, auch das Gespenst hat sich gewandelt. Es entfacht einen neuen Geist, den des Kapitals. Ein Kapitalismus, der im Kommen begriffen bleibt, als Ahnung sich in die Ritzen und Spalten der herrschenden Ordnung setzt um aufkommende Widersprüche zurückzuführen in das System, sie für die herrschende Ordnung, die die Ordnung der Herrschenden ist, produktiv zu nutzen.
Während DeLillo, ähnlich wie die erste Generation der Frankfurter Schule, dieses Bild mit einer (kultur-)pessimistischen, trauernden Stimmung entwirft, feiert Francis Fukuyama den Sieg des Kapitalismus – und die damit einhergehende Niederlage des Kommunismus, mithin des Marx’schen Gespensts – wie sein Buchtitel bereits verlautbart, als »The End of History« (1992). Dieses Ende der Historie ist für Fukuyama die Erfüllung eines kantianischen Traums einer allgemeinen Geschichte (Kant 1784), die Alexandre Kojève (1969) schließlich im Werk G. W. F. Hegels gefunden zu haben glaubt. Kojève nimmt seinen Ausgang in der Hegel’schen Figur des absoluten Wissens, als Vereinigung der philosophischen und religiösen Evolution zum perfekten Menschen, der den absoluten Geist als Inhalt seiner Vorstellung trägt (ebd., 73). Dieser perfekte Mensch ist notwendig der Bürger eines universellen und homogenen Staates. Er steht »at the end of history«, der Vereinigung von Subjekt und Objekt in einem totalen Raum, in dem das Wissen an einer Stelle angekommen ist, an der es zirkuläre Bahnen beschreibt. Unter Bezugnahme auf Kojève entwirft Fukuyama so eine Endzeitstimmung als finalem Sieg der freien Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie, die sich als Produkt der Aufhebung der Widersprüche in der Hegelianischen Totalität herausstellen. Die Globalisierung hat den universellen und homogenen Weltstaat geschaffen und die liberale Demokratie den perfekten Menschen hervorgebracht. Die Menschheit ist am positiven Ende und damit in ihrer höchsten Entwicklungsstufe angekommen. Das Kommunistische Gespenst ist besiegt, das Kapitalistische hat seinen Spuk abgelegt und tritt uns in reiner Form der westlichen Demokratie und Marktwirtschaft als höchste zu erreichende Qualität historischer Entwicklung gegenüber. Fukuyama, so lässt sich resümieren, entwirft also mit Kojèves Hegelinterpretation einer Finalität des dialektischen Prozesses ein Ende der Geschichte, das sich spiegelbildlich der Endzeit des traditionellen Marxismus gegenüberstellt. Materialisiert sich das Gespenst des Kapitalismus auf der einen Seite, so ist es das des Kommunismus auf der anderen – jeweils unter Verdrängung des gegenüberliegenden Pols. Ziel beider Seiten ist es, eine Vision der Zukunft, die ihnen durch das Umhergeistern eines Gespenstes erschien, zu verwirklichen oder als verwirklicht zu betrachten. Im Wesentlichen geht es also darum, dem Gespenst den Spuk zu nehmen, zu einer positiven Sicherheit zu gelangen, es somit zu töten und eine qualitativ neue Phase menschlicher und geschichtlicher Entwicklung als finale Stufe eines totalen Präsentismus einzuläuten.
Dem Werk von Marx und Engels eilt der Ruf voraus, sich nicht oder nur am Rande mit der Problematik der Sprache zu befassen. Jean-Jacques Lecercle bringt diese Auffassung in aller Härte auf den Punkt wenn er schreibt »There is no Marxist philosophy of language« (Lecercle 2006, 73). Und tatsächlich gibt es keine einzige unter den zahlreichen Schriften von Marx und Engels, die sich dezidiert mit dem Phänomen der Sprache befassen würde, sieht man einmal von Engels Untersuchungen der Dialekte ab (Engels 1973). Vielmehr geistert sie umher, taucht an der einen oder anderen Stelle auf, baut Brücken, nur um wieder in der Auseinandersetzung mit einem neuen Gegenstand, den sie befruchtet hat, zu verschwinden. Gleichzeitig bleibt sie Thema, bleibt unmittelbar verbunden mit der Marx’schen Philosophie.
