Ausgehend von den den Psychotherapien entlehnten »klassischen« Beratungstheorien und ergänzt um die Arbeits- und Organisationspsychologie werden die Theoriegrundlagen von Beratung unter dem Aspekt ihrer Anthropologien diskutiert. Zentrale Fragestellung ist hierbei, inwiefern diese Theorien vor dem Hintergrund der soziokulturellen Bedingungen der Postmoderne überhaupt noch als gültig und zeitgemäß erachtet werden können. Vorgeschlagen wird, die Theorien, wenn nicht einer Revision, so mindestens einer Betrachtung aus einer erweiterten Perspektive zu betrachten. Einen wesentlichen Beitrag könnten hier die Subjekttheorien verschiedener Fachdisziplinen liefern. Abschließend und ausblickend wird vorgeschlagen, die (Weiter-)Entwicklung der theoretischen Fundamente von Beratung am von Glaser und Strauss entwickelten Verfahren der Grounded Theory als Option zu überprüfen.
Professionalization of counseling through theory-grounded practice: are the ideas of man covered by psychological theories still up-to-date?
Counseling is grounded in psychological theories, which come either from clinical psychology or from organizational psychology. Each have ideas of man as a basic concept, though each theoretical approach seems to have its own special perspective. None of these different approaches serves as an appropriate theoretical basis for counseling in the post-modern society. There will be discussed, if cross-disciplinary theories of the subject instead might contribute to a general theory of counseling. Finally Grounded Theory as proposed by Glaser and Strauss is suggested as a method for generating a more appropriate theoretical basis of professional counseling.
Keywords: Theory grounded practice of counseling, ideas of man, Clinical and organizational psychology as theoretical basis, postmodern theories of the subject, grounded theory, professional counseling
1.1 Das Theorie-Praxis- Problem in der Psychologie
Keupp und Weber weisen mit Blick auf die Psychologie auf ein grundsätzliches Problem bezüglich einer theoretisch fundierten Praxis hin, nämlich dass bis heute der Widerspruch zwischen einer »theoretisch fundierten Grundlagenwissenschaft Psychologie und der Praxis von Psychologie weder geklärt noch aufgelöst wird.« (Keupp, Weber, 2001, 674).
Die Anwendung theoretischer Wissensbestände würde voraussetzen, dass sich dieses Wissen auf praktisches Handeln beziehen lässt.
Eine Anwendung grundlagenwissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Praxis menschlichen Handelns halten die Autoren aber für unmöglich, da sich zum einen im experimentalpsychologischen Labor gewonnene Erkenntnisse nicht auf die Praxis alltäglicher, realer Lebenssituationen übertragen lassen würden: »Die experimentalpsychologische Forschung zu menschlichem Verhalten sowie die Einstellungsforschung zu menschlichen Denkweisen über soziale Zusammenhänge erkunden lediglich von ihr selbst vorgegebene präformierte Mensch-Umwelt-Verhältnisse, die in de Forschungsergebnissen als Wenn-dann- Zusammenhänge abgebildet werden. Diese lineare und kausale Darstellungsweise schuldet die akademische Psychologie ihrer selbstbetriebenen Verortung in den Naturwissenschaften; damit ist sie nicht mehr in der Lage, die Spezifik menschlichen Handelns als nicht kausales und lineares Handeln zu erklären.« (a.a.O., 674) Der Einwand ist für das Folgende wichtig, weil Beratungshandeln – zumindest auch – als nicht kausaler, nicht-linearen Prozess gedacht werden muss. Zum anderen werden die anthropologischen Grundlagen des psychologischen akademischen »mainstream« der Praxis nicht gerecht, da das »zu Reflexion und (Selbst-)Veränderung fähige Subjekt« in der Theorie nicht vorkommt. Damit gibt es keine ausreichende theoretische Basis, die es erlauben würde, den Gegenstand der Psychologie unter sich verändernden gesellschaftlich-historischen Bedingungen zu konzeptualisieren. Dieser Einwand ist für die folgenden Überlegungen insofern wichtig, als deutlich wird, welchen Stellenwert die anthropologischen Grundlagen theoretischer Wissensbestände auf praktisches Handeln haben.
Trotz des hier angedeuteten Grundproblems: gerade angesichts der Komplexität von Beratungshandeln im Kontext gesellschaftlicher und institutioneller Strukturen brauchen Praktiker Theorien als Bezugsraster für die eigene Selbstreflexion. 1.2 Beratung als theoretisch begründete Praxis?
Seel definiert Beratung als »professionell erbrachte ergebnisoffene Dienstleistung« (in diesem Heft). »Professionell« wird eine Dienstleistung, wenn sie als bezahlte Dienstleistung und unter Zugrundelegung bestimmter Standards und Qualitätskriterien erbracht wird. Zu den Standards professioneller Beratung gehört unter anderem, dass sie sich in ihrer Praxis wissenschaftlicher Forschungserkenntnisse, Systematiken und Interventionsverfahren bedient:
»Soll sich nämlich professionelle Beratung von der »Alltagsberatung« abheben, muss sie sich an rationalen Kriterien ausrichten, d.h. planvoll und kontrolliert geschehen und in ihren einzelnen Ablaufschritten auf systematisch gewonnenes Wissen gestützt sein.« (Schröder, 2007, 53)
Gleichwohl: was für BeratungsforscherInnen im akademischen Bereich eine conditio sine qua non zu sein scheint, ist für PraktikerInnen offenbar weit weniger relevant. In der Formulierung von (Qualitäts-) Standards gehört der Rekurs auf Erkenntnisse (psychologischer) Forschung und Theorien auch dazu, ist aber nur eine Anforderung unter vielen.
Das Deutsche Stundentenwerk beispielsweise formuliert als Standards psychologischer Beratung (2001):
»Die Beratung hat eine wertschätzende Haltung gegenüber den Ratsuchenden zur Grundlage berücksichtigt die individuelle Verschiedenheit von Herkunft, Biographie, Persönlichkeit, Lebensentwurf und Anliegen der Ratsuchenden ist absolut vertraulich ist freiwillig und hat eine hohe Selbstverantwortung der Ratsuchenden zur Grundlage wird niedrigschwellig, unbürokratisch und weitgehend kostenfrei angeboten setzt keine Selbstdefinition als krank oder defizitär voraus erfolgt kurzfristig basiert auf Verfahren, die sich in Beratung und Psychotherapie bewährt und als wirksam erwiesen haben folgt gängigen Vorgaben für Evaluation und Qualitätsmanagement«
(http://www.studierendenwerke.de/pdf/Beratung_Hochschulbereich.pdf, abgerufen am 15.06.2008)
Im Vordergrund stehen hier Fragen der Haltung gegenüber dem Klientel und methodische Standards. Als theoretische Grundlage der Praxis werden hier Psychotherapieverfahren benannt, die aktuell die noch immer gängigste theoretische Fundierung psychologisch fundierter Beratungspraxis sind. Obwohl der Fundus an Theoriewissen in der Psychologie weit größer wäre, dominiert doch die Klinische Psychologie in diesem Zusammenhang nach wie vor als Standardteildisziplin. Der Mix aus Haltung, Methode und Theorie als Definitionsrahmen für die eigenen Standards führt nicht selten zu Widersprüchen. So wird einerseits auf Verfahren aus dem klinisch-psychotherapeutischen Bereich verwiesen(Theorie), auf der anderen Seite gilt die Nicht-Notwendigkeit einer Selbstdefintion als »krank« oder »defizitär«, (möglicherweise wir hier aber die Definitionshoheit auch bei der BeraterIn gesehen – damit würde sich der Widerspruch auflösen, unter Umständen aber mit dem Imperativ der wertschätzenden Haltung kollidieren).
