Dialog und Körpergeschichte. Dialogische Perspektiven auf »disability«

Nora Ruck

Zusammenfassung

Der vorliegende Aufsatz fragt nach der Dialogizität des Körpers. Im Speziellen wird der Nutzen einer dialogischen Perspektive für die disability studies ausgelotet. Innerhalb der Psychologie wurden dialogische Theorien vor allem im Rahmen des dialogischen Selbst rezipiert. Die Theorie des dialogischen Selbst verfügt allerdings über eine unzureichende Konzeptualisierung leiblicher Existenz. Dagegen bieten Michail Bachtins historische Analysen des mittelalterlichen »grotesken Leibs« eine vielversprechende Perspektive auf die gegenseitige Verschränktheit von Dialog und Körper, da der »groteske Leib« ein fundamental dialogischer Leib ist. Die westliche Geschichte des Körpers ist laut Bachtin eine Geschichte der zunehmenden Monologisierung und »Schließung« des Körpers und kann auch als Geschichte des »monströsen Körpers« erzählt werden. Mit Rückgriff auf gegenwärtige (feministische) disability studies geht der Aufsatz schließlich der Frage nach, was eine dialogische Perspektive für Menschen, deren Körper nicht den dominanten monologischen Körpernormen entsprechen, leisten kann. Als Antwortmöglichkeit wird die durch Dialogdenken geleistete Verschränkung eines ethischen Standpunkts mit einer theoretischen Demontierung einer ontologischen Differenz zwischen Menschen mit »gewöhnlichen« und »außergewöhnlichen Körpern« ins Treffen geführt.

Schüsselwörter: Dialog, Körpergeschichte, grotesker Leib, monströser Körper, disability studies.

Summary

The paper inquires the dialogicality of the body. In particular, it explores the value of a dialogical perspective for disability studies. Within psychology, dialogical perspectives have received much attention in the field of so-called dialogical self studies. Dialogical self theory, however, lacks a coherent conceptualization of human embodied existence. Mikhail Bakhtin’s body-historical analysis of the medieval »grotesque body« provides a more fruitful starting point for the interrelation of body and dialogue for the »grotesque body« is a fundamentally dialogical body. According to Bachtin, Western modernity also a history of increasing monologization and »closure« of the body. This history can be told as a history of the »monstrous body.« By engaging with (feminist) disability studies, the paper finally explores the contemporary value of a dialogical perspective for people whose bodies do not comply with dominant monological norms of the body. It is proposed that the promise of a dialogical perspective lies in the combination of an ethical stance with the deconstruction of ontological differences between people with »ordinary« and people with »extraordinary bodies.«

Keywords: dialogue, body history, grotesque body, monstrous body, disability studies.

Dialog als Begriff ist schwer zu fassen, da er sich schon aufgrund seiner anti-identitären Logik einer Definition aus sich selbst heraus verwehrt. Im Werk von Michail Bachtin (1971) steht der Begriff in engem Zusammenhang mit der sogenannten »Polyphonie« der Romane Dostojewskis, das heißt also mit einer Konstitution von Bedeutung, die sich aus der gleichzeitigen Anwesenheit mehrerer sogenannter »Stimmen« ergibt. Bedeutung ist damit in Dialogik niemals ein ausschließendes Phänomen, sondern eines, das von vorneherein Ambivalenz, Ambiguität und Hybridität in sich trägt. Die Bedeutung von Dialogik ergibt sich daher auch aus ihrem Kontrast mit Monologik, also aus dem Kontrast mit dem Prinzip einer einzigen und ausschließlichen Wahrheit.

Bachtin interessierte sich für das menschliche Leben als eines der gelebten Erfahrung. Die Leiblichkeit dieser Erfahrung (wie z.B. die Leiblichkeit der »lebendigen Stimme«) ist Bachtins zentralen Begriffen konstitutiv eingelagert. Dass auch Dialog für Bachtin immer verkörpert ist, lässt sich seiner frühen körperhistorischen Beschäftigung mit dem sogenannten »grotesken Leib« des Mittelalters erlesen (Bachtin 1996). Dieser »groteske Leib« ist ein dialogischer und mehrdeutiger Leib, während der Körper in der Moderne zunehmend monologisiert und damit vereindeutigt wird. Im Speziellen beschreibt Bachtin für den Körper der Moderne einen offiziellen »Körper-Kanon«, der einen geschlossenen, individualisierten und in seiner Bedeutung fixierten Körper vorgibt. Die zentrale Frage, die ich vor diesem Hintergrund stellen möchte, ist folgende: Was bedeutet dieser monologische Körper-Kanon für jene Körper, die sich nicht in ihn einfügen lassen? Und damit in Zusammenhang: Welche Brauchbarkeit kann eine dialogische Perspektive – also eine Perspektive, die sich von vorneherein jeder Logik des Ausschlusses verwehrt – für ein Denken über Körper, die von gesellschaftlichen Ausschließungsprozessen betroffen sind, bieten?

Jene Aspekte, die Bachtin als formale Aspekte des grotesken Leibes fasst, würden heute wohl eher als formale Aspekte von »Behinderungen« gefasst werden (Garland Thomson 1994), also solche Aspekte, die von der Außenwelt visuell als »Behinderung« registriert werden. Dazu gehören auch sogenannte »körperliche Missbildungen«. Der gegenwärtige Forschungsstand der disability studies, einer jungen wissenschaftlichen Disziplin, die sich kritisch mit »Behinderung« und damit auch mit »körperlichen Missbildungen« auseinandersetzt, betrachtet »Behinderung« als einen Prozess sozialer Bedeutungszuweisung (Dederich 2007). Damit ist auch impliziert, dass unser gegenwärtiges Verständnis von »Behinderung« und unser Umgang mit Menschen mit und/oder ohne »Behinderung« auf eine geschichtliche Entwicklung verweisen, die zum Verständnis gegenwärtiger Tendenzen rekonstruiert und verstanden sein will. Dederich schlägt dazu nicht zuletzt eine »Körpergeschichte des Monströsen« vor, da über weite Strecken der europäischen Geschichte Menschen mit »Behinderungen« in den Topos des »Monströsen« verwiesen wurden. Um sich von einer affirmativen Lesart einer solchen Körpergeschichte abzusetzen, verwendet Dederich außerdem den Begriff »Menschen mit außergewöhnlichen Körpern«.