In seiner »Dialektik der Natur« stellt Friedrich Engels die Sprache an den Beginn der Vergesellschaftung des Menschen in der die zunehmende Kooperation schließlich dazu führte, dass »die werdenden Menschen [sich] einander etwas zu sagen hatten« (Engels 1962, 446). Die Sprache betritt die Bühne zunächst noch als bloßes Medium einer notwendigen Verständigung zur Koordination von Arbeit, bewegt sich jedoch sogleich darüber hinaus indem ihre Entwicklung die Entwicklung der kooperativen Arbeitsteilung speist und damit die Vergesellschaftung des Menschen vorantreibt. Sprache wird also zur wesentlichen Voraussetzung der Produktion von Neuem.
Diese Entwicklungsgeschichte des Menschen wird in der deutschen Ideologie fortgesetzt, in der sich Marx und Engels an den Junghegelianern abarbeiten (1969). Dort wird die kooperative Arbeitsteilung unter der Vermittlung von Sprache genauer gefasst als die »körperliche Organisation« mit deren Hilfe die Menschen »ihre Lebensmittel produzieren« und damit »indirekt ihr materielles Leben selbst« erschaffen (ebd., 21). Entscheidend ist dabei nicht die Produktion selbst, sondern die Art und Weise, in der die Menschen ihre Produkte erschaffen. Diese ist nämlich je nach Produkt, aber auch je nach der sich herausbildenden, sprachlich vermittelten Produktionsprozesse, verschieden und konstituiert so eine spezifische »Lebensweise«. »Was die Individuen also sind,« so stellen Marx und Engels fest, »das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion« und »setzt einen Verkehr der Individuen untereinander voraus« (ebd., 21). Und schließlich wird diese Formel in einer berühmten Passage zusammengefasst. In ihr spiegelt sich die entwicklungslogische Lesart im Marxismus, die berühmte Auffassung, Marx habe Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, genauso wie die Inkorporation der Sprache in die Welt des Materiellen und damit die Lebensumstände determinierenden. Sie lautet wie folgt:
Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. (ebd., 26)
Notwendig wird im klassischen Marxismus aus dieser Logik gefolgert, dass die Veränderung der Verhältnisse nicht über die »Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw.« erfolgen kann, sondern ausschließlich über die Veränderung der materiellen Umstände, denn: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein« (ebd., 27). Und: «[D]ie Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein« (ebd., 30).
Doch wie konstituiert sich bei Marx und Engels dieses Bewusstsein? Und: Erscheint es tatsächlich lediglich in der Form der Abhängigkeit gegenüber der geschaffenen Umstände? Wie sind diese Umstände dann zu verändern, anders als über den sich ereignenden Entwicklungsprozess materialistischer Dialektik?
Zu Beginn des achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte schreibt Marx: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« (1960, 115) und bezieht sich damit direkt auf Hegels Geschichtsverständnis. Während die Menschen hier also als die Quelle ihrer eigenen Lebensumstände begriffen werden, sind sie doch zugleich Opfer der für sie je konstitutiven Lebenswirklichkeit. Der Mensch ist im Menschsein gefangen, er erschafft sich selbst, kann dies aber immer nur unter der Voraussetzung des von ihm selbst bereits Geschaffenen. Diese Voraussetzungen müssen dabei nicht bewusst sein, sie bilden vielmehr den Rahmen des Möglichen überhaupt. Gerade in Zeiten des revolutionären Umschwungs, so stellt Marx fest, lässt sich immer wieder ein paradoxer Bezug auf das Vergangene finden, ein »Beschwören« der »Geister der Vergangenheit« um mit einer von diesen »erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen« (ebd., 115). Sprache erscheint hier als wesentlich reproduktives Element, sie verantwortet den Erfolg wie auch das Scheitern sozialer Bewegungen. Sie hat die Macht, in ihrem Scheitern »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce« (ebd., 115) in Erscheinung zu treten. Gleichzeitig vermag sie aber auch, so es denn gelingt, »frei in ihr zu produzieren« (ebd., 115), Neues zu schaffen. Sprache ist also weit davon entfernt lediglich Mittel der Kommunikation zu sein. Stattdessen ist sie wesentlicher Produktionsfaktor materieller Lebensumstände. Sie wirkt zum einen reproduzierend, weil sie dem Menschen seine »vorgefundenen und überlieferten Umstände« bereitstellt, also den gesellschaftlichen Zusammenhang überhaupt sichert. Sie ist ein Hemmschuh einer jeden revolutionären Bewegung, führt sie doch die alte Ordnung immer wieder in die neue Bewegung ein, ergreift das, was im Kommen ist und führt es in den Diskurs des alltäglichen, bekannten zurück. Gleichzeitig birgt sie das Potenzial zur Kritik und Transformation. Sprache scheint also nicht der Trennung von Materialität und Immaterialität, von Dinglichkeit und Bewusstsein zu unterliegen, vielmehr ist sie Ausdruck des Menschen, der sich selbst zum Gegenstand wird, seine eigenen Lebensbedingungen aktiv gestaltet.
