Anstößige Bewegung, die kritisch denkt. Leichtigkeit und Gewicht in Alfred Lorenzers Sprachtheorie

Manfred Buchner

Zusammenfassung

Dieser Beitrag untersucht Bedingungen für die Entfaltung des befreienden Potenzials von Sprache. Ausgangspunkt bildet die Seite des Subjekts, welches durch Sprache berührt und angesprochen wird, z.B. durch existentiell bedeutsame Leseerfahrungen. Diese für Sprachwirkung unerlässlichen Elemente von Bewegen und Anstoßen werden mit Hilfe einiger körperphilosophischer Metaphern Jean-Luc Nancys greifbarer zu machen versucht. In einem weiteren Schritt wird das kritische Potential von Sprache im Kontext von Öffnung und Weite sowie von spielerischer Verfügung über gesellschaftliche Bedingtheiten untersucht. Diesem Aspekt von Leichtigkeit wird jener von Schwerkraft und Gewicht gegenübergestellt. Dabei wird deutlich, dass sich Sprache auf irdische Konkretheiten, auf Materie, auf die Bedürfnisse und das Begehren der Körpers und auf Lebenspraxis beziehen muss, soll sich ihr großes Potential tatsächlich entfalten. Paradoxerweise zeichnet sich Sprache, die sich auf Freiheit hinbewegt und die nicht Manipulation, Hetze und ideologischer Verengung dient, durch Bezüge auf solche materielle und körpernahe Diesseitigkeiten und Begrenztheiten aus. Lorenzers Sprachtheorie ermöglicht es, diese Facetten möglichst unverkürzt zusammen zu denken. Das Irdische und Materielle finden hier Eingang vor allem über die Vermittlung und Weiterentwicklung von Freuds Psychoanalyse und Marx' historischem Materialismus. Lorenzer stellt den psychoanalytischen Prozess in einen Kontext von Sprachzerstörung und Rekonstruktion, wobei sich das Sprechen im therapeutischen Setting letztlich immer auf Lebenspraxis und Sprachgemeinschaft bezieht. Abschließend werden hierzu zwei Illustrationen aus dem Feld einer psychoanalytisch inspirierten Sozialwissenschaft vorgestellt: Zum einen eine Annährung an kommerzielle Inszenierungen rund um Shopping Malls und neue Konsumwelten, zum anderen eine eigene Leseerfahrung mit literarischer Prosa des Schriftstellers Thomas Bernhard. Schlagwörter: kritische Theorie, Psychoanalyse, Sprachtheorie, Körperphilosophie, Gestaltpsychologie, Totalitarismuskritik, Medien und Werbung, tiefenhermeneutische Literaturanalyse

Schüsselwörter: kritische Theorie, Psychoanalyse, Sprachtheorie, Körperphilosophie, Gestaltpsychologie, Totalitarismuskritik, Medien und Werbung, tiefenhermeneutische Literaturanalyse

Summary

This article examines conditions for the realisation of the critical potential of language. Beginning with the subject that is being touched and reached by language, as we can find it for example in existentially meaningful experiences of reading, some metaphors of Jean-Luc Nancy’s philosophy of the body are used to think about these elements of being moved and excited by language. In a further step the critical potential of language is presented in contexts of openness and wideness as well as an empowering and active play with social boundaries. At the same time, language has to confront itself with earthly issues, has to relate to material conditions, the needs and desires of the body and everyday life. It can be seen as paradoxical that language which tends to freedom and does not want to be misused for manipulation, hatred or ideological ends, has to confine itself by referring to such material, earthly constraints as mentioned above. Alfred Lorenzer’s theory of language allows to bring all these aspects together. The earthly and material find their way into this theory by means of combining two traditions of critical thought: Freud’s Psychoanalysis and Marx’s Historical Materialism. According to this, Lorenzer places the psychoanalytical process into a context of destruction of language and reconstruction of the same; communication within the therapeutical setting always refers to the practical sides of everyday life and language as shared by a community of users. In order to make psychoanalytic theory fruitful for the social sciences, two final illustrations of the potential of language are presented: First an analyses of commercial symbolisms around shopping malls and new architectures of consumption. Secondly, a personal experience of reading is shared with a literary text by the Austrian author Thomas Bernhard. Key words: critical theory, psychoanalysis, theory of language, philosophy of the body, gestalt psychology, critique of totalitarianism, mass media and advertising, hermeneutical analysis of literature

Keywords: critical theory, psychoanalysis, theory of language, philosophy of the body, gestalt psychology, critique of totalitarianism, mass media and advertising, hermeneutical analysis of literature

1. Existentielles Berührtwerden durch Sprache

Man bat einen Rabbi, dessen Großvater ein Schüler des Baalschem gewesen war, eine Geschichte zu erzählen. »Eine Geschichte«, sagte er, »soll man so erzählen, dass sie selber Hilfe sei.« Und er erzählte: »Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen.« (Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim)[1]

Wird über mögliche kritische Funktionen von (gesprochener oder geschriebener) Sprache nachgedacht, so lässt sich ein möglicher Anfang in der Form gestalten, nach der hörenden bzw. lesenden Person zu fragen. Diese steht als AdressatIn auf der rezeptiven, empfangenden Seite des kommunikativen Prozesses und konstituiert ihn notwendig mit. Damit Sprache ihre potentiell reflexive, kritische, appellative, verführende oder auch manipulierende Kraft entfalten kann, muss sie ja von irgend jemandem als subjektiv wichtig und beachtenswert anerkannt werden. Sie entfaltet dann Wirkungen und wird als aufregend, interessant, erhellend, hilfreich, instruktiv usw. erlebt. Das lesende bzw. hörende Individuum schreibt der Mitteilung Relevanz und Bedeutsamkeit zu, andernfalls würde sie an ihm oder ihr im Sinn eines belanglosen Rauschens vorüberziehen.

Mit Jean-Luc Nancy (2007), der sich in seiner Körperphilosophie auf Spuren des Verhältnisses von Sprache und Körper begibt, ließe sich dies auch folgendermaßen formulieren: Es findet eine Berührung statt, ein Berührt-Werden. Dies impliziert, dass sich Sprache an der Materialität, an der Physis, am Gewicht der Körper reibt und bricht. Sprache stößt an die Materialität des Körpers und gibt zugleich Anstoß zu Bewegung und Aufbruch.

Sprache kann berühren, sie erreicht und bewegt einen Körper, der konkret im Raum situiert ist, einmalig und nur jetzt in diesem gegenwärtigen Augenblick. Dieser Körper ist ständig in Bewegung und doch immer nur hier und jetzt anwesend. Im nächsten Moment ist er möglicherweise bereits ganz woanders. Vielleicht liest dieser Körper gerade einen Text, hält Papierseiten in den Händen oder es schmerzen die Augen vom Flimmern des Bildschirms. Die Berührung durch Sprache impliziert einen Bruch, einen Kontakt, Reibung und Anstoß. Sie beinhaltet Öffnung wie auch Schließung von etwas, das nicht wiederum Sprache ist.

Um solche Vorgänge von Bewegt-Werden und Berührung in einer greifbaren und möglicherweise unmittelbarer einleuchtenden Sprache darzustellen, wird hier zu Beginn auf einen bildhaften und mythologienahen Text von Martin Buber zurückgegriffen. Dies wiederum geschieht durchaus im Sinne Alfred Lorenzers, dessen Arbeiten den Schwerpunkt der in Folge angestellten Überlegungen bilden. Ein Grundthema in Lorenzers Denken besteht darin, mythologische, bildhaft-symbolische Sprache mit kritischer Reflexion und emanzipatorisch-solidarischem Handeln zusammen zu bringen. Dessen Bestreben besteht darin, inspirierende wie auch korrektive Beziehung und Kontakt zwischen diesen beiden Polen zu stiften, anstatt das eine durch das andere zu ersetzen[2].