Trotz dieser Widersprüche – für PraktikerInnen stellt sich vor allem die Frage nach der Wirksamkeit ihres Tuns. In diesem Zusammenhang ergibt sich dann die grundsätzliche Überlegung: Wie viel Theorie braucht Beratung als Beratungspraxis überhaupt?
Rechtien weist sehr richtig darauf hin, dass BeraterInnen den Wert von Theorien und Modellen eher gering einschätzen, was ihre Tauglichkeit für konkrete Handlungsentscheidungen angeht. Wenn überhaupt Theorien eine handlungsleitende Funktion haben, dann sind es offenbar eher »subjektive« Theorien, die allenfalls- wenn überhaupt- einer Überprüfung durch intersubjektive, wissenschaftliche Theorien unterzogen werden, (vgl. Rechtien, 2004, 26 ff., sowie Wahl, 2006).
Tatsächlich scheinen Theorien für Praktiker eher eine Legitimationsfunktion zu haben: um nicht in den Ruf mangelnder Seriosität zu geraten, arbeiten BeraterInnen auf der Grundlage wissenschaftlich abgesicherter Erkenntnisse- zumindest in ihrer Außendarstellung.
Theorien für die Praxis nutzbar zu machen und Handlungswissen zu generieren, scheint aber auch für theoretisch geschulte PraktikerInnen ein eher schwieriges Unterfangen zu sein. Ein Grund könnte darin liegen, dass Theoriebestände nicht selten zu für die Praxis völlig unterschiedlichen, teilweise sogar widersprüchlichen Konsequenzen führen. Herzog hat hier schon vor mehr als zwei Jahrzehnten ein Grundproblem psychologischer Theoriebildung ausgemacht: am Beispiel der sehr unterschiedlichen Theorien von Skinner und Piaget zeigt er auf, wie Theorien für die Praxis zu völlig widersprüchlichen Aussagen führen. Während es Skinner mit seiner Theorie des operanten Konditionierens darum geht, entsprechende Lernsituationen (inklusive entsprechender Belohnungssysteme) zu konstellieren, (im Sinne »auslösender Reize«), um dann ein auf diese Weise »konditioniertes« Verhalten als erwünschtes Verhalten zu erhalten, betont Piaget in seiner Theorie der kognitiven Entwicklung, dass Leben und Entwicklung vor allem selbstregulativ vonstatten gehen.
Skinner geht von der Macht situativer Konstellierungen aus:
»Students are not literally free when they have been freed from their teachers. They then simply come under control of other conditions and their effects if we improve teaching« (Skinner, zitiert in Herzog, 1984, 10)
Piaget betont dagegen die Eigenständigkeit kindlicher Entwicklungsprozesse:
»Den Kindern… Vorstellungen beibringen zu wollen, die sie von ihrer spontanen Entwicklung noch nicht begreifen können, ist völlig nutzlos.« (Piaget, zitiert in Herzog, 1984, 13)
Und so schlussfolgert Herzog:
»Die pädagogischen Konsequenzen aus Piagets psychologischer Theorie sind jenen von Skinner völlig entgegengesetzt. Wo Skinner eine möglichst absolute Kontrolle fordert, ist für Piaget die Freiheit zum selbständigen Erkunden und Entdecken der Wirklichkeit die entscheidende Forderung an pädagogisches Handeln.« (Herzog, 19984, 14)
Was Herzog am Beispiel der Pädagogischen Psychologie aufzeigt, gilt meines Erachtens auch für die mit Hilfe psychologischer Theorien begründete Praxis der Beratung. Damit Beratung theoretisch begründete Beratungspraxis sein kann, müssen die theoretischen Fundamente eine widerspruchsfreie Praxis auch zulassen und ermöglichen. Theorien müssen sich außerdem in der Praxis nach folgenden Kriterien messen lassen: Relevanz: welche Bedeutung und welchen Nutzen hat einen Theorie für das konkrete Beratungshandeln? Gültigkeit: Lassen sich Kriterien angeben, anhand derer sich einschätzen lässt, ob eine Theorie im Vergleich zu einer anderen mehr Gültigkeit besitzt im Bezug auf die Praxis? Kompatibilität: lassen sich verschiedene Ansätze oder auch Teile davon im Sinne einer bestmöglichen Problemlösung kombinieren?
Was den ersten Punkt angeht, also die Relevanz, so ist der Hinweis darauf, dass die Psychologie als Forschungsdisziplin und in der Folge auch als angewandte Wissenschaft sich eher in einem krisenhaften Zustand befände, schon vor inzwischen Jahrzehnten erfolgt: die Ergebnisse theoretischer Forschung in Folge des Primats der Methodenorientierung seien wahlweise trivial, irrelevant oder beides (vgl. z.B. Herzog, 1984, Groeben und Scheele, 1977).
Beim zweiten Punkt, also der Frage nach der Gültigkeit oder Validität, geht es im Kern darum, inwieweit psychologische Theorien als Fundament für die Beratungspraxis ihren Gegenstandsbereich tatsächlich abdecken. Dies gilt für die jeweils enthaltenen Axiome und Vorannahmen ebenso wie für die Ergebnisse empirischer Forschung. Anders gesagt: bilden die in Frage kommenden Theorien wichtige Aspekte des Gegenstands »Beratung« und »Beratungshandeln« ab?
Was den dritten und letzten Punkt angeht, so scheint vieles dafür zu sprechen, dass es sich hier um ein eher schwieriges Unterfangen handelt. Denn wenn es richtig ist, dass die Psychologie einen großen Teil einander widersprechender Theorien hervorgebracht hat, dann kann von Kompatibilität ohnehin keine Rede mehr sein.
Wobei aus Sicht der Praxis gilt, dass Widersprüchlichkeiten oder auch Unvereinbarkeiten auf der Theorieebene in der Praxis völlig bedeutungslos sein können. So ist es im klinisch-therapeutischen Bereich schon lange gängige Praxis, tiefenpsychologisch fundierte Konzepte mit verhaltenstheoretischen Elementen zu kombinieren, auch wenn beide Ansätze in verschiedener Hinsicht höchst unterschiedlich sind, und eigentlich wenig zueinander zu passen scheinen. In Abwandlung des Prinzips »Wer heilt, hat Recht«, könnte man sagen, »angewendet wird, was nützt«, ohne sich unnötig den Kopf über Kompatibilitätsfragen auf der Ebene unterschiedlicher Theorien zu zerbrechen. Warum auch nicht? Denn wenn Theorien in Bezug auf die an sie gestellten Anforderungen ohnehin Schwächen zeigen, lässt sich mit Kompatibilitätsfragen mit Fug und Recht sehr entspannt umgehen. 1.3 Beratung als theoretisch begründete Praxis
Nach all diesen Einwänden: wozu dann überhaupt Theorien, wozu die Forderung einer theoretisch fundierten Praxis? Theorien erfüllen – allen genannten Kritikpunkten zum Trotz- eine Reihe wichtiger Funktionen, (auch und gerade aus Sicht von PraktikerInnen): Sie helfen Daten und Informationen zu erklären und einzuordnen Sie unterstützen bei der Zielfindung Sie geben Hinweise bei der Auswahl von Informationen Sie ermöglichen Prognosen Sie liefern Begründungen des eigenen Beratungshandelns (auch im Sinne von Legitimation)
Theoriewissen ermöglicht ein systematisches, planvolles und damit transparentes und überprüfbares Vorgehen, wie es für eine professionelle Dienstleistung gefordert werden muss. AbnehmerInnen von Beratungsdienstleistungen kaufen buchstäblich die »Katze im Sack« und können zu Beginn des Beratungsprozesses nicht entscheiden, ob ihnen die Beratung weiterhelfen wird, oder nicht (oder sogar schaden wird). Also muss zumindest gefordert werden, dass BeraterInnen in der Lage sind, ihr Tun nachvollziehbar und damit auch überprüfbar zu machen. Kriterien »guter« Beratung, die in diesem Sinne für BeratungsklientInnen wichtig sind, ähneln denen »guter« Theorien: ist das, was getan wird relevant in Bezug auf die Fragestellung, sind die angewandten Methoden valide und handelt die BeraterIn auf der Basis eines stringenten und in sich schlüssigen Konzepts, das sich in irgendeiner Form bereits bewährt oder bestätigt hat. Der Nutzen, den Theorien für die Praxis stiften können, ist also offensichtlich- trotz der Defizite jeweils unterschiedlicher Theorien.