In den ökonomisch-philosophischen Manuskripten entwirft Marx seine pointierteste Kritik der Hegel’schen Philosophie und der sich darin zeigenden reproduktiven Elemente. Diese sind für Marx wesentlich in Hegels Menschenbild verankert. Hegels phänomenologischer Geist, so stellt Marx fest, entwirft einen falschen Positivismus sowie einen unkritischen Idealismus, wird doch dem Menschen lediglich die Rolle des Trägers des Geistes zugestanden. Der Mensch bleibt reines »Prädikat« und »Symbol« eines durch die dialektische Bewegung des Geistes vollzogenen Entwicklungsprozesses, der maßgeblich den Menschen und sein Selbstbewusstsein betrifft. Für Marx kristallisiert sich hier einer der wesentlichen Fehler Hegels: Er setzt die Entwicklung des Menschen mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins gleich. Menschsein bedeutet so, ein Selbstbewusstsein vorweisen zu können, das sich in Negationsschleifen von sich selbst ausgehend und zu sich selbst zurückkehrend bewegt:
Der Gegenstand zeigt sich nicht nur (dies ist nach Hegel die einseitige – also die die eine Seite erfassende – Auffassung jener Bewegung) als zurückkehrend in das Selbst. Der Mensch wird = Selbst gesetzt. Das Selbst ist aber nur der abstrakt gefaßte und durch Abstraktion erzeugte Mensch. Der Mensch ist selbstisch. Sein Auge, sein Ohr etc. ist selbstisch; jede seiner Wesenskräfte hat in ihm die Eigenschaft der Selbstigkeit. Aber deswegen ist es nun ganz falsch zu sagen: Das Selbstbewußtsein hat Aug', Ohr, Wesenskraft. Das Selbstbewußtsein ist vielmehr eine Qualität der menschlichen Natur, des menschlichen Auges etc., nicht die menschliche Natur ist eine Qualität des Selbstbewußtseins. (Marx 1968, 575)
Durch die Vorstellung von Entwicklung als Entwicklung des Selbstbewusstseins erwirkt Hegel eine Neuordnung der Verhältnisse: Die Sinne sind Gegenstand des Bewusstseins, nicht das Bewusstsein ein Teil des Menschen wie die Sinne auch. Durch die Gleichsetzung von Mensch und Selbst wird eine Abstrahierung menschlicher Entwicklung möglich, die das Ideal des vollends materialisierten Geistes ebenso greifbar macht wie den vor diesem Hintergrund hervortretenden Mangel. Ein Mangel, der durch die Negation der Negation schrittweise – auf das erschaffene Ideal hin ausgerichtet – aufgehoben wird. Die Konsequenz dieser Überlegung ist eine transhistorische Perspektive eines Endes der Geschichte, wie sie von Kojève und Fukuyama ausformuliert wird.