Ich werde nun zunächst erkunden, in welchen Feldern innerhalb der Psychologie Dialogdenken Raum gegeben wird, und fokussiere dabei auf die Theorie des dialogischen Selbst (Hermans & Kempen 1993). In einer Engführung des Interesses auf die Verkörperung von Selbst und Dialog werden allerdings bald die Grenzen der Theorie deutlich, weshalb ich später dann auch direkt auf die körperhistorischen Arbeiten Michail Bachtins (1996) zurückgreife. Der Hauptteil des Aufsatzes widmet sich einer körperhistorischen Rekonstruktion des Schicksals von Bachtins mittelalterlichem »grotesken Leib« in der europäischen Geschichte. Meine These ist dabei, dass der »groteske Leib« ein dialogischer Leib ist, dessen Ambivalenz und Offenheit im Laufe der Geschichte allerdings vereindeutigt und geschlossen wird – eine Geschichte, die ich als Geschichte der Monologisierung und (Aus)Schließung des »monströsen« Körpers erzählen möchte.

Letztendlich bleibt, dass eine so lange Tradition der Zuweisung von »Monstrosität« an Menschen mit außergewöhnlichen Körpern auch Konsequenzen in der Jetztzeit tätigt. Abschließend gehe ich daher auf gegenwärtige Strömungen in den disability studies ein und versuche auszuloten, inwiefern das Ringen um Subjektstatus, eigene Stimme und Eigendefinition auch in einer dialogischen Perspektive im Sinne Bachtins und des dialogischen Selbst gefasst werden kann, und ob eine dialogische Perspektive hier Vorteile bieten kann.

Das dialogische Selbst und Bachtins ethische Anforderungen an die Psychologie

In der jüngeren akademischen Psychologie hat der Dialogbegriff in erster Linie über die Theorie des so genannten dialogischen Selbst (Hermans, Kempen & van Loon 1992) Eingang gefunden. Die Theorie trat von Beginn an dezidiert mit dem Anspruch auf, den sogenannten Eurozentrismus gängiger psychologischer Selbsttheorien zu transzendieren. Dieser manifestiere sich vor allem in deren Individualismus und Rationalismus, die sich jeweils aus der cartesianischen Trennung von Körper und Geist bzw. res extensa und res cogitans herleiten ließen (Hermans & Kempen 1993). Das dialogische Selbst entsprang schließlich aus der Übereinanderlagerung zweier Theoriestränge: dem Dialogdenken des russischen Altphilologen und Literaturwissenschafter Michail Bachtin und dem Selbstbegriff des amerikanischen Pragmatisten und Gründungsvater der Psychologie, William James.

Aus den Überlegungen James’ (1952) wurde die Differenzierung des Selbst in I und me übernommen. Das »me« stellt dabei reflexiv gewordene Selbstanteile dar, d.h. diejenigen, von denen das »I« weiß, dass es sie hat. Konkret wird es differenziert in materielle (Körper, Kleidung, etc.), soziale (Familie, Partner, Freunde, Feinde, etc.) und spirituelle (Glaube, Überzeugungen, Einstellungen, etc.) Anteile. Es erlaubt außerdem die Ausweitung des Selbst in seine Umwelt (Hermans 2001a), insofern Menschen und Dinge der Umwelt auch zum Selbst gehören, so sie denn als »meine« empfunden werden. Was dem Selbst hier erlaubt, mehr als die Summe seiner Einzelteile zu sein, ist seine Funktion als »I«, welches James mit dem Strom des Bewusstseins gleich setzt. Verkürzt formuliert konstituiert das »me« das Selbst als Objekt, das »I« hingegen das Selbst als Subjekt (Barresi 2002). Die Kontinuität des »I« – in anderen Worten eine funktionale Identität – ist allerdings nur in seiner Referenz auf ein (zumindest mehr oder weniger) kontinuierliches »me« gewährleistet.

Durch eine Zusammenführung mit Bachtin wird im dialogischen Selbst die Zentralität des James’schen »I« gekappt. Bachtin zeichnete den Versuch Fjodor Dostojewskis nach, entgegen den im wesentlichen monologischen (homophonen) Roman der verhassten westlichen Moderne eine polyphone – dialogische – Welt zu schaffen. Bachtin verortete in den Romanen Dostojewskis eine Ineinanderschichtung gleichberechtigter Bewusstseine von allesamt aus sich selbst heraus sprechenden Helden. Die wahre Tragweite des Bachtinschen Dialogdenkens für die Selbstpsychologie zeigt sich in ihrer Kombination mit James’ Unterteilung des Selbst in »I« und »me«: liest man die beiden nämlich zusammen, wird der Mensch selbst zu einem polyphonen Roman, der von einer Vielzahl von Bewusstseinen bevölkert ist und dessen Inhalt gleichsam dialogisch erzählt wird. So wie Autoren ihren Helden ihre Stimme leihen, damit diese durch sie hindurchsprechen – Bachtin prägte dafür den Begriff der Bauchrednerei – verleiht auch das »I« den verschiedenen »me»s eine Stimme. In der Theorie des dialogischen Selbst wird denn auch das »I« in eine Stimme umformuliert, während das »me« zu einer »I«-Position wird.

Einen zentralen Stellenwert in Bachtins Denken nahm die Beschäftigung mit der »lebendigen Stimme« ein. Diese Beschäftigung war aus der Erfahrung unterdrückender politischer Institutionen heraus auch eine Parteinahme für ein am historischen Prozess und am sozialen Kampf beteiligtes Individuum (Assmann & Assmann 1990). Die Helden Dostojewskis, so Bachtin (1971), müssen sich aus ihrem ethischen Solipsismus lösen und ihr Gegenüber als Ich – »du bist« – anerkennen. In anderen Worten: das andere Ich sei nicht als Objekt, sondern als gleichwertiges Subjekt anzuerkennen. Für den Autor (in diesem Fall Dostojewski) hieß dies, seine Helden aus sich selbst sprechen zu lassen, und ihnen nicht aus einer übergeordneten Autorenposition das zu Sagende in den Mund zu legen. Dostojewski selbst hegte eine tiefe Abneigung gegen die Psychologie seiner Zeit, in der er eine Vergegenständlichung des Menschen sah, eine Ignoranz der Unabschließbarkeit, Unbestimmtheit und Unentschlossenheit eines jeden Lebens, welche die Menschen in ihrer Abwesenheit zum entstimmten Objekt endgültiger Erkenntnis degradierte; indem sie an Stelle ihrer eigenen Stimme eine fertige, durch psychologische Gesetze bedingte Bestimmtheit setze, gehe sie am – eben unabgeschlossenen und unbestimmten – Kern vorbei.