Bestandteile subjektiver wie intersubjektiver Theorien sind Die Anthropologie (Menschenbild) Die Entwicklungs-bzw. Veränderungstheorie Die Interventionstheorie (Indikation und Wirkweise von Interventionen) Die Praxeologie (Instrumentarium von Haltungen und Methoden) (vgl. hierzu Rechtien 2004., 37)
Am Beispiel psychologischer Theorien soll im Folgenden untersucht werden, inwieweit in Bezug auf die jeweiligen anthropologischen Grundannahmen die Kriterien der Relevanz, Gültigkeit und Kompatibilität erfüllt werden. Obwohl selten explizit thematisiert, bestimmt die jeweilige Anthropologie einer (subjektiven oder intersubjektiven) Theorie das praktische Tun in erheblichem Maße. Sie definiert über das jeweilige Menschenbild den Umgang mit der Klientel, auch die jeweilige Beraterethik begründet sich mindestens implizit aus der Anthropologie. Insofern ist die Anthropologie einer jeden Theorie zentrale Grundlage beraterischer Praxis.
Im Folgenden werde ich also danach fragen, inwiefern die Menschenbilder verschiedener psychologischer Theorien für das Beratungshandeln einen Nutzen bieten (Relevanz), wie hoch ihre Gültigkeit ist und wie kompatibel die anthropologischen Prämissen verschiedener Theorien zueinander sind.
Das Theoriefundament von Beratung ist bis heute- zumindest was die Psychologie angeht- sehr stark durch die Klinische Psychologie geprägt, so dass sich »in der einschlägigen Literatur fast ausschließlich Beratungsansätze finden, die sich unschwer als Derivate bekannter persönlichkeitspsychologischer oder psychotherapeutischer Modelle identifizieren lassen… Als grundlegend für die Beratungskonzeptionen erwiesen sich … insbesondere die psychoanalytischen Theorien, klientenzentrierte Theorien und Theorien der Verhaltenstherapie.« (Schröder, 2007, 53)
Die Dominanz klinisch-psychotherapeutischer Forschungserkenntnisse und Verfahren liegt nicht zuletzt in der eigenen Professionalisierungsgeschichte der Psychologie begründet:
»Sieht man einmal von den experimentalpsychologischen Anfängen der Psychologie ab, die allerdings wesentliche Grundlagen für die Nutzbarmachung psychologischer Wissensbestände für die Praxis lieferten, lassen sich bei der Betrachtung der psychologische Disziplin im Wesentlichen zwei Themenbereiche erkennen, die im Bemühen um wissenschaftlich fundierte Erklärungen des Erlebens und Verhaltens des Menschen auch für die seitens der Gesellschaft gestellten Fragen Antworten liefern können. Dies ist zum einen der Bereich der psychologischen Messung und Diagnostik… Zum anderen trugen die Entwicklungen psychotherapeutischer Verfahren sowohl aufgrund ihrer Erklärungsansätze für (abweichendes) psychisches Erleben und Verhalten wie auch die Entwicklung konkreter Interventionsverfahren maßgeblich zur Etablierung des Fachs bei.« (Schröder2007, 50, Hervorhebungen im Original)
Unabhängig von den (theoretischen)Defiziten einzelner – in der Praxis stark nachgefragter – Verfahren weisen also auch die meisten »klassischen« Theorien eine grundsätzliche Einseitigkeit auf: sind sie doch im Kontext psychischer Erkrankungen entstanden (bezogen auf Individuen oder auch auf Systeme und Institutionen).
In diesem Sinne fehlt bis heute (nicht nur) in Deutschland eine entwickelte Beratungspsychologie, die als eigenständige psychologische (Angewandte)Teildisziplin sich des gesamten Wissensfundus der Psychologie bedient (also neben der Klinischen Psychologie beispielsweise auch die Entwicklungspsychologie, die Sozialpsychologie oder die Arbeits- und Organisationspsychologie, um nur einige der möglichen relevanten Teildisziplinen zu nennen).
Nestmann schlägt daher konsequenterweise vor, eine Beratungspsychologie analog zur »Counselling Psychology« im angloamerikanischen Sprachraum zu entwickeln (Nestmann 2007, 63 ff.)
Denn es gibt Unterschiede zwischen Beratung und Therapie, die zu beachten sind. Therapie beschränkt sich z.B. auf Personen mit einer psychischen Erkrankung. Beratung fokussiert dagegen im Unterschied zu Therapie auf «…die Stärken, Potenziale und Ressourcen von Personen und sozialen Umwelten und konzentriert sich auf positive Anteile psychischer Gesundheit der KlientInnen unabhängig vom Ausmaß und der Intensität der anliegenden Problemstellungen und Störungen… Die Normalität des Klientels wird in den meisten Counsellingdefinitionen betont« (Nestmann, 2007, 65)
Während also psychotherapeutische Verfahren in Theorie und Praxis auf ein von einer –vordefinierten – Norm abweichendes Erleben und Verhalten fokussieren, betont dagegen die Beratung eher Selbstentwicklungsfähigkeiten und Ressourcen. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass BeraterInnen also mit einem anderen Menschenbild arbeiten als TherapeutInnen. Und dann stellt sich die Frage, inwieweit die »klassischen« psychotherapeutischen Theorien noch adäquate Fundamente einer (gerade in Entwicklung begriffenen) Beratungspsychologie sein können? Denn wenn das Grundverständnis vom Menschen in der Beratung kein defizitäres mehr ist – welche Konsequenzen ergeben sich dann für die »klassischen« Beratungstheorien hinsichtlich ihrer Relevanz und bezüglich ihrer Gültigkeit (die Frage nach der Kompatibilität noch ganz außer Acht lassend)?