Für Marx bleibt eine solche Perspektive notwendig unkritisch, ist sie doch totalitär und reproduktiv. Begründen lässt sich diese Totalität mit den Auswirkungen des beschriebenen Hegel’schen Menschen- und Geschichtsbildes: Nimmt der Mensch sich selbst vorrangig abstrakt als Selbst und Selbstbewusstsein wahr, manifestiert er sich als «abstrakter Egoist, der in seine reine Abstraktion zum Denken erhobne Egoismus« (ebd., 575). Der abstrakte Egoist ist in der Lage, die Religion einerseits als Ideologie zu entzaubern, andererseits jedoch ein menschliches Bedürfnis nach Religion zu verspüren, indem er beides »abstrakt« integriert und dem »menschlichen Bedürfnis« im Wissen um seine Widersprüchlichkeit nachgeht. Dabei wird das im Widerspruch stehende Verhalten als Selbstbestätigung wahrgenommen, weil »man es ja besser weiß« und vielleicht auch »ein schlechtes Gewissen hat« – all dies wird erst möglich durch einen Vorrang des Selbstbewusstseins vor dem körperlichen Sein. In Marx' Worten liest sich die Kritik an diesem Vorrang so:
[D]er selbstbewußte Mensch, insofern er die geistige Welt – oder das geistige allgemeine Dasein seiner Welt – als Selbstentäußerung erkannt und aufgehoben hat, er dieselbe dennoch wieder in dieser entäußerten Gestalt bestätigt und als sein wahres Dasein ausgibt, sie wiederherstellt, [gibt vor] [in seinem] Anderssein als solchem bei sich zu sein (…), also nach Aufhebung z.B. der Religion, nach der Erkennung der Religion als eines Produkts der Selbstentäußerung, dennoch in der Religion als Religion sich bestätigt findet. Hier ist die Wurzel des falschen Positivismus Hegels oder seines nun scheinbaren Kritizismus: was Feuerbach als Setzen, Negieren und Wiederherstellen der Religion oder Theologie bezeichnet – was aber allgemeiner zu fassen ist. Also die Vernunft ist bei sich in der Unvernunft als Unvernunft. Der Mensch, der in Recht, Politik etc. ein entäußertes Leben zu führen erkannt hat, führt in diesem entäußerten Leben als solchem sein wahres menschliches Leben. Die Selbstbejahung, Selbstbestätigung im Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen als mit dem Wesen des Gegenstandes, ist also das wahre Wissen und Leben. (ebd., 581)
In diesen Situationen, in denen gerade im Widerspruch mit sich selbst das vermeintlich Richtige und Ideale gewusst wird, ist die Vernunft bei sich in der Unvernunft als Unvernunft, also als entfremdendes und Ungerechtigkeit reproduzierendes Element. Diese Unvernunft bleibt in Hegels Philosophie bestehen, ist sie doch für die Realisierung des Ideals selbst zu einem konstitutiven Moment der dialektischen Bewegung geworden:
[I]n Hegels Rechtsphilosophie [ist] das aufgehobne Privatrecht = Moral, die aufgehobne Moral = Familie, die aufgehobne Familie = bürgerliche Gesellschaft, die aufgehobne bürgerliche Gesellschaft = Staat, der aufgehobne Staat Weltgeschichte. In der Wirklichkeit bleiben Privatrecht, Moral, Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat etc. bestehn, nur sind sie zu Momenten geworden, zu Existenzen und Daseinsweisen des Menschen, die nicht isoliert gelten, sich wechselseitig auflösen und erzeugen etc., Momente der Bewegung. (ebd., 582)
Diese Momente der Bewegung sind transhistorischer Natur, sie veranschaulichen das totalitäre Bild des Menschen und der Geschichte. In diesem Sinne wird das »wahrhaft menschliche Leben« als Selbstbewusstsein als »eine Abstraktion, eine Entfremdung des menschlichen Lebens« verstanden, als »göttlicher Prozeß des Menschen – ein Prozeß, den sein von ihm unterschiednes abstraktes, reines, absolutes Wesen selbst durchmacht« (ebd., 584), wobei
»mein wahres religiöses Dasein mein religionsphilosophisches Dasein [ist] [und] mein wahres politisches Dasein mein rechtsphilosophisches Dasein, mein wahres natürliches Dasein das naturphilosophische Dasein, mein wahres künstlerisches Dasein das kunstphilosophische Dasein, mein wahres menschliches Dasein mein philosophisches Dasein [ist]. Ebenso ist die wahre Existenz von Religion, Staat, Natur, Kunst: die Religions-, Natur-, Staats-, Kunstphilosophie. Wenn aber nur die Religionsphilosophie etc. mir das wahre Dasein der Religion ist, so bin ich auch nur als Religionsphilosoph wahrhaft religiös, und so verleugne ich die wirkliche Religiosität und den wirklich religiösen Menschen. Aber zugleich bestätige ich sie, teils innerhalb meines eignen Daseins oder innerhalb des fremden Daseins, das ich ihnen entgegensetze, denn dieses ist nur ihr philosophischer Ausdruck; teils in ihrer eigentümlichen ursprünglichen Gestalt, denn sie gelten mir als das nur scheinbare Anderssein, als Allegorien, unter sinnlichen Hüllen verborgne Gestalten ihres eignen wahren, id est meines philosophischen Daseins.« (ebd., 582)