Martin Buber stellt sein Gleichnis vom bewegenden und berührenden, und damit vom guten Erzählen an den Anfang seiner großen Sammlung chassidischer Legenden aus der Welt des osteuropäischen Judentums. Auf diese Weise verdeutlicht der Autor, dass dessen Werk – Ergebnis ausgedehnter forscherischer und publikatorischer Tätigkeit von Jahrzehnten – nicht als bloß sachlicher Bericht oder dokumentarische Archivierung gemeint ist. Vielmehr ist Bubers Arbeit von dem Impuls getragen, mit der schreibenden Darstellung von Figuren, Konturen und Kräften der mystisch-sozialen Bewegung der Chassidim die Leser/innen persönlich zu erreichen. Der Autor will die eigene Berührtheit, die sich in den Geschichten und Legenden wiederspiegelt, zum Ausdruck bringen und vermitteln. Dies geschieht unter der Annahme, dass die in den Erzählungen aufbewahrten existentiellen Erfahrungen auch für Menschen in ganz anderen historischen und gesellschaftlichen Situationen von Bedeutung sein können; dass sie quasi dem Leser oder der Leserin aus der je eigenen Unbeweglichkeit und Lahmheit wieder heraus zu helfen vermögen – hin zu individuell wesentlichen Entwicklungs- und Entfaltungsprozessen. In Anlehnung an die spirituell-poetische Sprache des Chassidismus schreibt Buber:

»Aber die Erzählung ist mehr als eine Spiegelung: die heilige Essenz, die in ihr bezeugt wird, lebt in ihr fort. Wunder, das man erzählt, wird von neuem mächtig. Kraft, die einst wirkte, pflanzt im lebendigen Worte sich fort und wirkt noch nach Generationen.« (1992/ 1949, 5f.)

Es klingt hier eine Erfahrung des Lesens an, die wohl viele kennen: Dieser Text, diese Geschichte hat mir etwas zu sagen. Und das geschieht, obwohl die entsprechenden Zeilen vielleicht schon viele Jahre oder sogar Jahrhunderte früher geschrieben wurden, kann sein, an einem ganz anderen Ort der Welt, von Menschen, deren Sprache ich nicht hätte verstehen können, und die mir fremd sind. Plötzlich entfalten die Worte, entfaltet der Text trotz aller Distanz und allem Abstand eine unmittelbare, kraftvolle Wirkung. Sie entwickeln eine Dringlichkeit und Relevanz, der ich mich kaum entziehen kann. Etwas entsteht in der Begegnung zwischen dem Text und mir, ein Kraftfeld spannt sich auf. Es berührt mich sogar körperlich, erregt mich, begeistert mich vielleicht. Ich fühle mich mit einem Mal wach und aktiviert, oder auch erschlagen von einer unangenehmen Einsicht. Möglicherweise lege ich das Buch beiseite und handle heute, angeregt oder erschrocken von dem, was ich da gelesen habe, ein Stück weit anders oder bewusster als sonst. Es kann sein, dass ich in Gedanken der Leseerfahrung noch nachhänge und in weiterer Folge Ideen und Impulse entwickle, das durchs Lesen Ausgelöste in die eigene Lebenspraxis zu integrieren und mit anderen zu teilen. Die Begegnung mit dem Text hat ein dynamisch-kraftvolles Feld eröffnet, in dem ich meine Individualität, mein Bezogensein auf andere wie auf Welt vertieft kennenlernen und ein Stück weit mehr entfalten kann.

Auch Alfred Lorenzer ist diesem Wunder der existentiell bedeutsamen Leseerfahrung in der ihm eigentümlichen, erfrischenden Mischung aus Offenheit gegenüber dem Gegenstand und kritisch-denkender Exaktheit nachgegangen. In einer einführenden Arbeit zur tiefenhermeneutischen Kulturanalyse schreibt Lorenzer (1986, 20-99) ausführlich von der Psychodynamik des Verhältnisses zwischen Text und Leser/in bzw. vom kraftvollen Feld, dass sich hierbei aufspannt. Dieses gewinnt Triftigkeit besonders dann, wenn die lesende Person den jeweiligen Text für sich selbst als bedeutsam erlebt.

Eine genauere Darstellung der Dynamik zwischen Text bzw. Autor/in und Leser/in nach Lorenzer würde hier zu weit führen. Grob gesprochen brechen im Rezeptionsprozess – bei entsprechender existentieller Involviertheit – möglicherweise seitens des lesenden Individuums bisher verpönte Lebensentwürfe auf, die frau oder man sich bisher nicht zu leben, ja vielleicht nicht einmal zu denken gestattete. Der Text stößt das Individuum hin auf (noch) nicht realisierten (Befriedigungs-)Möglichkeiten auf dem Hintergrund der je eigenen biografischen Gewordenheit. Innere, von der Instanz des »Über-Ich« aufgerichtete, Verbote oder auch äußere Einschränkungen in der momentanen Lebensführung treten plötzlich ins Bewusstsein, was schmerzhaft, unangenehm, verführerisch, lustvoll, usw. sein kann – oder auch all dies zugleich. Blockt nun das lesende Individuum solche Konfrontation nicht ab, sondern lässt sich auf Verunsicherung und Irritation, auf wieder auflebende Sehnsüchte und Wünsche ein, dann eröffnen sich Möglichkeiten individueller Wachstums- und Veränderungsprozesse, deren Folgen vielleicht weit über den ursprünglichen Inhalt des Gelesenen hinaus gehen. Der Körper kommt möglicherweise durch die Berührung wieder in vielfältigere Bewegung, alte Handlungsmuster und eingefahrene Lebenspraxis erhalten die Chance zu Veränderung. Es können wundersame Wandlungsprozesse ausgelöst oder verstärkt werden. Der kondensierte, im Text verdichtete Erfahrungshintergrund der Autorin oder des Autors »pflanzt im lebendigen Worte sich fort und wirkt noch nach Generationen« (M. Buber, s.o.).[3]

2. Verankertsein in spürender Materie

In einem nächsten Schritt lässt sich nun die Frage nach dem stellen, was durch Sprache berührt und angestoßen wird. Es geht hierbei auch um etwas, das nicht wiederum Sprache ist, um etwas Anderes als Sprache, um etwas, das Sprache erreichen kann und an dem sie sich bricht. Ohne dieses vielfache und vielfältige Andere, so sei hier angenommen, würde Sprache im leeren Raum schweben und sich bloß auf sich selbst beziehen. In den Worten des einführenden Gleichnisses von Martin Buber: Es interessiert hier das lahme Bein des Großvaters selbst, das durch die Erzählung wieder beweglich wird. Es sind die Glieder des beweglichen Körpers, die im Denken, im Schreiben gegenwärtig werden mögen, und zwar in ihrer konkreten, physischen, erdhaften Materialität. Sie können durch Sprache nicht ersetzt werden. Sie stehen der Sprache gleichsam entgegen. Die hier geschriebenen Worte können auf die Beine hinzeigen, hindeuten, sie können den Blick zu den Beinen lenken, die Wahrnehmung für das Gefühl in den Beinen sensibilisieren, usw. Der Text kann Raum für die Gliedmaßen öffnen, offen lassen und zum Gewahrwerden der Beine veranlassen. (Wie fühlen sie sich gerade an? Beweglich oder müde? Schwer? Zappelig und unruhig? Wird ihr Gewicht gerade von einem Stuhl und von den Füßen getragen?) Solche Worte sind jedoch nicht mit den Beinen ident. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn hier vom vielgestaltigen Anderen von Sprache mit Hilfe von Sprache geschrieben wird: Die Worte können hier nur hindeuten auf etwas, sensibilisieren, öffnen für etwas, das nicht sie selbst sind. So wie eine Hand, die auf etwas hinweist, in den Hintergrund tritt gegenüber dem Akt des Schauens.

Solche Überlegungen werden hier vor allem deshalb angestellt, um möglichen Bedingungen und Voraussetzungen auf die Spur kommen, die notwendig sind, damit Sprache ihre kritischen und befreienden Funktionen entfalten kann. Oft reproduziert Sprache bloß Klischees und Stereotypen, ja sie vermag zu manipulieren und aufzuhetzen. Denn auch dieses Potential beinhaltet Sprache, wie wir wissen: Z.B. in Form von Propaganda, im Aufruf zu Zerstörung, Hass und Gewalt, in Vortäuschung von Illusionen, Beschwörung von Glaubenssystemen und Ideologien, oder auch in der Kreation von marketingtauglichem, absatzförderndem und imageträchtigem Schein, im bunten, unterhaltsamen Verschleiern realer Abhängigkeits- und Machtverhältnisse und ähnlichem mehr.