Allerdings: ein so eindeutiges Bild ergibt sich wiederum auch nicht. Personzentrierte Beratung fußt explizit auf einem Menschenbild, das Selbstentfaltung und Wachstum als prinzipielle Elemente menschlichen Daseins in den Mittelpunkt stellt. Betrachten wir die verschiedenen Theorien also genauer. 3. Psychologische Theorien und ihre jeweilige Anthropologie
Menschenbilder sind im Rahmen psychologischer Theorien Axiome über das Erleben und Verhalten von Menschen, in diesem Sinne sind sie soziale Konstruktionen innerhalb eines gegebenen kulturell-historischen Kontexts. Mit Veränderungen des kontextualen Rahmens verändern sich auch die diesbezüglichen Axiome. Damit sind Menschenbilder im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen, erleben »Trends«, und das nicht erst in der Postmoderne und im Zeitalter der Wissensgesellschaft:
»Die Definition von Forschungsthemen, die Präzisierung von brisanten Fragen und die Wahl der Forschungstechniken zur Beantwortung dieser Fragen, der »Werkzeuge« sind herrschenden Trends unterworfen. Die Wissenschaft basiert auf Annahmen, die zeitlich begrenzt in einer Disziplin für richtig befunden, später oft mit viel Elan »entthront« und von neuen Grundannahmen ersetzt werden.« (Kirchler, Meier-Pesti, Hofmann , 2004, 11. Die hier wirksamen Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs wurden von Kuhn bereits 1973 in dem inzwischen zum Klassiker avancierten Analyse der »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« beschrieben)
Da jede dieser Vorstellungen in ihrem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext zu sehen ist, (ebenso wie die Theorien, zu denen sie gehören), drückt sich immer auch (nur) eine bestimmte Perspektive aus, unter Vernachlässigung anderer Sichtweisen und Aspekte: »Die psychoanalytische Theorie war beispielsweise das Produkt einer von Männern dominierten Gesellschaft, und viele Schriftstellerinnen und Praktikerinnen haben festgestellt, dass sie darin sehr wenige Elemente erkennen können, die die Realität der Frau wiedergeben.« (McLeod, 2004, 55)
Zusammenfassend stellt McLeod fest, »dass fast alle Beratungstheorien eine Lebensperspektive vertreten, die von einer weißen Mittelschicht judäo-christlicher Herkunft geprägt wurde.«
Und:
»Therapie und Beratung sind Aktivitäten, die unlösbar mit den kulturellen Werten westlicher Industriegesellschaften verbunden sind.« (2004, 57) Das gilt damit auch für die zugrundeliegenden theoretischen Grundannahmen und Konzepte.
In der Konsequenz würde das heißen, dass die Validität verschiedener Beratungstheorien und ihrer darauf gründenden Methoden immer nur zeit- und kontextbezogen gegeben ist. 3.1 Menschenbilder in der Psychologie am Beispiel der klinisch-therapeutischer Theorien
Die drei »klassischen« Psychotherapieverfahren, die auch im Rahmen von Beratung eine wesentlich Rolle spielen, sind die psychoanalytischen bzw. psychodynamischen Theorie, die auf dem behavioristischen Lerntheorien basierende Verhaltenstherapie und die klientenzentrierte Therapie (bzw. der personzentrierte Ansatz) nach Carl Rogers. (Inwieweit die klientenzentrierte Psychotherapie nach der erneuten und offenbar endgültigen Ablehnung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss im April 2008 für die Psychotherapie noch eine Rolle spielen wird, muss derzeit offen bleiben. Als Grundlage für Beratung könnte sie aber versuchen, umso bedeutsamer zu werden).
Die drei »Klassiker« sind keineswegs die einzigen Theorien aus dem klinisch-psychotherapeutischen Bereich, derer sich BeraterInnen bedienen. Einen mindestens ebenso großen Stellenwert haben die verschiedenen systemischen Ansätze, NLP ist vermutlich unter Nicht-PsychologInnen das Therapie- und Beratungsverfahren mit dem höchsten Marktanteil. NLP verfügt über ein wenig ausgereiftes Menschenbild, kann an dieser Stelle also vernachlässigt werden (vgl. Haberzettl, 2005).
Die systemischen Therapie- und Beratungsansätze lasse ich an dieser Stelle ebenfalls unberücksichtigt, und zwar aus folgenden Gründen:
Zum einen ist es wenig korrekt von »dem« systemischen Ansatz zu sprechen. Systemisches Denken und Arbeiten war von Anfang an durch die Unterschiede zwischen einzelnen AutorInnen und den verschiedenen »Schulen« gekennzeichnet. Im therapeutischen Bereich nenne ich hier beispielhaft Selvini- Palazzoli und die Mailländer Schule im Unterschied zu Minuchin´s strukturellem Ansatz, wiederum im Unterschied zur psychoanalytischen Richtung der systemischen Familientherapie. Ebenso verbirgt sich hinter dem Etikett »Systemische Organisationsberatung« Unterschiedliches. Um den systemischen Ansätzen gerecht zu werden, bräuchte es also eine ausführlichere Auseinandersetzung, als dies hier möglich ist.
Zum anderen findet sich im Menschenbild von Rogers zumindest in Ansätzen etwas, das bereits auf das hinweist, was mit der Theorie autopoietischer Systeme die anthropologische Grundlage systemischer Beratung ergibt (zur Theorie autopoietischer Systeme vgl. von Schlippe, Schweitzer, 2007, 67 ff., zum Vergleich systemischer Ansätze und personzentrierter Beratung siehe Schmid, 1996, 101 ff.). Da es an dieser Stelle primär um die – impliziten oder expliziten – anthropologischen Grundlagen der jeweiligen Theorien geht, und zudem kein Anspruch der Vollständigkeit formuliert wird, beschränke ich mich hier auf die knappe Darstellung der drei »Klassiker«. Die psychoanalytischen Theorien- der Mensch als Ergebnis seiner inneren Konfliktdynamik
Auf psychoanalytischen Theorien gründende Beratung geht von der Existenz unbewusster dynamischer Prozesse und irrationaler Kräfte aus. Ein zentrales Konzept innerhalb der psychoanalytischen Theorie ist die psychodynamische Entwicklungstheorie, die nicht zuletzt ihrer implizierten anthropologischen Annahmen an dieser Stelle von Bedeutung sind. Entwicklung lässt sich aus psychoanalytischer Sicht verstehen als Persönlichkeitsentwicklung, indem Anstöße von Außen psychodynamische Prozesse innerhalb des psychischen Apparats mit seinen drei Instanzen Ich, Es und Über-Ich erzeugen. Im Laufe seiner Entwicklung durchläuft der Mensch nach psychoanalytischem Verständnis verschiedene Entwicklungsphasen, in denen spezifische Entwicklungsaufgaben zu lösen sind. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Phasen, dass es immer um ein Ausbalancieren triebhafter Wünsche (»Es«) mit zunächst äußeren, später mehr und mehr verinnerlichten Normen geht (aus psychoanalytischer Sicht verortet im »Über-Ich«). Als zentrale Vermittlungsinstanz wird das »Ich« gesehen, dass sich zu diesem Zweck verschiedener Strategien bedient. Ein wichtiges Konzept ist in diesem Zusammenhang das der sogenannten »Abwehrmechanismen« , deren Funktion in der Vermeidung von Ängsten und Spannungen liegt.