Dieses nur scheinbare Anderssein ist in seiner Affirmation schon längst überholt worden von dem, was durch seine Scheinbarkeit angedeutet wird: mein wahres, philosophisch-abstraktes Dasein. Es ist diese Gegenüberstellung von Philosophie und Wirklichkeit, die die Marx’sche Kritik am Hegel’schen Model vom wirklichen Menschen und der wirklichen Natur als bloßen Prädikaten und Symbolen des verborgenen idealen Menschen am deutlichsten herausstellt. Innerhalb des Verhältnisses von Selbstbewusstsein und Wirklichkeitsmomenten zieht eine Totalität ein, die das Verhältnis von Mensch und Selbstbewusstsein einer »absoluten Verkehrung« unterzieht, aus deren egozentrischen Kreisen kein Ausweg erkennbar wird. Es handelt sich also, so folgert Marx, um ein
mystisches Subjekt-Objekt oder über das Objekt übergreifende Subjektivität, das absolute Subjekt als ein Prozeß, als sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sie zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt und das Subjekt als dieser Prozeß; das reine, rastlose Kreisen in sich. (ebd., 584)
Die bekannte Folge aus dieser Marx’schen Kritik an Hegel ist die Notwendigkeit, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, also der Dialektik ihre verloren gegangene Materialität zurück zu geben. Doch reicht es schon aus, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu wenden? Oder geht Marx' Kritik am Menschenbild Hegels über eine solche Wendung hinaus und zielt auf etwas viel Grundsätzlicheres ab?
In den ökonomisch-philosophischen Manuskripten begnügt sich Marx nicht schlicht mit der Betonung der Materialität, seine Kritik greift vielmehr, angefangen beim Menschen, über auf das Verständnis von Geschichte, Entwicklung und Zeitlichkeit. Der Kern der Marx’schen Kritik ist dabei die Totalität des Selbstbewusstseins, sein abstrakter Egoismus, dem Marx die Finalität des menschlichen Seins gegenüberstellt:
Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eignen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines andern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat, wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine eigne Schöpfung ist. (ebd., 544f.)
Hegels abstrakter Egoismus hat keinen Platz für diesen »Grund außer sich«, mit dem Marx die Finalität des Menschen kennzeichnet, die für seine Sinnlichkeit, Sterblichkeit und Verletzbarkeit verantwortlich ist. Zwar spielt die menschliche Finalität im Hegel’schen Denken eine Rolle, jedoch nur in dem Sinne, als dass sie durch das Selbstbewusstsein überwunden wird; wenn sie nicht lediglich sekundär ist so stellt sie zumindest einen Mangel dar, der durch den Prozess des Geistes behoben wird.
Marx begreift im Gegensatz dazu die Finalität des Menschen als Chance, als Möglichkeit eines menschlichen Lebens und letztlich als Möglichkeit der Überwindung der Totalität. Gerade weil Menschen voneinander abhängig sind und wesentlich soziale Wesen sind, teilen sie alle einen Begriff davon, was es heißt, Mensch zu sein. Marx fragt konkret wann »das natürliche Verhalten des Menschen menschlich oder […] das menschliche Wesen ihm zum natürlichen Wesen, […] seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist« und antwortet: Wenn »das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis, […] ihm also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist [und] er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist« (ebd., 535).
Der Geist des Humanismus, den Marx hier beschreibt, wird so zu einem Gegenmodell zum Geist des Selbstbewusstseins als Geist, der die Armut des Menschen in seiner «menschliche[n] und daher gesellschaftliche[n] Bedeutung« (ebd., 543) begreift. Die Armut ist danach
das passive Band welches den Menschen den größten Reichtum, den andren Menschen, als Bedürfnis empfinden läßt. Die Herrschaft des gegenständlichen Wesens in mir, der sinnliche Ausbruch meiner Wesenstätigkeit ist die Leidenschaft, welche hier damit die Tätigkeit meines Wesens wird. (ebd., 543)
In diesem Zusammenhang begreift Marx beides, »das Material meiner Tätigkeit […], die Sprache« und »mein eignes Dasein [als] gesellschaftliche Tätigkeit«, nämlich als das, »was ich aus mir mache, ich aus mir für die Gesellschaft mache und mit dem Bewußtsein meiner als eines gesellschaftlichen Wesens.« (ebd., 538) Sprache und Handeln sind so integrative Teile des Menschen und seiner Fähigkeit durch sein Sprechen und Handeln Mensch zu werden.