Kritische Funktion von Sprache zielt im hier vorgestellten Verständnis immer auf Erweiterung von individuell-kollektiver Handlungs- und Erlebnisfähigkeit ab. Dies ist nicht im Sinn konkurrenzhaft-egoistischer Durchsetzung isolierter Einzelinteressen gemeint. Wie z.B. Holzkamp (1985) zeigt, setzt die Erweiterung eigener Möglichkeiten das kooperative Bezogensein auf andere in der gemeinsamen Gestaltung von Welt voraus. Die Freiheit der anderen ist Bedingung meiner je eigenen Befreiung und umgekehrt.

Sprache als Medium der Verständigung, Kooperation und Welterschließung beinhaltet weiters ein Element von Offenheit und Unendlichkeit: Sprache ermöglicht es der Vorstellungskraft, alle Gesetze und Begrenzungen der »Wirklichkeit« in Sekundenschnelle zu überwinden und aufzuheben. Sie trägt dazu bei, dass das menschliche Bewusstsein seit dessen Anbeginn von einer freien, gerechten und friedvollen Welt träumt. Für Sprache gilt in diesem Zusammenhang ähnliches, was Herbert Marcuse (1990/ 1957) als eine kritische Funktion von Fantasie ausmacht:

»Die kritische Funktion der Phantasie liegt in ihrer Weigerung, die vom Realitätsprinzip verhängten Beschränkungen des Glücks und der Freiheit als endgültig hinzunehmen, in ihrer Weigerung, zu vergessen, was sein könnte.« (148)

Die Macht der Fantasie muss sich jedoch beständig an der Wirklichkeit bewähren und messen, sie bedarf der Auseinandersetzung mit realen Begrenzungen und Bedingtheiten. Andernfalls würde Fantasie zur reinen Ersatzbefriedigung, zur bloßen Träumerei, zu einer Flucht vor gelebtem Leben. Ebensolche Korrektur und Reibung verlangt die Offenheit und Weite von Sprache, um Wirksamkeit zu entfalten. Sie benötigt Bezüge auf dieses hier thematisierte »Andere« von Sprache, auf die Begrenztheiten der Erde, die Schwerkraft des Materiellen, Physischen, auf das Gewicht der Körper.

Kritisch denkende Sprache »braucht« also etwas, woran sie sich (immer wieder) reiben kann, woran sie (immer wieder) stoßen kann, gleichsam einen Widerstand, und in dieser Bewegung findet das Offene der Sprache Form und Gestalt. Dadurch erst wird sie bedeutsam für die Bildung von Subjektivität wie von Gemeinschaftlichkeit. Fehlt diese Anbindung an das Gewicht der Erde, dann bleibt Sprache leer, irrelevant, allzu leicht, sie schwebt dann unverbindlich frei im Raum, bloße sinnfreie Zeichen. Sprachproduktion droht dann zur Ersatzbefriedigung ohne Realitätsanbindung zu verkommen, was nicht zuletzt ein Charakteristikum totalitärer Sprachoperationen i.S.v. Propaganda und Indoktrinierung wäre.

Sprache, die (selbst-)kritisch bleibt, bemerkt folglich das eigene Verankertsein in verschiedenen Bedingungen menschlicher Existenz, sie hält sich offen für dieses Bemerken, für die Wahrnehmung der eigenen materiellen, physischen und körperlichen Basis. Genau dieses Gewahrsein des »Irdischen« kann hier als ein Kennzeichen kritisch-denkender Sprache ausgemacht werden: Indem sie nicht zu weit abhebt von ihren eigenen Bedingtheiten verliert sie sich nicht so leicht in bloßer Fantasie und willkürliche Setzung. Durch solche Erdung ist kritisch-denkende Sprache weniger anfällig für Täuschung und Mystifikation, sie erstarrt nicht so leicht zu Vorschrift und Anweisung, verflacht vielleicht seltener zu leerem Geplapper. Sie ist dann stärker immun gegen die Bildung von wirklichkeitsfernen Klischees. Realitätsnahe aber weltoffene Sprache ist nicht so leicht instrumentalisierbar für die Interessen von Herrschenden.

Wir begegnen hier einem Paradoxon: Die Offenheit der Sprache benötigt gleichwertig die Begrenzung materieller physischer Konkretheit, um in Bewegung zu kommen und zu bleiben: Leichtigkeit und Gewicht bedingen einander. Sie sind wie zwei Seiten derselben Medaille. Ein angemessenes kritisches Sprachverständnis muss beide Seiten dieser Polarität berücksichtigen. Eine solche Ausgewogenheit scheint in Alfred Lorenzers Sprachtheorie zu einem guten Teil gelungen, weshalb im folgenden auf Lorenzers Oeuvre näher eingegangen wird. Besonders interessiert hier auch die Bezugnahme Lorenzers auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds und den historischen Materialismus Karl Marx'. Beide Theoriefelder kennzeichnet das Motiv, Materielles und Physisches zu denken, um dadurch Befreiung und Emanzipation voran zu bringen.

3. Lorenzers Theorie in Traditionslinien kritischer Wissenschaft

Lorenzers Oeuvre steht in der Tradition kritischer Theorie, insbesondere in deren Bemühungen, psychoanalytische Theoriebildung und Praxis mit gesellschaftlichem, von Marx angestoßenem Denken zueinander zu bringen und begrifflich zu vermitteln. Die Bezugnahme Lorenzers auf diese beiden Traditionslinien emanzipatorischer Wissenschaft[4] weist jeweils, in unterschiedlichen Akzentuierungen, dieses Element der Schwere im Sinn von Gewicht auf, eines Denkens auch des Materiellen, Endlichen, Begrenzten. Der von diesen beiden Traditionslinien für sich reklamierte und auch praktizierte Anti-Idealismus kann wohl nicht zuletzt als ein Bestreben aufgefasst werden, den unbegrenzten Himmel der Ideen, der reinen und unbefleckten Vernunft, eine nachdrückliche Skepsis entgegenzusetzen. Solches Unbehagen stiftet Unruhe und wendet sich vielleicht in weiterer Folge dem ganzen Gewicht des irdischen Lebens zu. Hierbei geht es jedoch in keinem Fall darum, Denken in einem antirationalistischen Impuls über Bord zu werfen.

Die bekannte Marxsche Intention, Hegels idealistische Philosophie »vom Kopf auf die Füße zu stellen« verdeutlich auf pointierte Weise diese Bewegungsrichtung kritischer Wissenschaft, die zugleich Ideologiekritik im Namen von konkreter menschlicher Lebenspraxis mit ihrem Ringen um sinnlich irdisches Glück, Erfüllung und umfassend befriedigende Lebensverhältnissen beinhaltet bzw. beinhalten muss[5]. Um das Marxsche Bild ein wenig weiterzuspinnen: Der nun in eine stimmigere Position gebrachte, von den Füßen getragene Körper gerät in Überraschungen, Kämpfe, er begegnet so manchen Freuden. Der Kopf jedoch wird hierbei nicht abgeschnitten, sondern ist einfach an einen passenderen Platz gekommen. Er kann jetzt seine Funktion besser als zuvor erfüllen, als zunehmend integrierter Bestandteil des lebenden menschlichen Körpers, der eine zusammengehörige organismische Ganzheit ist.

Durchaus ähnlich steht es um die bekannte Freudsche Formulierung, mit welcher der Begründer der Psychoanalyse sich selbst – wenig bescheiden – in eine Reihe narzisstischer Kränkungen einordnet, die aufgeklärtes Denken dem abendländischen Subjekt zufüg(t)e: Kopernikus – Darwin – Freud. Wir sind (so wird’s zumindest behauptet) weder Mittelpunkt des Universums, noch Krone der Schöpfung und nicht einmal Herr im eignen Haus der psychischen Kräfte. Dieses phallogozentrische Fantasma rationaler Vernunft, Herr im eigenen Haus sein zu können, beinhaltet die illusorische Vorstellung, sich selbst allzeit vollkommen durchsichtig zu sein, jederzeit mit dem eigenen Denken identisch zu sein, und immerdar berechenbar und voraussagbar zu handeln. Eine solche zu dekonstruierende Anmaßung imaginiert ihren Sitz im Kopf des (abendländischen) Individuums. Es geht also auch im Denken wie in der Praxis Freuds um eine Bewegung nach unten.