Abwehrmechanismen sind z.B. Introjektion (undifferenzierte Verinnerlichung von sog. Objekterfahrungen, die dazu führen, dass sich der Persönlichkeitskern, das »Selbst« ausbildet) Spaltung (inkompatible Mechanismen werden abgespalten oder verleugnet, damit die Inkompatibilität nicht wahrgenommen werden muss) Wendung gegen da Selbst (Aggression, die nicht nach Außen gerichtet werden kann oder darf, wird gegen die eigene Person gewendet) Reaktionsbildung (unerlaubte Handlungen werden durch das Gegenteil ersetzt) Verdrängung (Amnesie für konflikthafte und angstbesetzte Inhalte) Projektion (eigene Wünsche, Impulse, Gedanke, Gefühle werden anderen unterstellt) Intellektualisierung (eine beunruhigende Emotion wird intellektuell-formal abgehandelt) Rationalisierung (Verstecken des eigentlichen Motivs hinter einem Scheinmotiv) Affektualisierung (Gegenstück zu Intellektualisierung: alltägliche Ereignisse werden mit dramatischen Emotionen verbunden) Verschiebung (ein Affekt wird von einem Mensch/Gegenstand auf einen anderen verschoben)
»Abwehrmechanismen« sind zunächst als Lösungsversuche zu sehen. Jedes Individuum versucht ein seelisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, indem die eigenen inneren Konflikte mit Hilfe der Abwehrmechanismen so gelebt werden können, dass ein Zustand seelischer Balance erreicht wird, Analoges gilt für Gruppen und Institutionen: dysfunktionale Verhaltensweisen und Prozesse einzelner Angehöriger einer Organisation oder auch von (Mitarbeiter-)Gruppen werden als Ausdruck psychosozialer und institutionalisierter Abwehrprozesse verstanden, deren unbewusste Auslöser ergründet werden müssen (vgl. hierzu ausführlich z.B. Haubl, Heltzel, Barthel-Rösing, 2005). Kann dieses innere Gleichgewicht aus irgendeinem Grund nicht mehr aufrechterhalten werden, kommt es zur sog. »Dekompensation« der »Neurosenstruktur«, (ein Begriff, der nichts mit dem Begriff der »Neurose« zu tun hat, sondern eher mit dem Begriff der »Persönlichkeitsstruktur« einer Person synonym ist). Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze- der Mensch als Handelnder
Die behavioristischen Lerntheorien (Skinner, Thorndike) dienen eher weniger als theoretische Grundlage für Beratung, hier haben die kognitiven Ansätze eher ihren Platz (wie Beck, Ellis oder Kanfer)
Die anthropologischen Basisannahme der kognitiven Verhaltenstherapie lauten, kurz zusammengefasst :
»Wir sind das, was wir uns selbst über uns sagen, und wir werden in unserem Verhalten geleitet durch das, was wir unserer Überzeugung nach tun sollten.« (Therapiezentrum Münster, http://wwwpsy.uni-muenster.de/, abgerufen am 29.06.2008)
Zentral ist nach wie vor die Annahme, dass jedes Verhalten erlernt wird und dass damit jeder Mensch die (Lern-)Aufgabe hat, sich den Anforderungen seines Umfeldes anzupassen. Selbstmanagementtherapie ist mittlerweile ein Sammelbegriff für solche Ansätze und Methoden, »die alle gemeinsam haben, dass Klienten zu besserer Selbststeuerung angeleitet und möglichst aktiv zu einer eigenständigen Problembewältigung fähig werden. Wenn dieser systematische Lern- und Veränderungsprozess erfolgreich abläuft, sind Klienten (wieder) in der Lage, ihr Leben ohne externe professionelle Hilfe in Einklang mit ihren Zielen zu gestalten. Diese Sichtweise ist eng verbunden mit Ansätzen der sozialen Lerntheorie, der Selbstkontrolle und Selbstregulation und der kognitiven Verhaltenstherapie …« (Therapiezentrum Münster 2008, 6).
Das Menschenbild, dass dem Selbstmanagementansatz zugrunde liegt, geht davon aus, dass Menschen in der Lage sind, sich zielgerichtet zu verhalten und zur Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbststeuerung fähig sind. Insofern hat der Selbstmanagementansatz mit seinen Wurzeln hinsichtlich der anthropologischen Grundannahmen nicht mehr viel gemeinsam. Die Anthropologie des Selbstmanagementansatzes erinnert damit eher an die psychologischen Handlungstheorien, denn an das alte »black-box«-Modell und die behavioristische Vorstellung vom Menschen als ausschließlich reizgesteuertes Wesen. Damit rückt die Zielgerichtetheit menschlichen Handelns in den Mittelpunkt, sowie die prinzipielle Rationalität des Menschen, der Gründe für sein Handeln angeben kann, der als entscheidungsfrei und folglich aktiv gestaltend gedacht wird, statt passiv (entweder seiner Psychodynamik ausgeliefert ist oder nur auf Reize reagieren kann). Der personzentrierte Ansatz – das Organismusmodell
Für die Anthropologie von Rogers´ personzentriertem Ansatz sind zwei Begriffe zentral: Organismus und Aktualisierungstendenz. Der Organismus ist ein biologisches System, das sich im Austausch mit seiner Umwelt am Leben erhält. (Auf die Parallele zur Theorie autopoietischer Systeme von Varela und Maturana wurde schon hingewiesen.):
»Der Organismus ist der Ort aller Erfahrungen und allen Erlebens, die ein Mensch zu einem gegebenen Zeitpunkt macht,… »Erleben« und »Erfahren« beziehen sich dabei auf physiologisch bedingte Gefühle (z.B. Hunger, Schmerz, usw.), auf zwischenmenschliche Gegebenheiten und auch auf Gedächtnisinhalte aus früheren Ereignissen, sofern sie wenigstens potenziell dem Bewusstsein zugänglich sind.
Vorgänge, die nicht unmittelbar bewusstseinsfähig sind, wie z.B. ein Großteil der physiologischen Prozesse, gehören danach nicht zum Organismus, sondern zum – davon unterschiedenen – Körper. Dieser bildet die materielle Grundlage der menschlichen Existenz und ist – nach Rogers´ Ansicht – insofern Voraussetzung, nicht aber Teil der Persönlichkeit« (Rechtien 2004, 44)
Rogers ging zudem von der These aus, dass Leben immer das Potential von Wachstum und Entwicklung in sich trägt. Diese Tendenz bezeichnet Rogers als Aktualisierungstendenz bzw. Selbstaktualisierungstendenz, wenn es um die Entwicklung des Selbst geht. Mit »Selbst« ist das auf biographischen und aktuellen Erfahrungen beruhende Bild gemeint, dass sich eine Person von sich selbst macht. Menschliche Entwicklungsprozesse werden als Prozesse der Selbstorganisation gesehen: Menschen sind sich selbst entwickelnde Systeme, ein Konzept, dass die Vorstellung einer (beliebigen) Veränderung durch etwas im Außen ausschließt. Damit unterscheidet sich der personzentrierte Ansatz hinsichtlich seiner Anthropologie grundlegend von den beiden zuvor genannten Theorien. Weder wird der Mensch im Sinne seiner Neurosenstruktur verstanden, noch als Ergebnis seiner Lerngeschichte, noch wird stark auf Rationalität fokussiert.
Als erstes Fazit lässt daher an dieser Stelle festhalten, dass die »klassischen« Beratungstheorien schon hinsichtlich ihrer Anthropologien wenig kompatibel sind. Für BeraterInnen heisst das zumindest, dass sie, wenn sie theoretisch fundiert arbeiten wollen, eine Entscheidung treffen müssen, welche der zur Auswahl stehenden Anthropologien ihnen am meisten zusagt. Konsequenterweise erfolgt damit eine Präferenz des theoretischen Modells.
Auf die Frage der Relevanz und der Gültigkeit komme ich noch zu sprechen. 3.2 Menschenbilder in der Psychologie im historischen Wandel am Beispiel Organisationspsychologie
Anthropologien unterliegen historischen Wandlungsprozessen, die wiederum die verschiedenen gesellschaftlich- sozialen Perspektiven widerspiegeln.