Es ist dieses Menschwerden, das für Marx wesentlich emanzipatorisch ist. Er beschreibt es mit folgenden Worten:
Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuß haben darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen Nutzen geworden ist (ebd., 540).
Während die hegelianische Entwicklungslogik die Totalität durch die immer schon dagewesene und sich immer neu vollziehende Bewegung der Momente vollzieht, verfolgt der entwicklungslogische Marxismus ein klares, der hegelianischen Vorstellung sehr ähnliches, Zeitkonzept. Gleichwohl ist es geprägt von der Verkehrung Hegels vom Kopf auf seine Füße: Aus spezifischen »gegebenen und überlieferten Umständen« (Marx 1960, 115) entstehen die konkreten Lebensumstände in der Gegenwart, die sich selbst wieder auf einen in der Zukunft anvisierten Zustand richten; den im Manifest der kommunistischen Partei beschriebenen Telos des klassischen Marxismus als freier Assoziation aller. Das Mögliche stellt hier ein zukünftiges, bekanntes Ideal dar, dessen Realisierung einer zunehmenden Vervollkommnung der Totalität gleichkommt, einer immer feineren Deckungsgleichheit zwischen den konkreten Lebensumständen und dem Möglichen. Die Zeitdimension, auf der diese Geschichtslogik operiert, ist auf das Kommende ausgerichtet, sie folgt einer klaren Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukünftigem. Die Entwicklung selbst realisiert transhistorisch geltende Logiken insoweit als dass sie auf die Erfüllung einer im Vorfeld einsichtigen Totalität – der freien Assoziation aller – gerichtet ist. Während die historische Entwicklung sich also in klaren Zeiteinheiten bewegt, operiert das Wissen um die Geschichte transhistorisch.
Demgegenüber folgt das Gespenst, wie Marx es beschwört, einer anderen Zeitmodalität: Vom Geist des Humanismus beseelt, befindet es sich nicht nur zwischen den Welten von Materialität und Immaterialiät, sondern verweist auf das Mögliche im Hier und Jetzt, wobei das Mögliche stets im Kommen begriffen bleibt. Das Menschliche als universell, das heißt natürlich Verständliches ereignet sich innerhalb entfremdeter Verhältnisse, es tritt in Erscheinung als »Entstehungsakt« des Menschen und seiner Geschichte, deren Zeit jedoch nicht konkret, linear oder abstrakt verläuft, dessen Modalität vielmehr messianisch ist. »Und wie alles Natürliche entstehn muß« so schreibt Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten, »so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist« (Marx 1968, 579). Begreift der klassische Marxismus den Entstehungsakt noch als finales Bewusstwerden der Geschichte, und damit deren Ende und greift für Hegel die Totalität durch die Aufhebung dieses Entstehungsaktes im Selbstbewusstsein, so lässt sich mit Marx zeigen, dass das Bewusstsein als sich aufhebender Entstehungsakt »von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung« weiß und damit ein die Gegenwart »überbietendes Bewußtsein« erworben hat (ebd., 553). Das Bewusstsein deutet hier nicht auf eine Realität, die in der Zukunft noch eintreten wird, sondern auf eine messianische Realität, die sich jenseits der klassischen Auffassung von Zeit stellt: Sie entspringt einem Geist, der sich den anderen Menschen als Mensch zum Bedürfnis gemacht hat, der sich zu der Sache um der Sache willen verhält. Da das Ding an sich auch für Marx nicht möglich ist, kann die Möglichkeit nur aus einer unwiederbringlichen Vergangenheit in die Gegenwart mit Blick auf eine nicht vorwegnehmbare Zukunft sprechen. Dieser Hintergrund verleiht Marx' Rekurs auf das Gespenst eine besondere Bedeutung – das Gespenst als Sinnbild messianischer Modalität und menschlicher Entstehungsgeschichte.