Freuds Theorie ist – so unterstreicht es u.a. Görlich (1991, 19-55) – auf der Suche nach der sinnlich-körperlichen Basis psychischer Vorgänge. Freud schreibt in diesem Zusammenhang von der urgewaltigen Triebmelodie, an der ihm mehr gelegen sei als an der Analyse kulturell überformter »Obertöne« (ebd, 23). Freuds Triebbegriff kann als nach wie vor aktuelles Erkenntniszentrum psychoanalytischer Theoriebildung und Erfahrung ausgewiesen werden, und zwar gegen mögliche kulturistische, ichpsychologische oder auch neuropsychologische Verflachung. Wie Görlich zeigt, reicht die Auseinandersetzung um die quasi materielle, körperlich-triebbestimmte »Basis« der Psychoanalyse unter anderem zurück bis zu der wohl berühmten Auseinandersetzung zwischen Fromm und Marcuse um die Freudsche Triebtheorie . Schmid Noerr (1997, 224 -238) wie auch Marcuse (1969, 21-43) schreiben in diesem Zusammenhang erhellend von der biologischen Dimension bzw. Grundlage in Freuds implizit kritischer Theorie des Subjekts, wobei dieses Diktum ganz und gar nicht im Sinn reaktionärer Biologismen zu verstehen ist. Ähnliches hat wohl auch Lorenzer im Sinn, wenn er schreibt:

»Erwerb und Funktion der Sprache müssen materialistisch begründet werden.« (1972: 11)

Die materielle, »biologische« Dimension gibt der sprachlich kommunizierten Kritik Schwerkraft und Dringlichkeit. Sie öffnet Raum, in welchem konkretes sinnliches und emotionales Genießen wie Leiden, Forderungen nach Befriedigung und Glück, Zurückweisen von Entsagungen in tatsächlich stattfindenden Lebenswegen von Menschen sichtbar, hörbar und spürbar werden können. Das Gewicht, das in Freuds wie Marx' Denken zum Tragen kommt, kann durchaus als Materie spürend denkender, mit spürender Materie denkender Impuls verstanden werden, der zugleich ein anti-idealistischer, aufklärerischer und herrschaftskritischer ist.

Im Übrigen erscheint hier das Wort Materialismus als keine glückliche Formulierung. Denken von und mit lebendiger Materie, von und mit den spürenden Körpern, kann kein Besitz und keine Angelegenheit einer wie auch immer gearteten Fraktion oder akademischen Lehrtradition sein, die sich solches auf ihre Fahnen schreiben. Verständlich ist dieser »Ismus« allenfalls aus historischen Kontexten, in welchen ein Denken des Materiellen wohl rebellische, leidenschaftliche Stoßrichtungen und Stoßbewegungen gegen Mystifikationen, gegen verschleiernde und verdrängende Sprachproduktion, bedeutete.

4. Sprache und Lebenspraxis

Es werden hier Aspekte von Sprache untersucht, die bedeutsam sind für Auseinandersetzung mit Selbst und Welt, für Erfahrung und Entfaltung von individuell spezifischer Subjektivität – und zwar nicht allein im stillen Kämmerlein, sondern gemeinsam und auch in Reibung mit anderen. Um diese Spuren weiter zu verfolgen, sei nun Lorenzers Verständnis von (Lebens)Praxis mit herein genommen.

Lorenzers Sichtweise von Sprache fokussiert deren Einbettung in konkrete menschliche Praxis, in alltägliches, kommunikatives, tätiges Verflochtensein mit anderen. Dies findet immer schon statt in einer gemeinsam bewohnten Welt, auch in ihren physischen, begrenzten, dinghaften Aspekten. Eine solche Verankerung oder auch Erdung der tendenziell ins Unendliche flottierenden Sprachzeichen ermöglicht nun eine Bewegung hin zu Unterscheidung und Prägnanz, welche Sätze, Worte, Texte, Erzählungen jeweils für »mich« wichtig und relevant sind, welche jeweils »mich« existentiell betreffen, bewegen und angehen (sollten). In den Worten einer gestaltpsychologischen Betrachtungsweise ließe sich dies folgendermaßen formulieren: Diejenigen Aussagen und Sätze, die von genau diesem Individuum mit seiner nur ihm zukommenden Lebensgeschichte als bedeutsam erlebt werden, bilden eine Form. Es entstehen hierbei Figur und Gestalt. Diese heben sich vom Hintergrund der für das betreffende Individuum wenig oder gar nicht relevanten Sprachproduktionen ab.[7]

Hinweise für solches lebenspraktisches Verankertsein von Sprache findet Lorenzer u.a. in den sprachtheoretischen Arbeiten Ludwig Wittgensteins. Der Ansatz des frühen Wittgestein, dargelegt u.a. im Tractatus Logico-Philosophicus, propagiert das positivistische Programm des Wiener Kreises, Sprache einer streng formallogischen Reinigung, Definition und Klärung zu unterziehen. Die Bedeutung der Worte und Sätze soll ein für alle mal festgestellt werden, unabhängig von jeder vermeintlichen individuellen Konfusion. Ganz anders, geradezu konträr, die Auffassung des gereiften späteren Wittgenstein, der im Gegensatz zum verständlichen, aber letztlich illusorischen Wunsch nach endgültig fixiertem, ein für alle mal sicherem Wissen zu dem Ergebnis kommt, vielmehr vom Sprachspiel zu schreiben. Dieses muss vielleicht nicht so dringend vom sündhaften Durcheinander des Irdischen gereinigt werden. In der Theorie der Sprachspiele ergibt sich die immer im Fluss befindliche Bedeutung der Sprachzeichen aus deren wechselndem Gebrauch in unterschiedlichen sozialen Situationen. Klärung und Sicherheit lassen sich hier nur durch ein jeweiliges Klarwerden der entsprechenden Handlungskontexte finden, was aber immer wieder neu zu leisten und zu erkunden ist. Konkret gelebte menschliche Praxis ist das nie restlos abstrahierbare Ereignis-Feld, in welchem Individuen, in Beziehung mit anderen stehend und in gemeinsamer Auseinandersetzung mit Welt, das Sprachspiel formen und von ihm geformt werden. Dieses Ereignis-Feld findet jeweils räumlich und zeitlich verortet, genau Hier und Jetzt statt. Es findet seine Stätte an diesem einen unverwechselbaren Ort und in dieser einzigartigen, weder austauschbaren noch wiederholbaren Gegenwart. Selbst Wahrnehmungsakte medial bzw. elektronisch vermittelter Informationen beinhalten solche raum-zeitliche Verortungen der wahrnehmenden bzw. kommunizierenden Person.

Lorenzer (1995, 195f.) weist darauf hin, dass die Sprachspieltheorie des späteren Wittgenstein einen dynamischen Zusammenhang von Sprachgebrauch, Lebensform und Welterschließung entwirft. Sie ermöglicht es, die Ebenen »Sprache – Verstehen – Lebenspraxis – Lebenssituation« als Einheit zu fassen. In diesem Zusammenhang entwickelt Lorenzer den Begriff des szenischen Verstehens (1995, 138 – 194). Szenen können als Situationen, interaktive, ganzheitliche Einheiten verstanden werden, in welchen sich (alltägliches) Leben abspielt. In einer szenischen Situation ist vieles möglich, schwingt vieles als Potentialität mit, aber nur manches wird Wirklichkeit. Situationen sind nicht zuletzt durch Verwirklichung, Vollzug, aber auch Begrenzung, Brüchigkeit und Unvollkommenheit definiert.

Lorenzer sieht Sprache eingebettet in szenisch vor sich gehende Lebenspraxis. Durch eine solche Betrachtungsweise entsteht quasi ein Fokus, ein Brennpunkt, in dem die unendliche Beliebigkeit und Leichtigkeit der Sprachzeichen ihre Gleich-Gültigkeit verliert. Sprache wird dann fürs Individuum wichtig, bedeutsam. Sie betrifft eine/n, rührt und stößt an, berührt und bewegt. Sprache kann dann auch aufregen, erfreuen, kränken oder verletzen. Durch gemeinsame, teils konfrontierende, harmonische und rhythmische Bewegungen mit den Bedingtheiten irdischer Existenz erhält Sprache Bedeutung und Gewicht. Sie kommt zur Welt.

Durch solche Prozesse an den Grenzen von Zeichenproduktion und Materialität entsteht eine Form, eine Figur, welche die Lebenswirklichkeit eines konkreten Menschen angeht und berührt. Im Ansprechen und Angesprochen-Werden bildet sich eine Gestalt, die getragen ist von Energie und Prägnanz. Aus der Unendlichkeit der möglichen Sätze und Worte entwickelt sich eine endliche, aber offene Form. Genau in dieser offenen und öffnenden Prägnanz, in dieser lebendigen Gestalt nun entfalten bestimmte Wort, bestimmte Texte oder Anrufungen eine Dringlichkeit, Sogwirkung, eine Kraft für das hörende oder lesende Subjekt, für den hörenden oder lesenden Körper. Dieser oder diese erlebt Sprache nun so, dass sie ihn oder sie unmittelbar angeht, vielleicht sogar anspringt, tritt, hinterherläuft, keine Ruhe gibt, aufrüttelt; dass sie vielleicht verführt, verleitet, manipuliert, aufhetzt, eine/n irre macht und verwirrt; oder dass Sprache sich sanft annähert, gut tut, beruhigt und tröstet; dass sie Klarheit schafft, heilt und hilft.

Solche subjektiv erlebbare Prägnanz, solche je individuell sich ereignende Bedeutsamkeit von Sprache in ihrer Offenheit sind ohne das Gewicht der Schwerkraft, ohne irdische Begrenzungen, ohne die spürende und oftmals behäbige Festigkeit der Materie nicht zu haben. Leichtigkeit und Gewicht bedingen einander. Es geht vielleicht auch darum, immer wieder neue, andersartige und auch überraschende Verbindungen dieser beiden Polaritäten zu suchen, zu entwickeln und sich ereignen zu lassen.

5. Sprache und Metatheorie der Psychoanalyse

Lorenzers Bemühen um eine metatheoretische Fundierung der Psychoanalyse gibt dem hier entworfenen Themenfeld eine von mehreren möglichen konkreteren Gestalten bzw. untersucht bestimmte Aspekte darin. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die bisher beschriebenen »großen Linien« kritischen Denkens, Schreibens und Sprechens auch in der therapeutischen Begegnung implizite wie explizite Präsenz aufweisen.

Wie bereits erwähnt, unterstreicht Lorenzer das Verflochtensein von Sprache in konkrete alltägliche Lebenszusammenhänge. Die (tendenzielle) Einheit von »Sprache – Verstehen – Lebenspraxis – Lebenssituation« (1995, 195) stellt eine Hintergrundfolie dar, auf der besser fassbar werden kann, was der/ die Psychoanalytiker/in macht. Eine Einheit von Sprache und Praxis, ein Zueinander-Stimmig-Sein von Versprachlichung und gelebter gegenwärtiger Situation, wäre in Lorenzers Konzeption ein »idealer Normalzustand«, in welchem Psychoanalyse nicht notwendig wäre bzw. in welchen der therapeutische Prozess mündet. Einher ginge dies mit der Wiederherstellung voller Erlebnis- und Handlungsfähigkeit, wobei offen bleiben muss, was subjektiv als (ausreichend) »voll« empfunden wird.

Lorenzer (1995) fasst neurotische Symptombildung als Sprachzerstörung auf und den Prozess zwischen Analytiker/in und Analysand/in als Rekonstruktion. In neurotischen Reaktionen klaffen Lebenspraxis und die sprachlich-bewusste Verfügung über diese auseinander. Unbewältigte, sprachlich nicht mehr zugängliche vergangene Situationen, die aber für die Bildung von Subjektivität von wesentlicher Bedeutung sind bzw. waren, setzen sich »hinter dem Rücken« des sprachlich mit-konstituierten Bewusstseins durch. Es sind subjektiv bedeutsame Szenen, interaktives Beziehungsgeschehen, die »im« Individuum Niederschlag fanden, die aufgrund ihrer Konflikthaftigkeit jedoch aus dem Bewusstsein verdrängt wurden. Sie wirken nun unbewusst und unverstanden weiter und lösen Verhalten unerwünscht »hinter dem Rücken des Individuums« aus. Im Sinn des Freudschen Wiederholungszwangs setzt sich die unbewusst gewordene, szenische Situation als neurotisches Muster wie ein unerwünschter, Handlungsfreiheit einschränkender roter Faden in der alltäglichen Lebenspraxis immer wieder durch. Die Einheit von Sprache und Praxis ist somit zerfallen, Subjektivität ist »beschädigt«. Dem Bewusstsein ist die volle sprachliche Symbolisierungsfähigkeit abhanden gekommen. Es fand ein Prozess der Desymbolisierung statt, den es aufzulösen gilt.

Psychoanalytische therapeutische Praxis wäre somit ein Verfahren, das an Berührungsfeldern von Sprache und subjektivem, individuellem Erleben stattfindet. Ein wesentliches Ziel hierbei ist es, verschüttete und verborgene Erinnerungen wieder ins Bewusstsein zu heben. Dies geht einher mit einer Wiederherstellung von emotionaler Erlebnisfähigkeit wie auch von Symbolisierungsfähigkeit. An anderer Stelle und in einer späteren Arbeit verdeutlicht Lorenzer, dass es bei solchen Vorgängen von Symbolisierung auch um spielerische Verfügung über die jeweils eigene Lebenssituation geht (1984, 161).

Sprache ist im psychoanalytischen Prozess jedoch nicht nur hilfreich: Sie steht vielmehr oft im Weg, verwirrt, deckt zu, führt in die Irre, steht im Dienste der Abwehr. Sie blockiert dann lebensgeschichtlich bedeutsame Einsichten und Erkenntnisse. Denken und Sprache können hier die klare Sicht auf die »springenden Punkte« der zu rekonstruierenden Vergangenheit verstellen. Sie erzeugt dann Unschärfe und Verwirrung anstelle von Lebendigkeit, Kraft und Prägnanz. Desymbolisierte Sprache ist hier tendenziell zu Klischees erstarrt, die in Folge stereotype, immer gleiche Reaktionen produzieren. Verlust an Symbolisierung und Bewusstheit bringen zugleich Einschränkungen subjektiver Handlungsfähigkeit mit sich. Klischeehafte Sprache steht im Dienst von Unwissenheit, Ignoranz und Verdrängung. Im psychoanalytischen Prozess kommt es (idealerweise) zur langsamen Auflösung solcher verstellter und verstellender Sprache. Das Individuum kommt dann zunehmend wieder in Kontakt mit bedeutsamen lebensgeschichtlichen Szenen, mit prägenden früheren Interaktionserfahrungen, mit eigener Lebens-Gestalt.

Woher rührt dieses Doppelgesicht von Sprache als Verstellung und Befreiung? Die menschliche Sprach- und Weltoffenheit scheint ein grundlegendes Risiko in sich zu tragen. Das über Sprache und Symbolbildung mit-konstituierte Bewusstsein weist eine gewisse Fragilität, eine grundlegende Labilität, auf. Sie stellt eine beweglich, dynamische Einheit dar, die zerfallen kann. In Lorenzers Modell (1984, 85 – 95) geschieht menschliche Entwicklung und Subjektbildung mittels einer »Doppelregistrierung«: Im Bewusstsein werden sowohl interaktive Szenen in sinnlich reicher und bildhafter Ganzheit registriert. Niederschläge realer Interaktionen werden mittels »sinnlich-symbolischer Interaktionsformen« im Gedächtnis gespeichert. Im Zuge der Spracheinführung werden solche »prototypische Szenen« dann auch mit Worten verknüpft, mit »Namen« versehen. Eine solche Versprachlichung ist wesentlich für die Subjektentwicklung und eröffnet unendlich weite Spielräume dank sprachlicher Zeichen. Das Risiko besteht jedoch darin, dass sich die Namensgebungen verzerren, dass sie Dinge nicht bei ihrem passenden Namen nennen, dass für interaktive Szenen »falsche Namen« angeeignet werden oder dass Versprachlichung an wichtigen Stellen gänzlich fehlt. Die Verbindung mit der Basis sinnlich-konkreter Szenen bzw. Interaktionserfahrungen, also auch mit emotional-unmittelbaren Erlebnisqualitäten, wäre somit gerissen. Verwirrung, entstellte Kommunikation und Sprachlosigkeit machen sich breit. Die oben beschriebene Bildung von erfahrungsfernen Klischees, als (scheinbar) erträglicherer »Ersatz« für erlebte subjektive Wirklichkeit, könnte nun einsetzen.