Das hat zur Konsequenz, dass die Anthropologien verschiedener Theorien in verschiedenen historisch-kulturellen Kontexten Unterschiedliches nahelegen und zudem meist nicht kompatibel zueinander sind. Letzteres würde kein wirkliches Problem darstellen, wenn Theoriegebäude sich nach und nach quasi historisch überholt haben würden und einander ablösten. Tatsächlich ist es aber so, dass verschiedene Ansätze nebeneinander stehend gleichviel an Gültigkeit beanspruchen.
Neben diesen Widersprüchlichkeiten und Unvereinbarkeiten, die aus dem Nebeneinander resultieren, sind die Anthropologien unterschiedlicher Teildisziplinen nicht deckungsgleich (zumindest nicht genau): was Klinische PsychologInnen im Menschen sehen, ist nicht das gleiche, was OrganisationspsychologInnen in den Vordergrund stellen.
Gegenstand der Arbeits- und Organisationspsychologie ist das Erleben und Verhalten von Menschen in Organisationen, von daher scheint ein Bezug auf diese Teildisziplin für Beratung sinnvoll.
Die These von der »Verbetrieblichung der Lebensführung« lässt zudem einen Rückgriff auf die Arbeits- und Organisationspsychologie für die Beratung ebenfalls als sinnvoll erscheinen«(vgl. Seel, in diesem Heft). »Verbetrieblichung der Lebensführung« meint, dass heute auch die Gestaltung des eigenen Lebens einer ökonomischen Logik folgt (folgen muss). Denn die wirtschaftliche Verfasstheit einer Gesellschaft ist eine entscheidende Determinante für ihren sozialen und kulturellen Zustand, also für die Rahmenbedingungen individueller und kollektiver Lebensgestaltung.
Als Prototyp ist hier der »neue« Arbeitnehmer zu sehen: »Der Arbeitnehmer muss mit seiner Arbeitskraft so umgehen, als sei er ein Unternehmer, der ein Produkt entwickelt, pflegt und vermarktet, wobei dieses Produkt die eigene Arbeitskraft ist, die allerdings im Unterschied zum Fall des klassischen Unternehmers diesem nicht äußerlich ist, d.h. er kann sie nicht verkaufen, ohne sich selbst gleich mit zu verkaufen. Aber er muss dennoch sein »Produkt« (seine Arbeitskraft) an den Anforderungen des Marktes ausrichten, indem er es ständig überprüft (entspricht es noch den Anforderungen des Marktes?), modernisiert (z.B. durch Weiterbildungen etc.), oder gar einen »Modellwechsel« realisiert und dabei auch – wie etwa die Initiative für eine familienfreundliche Personalpolitik – die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, d.h. die Entgrenzungsproblematik managt.« (Seel, in diesem Heft)
Kirchler et al. (2004) zeigen auf, welchem historischen Wandel Menschenbilder und Theorien im Bereich der Organisationspsychologie unterworfen waren. Sie nennen hier die folgenden, die im Anschluss kurz dargestellt werden: Homo öconomicus Social man Self – actualizing man Complex man Menschenbild der Wissensgesellschaft
Der »homo oeconomicus« als »rein wirtschaftlich rational entscheidender fiktiver Durchschnittsmensch« (Kirchler et al., 2004, 22 ff.) ist durch folgende Merkmale charakterisiert: er handelt völlig zweckrational, d.h. wägt Kosten und Nutzen gegeneinander ab strebt nach dem maximalen Nutzen oder Gewinn handelt immer im Sinne der Nutzenmaximierung verfügt idealerweise über alle Informationen über das, was »am Markt« angeboten wird ist mit Voraussicht in wirtschaftlichen Dingen begabt ist nur durch monetäre Anreize motivierbar reagiert schnell auf veränderte Angebotsdaten hat eine lineare und stabile in die Zukunft gerichtete Bedürfnisstruktur ist ausschließlich extrinsisch motiviert besitzt völlige Übersicht über Handlungsmöglichkeiten (»Markttransparenz«) antwortet mit hoher Geschwindigkeit auf veränderte »Angebotsdaten« hat stabile und linear auf die Zukunft gerichtete Bedürfnisse, die zudem unabhängig sind von anderen Personen
Der »homo oeconomicus« fokussiert den Menschen als wirtschaftlich handelnden Akteur, weist damit (nicht nur) aus psychologischer Sicht eine starke Einseitigkeit auf. Theorien, die auf diesem Modell basieren, sind beispielsweise Hugo Münsterbergs »Grundsätze der Psychotechnik« von 1914. Die »Psychotechnik« ist die Anwendung der Psychologie auf alle Lebensbereiche, im Kern entwickelte sie sich immer mehr zur Eignungsdiagnostik. Münsterberg ist ganz klar in seinem Zeitbezug zu sehen. Dennoch hat die Vorstellung bis heute Gültigkeit, z.B. im Qualitätssicherungssystem ISO 900x.
In gewissen Sinne als Reaktion auf den »homo oeconomicus« wurde Anfang der 30er Jahre der »social man« zum Leitbild: (Kirchler et al., 2004, 57 ff.). Hier wird betont, dass der Mensch in erster Linie von sozialen Motiven geleitet wird, nicht von materieller Be- und Entlohnung mehr nach informellen Gruppennormen handelt, weniger nach offiziellen Kontrollnormen der Organisation den Verlust an Sinn in der Arbeit über soziale Beziehungen kompensiert als wichtigste nicht-materielle Quelle der Motivation Kommunikation, zwischenmenschliche Beziehungen und Teilhabe an Entscheidungen sieht auf Erwartungen der Leitung in Abhängigkeit davon reagiert, inwieweit persönliche Bedürfnisse erfüllt werden vom Vorgesetzten erwartet, dass er auf die Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen eingeht
Soziale Bedürfnisse stehen hier im Vordergrund und sollen folglich auch am Arbeitsplatz befriedigt werden. Diese Hinwendung zum Gegenüber und der Wunsch nach sozialem Eingebundensein tritt in den Hintergrund beim Bild des »self-actualizing man«. Die Selbstverwirklichung des Individuums steht nun im Vordergrund. Obwohl dieses Menschenbild auch von der Begrifflichkeit stark an den personzentrierten Ansatz erinnert, wird bei letzterem die Beziehungsangewiesenheit des Menschen sehr viel stärker betont. Selbstaktualisierung ist im personzentrierten Ansatz immer nur in Beziehung denkbar, das gilt für den »self-actualizing man« nicht in diesem Maße: Unabhängig vom (Aus-)Bildungsstand streben alle Menschen nach Selbstverwirklichung Individuelle Selbstverwirklichung sind wichtiger als die Integration in eine funktionierende Gruppe und soziale Beziehungen Selbstverwirklichung und Autonomie sind wichtige Motivationsfaktoren Menschen sind fähig zur Weiterentwicklung und möchten als reife Personen gesehen werden mit der Möglichkeit zur Entscheidungsautonomie Menschen sind primär intrinsisch motiviert, externe Belohnung bewirkt träge Anpassung und verhindert Weiterentwicklung Zwischen individuellen Streben nach Selbstverwirklichung und den Zielen eines sozialen Systems besteht nicht zwingend eine Diskrepanz: Menschen versuchen freiwillig ihre Ziele in die des Systems zu integrieren.