Dieser monologischen Perspektive eines epistemologisch übergeordneten Wissenssubjekts setzte Bachtin eine dialogische Perspektive entgegen: »Das wahre Leben eines Menschen wird nur dann zugänglich, wenn man dialogisch in es einzudringen sucht, wenn es selbst antwortet und sich frei öffnet« (Bachtin 1971, 67; Hervorhebung im Original). Diesem dialogischen Grundsatz sieht sich auch die Theorie des dialogischen Selbst verpflichtet, wenn etwa dafür plädiert wird, in ihrer Anwendung in der psychologischen Beratungs- und Behandlungspraxis (siehe dafür etwa Hermans 2001b; Hermans & Hermans-Jansen 1995), aber auch in der Forschungspraxis das Subjekt für und aus sich selbst sprechen zu lassen und seine/ihre Rolle als »co-investigator« zu neu zu definieren (Hermans & Kempen 1993).

Im Rahmen der Fifth International Conference on the Dialogical Self rief Hubert Hermans in seiner Keynote dazu auf, der Geschichtlichkeit des dialogischen Selbst mehr Aufmerksamkeit zu schenken (Hermans 2008). In schematisierter (und allerdings auch zu teleologischer) Form unterschied Hermans traditionelle, modernistische, post-modernistische und dialogische Konzepte des Selbst, deren Unterschiedlichkeit im Zuge veränderter sozialer Beziehung und der Beziehung des Selbst zur Welt / zum Kosmos jeweils die gesamte Struktur des Selbst beträfen. Mit den verschiedenen Selbstkonzepten gingen außerdem auch unterschiedliche Machtbeziehungen (inter- und intrapersonal) und moralische Sensibilitäten einher. Theoretisch kann diese Vorstellung der Geschichtlichkeit des Selbst wohl noch stets mit jenem Verständnis des Selbst als »culture-inclusive« gefasst werden, das Hermans 2001 vorgestellt hatte. Darin fasste er Kultur als kollektive Stimmen im Selbst auf. Um die kollektiven Stimmen mit dem Selbst in Verbindung zu bringen, rekurrierte Hermans wiederum auf Bachtin (1971) und dessen Begriff der Bauchrednerei, womit gemeint ist, dass eine Stimme durch eine andere spricht. Wenn konkrete Sprecher/innen sich äußern, so sprechen sie auch in der sozialen Stimme derjenigen Gruppen, denen sie zugehörig sind – diese sprechen gleichsam durch sie hindurch. Damit wäre auch die Geschichtlichkeit des dialogischen Selbst als eine Geschichte von veränderten kollektiven Stimmen zu denken.

Der Körper wird im dialogischen Selbst wie bei William James als Bezugsverhältnis von »I« und »me« konzeptualisiert, wobei der Körper unter die materiellen Anteile des »me« fällt. Allerdings, und darauf weist Cresswell hin (2009), gibt es im dialogischen Selbst kein zentrales »I«, das sich auf den Körper beziehen würde, sondern den »me»s sind jeweils verschiedene situationsgebundene »I»s zugeordnet. Durch diese Dezentralisierung hat die Theorie den modernistischen individualistischen Bias der kritisierten psychologischen Selbsttheorien außer Kraft gesetzt. Dem dialogischen Selbst bleibt jedoch sehr wohl ein rationalistischer Bias (Cresswell 2009; Ruck 2009; Ruck & Slunecko 2006; Zielke 2006). Cresswell und Baerveldt (2009) schlagen dagegen vor, die Leiblichkeit des dialogischen Selbst direkt von Bachtin (1996) herzuleiten, der sich ja eingehend zum Körper geäußert hat. Damit wäre auch der Individualismus der beklagten eurozentrischen Selbsttheorien überwunden, da Bachtin den Körper als von vorneherein sozialen Körper bespreche. Der Körper als individueller Körper erscheint bei Bachtin tatsächlich allenfalls als historisches Konstrukt, als Konstrukt der Moderne nämlich. Wir müssen uns dem Leib im Bachtinschen Sinne denn auch historisch nähern, in der Art und Weise nämlich, wie er in die herrschende Ordnung und in andere Leiber seiner jeweiligen Zeit verschränkt ist.

Der dialogische Leib des mittelalterlichen grotesken Realismus

Ich gehe nun im folgenden Abschnitt auf Bachtins (1996) Konzept des »grotesken Leibes« ein und werde dieses wie Bachtin historisch entfalten.[1] Bachtins Denken erkundete unablässig die Spannung zwischen Dialogizität und Monologizität. In seinen literaturtheoretischen Schriften (1971) verortete er die westliche Moderne, v.a. den klassischen Roman, auf der Seite der Monologizität und Dostojewskis Romane auf der Seite der Dialogizität. Es ist wichtig zu betonen, dass Bachtin auf die Suche nach Dialogizitätsresten ging, weil er in ihnen jeweils Gegenimpulse bzw. Gegenkulturen aufspüren wollte. Genau in diesem Sinne muss auch Bachtins Beschäftigung mit der Lachkultur des Mittelalter bzw. des Karnevals und dem »grotesken Leib« gelesen werden: In seiner subversiven Kraft ist der »groteske Leib« nämlich ein dialogischer Leib.

Die terminologische Nähe des »Grotesken« zur Grotte verweist zum einen auf die materiellen Qualitäten des Erdbodens und zweitens auf etwas Verborgenes (Russo 1994). Der Begriff wurde im 15. Jahrhundert im Zuge von Ausgrabungen und Entdeckungen antiker römischer Dekorationen in Höhlen geprägt. Diese Höhlen stellten sich als Räume und Gänge eines nach dem großen Feuer von 64 v.Chr. von Kaiser Nero in Auftrag gegebenen aber nie vollendeten Palastes heraus. Der Begriff des »Grotesken« hat also auch starke Anklänge an das Unheimliche, an etwas, das im Freudschen (2000) Sinne in das Vertraute und Heimelige hereinbricht. Das Unheimliche und der Karneval stellen für Mary Russo daher auch die beiden Hauptausprägungen des Grotesken dar, die allerdings unterschiedliche Implikationen mit sich bringen:

The discursive formation identified with the carnivalesque is understood as historical and locatable, that is, within a certain nexus of space and time, marked by dates, material events, and exteriority. It has been used, prominently by Bakhtin, to conceptualize social formations, social conflict, and the realm of the political. In the language of classical political theory, it is a virile category associated with the active, civic world of the public. In contrast, the grotesque as uncanny moves inward towards an individualized, interiorized space of fantasy and introspection, with the attendant risk of social inertia. (Russo 1994, 7-8)

Bachtin (1996) gebrauchte den Begriff des Karnevals also, um ein aktives Moment gegen die offizielle Kultur des Mittelalters zu konzeptualisieren. Der mittelalterliche Mensch hatte laut Bachtin gleichermaßen an zwei Leben teil, nämlich am offiziellen Leben und am Leben des Karnevals. Das offizielle Leben war in erster Linie kirchlich-feudal strukturiert. Der Karneval bzw. die Lachkultur ist eine paradigmatische Gegenkultur im Bachtinschen Sinne und ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: sie ist universell, untrennbar mit Freiheit verbunden und wesentlich in der nichtoffiziellen Wahrheit des Volkes verortet. Die Universalität des Lachens steht in einem diametralen Gegensatz zum Universalismus der Moderne. Es ist nämlich nur insofern universell, als es sich auf den gleichen Gegenstand richtete wie der mittelalterliche Ernst: »Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat« (Bachtin 1996, 32). Diese jeweiligen Gegenentwürfe waren zwar nicht offiziell, aber dennoch legalisiert und in einen formalen Rahmen von Feiertagen eingespannt. Die offizielle Welt trug ihre Gegenwelt damit integral und quasi-offiziell in sich – das macht auch die Verbindung des Lachens zur Freiheit aus: »Die Rechte der Narrenkappe waren im Mittelalter genauso heilig und unantastbar wie jene des Pileus während der römischen Saturnalien« (ebd., 33). Die Lachkultur des Mittelalters fand ihr Medium damit in erster Linie im Festtäglichen; während der Festtage wurde das offizielle System zeitweilig außer Kraft gesetzt. Bachtin liest dies als Zugeständnis von Staat und Kirche an die Öffentlichkeit, indem also während des ganzen Jahres Zeitinseln geschaffen wurden, in denen die Welt aus ihren offiziellen Bahnen geworfen werden durfte. Das Lachen fungierte dabei wie ein Schutz- oder Deckmantel, unter dem der »nichtoffiziellen Wahrheit des Volkes« (ebd., 35) legitim Ausdruck verliehen werden konnte.

Mit der Lachkultur geht ein spezielles Realitätskonzept einher: der groteske Realismus. Dieser ist vor allem durch Verdrehungen und Entgegensetzungen charakterisiert. So setzt er der offiziellen Welt eine Gegenwelt entgegen, deren Systematik durch vier Kategorien gekennzeichnet ist. Ein unaufhebbares Gesetz des Karnevals ist erstens die Aufhebung jedweder hierarchischen Ordnung und Ungleichheit zwischen Menschen. An die Stelle von Distanz tritt »der freie, intim-familiäre, zwischenmenschliche Kontakt« (Bachtin 1996, 48). Zweitens ist der Karneval exzentrisch insofern, als er jedes Verhalten, jedes Wort und jede Geste aus der Gewalt einer hierarchischen Stellung (des Standes, der Rangstufe, des Alters, des Besitzstandes) löst und deplaziert. Drittens zelebriert der Karneval die Mesalliance, also die Vermählung und Vermengung von Dingen, die nach offizieller Logik nicht zusammen gehören: das Heilige mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten. Viertens profanisiert und degradiert der Karneval. Er erdet und erniedrigt »das Hohe« etwa durch unanständige Reden und Gesten, durch Lachen und Fluchen.

Die Festtage der Lachkultur waren »das Satyrspiel des Mittelalters« (Bachtin 1996, 32), und wie das Satyrspiel inszenierte und war die Lachkultur das Drama des leiblichen Lebens. Der Leib stand somit im Zentrum dieser Gegeninszenierungen. Das damit einhergehende Körperkonzept wird von Bachtin grotesker Leib genannt. Der »groteske Leib« ist eigentlich zweileibig. Zum einen deshalb, weil der groteske Leib auf zwei Realitätsebenen existiert: der offiziellen und der des grotesken Realismus. Diese Ebenen beziehen sich dialogisch aufeinander, etwa in Form der vier Entgegensetzungen des Karnevals. Die dialogische Bezugnahme der beiden Realitätsebenen bedeutet auch, dass sie einander eben nicht ausschließen. Zum anderen nennt Bachtin den grotesken Leib deshalb zweileibig, weil der groteske Leib kein individueller Leib ist, sondern immer an andere Leiber und an die Welt gekoppelt ist. Daher fixiert der groteske Realismus diejenigen Regionen des Körpers, an denen solche Koppelungen stattfinden: die Körperregion des Unterleibs im Allgemeinen, Phallus und After im Speziellen, Mund und Nase. Diese werden oft einer Übertreibung zugeführt, können sich sogar vom Körper lösen und ein selbständiges Leben führen. Zusammenfassend nennt Bachtin als Charakteristika jener Körperteile, die für den »grotesken Realismus« besonders relevant sind:

Alle diese hervorstehenden oder offenstehenden Körperteile werden dadurch bestimmt, dass in ihnen die Grenzen zwischen Leib und Leib und Leib und Welt im Zuge eines Austausches und einer gegenseitigen Orientierung überwunden werden. Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes, sozusagen die Akte des Körper-Dramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim), Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch einen anderen Leib – alles das vollzieht sich an den Grenzen von Leib und Welt, an der Grenze des alten und des neuen Leibes. (Bachtin 1996, 17)