Kojève und Fukuyama präsentieren, wie auch der orthodoxe Marxismus, die Idee einer Finalität. Eine dialektische Entwicklung hebt nach und nach alle existierenden Widersprüche auf und erzeugt so eine Totalität, in der Wissen nunmehr zirkulär auf sich selbst zurückbezogen wird. Die treibende Kraft hinter diesem finalen Prozess ist dabei der dialektische Prozess selbst, durch den die Menschen zwar als Akteure in Erscheinung treten, jedoch gleichzeitig immer Spielball ihrer eigenen Lebensumstände bleiben. Innerhalb dieser Logik entsteht Neues immer nur als qualitativ neue Ebene der Verschränkung bzw. Aufhebung von Widersprüchen bis zur vollständigen Eliminierung aller Widersprüchlichkeiten in der Totalität. Sprache ist in beiden Fällen ein wesentlicher Produktionsfaktor materieller Lebensumstände. Sie bindet das Neue zurück an die alten, vergangenen Umstände und macht so wesentlich die Inkorporation von Widersprüchen auf einer qualitativ neuen Stufe möglich. Sie wird zum Werkzeug um den die materiellen Umstände umgebenden Spuk zu befrieden und schließlich einen zirkulären Zustand zu schaffen, in dem Subjekt und Objekt im totalen Geist ineinanderfallen. The End of History ist so die logische Erfüllung des Versprechens einer ursprünglich widersprüchlichen Welt. Es ist das Versprechen des dialektischen Prozesses, in der Negation der Negation schließlich alle Widersprüche aufgelöst zu haben und damit den Spuk, der von diesen Widersprüchen ausgeht, zu befrieden. Das Gespenst wird so durch einen dauerhaften Zweifel an seiner Existenz schließlich zum Schweigen gebracht.
Und dennoch: »Eine Zeit, in welcher es philosophische Kühnheit ist, an Gespenstern zu zweifeln […] eine solche Zeit ist die legitime Zeit der Gespenster«, so schreibt Marx in der Rheinischen Zeitung (1842) und entlarvt damit den Glauben an das Ende der Geschichte, mithin den Glauben an das Ende der Gespenster, als Hegel’sches Geschichtsverständnis, das, für eine wirkliche Geschichte des Menschen als Subjekt zu kurz greift. Er schreibt:
Aber indem Hegel die Negation der Negation – der positiven Beziehung nach, die in ihr liegt, als das wahrhaft und einzig Positive, der negativen Beziehung nach, die in ihr liegt, als den einzig wahren Akt und Selbstbetätigungsakt alles Seins – aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden, die noch nicht wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Subjekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist. (Marx 1968, 570)
Die wirkliche Geschichte des Menschen ist eine, die weniger die Aufhebung der Widersprüche markiert, sondern die ein Bewusstsein hervorbringt für den anderen, von dem ich abhänge. Marx verfolgt in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten diese Idee der Geschichte, eine Geschichte des Menschen, die beginnt und nicht endet. Während auch für Marx die Widersprüche Triebkraft für Veränderung sind, richtet sich diese Veränderung nicht auf ein spezifisches Telos. Vielmehr ist es die Triebkraft dessen, das sich der Dialektik entzieht. Es sind die empirischen, materiellen Lebensumstände im Hier und Jetzt, die im Angesicht ihrer Widersprüchlichkeit auf ein anders Sein verweisen, auf eine andere Möglichkeit, die außerhalb des dialektischen Prozesses liegt, in dem alles in der Totalität aufgeht.
Wenn DeLillo also das Gespenst des Kapitalismus in der Welt umgehen lässt, so macht er auf eine spezifische hegelianische Figur aufmerksam. Es ist die Fähigkeit des Menschen, das eigene Tun einerseits als einer spezifischen Ideologie geschuldet zu entzaubern, andererseits jedoch ein menschliches Bedürfnis nach dieser Ideologie zu verspüren, beides »abstrakt« zu integrieren und so dem »menschlichen Bedürfnis« im Wissen um seine Widersprüchlichkeit, das diese abstrakt negiert, nachzugehen. Das widersprüchliche Verhalten wird so zur Selbstbestätigung im Angesicht besseren Wissens. Dies ist der Spuk des kapitalistischen Gespenstes. Es hilft dem Menschen «[in seinem] Anderssein als solchem bei sich zu sein« (ebd., 581), also in der als falsch erkannten Ideologie die notwendige Selbstbestätigung zu finden. Fukuyama entwirft nun mit Kojève das Bild einer Zeit in der die Geschichte an ihr Ende gekommen ist. Gelungen ist dies durch den Zustand absoluten Wissens, in dem es der Menschheit möglich wird, alle Widersprüche abstrakt zu integrieren. Das Gespenst des Kapitalismus hat den Spuk beendet, der Geist ist vollends in einem die Welt umspannenden Kapitalismus, der sich in der Form des Liberalismus und der sozialen Marktwirtschaft entäußert, materialisiert. Der abstrakte Egoismus ist zu einem konkreten geworden, der die Menschen in die Lage versetzt, jeden Widerspruch zwischen Wissen und Handeln eben auf Grund dieses Wissens zu negieren.