Der »complex man« schließlich ist eine Vorstellung von Menschsein, die neben interindividuellen auch intraindividuelle Unterschiede betont: Bedürfnisse variieren inter- und intraindividuell Motive sind zu einem komplexen Motivmuster verwoben Neue Motive können im Verlauf der Lerngeschichte hinzukommen Innerhalb eines (sozialen) Systems kann eine Person unterschiedliche Motive verfolgen Beratung muss sich dann den individuellen Ansprüchen von BeratungskundInnen anpassen, Lösungen sind jeweils situations- und personspezifisch zu finden
Auf theoretischer Ebene findet das Menschenbild des »complex man« u.a. in verschiedenen Organisationstheorien seinen Niederschlag, (wie den Kontingenztheorien, die Situationsvariablen beim Design von Organisationen berücksichtigen oder auch im Konzept des New Public Management für den Öffentlichen Dienst).
4.1 Blick in die Zukunft: das Menschenbild der Wissensgesellschaft als normative Grundlage für Beratungstheorien
Wie relevant, gültig und kompatibel sind die verschiedenen Menschenbilder gängiger psychologischer Theorien? Diese Frage lässt sich nur im Kontext beantworten, denn per se lassen sich anthropologische Annahmen nicht empirisch überprüfen. Der Kontext, in dem Beratungshandeln heute stattfindet, und in dem es sich auch legitimieren muss, ist die sog. »Wissensgesellschaft«.
Das Menschenbild der Wissensgesellschaft ist zu einem hochanspruchsvollem »Portfolio« geworden:
»Die bisher vorgetragenen Überlegungen zur Wissensgesellschaft haben schon erkennen lassen, dass »Wissensarbeiter« sich nicht mehr als triviale Maschinen behandeln werden lassen. Aus der Sicht der Wirtschaft dürfen sie sich auch gar nicht so verhalten bzw. so behandeln lassen, weil sie dann als Produktivkraft unbrauchbar bzw. zumindest wenig ergiebig sein würden. Vielmehr wird von ihnen erwartet, dass sie – und das wirkt doch etwas überraschend – genau den Kernbestand dessen erfüllen sollen, was zum Kanon der klassischen Bildungskonzepte gehört: Selbstverwirklichung als Person durch Selbstorganisation; Ausprägung der Individualität; Aktive Gestaltung von Selbst und Umwelt; Partizipationsfähigkeit; Problemlösungskompetenz für unvorhersehbare Probleme; Kritikfähigkeit auf der Grundlage fester moralischer Orientierung; reflexiver Umgang mit den Medien; verantwortungsvolles Kommunikationsverhalten; interkulturelle Flexibilität und Toleranz sowie kreativer Umgang mit Kontingenz« (Schmid, 2006, 10).
Knapp zusammengefasst:
»Menschen sind kognitiv autonome, sich selbst organisierende Systeme, die ein Anrecht auf Selbstverwirklichung haben und darauf in Lernsystemen und durch Kompetenzentwicklung vorbereitet werden müssen. Lernen erfolgt selbstorganisiert, Lerner sind streng genommen un-belehrbar. Kompetenzen sind Dispositionen zur selbstorganisierten kontextabhängigen Lösung unvorhersehbarer Probleme.« (16)
Schmid schlussfolgert:
»Wer das nicht angemessen theoretisch und praktisch in Rechnung stellt, operiert mit einem untragbaren und unrealistischen Menschenbild und darf sich nicht wundern, wenn er langfristig erfolglos handelt.« (12)
Also muss gefragt werden, ob die der Beratung zugrundeliegenden gängigen Theorien bezüglich ihrer anthropologischen Axiome noch das widerspiegeln, was Schmid als (normatives) Menschenbild der Wissensgesellschaft formuliert. 4.2 Behalten Theorien Bestand, wenn sich ihre anthropologischen Grundlagen als nicht mehr zeitgemäß heraus stellen?
Was heißt diese Forderung in der Konsequenz für die klassischen Beratungstheorien? Sind die Beiträge der psychologischen Theorien vor diesem Hintergrund relevant und valide? Verlieren die bisherigen Konzepte dieser noch relativ jungen Disziplin bereits ihre Grundlagen?
Nicht alles, was es bisher an anthropologischen Grundlagen gibt, muss als überholt oder unbrauchbar gelten. Insgesamt betrachtet scheint jeder Ansatz eine gewisse Berechtigung zu haben, wenn man beachtet, dass jeweils nur soziale Teilwirklichkeiten abgebildet werden. Die Frage nach abgewehrten Ängsten mag sicherlich nach wie vor von heuristischem Wert sein, (vorausgesetzt, Modell und soziale Wirklichkeit werden nicht miteinander verwechselt). Den Menschen als entscheidungsfähig und -willig zu konzeptualisieren, macht nach wie vor Sinn. Die These vom autonomen Menschen, der sich selbst organisiert und steuert, behält in jedem Fall Relevanz und Gültigkeit im Kontext der Wissensgesellschaft.
Dennoch kann nicht übersehen werden, dass die bestehenden Theorien aus dem psychotherapeutischen Kontext – zunächst nur unter der Perspektive ihrer Anthropologien betrachtet – keine in sich schlüssige theoretische Grundlage für die Praxis der Beratung bieten.
Ähnliches gilt für die anthropologischen Grundlagen der Arbeits- und Organisationspsychologie, in denen sich zwar die Veränderungen von Arbeitswelt sehr viel deutlicher abbilden, als in den psychotherapeutischen Theorien, die aber in ähnlicher Weise wie die »klassischen« Beratungstheorien den gesellschaftlichen Wandel zu wenig reflektieren.
Es bleibt vielmehr der Eindruck, dass es sich letztlich um relativ kontextfreie, a-historisch gedachte Modelle handelt, die implizit oder explizit von einem Universalitätsanspruch ausgehen und dass letztlich die Frage, wie der Mensch oder das Subjekt angesichts gesellschaftlicher Strukturveränderungen zu denken sei, gar nicht erst formuliert wird. Hinsichtlich ihrer anthropologischen Annahmen bleiben die klassischen der Beratung zugrundeliegenden Theorien offenbar völlig unbeeinflusst von strukturellen Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene. Ansonsten müssten sich gesellschaftliche Veränderungen in den Anthropologien niederschlagen, was wiederum Auswirkungen zumindest auf die jeweilige Veränderungstheorie haben müsste.
Sowohl für die psychotherapeutisch orientierten Theoriegrundlagen von Beratung, als auch für die Organisationspsychologie und die von ihr vertretenen Menschenbildentwürfe gilt, dass es keine zeitdiagnostisch begründete kritische Sichtung des Bestehenden gibt. Welche möglichen Konsequenzen ergeben sich hier?
Mehrere Antworten sind denkbar.
Zum einen wird das, was PraktikerInnen schon immer getan haben, nämlich die Kombination verschiedener Ansätze nach rein pragmatischen Gesichtspunkten, prinzipiell weiter möglich sein, ohne dass Beratung damit in der Praxis automatisch an Qualität einbüßt, weil sich erfahrene BeraterInnen ohnehin selten streng an die theoretischen Vorgaben halten. Allerdings wird mit dieser Position die Notwendigkeit, und damit in letzter Konsequenz die Sinnhaftigkeit einer Beratungstheorie in Frage gestellt. Es schiene mir ein lohnenswertes Unterfangen zur Professionalisierung von Beratung nicht (nur) durch die Weiterentwicklung des Methodenrepertoires beizutragen, sondern in erster Linie über den Weg der Grundlagenforschung.
Eine zweite denkbare Möglichkeit wäre dann eine integrative Theorie der Beratung zu entwickeln versuchen, und dies über den Diskurs über anthropologische Grundlagen. Was die Psychotherapie angeht, ist dieses Vorhaben allerdings bis heute nicht wirklich gelungen. In der Praxis ist ein eklektisches Vorgehen und die Kombination verschiedener (theoretisch durchaus inkompatibler ) Ansätze die Regel- von einer echten integrativen Theorie, die verschiedene Ansätze in widerspruchfreier Art zueinander in Beziehung setzt oder zu einer Metatheorie kommt, ist man in der Psychotherapie weiter entfernt denn je. Im Gegenteil: die berufspolitische Situation im Gesundheitswesen scheint das Abstecken unterschiedlicher »claims« geradezu zu befördern, was dazu führt, dass Abgrenzung, statt Integration das erklärte Ziel sein muss. Auch wenn Beratung hier ein etwas anderes Feld vorfindet, – Konkurrenz zwischen verschiedenen BeraterInnen besteht allemal, das schlägt sich sehr vermutlich auch auf die theoretische Diskussion und Weiterentwicklung nieder. 4.3 Perspektivenerweiterung durch Subjekttheorien
Eine dritte Möglichkeit der theoretischen Weiterentwicklung könnte in einer Perspektivenerweiterung des Repertoires »klassischer Theorien« und ihrer anthropologischen Grundlagen um die Argumente verschiedener VertreterInnen der Subjekttheorien bestehen.
Wenn es innerhalb der sehr differenziert geführten Diskussion um Subjektentwürfe und den Zusammenhang gesellschaftlicher Strukturveränderungen Positionen gibt, die von einem universellen Geltungsanspruch ausgehen, dann könnte diese Position auch für die Psychoanalyse, den personzentrierten Ansatz, den Selbstmanagementansatz, etc. gelten. Ein solcher a-historischer und kontextabsehender Universalitätsanspruch der klassischen Theorien trägt Züge einer »deformation professionelle«, das gilt für die (auf psychologischen Theorien gegründete) Praxis wie für die Forschung gleichermaßen.
Sehr viel differenzierter wird hier der Diskurs durch verschiedene VertreterInnen der Subjekttheorien geführt. In der von Keupp und Hohl herausgegebenen Übersichtsdarstellung zum »Subjektdiskurs im gesellschaftlichen Wandel« (Keupp, Hohl, 2006) wird genau die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Subjektkonzeption unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Theorien und gesellschaftlichem Wandel in den Mittelpunkt gestellt. Eine Grundthese der Herausgeber lautet:
»Unter den Bedingungen der modernisierten bzw. der reflexiven Moderne ist eine Veränderung nicht nur der institutionellen Strukturen, sondern auch der Handlungs- und Subjektkonzeptionen zu erwarten. Wie diese Veränderungen aussehen, ist umstritten, aber ein Subjektkonzept, in dessen Zentrum das moderne, autonome »Kernsubjekt« steht, reicht zur Erklärung der Phänomene reflexiver Modernisierung auf der Akteursebene sicher nicht mehr aus.« (9)
Nach einem kurzen Abriss der Geschichte der Subjektkonzeptionen in der Moderne – ausgehend von der »Geburt« des modernen Subjekts in der beginnenden Neuzeit einschließlich der feministischen Kritik des patriarchal geprägten Subjektbegriffs der Moderne, der mit seiner Betonung von Autonomie und Kontrollvermögen unter Betonung der Rationalität weibliches Selbsterleben vollkommen ausblendet, bis hin zur Subjektkonzeption der »Netzwerkgesellschaft« im Sinne Castells, kommen Keupp und Hohl zu dem Schluss, dass die Tragfähigkeit der »Subjektvorstellungen der ersten Moderne« eher in Zweifel zu ziehen seien. In einem Resumée der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Texte wird deutlich, dass die angesprochenen VertreterInnen unterschiedlicher Subjektkonzeptionen den gesellschaftlichen Strukturwandel wohl sehen, allerdings durchaus nicht alle der Meinung sind, daraus folge die Notwendigkeit einer Revision bestehender Subjektentwürfe. Beispielhaft sei hier Jürgen Straub (2006) genannt, der in seinen Überlegungen zu einer psychologischen Handlungstheorie davon ausgeht, dass spezifische soziokulturelle Gegebenheiten vernachlässigt werden könnten.
Während sich Keupp und Hohl auf unterschiedliche sozialwissenschaftliche Subjektkonzeptionen beschränken, beziehen Grundmann und Beer in ihren 2004 herausgegebenen Diskussionsbeiträgen auch Positionen aus Philosophie und Neurowissenschaften mit ein. Ohne den Diskurs an dieser Stelle nachzeichnen zu können, sei doch angemerkt, dass jede Diskussion um anthropologische Fragen an den Positionen von Singer und Roth nicht mehr vorbei kommt (vgl. Singer, 2003 und Roth, Grün, 2006). Die Weiterentwicklung der Beratungstheorie muss sich also auch mit den Argumenten der Neurowissenschaften auseinandersetzen.
Eine vierte Möglichkeit wäre, zumindest zu überprüfen, ob es sich lohnen könnte, eine Beratungstheorie zu entwickeln, die ihren Ausgangspunkt von ihrem Gegenstand her nimmt, also Beratungshandeln unter den soziokulturellen Bedingungen der Postmoderne versucht zu rekonstruieren. Ein solches Vorgehen würde an Bestrebungen anknüpfen, wie sie beispielsweise vor Jahren schon von Jerome Bruner formuliert wurden. Er plädiert für eine Psychologie, die er als hermeneutische (Text-) Wissenschaft konzipiert, in deren Mittelpunkt erzählte Texte stehen, die einer interpretativen Analyse unterzogen werden und die er »Kulturpsychologie« nennt:
»A cultural psychology is a interpretive psychology, in much the sense that history and anthropology and linguistics are interpretive disciplines.« (Bruner 1990, 118)
Bruner fährt fort:
»But that does not mean that it need be unprincipled or without methods, even hard-nosed ones. It seeks out the rules that human beings brings to bear in creating meanings in cultural contexts. These contexts are always contexts of practice: it is always necessary to ask what people are doing or trying to do in that context.« (a.a.O.)
Damit könnte eine »Grounded Theory der Beratung« entwickelt werden. (vgl. hierzu ausführlicher Glaser und Strauss, 2005 bzw. Glaser, 2004).
»Contexts of practice« im Sinne von Bruner werden uns auch im Rahmen professioneller Beratung zugänglich und zwar gleich unter der Perspektive eine Verbesserung bzw. Lösung von praktischen Problemen. Wenn es also gelänge, diese für eine wissenschaftliche Aufarbeitung zu nutzen, wie es von Seel vorgeschlagen wird (in diesem Heft), kämen wir auf dem von Bruner entwickelten Konzept einen großen Schritt weiter. Insbesondere wäre im Sinne der hier aufgeworfenen Fragen interessant, ob und inwieweit in den praktischen Beratungen ein implizites Wissen über Subjektkonstruktionen in der Postmoderne zum Tragen kommt. Dabei könnten wir davon ausgehen, dass erfahrenen BeraterInnen als Mitglieder dieser Gesellschaft die anthropologischen Grundlagen der klassischen Beratungstheorien praktisch bereits überwunden haben und postmoderne Subjektkonstruktionen aktiv mitgestalten, ohne dass es ihnen aber immer bewusst wird (implizites Handlungswissen). Eine entsprechende wissenschaftliche Aufarbeitung würde es ihnen ermöglichen, sich zusammen mit ihren KlientInnen auch kritisch zu den postmodernen Subjektkonstruktionen zu verhalten (vgl. Seel in diesem Heft).
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