Sprache ist in diesen Theorie-Entwürfen Lorenzers nicht per se kritisch im Sinn von befreiend. Sie kann auch einen kritischen Zustand aufrecht erhalten oder verschärfen. Erst die Rückbindung an konkrete Interaktionen, an szenisch gelebte Praxis und an die Vorgänge von »Übertragung – Gegenübertragung« im Zuge des psychoanalytischen Prozesses ermöglichen es, zur »eigenen« Sprache zurück zu finden, welche dann stimmig mit der eignen Lebensgeschichte werden kann. Auch hier findet sich also ein Element von Erdung der beweglichen Sprachzeichen, von einer Anbindung an Schwerkraft. In diesem Fall erfolgt die Rückbindung wohl auch an die konkrete individuelle geschichtliche Gewordenheit, die nicht mehr verändert werden kann. Deren »Wiederentdeckung« und Wiederaneignung, das Wieder-Erleben, das sprachliche wie emotionale Erkunden der eigenen Erinnerung, ermöglichen jedoch ein Zurückgewinnen von Lebendigkeit und Beweglichkeit, von »spielerischer Verfügung« über eigene Lebenssituationen. Das »Alte« kann integriert und zugleich abgeschlossen und hinter sich gelassen werden. Das Wiedererlangen voller sprachlicher Symbolisierungsfähigkeit kann neue Erlebnis- und Handlungsräume in der Gegenwart eröffnen.

6. Auf dem Weg zur Psychoanalyse als kritischer Sozialwissenschaft

In der kulturtheoretischen Arbeit »Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik« (1984) erkundet Lorenzer Möglichkeiten, psychoanalytische Theoriebildung nicht nur auf therapeutische Arbeit zu beschränken, sondern auch für die Analyse kultureller Symbolsysteme und deren Relevanz für nachfamiliale Identitätsentwicklung, für das Feld der sekundären Sozialisation, fruchtbar zu machen.

Auch kulturelle Symbolbildungen werden von Individuen internalisiert und die so entstehende und notwendig zu erlangende Symbolisierungsfähigkeit kann zerfallen und defizient sein. Auch in diesem Fall kommt es in Folge zu Klischeebildung. »Typische« Formen wären hierbei faschistische Ästhetiken und Propaganda (1984, 168f) oder zu Erlebnisschablonen erstarrte Kommunikationsmuster in Werbung und Kulturindustrie (ebd, 170).

Es wäre demzufolge nicht nur Aufgabe psychoanalytischer Psychotherapie, »volle« Sprach- Erlebnis- und Symbolisierungsfähigkeit wieder herzustellen oder auch präventiv zu bewahren. Aus Lorenzers Modellen ergeben sich wichtige Impulse und Anregungen für eine sich als kritisch und reflexiv verstehende Sozialwissenschaft. Diese möge gleichsam dazu beitragen, dass Menschen zur vollen Artikulation ihrer Lebenswirklichkeiten befähigt sind und dass sie zu »tauglichen«, nicht-illusionären, nicht-idealisierenden und damit nicht-totalitären Symbolbildungen finden. Dies, so die Annahme, macht in Folge heutige reale Lebensbedingungen mit ihren Möglichkeiten, Widersprüchen und Grenzen erst hinterfragbar und veränderbar.

Im Umfeld Lorenzers wurden die hier beschriebenen Themenfelder in Richtung einer psychoanalytischen Sozialforschung (Belgrad, et al, 1987) bzw. tiefenhermeneutischen Kulturanalyse (Lorenzer, et al, 1986) weiter entwickelt. Dies hat zu fruchtbaren theoretischen wie empirischen Untersuchungen angeregt, die sich nicht zuletzt auf den Bereich massenmedialer und populärkultureller Inszenierungen erstrecken. Als Beispiele seien die Arbeiten Hans-Dieter Königs zur Massenpsychologie amerikanischer Cowboy-Inszenierungen und deren politischer Instrumentalisierung erwähnt (1986), sowie zum Autoritarismus unter Georg Bush jun. (2008). Als sozialpsychologisches Analyseinstrumentarium von Werbung und Kulturindustrie wurden Lorenzers Ansätze auch von Hartmann (1992) und Haubl (1998) weiterentwickelt. Prokop (2000) nimmt in seinem Überblickswerk zur kritischen Medienforschung ebenfalls mehrfach auf Lorenzers Arbeiten Bezug.

7. Zur Sozialpsychologie von Shopping Malls und erlebnisorientierten Konsumwelten

In einer eigenen Forschungsarbeit (Buchner, 2008) wurde auf diesem Hintergrund, sowie unter Zuhilfenahme des Fantasiebegriffs Marcuses (1990/ 1957. 140-158), das in Wien relativ neue städtebauliche Phänomen kommerzieller Konsum- und Erlebniswelten (Shopping Malls, Multiplex-Kinos, Erlebnisgastronomie, usw.) untersucht. Es ging dabei die u.a. um die Frage nach Kommunikations- und Erlebnisbeschränkungen durch die zahlreichen präsentierten (Werbe-)Klischees. Hierbei interessierten insbesondere mögliche Konnexe der kommerziellen Inszenierungen mit subjektivitätsbildenden Identitäts- und Zukunftsentwürfen von jugendlichen BesucherInnen dieser neuen urbanen Orte.

Als Beispiel, wie mit Hilfe des Ansatzes von Lorenzer Bildmaterial und kritisch-reflexive Sprache miteinander in Dialog treten können, sei hier ein Auszug aus dieser Forschungsarbeit in leicht abgeänderter Form wiedergegeben. Es handelt sich dabei um eigene Assoziationen zu einem Werbesujet für ein Multiplex-Kino in Wien. Das Werbesujet wird als ein Medium bildhafter Kommunikation verstanden, bzw. in der Terminologie Lorenzers als präsentative Symbolik:

»In kommerziellen Konsum- und Erlebniswelten werden präsentative Symbolbildungen in zahlreichen Varianten eingesetzt. Als eine recht gute Illustration dafür sei ein Werbeplakat herausgegriffen, das im Wiener U-Bahn-System auf ein neu eröffnetes Kino- und Entertainment Center der Village Cinemas in Zentrumsnähe aufmerksam machte. Das Werbesujet stammt aus der 'Frühzeit' der neuen Konsum- und Freizeitorte in Wien rund um das Jahr 2000.

Auf dem Plakat trägt eine junge Frau Zelluloid-Streifen als Perücke. Sie zieht die zur Faust geballten Hände zum Körper, ihr Mund ist weit offen, die Augen blitzen und sie schreit lustvoll (als ob sie gerade Achterbahn führe): »Waaahnsins Kino! Waaahnsins Filme! Mitten in Wien.« Der Hintergrund ist goldgelb schimmernd gehalten, die Person befindet sich in einem irrealen Raum, einem Space, der keine Bezüge zum Alltag herzustellen versucht.

Auch wenn dieses Beispiel vielleicht etwas banal anmutet, lassen sich hier einige interessante Themen und Versprechungen erkennen, die atmosphärisch im Kontext der neuen Konsumarchitektur anklingen. Durch den Einsatz präsentativer bildhafter Darstellung wurden und werden diese Inhalte emotional hautnah kommuniziert: Auf dem Plakat sind Erlebnisqualitäten wie Energie, intensive Gefühle und Spaß dargestellt. Das intensive Empfinden der weiblichen Figur weist auch eine Komponente sexueller Erregung auf. Sie präsentiert eine Art Kombination von Durchschlagskraft und Lust, sie thematisiert Grenzüberschreitung und Sich-Gehen-Lassen. Gleichzeitig ist aber auch ein selbstbewusstes Stark-Sein in der Botschaft enthalten Durch die Gepflegtheit ihres Make-ups und durch ihr tadelloses, sauberes Erscheinungsbild erweckt diese Person den Eindruck, als könne sie sowohl an die Grenzen ihrer Lust gehen und habe dennoch gleichzeitig sich und ihre Umgebung fest im Griff. Sie kann auf der Achterbahn ihrer Gefühle lustvoll und ohne schlechtes Gewissen fahren, und im nächsten Moment ist sie bei Bedarf bereit, im Büro einsatzfreudig und mit einem Lächeln im Gesicht die an sie gestellten Anforderungen souverän zu meistern. Das Thema der Grandiosität in kommerziellen Inszenierungen taucht auch hier wieder auf.