Demgegenüber entwerfen Marx und Engels ein Gespenst, dessen Spuk von der Finalität des Menschen kündet. Findet sich also in Hegel, Fukuyama, Kojève, sowie dem orthodoxen Marxismus noch eine Finalität der Geschichte selbst, so erkennt Marx, dass diese angestrebte Totalität nicht der Endzustand des geschichtlichen Prozesses ist, sondern in Wirklichkeit erst ihr Anfang. Der als dialektisch verstandene Geschichtsprozess ist also »die noch nicht wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Subjekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen« (ebd., 570). Marx erkennt, dass der Mensch zum Menschen wird, durch seine eigene Finalität als unhintergehbaren Fakt, der ihn erkennen lässt, dass er als Mensch immer »von der Gnade eines andern lebt«, der »mein Leben geschaffen hat«, »der Quell meines Lebens ist« (ebd., 545). Dieser »Grund« meines Lebens »außer sich« wird zum zentralen, dauerhaften Widerspruch beim Versuch der abstrakten Integration vom Wissen um die Ideologie einerseits und bedürfniszentriertem Handeln andererseits. Ein Widerspruch, der sich der Dialektik der Negation der Negation entzieht und so das eigentliche Menschsein des Menschen zum Ausdruck bringt. Marx entwirft so den Geist eines Humanismus, der mir nicht nur aufzeigt, dass der Andere mir gleicht, wie das noch bei Hegel der Fall ist, sondern, dass der Andere der Grund meines Lebens außer mir ist, ich unwiderruflich an ihn gebunden bin. Im Erkennen der Abhängigkeit vom Anderen liegt daher das kritische, emanzipatorische Potenzial, die Notwendigkeit, mit dem Anderen gemeinsam zu handeln, mit ihm zu sprechen. Dieser «'Geist' hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie 'behaftet' zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt« (Marx und Engels 1969, 30). Er findet durch das Gespenst seinen Ausdruck, das umgeht, von diesem Geiste des Humanismus kündet, ihn in einen Schwebezustand zwischen Materiellem und Immateriellem bringt, mit der Sprache als wesentlichen Ausdruck der Widersprüchlichkeit der vorgefundenen Welt. Es ermöglicht uns, vorhandene Strukturen der Ausbeutung, Unterdrückung, etc. nicht schlicht im Angesicht besseren Wissens für uns selbst zu negieren, sondern im Angesicht der Widersprüchlichkeit gemeinsam zu handeln.
DeLillo, Don (2005): Cosmopolis: Roman. München: Goldmann.
Derrida, Jacques (1998): Marx' Gespenster. Frankfurt am Main: Fischer.
Engels, Friedrich (1962): Dialektik der Natur. In Marx/Engels Werke, Bd. 20 (444-455). Berlin: Dietz.
Engels, Friedrich (1973): Die Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse unter Merowingern und Karolingern. In Marx/Engels Werke Bd. 19 (474-518). Berlin: Dietz.
Fukuyama, Francis (1992): The End of History and the Last Man. New York: Free Press.
Kant, Immanuel (1784): Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Berlinische Monatsschrift, 1, 385-410.
Kojève, Alexandre (1969): Introduction to the Reading of Hegel. New York: Basic Books.
Lecercle, Jean-Jacques (2006): A Marxist Philosophy of Language. Leiden: Brill.
Marx, Karl (1842, 8. Mai): Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen. Rheinische Zeitung.
Marx, Karl (1960): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In Marx/Engels Werke Bd. 8 (112-208). Berlin: Dietz.
Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In Marx/Engels Werke Ergänzungsband (465-588). Berlin: Dietz.
Marx, Karl und Engels, Friedrich (1969): Die deutsche Ideologie. In Marx/Engels Werke Bd. 3 (5-530). Berlin: Dietz.
Marx, Karl und Engels, Friedrich (1972): Manifest der Kommunistischen Partei. In Marx/Engels Werke Bd. 4 (459-493). Berlin: Dietz.
Vogl, Joseph (2010): Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes.