Editorial

Barbara Zielke & Thomas Slunecko

In unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontexten findet man aktuelle Erklärungsansprüche und auch Anwendungsfragen heute häufig an einen neuen, fundamental gedachten Dialogbegriff gebunden. Auch das noch weiter gefasste Konzept einer allgemeinen und prinzipiellen Dialogizität der Sprache und des Seins, welches sich vornehmlich gegen die Monologisierung von Sinn und Bedeutungsvielfalt richtet, hat Eingang in die Diskurse und in die Praxis der Kultur- und Sozialwissenschaften gefunden und wird von ihnen in Dienst genommen. Legitimiert wird diese Indienstnahme nicht zuletzt unter Verweis auf die eine tiefgreifende Dialogkompetenz einfordernde Lebenswelt globalisierter, transkultureller Gesellschaften, in denen wir alle zunehmend mit Differenz konfrontiert und verstärkt auf dialogisches Miteinander angewiesen sind. Aufgrund zunehmender Pluralität und Differenz weisen Dialoge interne Vielstimmigkeit auf, und das Im-Dialog-Sein wird – so ist zuweilen zu lesen – zur allgemein typischen Charakterisierung unseres Daseins (z.B. Hermans, & Kempen, 1998).

Mit Bezug auf die Anerkennung von Differenz erklären auch die unterschiedlichen Disziplinen ihre »dialogischen« Herangehensweisen, und zwar von der Wissensbildung in wissenschaftlicher Absicht bis zur sozial engagierten Praxis. Das gilt für auf eine relationale Hermeneutik abzielende Methoden sozialwissenschaftlicher oder interkultureller Forschungen (z.B. Straub & Shimada, 1999) oder für die Anpreisung einer polyphonen Ethnographie (Strecker 1995). Das gilt auch für die zugeschriebene interne Polyphonie des Gegenstands vieler kulturwissenschaftlicher, zumal kulturpsychologischer Forschungen des dialogisch strukturierten kulturellen Selbst. Aber nicht nur methodologische oder identitätstheoretische Erwägungen stehen heute häufig im Zeichen des inneren und äußeren Dialogs; auch die sozialwissenschaftliche Praxis betont die Bedeutung polyphoner, vielstimmiger Dialoge: Ob nun über die Einführung einer dialogischen Kommunikation jeder Stimme in der Organisation Raum gegeben werden soll (Eder, 2004), ob Psychotherapieverfahren ein internes, dialogische Selbstverhältnis ihrer Klientel zum Ziel erklären (Bromberg, 2004) oder psychotherapeutischen Rollenspiel-Szenarios mit Hilfe des Bachtinschen Polyphoniebegriffs erläutert werden (Angus & McCleod, 2004, 84ff) – allenthalben bezieht man sich auf einen erweiterten Dialogbegriff und hat damit, so scheint es, einen zentralen Wesenszug des heutigen Lebens im Fokus.

Was ist nun wirklich neu an der aktuellen Annäherung an den Dialog? Liegen positive Bestimmungsstücke einer Definition vor, auf die man sich heute verständigt hat und die den aktuellen Bedingungen angemessen erscheint? Oder werden ganz heterogene Bedeutungen mit der Rede vom Dialog verbunden? Wir möchten an dieser Stelle zwei Punkte erwähnen: Vom Autor als alleinig verantwortlicher Institution hinter dem, was als Beitrag im Dialog gilt – sei es gesprochener oder geschriebener Text, sei es ein Bild –, hat man sich in den Diskurs- und Textwissenschaften lange schon verabschiedet, ebenso wie in der Ethnologie, der Kulturanthropologie oder der interkulturellen Kommunikation. Wie sieht der Umgang mit diesen Fragen in der Psychologie, der Kulturpsychologie zumal, aus? Seit einiger Zeit haben sich auch kulturwissenschaftlich ausgerichtete Ansätze in der Psychologie immer schärfer von der Auffassung distanziert, man müsse vorrangig die psychischen Funktionen des einzelnen Diskursteilnehmers analysieren, um soziale Prozesse, etwa dialogische Kommunikation, aus psychologischer Sicht zu verstehen. Während der Autor nahezu verschwunden ist, ist der Andere in den Dialogkonzepten verstärkt präsent: Zwar entzieht sich seine Andersartigkeit jeder Festschreibung (Schiffauer, 1997), er bleibt per definitionem unerreichbar, aber er spielt immer in die Konstitution des Eigenen mit hinein.

Wenn wir uns also aus guten Gründen auf einen erweiterten Dialogbegriff einlassen, dürfen wir auch in den Humanwissenschaften nicht bei der Untersuchung einzelner kognitiver oder Handlungssysteme, die am Dialog beteiligt sind und diesen hervorbringen, verbleiben, sondern müssen der Eigendynamik dialogischer Prozesse im Sinne der Logik einer bestimmten Praxis, gerecht werden. In diese Eigendynamik spielt der Andere immer und auf unvorhersehbare Weise mit hinein, insofern auch die je »eigene« Position auf das nicht vorwegnehmbare Element der antwortenden Anschlusshandlung angewiesen bleibt. Was in Dialogen passiert, kann nicht länger als direkte Folge der Konstruktionen der beteiligten »Parteien« gelten, sondern muss als ein neues Drittes verstanden werden, das keinem der Beteiligten vor oder außerhalb der dialogischen Kommunikation zur freien Verfügung steht.

Aus dieser relationalen Perspektive stellen die Autorinnen und Autoren dieses Themenheftes die Frage nach der Art und Beschaffenheit inter- und intrapsychischer, interkultureller und milieuübergreifender Dialoge. Zentrale Fragen sind dabei: Wo ist dialogisches Verstehen »lokalisiert«, wenn es nicht länger als individuelle (kognitive) Kompetenz gedacht wird? Inwieweit muss und kann Dialog auch als verkörpertes Phänomen gedacht werden, wenn ein rein kognitivistischer Dialogbegriff verabschiedet worden ist? Was bedeutet es überhaupt, mit anderen »im Dialog« zu sein, wenn man sich von der optimistischen Auffassung empathischen Nachvollziehens oder rationalen Konsenses verabschiedet hat, wenn man Differenz anerkennen, zugleich von vereinnahmender »Veranderung« (Theunissen, 1977) Abstand nehmen will? Gibt es auch bei einem weit gefassten Dialogbegriff noch Kriterien, gelingende Dialoge von anderen Formen zu unterscheiden? Wie spielt die Verteilung von Diskursmacht hinein? Und wenn die Unüberwindbarkeit kultureller Differenz allgemein anerkannt wird, wodurch und in welchem Sinne sind Dialoge über kulturelle Grenzen hinweg dann besondere Gattungen?

Eine Psychologie des Dialogs, wie sie uns vorschwebt, kann sich zudem selbst nur im Dialog mit anderen Kulturwissenschaften konstituieren und muss deren historischen und rekonstruktiven Fokussierungen mit Rechnung tragen. Sie kann und soll sich auf philosophische und literaturwissenschaftliche Theorien sprachlicher Bedeutung und dialogischer Kommunikation ebenso beziehen wie auf sozialpsychologische Erkenntnisse über kognitive Prozesse beim Verstehen und Produzieren von Sprache. Dabei soll sie Dialog jedoch nicht nur als sprachliches Phänomen erkunden und daher die vielfältigen Erscheinungsweisen von Dialog in ihrer je historischen Konstituiertheit in den Blick nehmen: Dialog ist zumal ein sprachliches, verkörpertes, handlungspraktisches und mediales Phänomen. Sie darf und soll ihren Werkzeugkasten daher auch mit Modellen der Handlungs- und Praxistheorie, mit hermeneutischen Methodologien und wissenschaftssoziologischen sowie medientheoretischen Einwänden zu diesen füllen. Sie darf mit kommunikations- und textwissenschaftlichen wie soziologischen Übersetzungsbegriffen agieren und ästhetische wie rhetorische Kriterien in Anschlag bringen. Dass und wie solche Vielfalt sensibel in Resonanz zu bringen ist, vermögen, so hoffen wir, die in diesem Heft versammelten Beiträge zu zeigen.

Kenneth Gergens Beitrag beschreibt Dialoge in einer umfassenden Perspektive als kollaborative, bedeutungskonstitutive Prozesse. Auf Wittgensteins Sprachspielbegriff gestützt, wird die Konstitution von Bedeutung dabei in der Praxis (dem kollaborativen Prozess) selbst gesucht. Mit Verve und mit sprachphilosophischer Tragweite bringt der Autor das sozialkonstruktionistische Verständnis einer solchen kollaborativen Praxis auf den Punkt und erläutert in einem eigenen Abschnitt die Rolle, die dabei dem individuellen Akteur (noch) zukommt.

Barbara Zielke nimmt in ihrem Beitrag die (von Gergen und anderen vertretene) Konzeption eines »transformativen Dialogs« zum Ausgangspunkt, um einige Fragen an das sozialkonstruktionistische Konzept zu stellen. Mit Bezug auf Bachtins Dialogizitätskonzeption plädiert sie dafür, dass auch ein differenzaffiner Dialogbegriff die Frage nach Gelingensbedingungen dialogischer Kommunikation stellen muss. Damit bleiben auch in einem relational gedachten Dialogmodell die Kompetenzen und das Relevanzsystem der einzelnen Beteiligten im Blick.

Nora Ruck fragt in ihrem Beitrag nach der Körperlichkeit von Dialog und Differenz. Sie geht einer historischen Konstruktion radikaler Differenz nach, nämlich der Zuschreibung von Monstrosität an abweichende Körper bzw. Körper mit »Behinderungen«. Mit Bachtins körperhistorischen Studien zum »grotesken Leib« des Mittelalters weist sie zwei Vorzüge einer dialogischen Perspektive über körperliche Differenz auf: die Anerkennung des »Anderen« als gleichwertiges dialogisches Gegenüber und die Demontierung jener ontologischen Verschiedenheit von Selbst und »Anderem«, deren Behauptung für Zuschreibungen von Differenz so zentral ist.

Mit den beiden abschließenden Beiträgen schwenkt das Heft auf ungeplante Dialoge ein, wie sie sich im Zuge interkultureller oder interreligiöser Begegnungen oft an kaum vermuteten Stellen und nicht selten als Missverständnisse einstellen. Ein gemeinsamer Nenner dieser beiden Arbeiten besteht darin, dass sich das Ge- bzw. Misslingen interkultureller Dialoge auf einer handlungspraktischen und nicht – wie von Wissenschaft und Politik gleichermaßen meist unterstellt – auf einer argumentativen Ebene entscheidet.

Thomas Slunecko & Aglaja Przyborski begreifen solche Missverständnisse als Chancen, um implizite praktische Gewissheiten und habituelle Selbstverständlichkeiten sichtbar zu machen, die jedem expliziten Aufeinander-Bezug-Nehmen zwischen Kulturen vorausliegen. Im ständigen Rückbezug auf ein detailliert ausgeführtes Beispiel – ein Teppich aus dem Berbergebiet, der aus Sicht des französischen Auftraggebers misslungen ist – verdichten der Autor und die Autorin aktuelle medientheoretische, philosophische und wissenssoziologische Thoreme zu einer umfassenden Konzeption interkultureller Verständigung. Eine vielleicht überraschendes Pointe dieser Konzeption liegt darin, dass kulturelle Missverständnisse letztlich immer nur auf der Basis eines bestimmten Verständnisses möglich sind.

Am Beispiel des Dialogs zwischen Religionen zieht schließlich das von Joachim Renn diskutierte Beispiel die Möglichkeit der Kommunikation impliziter Gewissheit über kulturelle Grenzen hinweg zunächst in Zweifel (zumindest im Fall erheblicher kulturelle Differenz). Anhand historischer Beispiele aus dem weitgefächerten Missionsprogramm des Christentums zeigt der Autor dann unterschiedliche Wege der Überwindung solcher Inkommunikabilitäten auf.

Literatur

Angus, Lynne & McCleod, John (2004): Self-Multiplicity and narrative expression in psychotherapy. In Hubert Hermans & Giancarlo DiMaggio (Hg.), The Dialogical Self in Psychotherapy (77-90). Hove and New York: Brunner-Routledge.

Bromberg, Philip M. (2004): Standing in the spaces. The multiplicity of self and the psychoanalytic relationship. In Hubert Hermans & Giancarlo DiMaggio (Hg.), The Dialogical Self in Psychotherapy (138-150). Hove and New York: Brunner-Routledge.

Eder, Lothar (2004): Innere und äußere Dialoge. Zur Nutzung des Modells der inneren Polyphonie in der Beratung von Organisationen. In Klaus G. Deissler & Kenneth J. Gergen (Hg.), Die Wertschätzende Organisation (98-113). Bielefeld: transcript-Verlag.

Hermans, Hubert J.M. & Kempen, Harry J.G. (1998). Moving cultures: The perilous problems of cultural dichotomies in a globalizing society. American Psychologist, 1998, 53, 10 1111-1120.

Schiffauer, Werner (1997): Fremde in der Stadt. Zehn Essays zu Kultur und Differenz. Frankfurt: Suhrkamp.

Straub, Jürgen & Shimada, Shingo (1999): Relationale Hermeneutik im Kontext interkulturellen Verstehens. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47, 3, 449-477.

Strecker, Ivo (1995): Ton, Film und polyphone Ethnographie. In Edmund Ballhaus & Beate Engelbrecht (Hg.), Der ethnographische Film (81-103). Berlin: Reimer.

Theunissen, Michael (1977/1965): Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin: de Gruyter.

Barbara Zielke & Thomas Slunecko Nürnberg & Wien, im Juli 2009

Autorenhinweis

Barbara Zielke

Dr. phil. Barbara Zielke, Psychoanalytikerin in Ausbildung, Lehraufträge an der Alpen Adria Universität Klagenfurt und der Hamburger Fern-Hochschule. Arbeitsschwerpunkte: Sozialer Konstruktionismus, Interkulturelle Kommunikation, Relationale Psychoanalyse, Qualitative Methoden.

Dr. phil. Barbara Zielke Lange Zeile 19 D-90419 Nürnberg

E-Mail: barbara.zielke@gmx.de

Thomas Slunecko

Dr. phil. habil. Thomas Slunecko, Professor an der Psychologischen Fakultät der Universität Wien, Institut für Psychologische Grundlagenforschung. Arbeitsschwerpunkte: Kulturpsychologie, qualitative Methoden, Wissenschafts- und Medientheorie.

A.Univ.Prof. Dr. Thomas Slunecko Fakultät für Psychologie der Universität Wien Liebiggasse 5 A-1010 Wien Österreich

E-Mail: thomas.slunecko@univie.ac.at