Einen solchen Spagat zwischen Individualität / Sich-Gehen-Lassen auf der einen und dem tadellosen Erfüllen härter werdender Anforderungen im Alltags- und Berufleben auf der anderen Seite zu schaffen – dies ist vielleicht ein hoch gestecktes bzw. illusionäres Ziel postmoderner »Erlebnisgesellschaft« unter restriktiveren neoliberalen Bedingungen.

Dieses Werbebild für die Village Cinemas in Wien Mitte vermittelt Sehnsucht nach einem Ausbrechen aus dem üblichen Trott und der Langeweile, sie stellt eine Suche nach einer Art kontrollierter Verrücktheit dar, und zwar mit beglaubigter Lustgarantie. Auffällig ist zudem, dass diese weibliche Figur in ihrem lustvollen Space alleine ist. Es ist niemand sonst da. Der Durchbruch zu mehr Erregung findet alleine statt.« (Vergl. Buchner 2008: 80f.)

Es wird deutlich, wie kommerzielle bildhafte Sprache hier auf Strukturen des im Alltag sich orientierenden Bewusstseins einwirkt und bestehende Klischees festigt. Problematisiert werden in der kritischen Reflexion u.a. diejenigen gesellschaftlichen und psychodynamischen Aspekte, die durch das klischeehafte Bild »draußen« bleiben, tendenziell ausgeschlossen aus Sprache, (Problem-)Bewusstsein und Kommunikation. In Folge sind diese Aspekte dann aus dem gemeinsamen und solidarischen Handeln zur Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse tendenziell entfernt.

Das kritische Potential von Sprache kann hier u.a. dazu beitragen, Mechanismen von Macht und sozialer Kontrolle zu reflektieren und zu durchschauen. Das Entwickeln eigener Sprache angesichts aufwendig inszenierter kommerzieller Symbolangebote kann dazu führen, jeweils subjektive Lebenswirklichkeiten und Handlungseinschränkungen im Gegensatz zu den irrealen Werbeklischees zu artikulieren und sich mit anderen darüber zu verständigen. Ähnliches wurde dann auch in einem qualitativ-empirischen Forschungsprozess gemeinsam mit Jugendlichen, die sich an diesen neuen Konsumorten des Öfteren aufhalten, zu realisieren versucht. Viele der jugendlichen Interview- und Forschungspartner/innen konnten sich tatsächlich mit großer Neugier und Offenheit auf eine solche reflexive Herangehensweise einlassen.

8. Leseerfahrungen mit Thomas Bernhards autobiographischer Prosa

Abschließend sei noch eine weitere Illustration möglicher kritischer Bewegungsrichtungen von Sprache angedeutet. Diese kann sich – im Sinn des eingangs erwähnten Verhältnisses von Text und Leser/in – auch im Berührtwerden durch ein literarisches Werk entfalten. Konkret sei hier eine eigene Leseerfahrung mit Thomas Bernhards autobiographisch gefärbtem Roman Die Ursache. Eine Andeutung (1977) nachgezeichnet.

Thomas Bernhards Romane wie Theaterstücke trafen einen Nerv verdrängter Geschichte im Österreich der Nachkriegszeit, wie zahlreiche hochemotionale und ablehnende Reaktionen auf dessen Werk zeig(t)en. Unter anderem war vom Autor als einem »Nestbeschmutzer« die Rede. Dies ist ein hiesiger geläufiger Ausdruck, mit dem Künstler/innen oder Intellektuelle, die Kritik an der »Heimat« üben, in der Boulevard-Presse sowie in gewissen Diskussionszusammenhängen des Öfteren bezeichnet wurden und werden[8]. Wer auf »Schmutz« hinweist, der oder die hat ihn auch verursacht, so die Logik dieser diffamierenden Sprachoperation.

Ein Höhepunkt der Erregung war die Inszenierung von Bernhards Stücks »Heldenplatz« im Wiener Burgtheater Ende der 1980er Jahre. Das Werk thematisiert sprachgewaltig Aspekte des Fortwirkens nationalsozialistischer Ideologie nach 1945. Die Uraufführung des Stücks am 4.11. 1988 wurde von einigen Printmedien in den Wochen davor zum Skandal hochstilisiert; der in Folge Wellen der Entrüstung und heftige Verbalattacken auslöste. Bald hatte die »Causa Heldenplatz« die rein kulturelle Sphäre verlassen und war Gegenstand einer emotionsgeladenen politischen Debatte geworden (Vergl. Schönherr, 2004). Dies veranschaulichte in unfreiwilliger Drastik, dass die teils überzeichnet wirkenden Aussagen der Figuren in Bernhards Stück – mitsamt dem Stilmittel der »Übertreibung« – realen Verhältnissen doch recht nahe kamen.

Im autobiographisch gefärbten Roman Die Ursache. Eine Andeutung nimmt der Ich-Erzähler auf Erfahrungen als Kind und Jugendlicher in der Stadt Salzburg Bezug. Dies umfasst Erlebnisse von Sadismus und Einsamkeit in der Schule, repressive salzburgerische Musikerziehung im Sinn »hochkulturellen« Drills, die Zeit des NS-Regimes, sowie Erfahrungen von Zerstörung und Krieg. Die Bezugnahme auf Salzburg ist keine eindeutige, sie schwankt zwischen Liebe zur Musik, zur Schönheit und Geschichte der Stadt einerseits und Erfahrungen von Not, Elend und Grausamkeit andererseits. Grundthema ist ein beinahe vollkommen lückenloses Schweigen über letztere Dinge nach Kriegsende. Als Beispiel sei hier eine Textstelle herausgenommen, in der eine prototypische schulische Szene beschrieben wird:

»Jeden Tag sehnte er sich danach, die ihn vollkommen erschöpfenden Erziehungsqualen im Internat mit dem Aufenthalt in der Schuhkammer unterbrechen, mit der Musik auf seiner Geige diese fürchterliche Schuhkammer seinen Selbstmordgedankenzwecken nützlich machen zu können. Er hatte auf seiner Geige seine eigene, seinem Selbstmorddenken entgegenkommende Musik gemacht, die virtuoseste Musik, die mit der im Ševčik vorgeschriebenen Musik aber nicht das geringste zu tun hatte und auch nichts mit den Aufgaben, die ihm sein Geigenlehrer Steiner gestellt hatte, diese Musik war ihm tatsächlich ein Mittel, sich jeden Tag nach dem Mittagessen von den übrigen Zöglingen und von dem ganzen Internatsgetriebe absondern und sich selbst hingeben zu können, nichts anderes, sie hatte mit einem Geigenstudium, wie es erforderlich gewesen wäre, zu welchem er gezwungen worden war, das er aber, weil er es im Grunde nicht wollte, verabscheute, nichts zu tun. Diese Übungsstunde auf der Geige in der beinahe vollkommen finsteren Schuhkammer, in welcher die bis an die Decke geschichteten Zöglingsschuhe ihren in der Schuhkammer eingesperrten Leder- und Schweißgeruch mehr und mehr verdichteten, war ihm die einzige Fluchtmöglichkeit.« (15f.)

Hier wird in sinnlicher Dichte die problematische Situation eines jungen Menschen in einer Erziehungsanstalt mit »Hochkulturcharakter«, und zwar in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs, deutlich. An späteren Stellen schildert der Autor in ähnlicher Eindringlichkeit und hautnaher Plastizität Erlebnisse von Kriegshandlungen, Tod, Zerstörung und vom Irrsinn nationalsozialistischer Ideologie. An vielen Stellen liest sich der Roman durchaus ähnlich wie ein Protokoll einer gelungenen psychoanalytischen Therapiesitzung: Die immer noch wirksame vergangene Erfahrung wird in aller Bedrohlichkeit und Vieldeutigkeit in der Gegenwart lebendig und gerade dadurch entsteht Offenheit für etwas Neues. Es besteht nun die Möglichkeit, sich zu dieser Geschichte zu verhalten, Trauer und Wut zu erleben, und dann die Geschichte auch hinter sich zu lassen, Liebgewonnenes und Wertvolles mitzunehmen und anders weiter zu leben. Es liegt eine besondere und eigentümliche Schönheit in dieser integrierenden, verarbeitenden Bewegung des erzählenden literarischen Subjekts.

Bernhards Roman steht quer zu einem verkitschten, touristischen und marketingtauglichen Blick auf die Stadt Salzburg und auf das, wofür sie im kollektiven Bewusstsein steht. Der Text gibt zudem Erfahrungen weiter, die aus der öffentlichen (und oft auch zwischenmenschlichen) Kommunikation nach 1945 nahezu vollständig ausgeklammert wurden und werden. Der Autor holt quasi Erfahrungen zurück in Sprache und fordert Auseinandersetzung mit leidenschaftlicher Verve ein.

Bernhards Werke trafen tatsächlich »wunde Punkte« eines allgemeinen Verdrängungsgedächtnisses. Der Autor wurde von Teilen der österreichischen Öffentlichkeit mit erbittertem Hass bedacht, in der Gestalt, als wäre die menschenverachtende Destruktion von dessen Romanen ausgegangen. In diesem Fall scheint literarische Sprache in ihrem kritischen Potential an wesentliche Grenzen und Blockaden nachdrücklich gerüttelt zu haben.

An Bernhards Texten und den Reaktionen darauf lässt sich sehen, dass Sprache tatsächlich zu bewegen und aufzuregen vermag. Bernhards Heldenplatz erregte intensiven Anstoß. Der damaligen medialen Kampagne lässt sich entnehmen, dass das Stück von Teilen der Öffentlichkeit als anstößig empfunden wurde. Sprache ließ hier nicht kalt, sie brachte Tendenzen und Themen ans Licht, die gerne unter den Teppich gekehrt würden. Die Worte entfalten hier Kritik an den herrschenden Verhältnissen, indem sie aufdecken und auf Wichtiges hinweisen: Faschismen und Irrationalismen sind nach wie vor virulent, sie können und dürfen nicht ignoriert oder als »erledigt« betrachtet werden.

Zugleich schafft es Bernhards oben zitierter Roman »Die Ursache. Eine Andeutung« Kontakt zur verdrängten Zeit 1938-45 aufzunehmen, in einer Art und Weise, die unter die Haut geht. Um zu Bubers anfänglicher poetischer Formulierung zurück zu kommen, erscheint es gleichsam als ein (beklemmendes) Wunder, wie Bernhards Worte und Sätze ein Lebensgefühl, eine Stimmung vermitteln, an der sich Jahrzehnte später beinahe unmittelbar teilnehmen lässt. Im Lesen wird spürbar: Dieses Gefühl, diese Gedanken, dieses Milieu sind stimmig, sie treffen zu. Sie wirken bis heute nach und machen uns bis heute blind und verschlossen. Es täte dringend Not, für dieses Fortwirken der unliebsamen Vergangenheit Augen und Ohren zu öffnen. Und indem dies im Lesen bemerkbar ist, wird das eigene Empfinden, wird die eigene Welt ein Stück offener und weiter. Die Gegenwart und die in ihr wirkenden Kräfte und Blockaden werden erkennbarer und spürbarer. Die eigene Orientierung hat sich dadurch ausdifferenziert und es lässt sich nun vielleicht bewusster reagieren und handeln. »Spielerische Verfügung« über eigene Lebensbedingungen ist wahrscheinlicher geworden. Dies kann nun eine Erfahrung sein, die eine/n bei den nächsten Schritten trägt und hilft und die sich in Erinnerung rufen lässt.

9. Conclusio

Kritisch anstoßende Sprache vermag also viel und doch auch nur sehr wenig: In Bernhards Texten finden sich vermutlich nirgendwo klare Lösungen, Antworten oder gar Anweisungen, was wir tun und wie wir leben sollen. Die Leseerfahrung kann für etwas öffnen, und doch lassen eine/n die Texte alleine mit möglichen Fragen, was denn jetzt damit anzufangen sei. Sie bieten wenig Möglichkeiten zur Flucht vor eigener Auseinandersetzung, vor dem Risiko individueller Suche.

Vielleicht liegt auch darin die Anstößigkeit von Bernhards Texten, wie auch von kritisch-bewegender Sprache im allgemeinen: Sie versorgen nicht mit einfachen Lösungen, liefern keine klaren Antworten, sie geben keine eindeutigen Aufforderungen oder gar Marschrichtungen vor. Sprache, die für ideologische Systeme einfängt und Menschen aufhetzt, spielt wohl auch mit unser aller Sehnsucht, Individualität, die manchmal auch eine Last ist, loszuwerden und uns in bequeme Abhängigkeit zu begeben. Wer da nicht mitmacht und eine/n an Weite und Freiheit schmerzlich erinnert, auf den oder die kann dann schon mal losgegangen werden, anfangs vielleicht »nur« mit Worten.

Die Orientierung, die kritisch-öffnende Sprache dennoch zu geben vermag, entfaltet sich wohl erst in der konkreten individuellen Begegnung, die sich auf Fragen und Ungewissheiten in jeweils unterschiedlicher Art und Weise einlässt. Es bleibt dabei unsicher, wohin und möglicherweise auch in welche Abgründe oder Konfrontationen die Bewegung geht. Es ist nicht kontrollierbar und nicht berechenbar, welche Überraschungen, schwierige wie schöne Erfahrungen einem/r dabei begegnen. Wohl nicht zuletzt an solcher Offenheit, die sich jedoch möglichen Fragen nach individueller Bedeutsamkeit wie auch nach lebenspraktischer Orientierung nicht verschließt, lässt sich eine vorgefundene Sprachfigur als kritisch-befreiende ausmachen.

Literatur

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Schmid Noerr, Gunzelin (1997): Gesten aus Begriffen. Konstellationen der Kritischen Theorie. Frankfurt/Main: Fischer.

Schönherr, Daniel. (2004): Thomas Bernhards »Heldenplatz« und der »Heldenplatz-Skandal« in den österreichischen Tageszeitungen sowie die Reaktionen auf Thomas Bernhards Tod 1989. Quelle: http://www.wischenbart.com/de/essays_andere-autoren/studis_arbeiten/daniel-schoenherr_thomas-bernhard-heldenplatz_2004.pdf (Stand: März 2011).

Tolstoj, Lew (2006/1878): Anna Karenina. Frankfurt/Main: Insel Verlag.

Endnoten:

[1]

1992/1949, 6.

[2]

Vergl. Lorenzer: 1984.

[3]

Ein sehr schönes literarisches Beispiel für eine solche existentielle Leseerfahrung findet sich in einer Passage von Lew Tolstojs Anna Karenina, wo der bisherige Lebensentwurf der Protagonistin durch die Begegnung mit Wronskij ins Wanken gerät. Im Roman wird eine solche Berührtheit durch einen Text (als Roman im Roman) während einer Zugfahrt zwischen Sankt Petersburg und Moskau beschrieben, welche die Verunsicherung und Neugierde Annas verstärkt (Tolstoj 1878/2006, 150 – 153).

[4]

Die Namen Freud und Marx seien hier durchaus als fragwürdige personalisierende Kürzel für weit aufgespannte Denk-Felder verstanden.

[5]

Vergl. Walter Euchners Ausführungen zur materialistischen Geschichtsauffassung bei Marx (1982, 58-70).

[7]

Vergl. Perls, Hefferline & Goodman. Gestalttherapie. Grundlagen. (1991/1951, 9 – 18).

[8]

Vergleiche hierzu: Sigrid Löffler zum »Heldenplatz-Skandal« im Spiegel vom 17.10. 1988, »Hinaus mit dem Schuft! (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13531490.html ), sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Nestbeschmutzer (Stand: 24.2. 2011).

Autorenhinweis

Manfred Buchner

Manfred Buchner, Mag. phil, lebt in Wien. Diplompsychologe. Mitarbeiter der Männerberatung Wien mit dem Schwerpunkt minderjährige Betroffene von Gewalt sowie in einem Wohnprojekt für Menschen mit Psychiatrieerfahrung. Gestaltung einer psychologiespezifischen Sendung im freien Radio (Orange 94.0). Berufspolitische Tätigkeit in der Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen (GkPP). Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendpsychologie; Sozialpsychiatrie; genderspezifische Aspekte mit männlichen Personen im Beratungskontext; Opferschutz und Gewaltprävention; kritische Psychologie, Psychologie und Yoga.

Mag. phil. Manfred Buchner

E-Mail: manfred.buchner@reflex.at