Der »groteske Realismus« fokussiert also jene Körperteile bzw. -regionen, an denen sich eine – in eher phänomenologischer Rede – Interkorporalität oder Zwischenleiblichkeit des »grotesken Leibes« manifestiert, wo also die Koppelung von Leibern stattfindet. Er hält sich zudem eher an die Nahsinne denn an die Fernsinne, wie oben erwähnt z.B. Mund und Nase. Mit »offen« bezeichnet Bachtin vor allem jene Körperteile, in denen sich entweder die »Ausscheidungen« des Körpers im Besonderen vollziehen (z.B. After), oder aber durch die der Körper Stoffe eines anderen Leibes oder der Welt in sich aufnimmt (z.B. Mund). Fernsinne wie die Augen oder die Ohren spielen im »grotesken Realismus« eine untergeordnete Rolle; allenfalls wird ihnen Aufmerksamkeit zuteil, sofern sie tierischen bzw. dinglichen Charakter annehmen, indem sie z.B. die Form von Hundeohren annehmen. Wir können also davon ausgehen, dass Körperteile, die nicht schon von sich aus die Grenzen zwischen Leib/Welt und Leib/Leib auflösen, einer »grotesken« Gestalthaftigkeit zugeführt werden können, indem sie veruneindeutigt werden, also indem ihre Zuordenbarkeit entweder zur Sphäre des Menschlichen oder aber zur Sphäre des Tierischen bzw. Dinglichen nicht mehr gewährleistet ist. Wir können dies wiederum mit dem Begriff der Dialogizität fassen: sie nehmen eine zweite Bedeutung an und fügen sich darin eher einer Logik des »sowohl-als-auch« denn einer Logik des Ausschlusses.

Bachtin entwirft mit seinem »grotesken Leib« nun zwar ein Konzept, das etwa von Feministinnen (z.B. Russo 1994) in den letzten Jahren vermehrt als solches aufgegriffen wurde, allerdings beschreibt er damit eine historische Form. Russo unterstellt ihm dabei auch einen bestimmten Romantizismus, der aber nichtsdestotrotz fruchtbar gemacht werden könne:

Bakthin’s view of […] carnival is, in some ways, nostalgic for a socially diffuse oppositional context which has been lost, but which is perhaps more importantly suggestive of a future social horizon that may release new possibilities of speech and social performance (Russo 1994, 61-62)

Es ging Bachtin also letztendlich auch darum, mit dem »grotesken Leib« eine historische Form zu beschreiben, die als Ausgangspunkt dazu dienen kann, ihre Reste auch in anderen historischen Formen aufzuspüren. Die Frage ist nun also: Wo und vor allem in welcher Form findet sich der »groteske Leib« nach dem Mittelalter?

Zur Monologisierung des uneindeutigen Leibes: Geschichte des »monströsen« Körpers

Jene uneindeutigen Leiber, die Bachtin (1996) in seiner Konzeption des »grotesken Realismus« beschreibt, hatten im Mittelalter, vor allem aber später, noch einen weiteren – wenn auch etwas verschiedenen – Topos: den des »Monströsen«. Die historische Zähmung des »Grotesken« kann als Geschichte der Vereindeutigung und somit Monologisierung des »monströsen Körpers« gelesen werden.

Der Begriff des »Monströsen« ist selbst nicht ganz eindeutig (Hagner 1995). Er lässt sich wohl aus den lateinischen Formen monstrosus, monstrum und monstrositas herleiten. Monstrosus bedeutet »wunderbar, widernatürlich, ungeheuerlich, missgestaltet, scheußlich« (ebd. S. 8). Monstrositas wird als »Missbildung« oder »Missgestalt« übersetzt, während sich monstrum auf eine »widernatürliche Geburt« und ein »göttliches Mahnzeichen« bezog. Der mit letzterer Bedeutung assoziierte Zeichengehalt des »Monsters« wird immer wieder auch auf die Bedeutung des lateinischen Verbs monstrare – zeigen – zurück geführt (z.B. Braidotti 1996). In der Aufklärung wurden diese (in der Antike und im Mittelalter wohl gar nicht widersetzlichen Bedeutungen) Begriffe in eine Unterscheidung zwischen »Monster« und »Missgeburt« überführt (Hagner 1995). So sei die »Missgeburt« eine abweichende, aber natürliche Geburt, während das »Monster« eine widernatürliche Geburt sei, womit auch moralische Konnotationen einhergingen. Es wurde damit also auch eine Unterscheidung in »schuldige und unschuldige körperliche Deformation« (ebd., 8) aufgezogen. Allerdings wurden auch diese Unterscheidungen kaum je konsequent angewendet.

Foucault charakterisiert in seinen 1975er Vorlesungen Die Anormalen das »Monster« im Wesentlichen anhand zweier Merkmale: durch eine Kategorienverwischung und durch das Aufeinandertreffen natürlicher und moralischer Kategorien. Er zählt eine ganze Reihe solcher Kategorienverwischungen auf:

Das Monster ist vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert […] im wesentlichen ein Mischwesen. Es ist ein Mischwesen zweier Bereiche, des menschlichen und des animalischen… Es ist ein Mischgebilde aus zwei Arten… Es ist eine Mischung aus zwei Individuen… Es ist die Mischung aus zwei Geschlechtern…Es ist die Mischung aus Leben und Tod. … Schließlich ist es eine Mischung aus verschiedenen Formen… Folglich überschreitet es die natürlichen Grenzen, die Klassifikationen, die Kategorientafeln und das Gesetz als Tafel. (Foucault 2007, 86-87)

In diesem Zitat kommt sehr deutlich die analytische Nähe des Monsterbegriffs zum Bachtinschen Begriff des »grotesken Leibes« zum Ausdruck. Auch das »Monster« scheint aus zwei Lebensbereichen zu bestehen. Auch das »Monster« ist so gesehen ein dialogischer Körper. Am Ende des Zitats kommt nun eben die zweite Charakteristik des »Monsters« zum Tragen: seine Überschreitung moralischer Richtlinien.

Im Mittelalter waren »Monster« in eine christliche Kosmologie eingespannt, in der sie eine Zeigefunktion erfüllten, die sich aus der Bedeutung von monstrare ableiten lässt. »Monster« zeigten sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft: sie standen für eine erfolgte Verletzung moralischer Normen (durch den Kollektivkörper), zeugten von Gottes Rache dafür und kündigten Seuchen, Hungersnöte oder Krieg an (Daston & Park 1998).

Im späten 15. wie auch im 16. Jahrhundert richtete sich die Aufmerksamkeit zum ersten Mal und vermehrt auf individuelle wunderliche Erscheinungen wie zweiköpfige Kinder oder Hybride zwischen Tier und Mensch (Daston & Park 1998). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts war eine Reihe medizinischer Abhandlungen über sogenannte natürliche Ursachen »monströser« Erscheinungen im Umlauf. »Monster«, deren Herkunft sich derart erklären ließ, schienen vergleichsweise wenig zu schockieren, zumal sie durch die angeführten »natürlichen« Ursachen ihres moralischen Horrors entledigt waren. Sie wurden den Zeitgenossen in Form von Flugblättern, medizinischen Abhandlungen in lateinischer Sprache, eines neuen, ausschließlich natürlichen Wundern gewidmeten Buchgenres und auf Jahrmärkten näher gebracht. Zudem wurden dem »monströsen« Körper vermehrt fürstliche und fachmännische Sammlungen gewidmet. Gerade die Elite jener Zeit gefiel sich darin, ihrer Wertschätzung für Kreaturen Ausdruck zu verleihen, die den »vulgären Geist« beunruhigten oder aufwühlten.

Im 17. Jahrhundert begann jedoch Abscheu angesichts des »Monsters« Überhand zu nehmen. In mancherlei Hinsicht ist diese Interpretation mit der christlichen verwandt. Die maßgebliche Neuerung bestand allerdings darin, dass das »Monster« nun mit einer Sünde der Natur, nicht mehr mit den Sünden der Menschheit, in Verbindung gebracht wurde. Mit Aristoteles galt die Natur in erster Linie als Hort von Gesetz- und Regelmäßigkeit – eine Regelmäßigkeit, der das »Monster« nicht entsprach. In den medizinischen Lesarten des monströsen Körpers des 17. Jahrhunderts enthüllte das »Monster« gerade jenen Naturplan ex negativo (Daston & Park 1998), indem es gegen ihn verstieß.

Bachtin (1996) betonte die zunehmende Schließung des Körpers, die er genauso wie den »grotesken Leib« im engen Zusammenhang mit der herrschenden Ordnung sah. Die neue Ordnung des 17. Jahrhunderts, die absolute Monarchie, sah er ideologisch in der rationalistischen Philosophie von Descartes widergespiegelt, die nun zusammen mit dem Klassizismus als ästhetischer Entsprechung der neuen Ordnung die offizielle Kultur ausmachten. Bekanntermaßen vertrat Descartes (1986) ein äußerst mechanistisches Körperkonzept und sah den Körper (res extensa) außerdem als fundamental vom Geist (res cogitans) getrennt an. Wie Hermans und Kempen (1993) herausstreichen, geht damit auch eine Konzeption des Selbst als in sich unteilbarer Entität einher. Der Individualismus der res cogitans manifestiert sich nicht nur in seiner fundamentalen Getrenntheit von seinem Körper, der Welt und anderen Menschen, sondern auch in seiner angeblichen Einheit in sich und Identität mit sich selbst.

Innerhalb der offiziellen Kultur des 17. Jahrhunderts nahmen Stabilität und Geschlossenheit Überhand, und die Uneindeutigkeit des »Grotesken« wurde schließlich völlig inakzeptabel (Bachtin 1996). Die offizielle Kultur bildet gleichzeitig auch einen neuen offiziellen Körper-Kanon. Wir können ihn uns als jenen Kanon vorstellen, den der »monströse« Körper ex negativo enthüllte, nämlich den Kanon der Naturordnung bzw. später den Kanon des »Normalen«:

Sehen wir einmal von den nicht unwesentlichen historischen und gattungsmäßigen Varianten ab, so zeichnet sich der neue Leibes-Kanon dadurch aus, dass er von einem völlig fertigen, abgeschlossenen, streng abgegrenzten, von außen betrachteten, unvermischten, individuell-ausdrucksvollen Leib ausgeht. Alles was herausragt und absteht, alle scharf ausgeprägten Extremitäten, Auswüchse und Knospungen, das heißt, alles, was den Körper über seine Grenzen hinaustreibt, was einen anderen Körper zeugt, wird entfernt, weggelassen, zugedeckt, abgeschwächt. Genauso werden auch alle Öffnungen verdeckt, die in die Tiefe des Leibes hineinführen. Der nichtgrotesken Gestalt des Leibes liegt die individuelle, streng abgegrenzte Masse des Leibes zugrunde, seine massive und taube Fassade. (Bachtin 1996, 20)

Hier finden wir also einen objektivierbaren, weil als abgeschlossene Entität definierten, Körper, der den cartesianischen Dualismus restlos in sich aufgenommen hat. Während der »groteske Realismus« auf jene Regionen fokussierte, in denen Koppelungen zur Welt und zu anderen Leibern stattfanden, nahm der neue Körperkanon vermehrt das Gesicht als jenen Körperteil ins Visier, der nunmehr von der Individualität der Person Kunde geben sollte. Während sich außerdem frühere Traktate auf singuläre Erscheinungen und deren jeweilige Eigenarten konzentriert hatten, wurde das »Monster« spätestens ab dem frühen 18. Jahrhundert vornehmlich und beinahe ausschließlich untersucht, um aus ihm Wissen über die Funktionen des normalen Organismus abzuleiten. Damit ist eine Entwicklung angesprochen, die auch als Monologisierung bzw. als Vereindeutigung des Körpers verstanden werden kann. Während nämlich »Monster« im Außen des Naturplans zu stehen kamen, wurde die Wahrnehmung und das Wissen um den Körper immer mehr systematisiert, bis es schließlich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem klar bestimmbaren Bereich des »Normalen« kondensiert wurde (Foucault 2007).

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand der Körper als vielschichtige Beschreibung, und jede dieser Schichten wurde durch eine andere Disziplin besetzt. Dieser Körper war für die Körperhistorikerin Barbara Duden (1987) allerdings nicht nur das Produkt der Medizin, sondern die Kehrseite der gesamten Geschichte des 19. Jahrhunderts, vor allem der des homo oeconomicus. Die Produktions- und Besitzverhältnisse der Industrialisierung schrieben sich damit in den (bürgerlichen) Körperkanon ein. Schließlich wurde Arbeit als ökonomischer Wert entdeckt, und damit entstand eine vollkommen neue Notwendigkeit zur Disziplinierung des Körpers anhand von statistischen Vermessungen der Lebensspanne, der körperlichen Fähigkeiten etc. Norbert Elias (1977) hat darauf hingewiesen, dass die externe Disziplinierung des Körpers, die von den Oberschichten noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts primär durch zeremonielle Regeln und Etikette aufrecht erhalten wurde, sich im bürgerlichen Modell in eine innere Disziplinierung verwandelte. Dazu gehörte die Kontrolle des Geistes und der Leidenschaften wie auch die Bewegungskontrolle und ein Bewusstsein für Umwelteinflüsse. Alles dies wurde in den Dienst von »Hygiene« und »Gesundheit« gestellt. Gesundheit wurde schließlich zum moralischen Imperativ des bürgerlichen Individuums (Gilman 1999).

Mit Gesundheit als zentralem diskursorganisierendem Begriff ging zum einen die Pathologisierung der »Anderen« einher, also die Pathologisierung jener Körper, die sich nicht in den offiziellen Kanon einfügten. Bezeichnenderweise entstand etwa, was die vormalig als »monströs« bezeichneten Körper betrifft, zum einen die Orthopädie und zum anderen die Plastische Chirurgie (Gilman 1999). Der Operationstisch wurde somit zum Bestimmungsort jener Körper, und das Verbessert-Werden wurde zu ihrem zentralen Existenzmodus. Zum anderen ging damit eine historische Dynamik einher, die von Duden (1987) als Überhandnahme des Körperhabens über das Leibsein diskutiert wird.[2] Unter einer solchen Dominanz des Körperhabens versteht Duden die Entstehung eines Körpers, der als Besitztum konzipiert wird, und gleichzeitig die Entstehung eines Selbst, das nicht mehr primordial verkörpert ist, sondern sich nur lose auf seinen Körper bezieht. Die Disziplinierung des Körpers unter dem Banner der Gesundheit steht eng mit diesem Besitzdenken in Zusammenhang: es braucht ein Selbst, das sich auf seinen Körper als etwas von ihm getrenntes, aber doch zugehöriges und v.a. unterworfenes bezieht, um den Körper derart zu reglementieren, wie es der bürgerliche Körperkanon vorsieht.

Mit diesem Körperhaben gehen nun zwei Dominanzrelationen und Besitzverhältnisse einher: Zum einen eine (cartesianische) Dominanz des Geistes über den Körper, der gleichsam vom Geist besessen wird; zum anderen eine Dominanz des kanonisierten Körperwissens über die gewussten Körper, vor allem aber über jene »anstößigen« Körper, von denen sich der bürgerliche Kanon absetzen möchte. Diese Körper wurden nun nicht nur entmachtet, sondern auch bis zu einem gewissen Grad enteignet, denn ihre Arbeitskraft gehörte dem Staat. Wenn nun aber auch jene, die dem dominanten Kanon erst unterworfen werden sollten, dazu gebracht werden sollten, sich disziplinierend und im Sinne eines Besitztums zu ihren Körpern zu verhalten um produktiv zu sein, so galt für manche Körper nicht einmal das. Rosi Braidotti meint dazu lakonisch: »We all have bodies, but not all bodies are equal: some matter more than others; some are, quite frankly, disposable« (Braidotti 1996, 136).

Auch Michael Hagner zieht eine ernüchternde Bilanz über den Diskurs über »Monster« und über die damit einhergehende Entmenschlichung von Menschen mit außergewöhnlichen Körpern im 19. Jahrhundert:

Auf eine ganz subtile Art und Weise ist […] die Missbildung wieder zur Missgeburt, zum Monster geworden, das am einen Ende als zu schwach angesehen wird, um den Kampf ums Dasein zu bestreiten, von wo es nur noch eines winzigen Schrittes zu der vergifteten Formel vom unwerten Leben bedarf. Am anderen Ende gilt die Missgeburt als Chiffre der Bedrohung für die Gesellschaft, weswegen sie mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Mit dieser Konstellation sind entscheidende Weichen für die Stigmatisierung und den wenige Jahrzehnte später folgenden grauenhaften Umgang mit dem, was zum Monströsen umgedeutet wurde, gestellt. (Hagner 1995, 19)

Hinter die Schrecken des Holocaust könne keine Beschäftigung mit der Geschichte des »Monströsen« mehr zurück. Es solle zwar nicht jede Geschichte in ihnen ihren Ausgangspunkt nehmen, aber doch allenfalls als Geschichte erzählt werden, »die sich der historischen Bedingungen bewusst ist, die zum Versagen der Bremsen geführt haben« (ebd. 20). Zu diesen historischen Bedingungen gehört, neben vielen anderen, auch die Monologisierung des Körpers.

Abschluss

Abschließend kann zunächst ein wesentlicher Unterschied zwischen den Begriffen des »Monströsen« und des »Grotesken« herausgearbeitet werden: das »Monströse« bezieht sich offenbar in erster Linie auf jenes Wissen, das dem sogenannten »monströsen« Körper abgerungen werden soll – sei es eschatologisches Wissen oder medizinisches Wissen. Das »Monster« stellt somit ein paradigmatisches Wissensobjekt ohne Subjektstatus dar. Es erscheint wie das Subjekt der modernen Psychologie, dessen Stimmlosigkeit Bachtin mit Dostojewski so beklagte. Es ist auch keineswegs zufällig, dass Foucault das »Monster« als Vorläuferfigur des sogenannten »Anormalen« vorstellt, als Vorläuferfigur also auch des »Irren« oder des »Verbrechers«, beides Erscheinungen, die in der psychiatrischen Literatur des 19. Jahrhundert eine zentrale Stellung einnahmen. Der »groteske Leib« im Bachtinschen Sinne dagegen scheint ein Beispiel für ein subversives und grundlegend soziales Körpererleben, das sich jeder Vereindeutigung und damit auch jeder Objektivierung verwehrt. Das »Groteske« könnte damit die mögliche (allerdings nicht individualisierte) Subjektposition des »Monströsen« sein. Das »Monströse« wiederum stellt das monologisierbare, weil objektivierbare Pendant des »grotesken Leibes« dar. Monstrositätszuschreibungen haben somit auch den Sinn, einen dialogischen (nämlich mehrdeutigen) Körper zu monologisieren, d.h. ihm einen einzigen Sinn abzuringen und gleichsam zu verleihen.

Ein bedeutender und notwendiger Schritt für die disability studies – wie vergleichbarerweise auch für die black studies und den Feminismus – war es, nach Jahrhunderten der Objektivierung den Subjektstatus von Menschen mit außergewöhnlichen Körpern, und damit auch das Recht, für sich selbst sprechen zu können, einzufordern. Dabei stellte sich jedoch ein zentrales Problem: So sei »investing the disabled woman with subjectivity« (Garland Thomson 1994, 586) durch autobiographische Erzählungen oder Ähnliches zwar notwendig, doch besteht Garland Thomson darauf: »I want to remind the rest of the world that we are not all the same«. Was braucht es also, um jener Forderung nach einer Subjektivität, die allerdings weder beliebig noch repräsentativ-vereinnahmend ist, nachzukommen? Garland Thomsons Antwort darauf lässt sich konsequent in eine dialogische Perspektive im Sinne Bachtins einordnen: »What is needed, of course, are more and varied voices, more collections of personal accounts of disability« (ebd. 587). Was hießen diese Stimmen aber für die dominante Ordnung, und inwiefern ist ihnen jenes aktive und widerständige Moment eingelagert, das Bachtin immer im Dialogischen zu suchen trachtete? Ich zitiere dazu eine längere Passage aus dem Buch Claiming Disability von Simi Linton, das schon im Titel ein aktives Moment der (eigenen) Behinderung gegenüber andeutet:

We have been hidden – whether in the institutions that have confined us, the attics and basements that sheltered our family’s shame, the »special« schools and classrooms designed to solve the problems we are thought to represent, or riding in segregated transportation, those »invalid« coaches, that shuttle disabled people from one of these venues to another. The public has gotten so used to these screens that we are now emerging, upping the ante on the demands for a truly inclusive society, we disrupt the social order. We further confound expectations when we have the temerity to emerge as forthright and resourceful people, nothing like the self-loathing, docile, bitter, or insentient fictional versions of ourselves the public is more used to. We have come out not with brown woollen lap robes over our withered legs or dark glasses over our pale eyes but in shorts and sandals, in overalls and business suites, dressed for play and work – straightforward, unmasked, and unapologetic. We are, as Crosby, Stills, and Nash told their Woodstock audience, letting our »freak flag fly.« And we are not only the high-toned wheelchair athletes seen in recent television ads but the gangly, pudgy, lumpy and bumpy of us, declaring that shame will no longer structure our wardrobe or our discourse. …. We are all bound together, not by this list of our collective symptoms but by the social and political circumstances that have forged us as a group. We have found one another and we have found a voice to express not despair at our fate but outrage at our social positioning. (Linton 1998, 3-4)

In diesem Zitat sind mehrere bemerkenswerte Stränge angelegt, die in den disability studies zunehmend Bedeutung erlangen. Zunächst wird die soziale Konstruktion von »Behinderung« als eine soziale Positionierung angesprochen, bei der die Betroffenen mangelndes Mitspracherecht beklagen (siehe auch Dederich 2007). Zum zweiten weist Linton auf einen Effekt sozialen Ausschlusses hin, den Foucault in seinem Spätwerk eingestanden hat: dass nämlich jeder Ausschluss auch neue Formen der Identitätsbildung hervorbringen kann (siehe dazu auch Heyes 2007). Diese Identität ist allerdings wiederum in erster Linie ein Effekt sozialer Positionierungen, und somit nicht essentiell. Sie bezieht sich, ähnlich wie James’ (1952) Modell personaler Identität, auf eine relative Kontinuität (hier:) sozialer Positionierungen, auf die durch eine nun gemeinsame Stimme Bezug genommen wird.

Für Menschen mit gewöhnlichen Körpern ist dies nun in einem Bachtinschen Sinne eine ethische Aufforderung, der lebendigen Stimme der »Anderen« dialogisch zu begegnen, das heißt, sich aus ihrem »ethischen Solipsismus« zu lösen, zuzuhören und die »Anderen« als gleichwertige Ichs anzuerkennen. In einem theoretischen Rahmen des dialogischen Selbst können und müssen wir allerdings noch einen Schritt weiter gehen: Die Präsenz der Stimmen von Menschen mit außergewöhnlichen Körpern bedeutet im Rahmen dieser Theorie auch, dass sie Positionen auch im Selbst von Personen mit gewöhnlichen Körpern einnehmen. Es sind dies Positionen, denen durch Bauchrednerei im Bachtinschen Sinne eine Stimme verliehen werden kann bzw. die in der Terminologie des dialogischen Selbst kollektive Stimmen im Selbst repräsentieren. Derartiges hatte etwa Erving Goffman (1967) im Sinn, wenn er davon sprach, dass Interessensvertreter/innen stigmatisierter Gruppen (seien sie selbst stigmatisiert oder nicht) als Sprachrohre fungieren könnten. Goffmann betonte dabei auch den verändernden Einfluss, den diese Position als Sprachrohr auf diese Interessensvertreter/innen haben könne.

Insofern muss die Perspektive auf Menschen mit außergewöhnlichen Körpern eine Perspektive sein, die mit deren Stimme spricht, und daher genauso eine Perspektive von Menschen mit außergewöhnlichen Körpern ist. Vor allem sind die Stimmen von Menschen mit außergewöhnlichen Körpern im Selbst von Menschen mit gewöhnlichen Körpern auch Stimmen, die die ontologische Trennung zwischen außergewöhnlichen und gewöhnlichen Körpern, wie sie gerade in Diskursen des 19. Jahrhunderts aufgezogen wurde, selbsttheoretisch obsolet werden lassen. Ethische Ansprüche mit dieser theoretischen Leistung zu verbinden ist daher und abschließend ein ausdrücklicher Vorzug dialogischen Denkens.

Literatur

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Endnoten:

[1]

Ich beziehe mich im Folgenden auf Bachtins »grotesken Körper« als einen »grotesken Leib«. Bei Bachtin selbst (bzw. in den deutschen Übersetzungen) kommt diese Unterscheidung so nicht vor. Ich halte die terminologische Konsequenz hier allerdings für sinnvoll und notwendig, um zu betonen, dass mit dem (»grotesken«) Leib eine Umschlagstelle zwischen und damit auch eine Negation von modernistischen Dualismen wie Körper/Geist, Natur/Kultur etc. gegeben ist. Ich werde daher auch später von einem Körper-Kanon sprechen, wenn damit ein objektivierender, ordnender Blick auf den Körper impliziert ist, um herauszustreichen, dass jene Dualismen einem solchen Körperkanon schon eingeschrieben sind und bleiben.

[2]

Mit dieser Begrifflichkeit bezieht sich Duden nur implizit auf die Philosophische Anthropologie Helmut Plessners, die sie für zu ahistorisch hält. Plessner hatte aus seinen Überlegungen heraus, wie sich Erkenntnisobjekte jeweils gegen das wahrnehmende Bewusstsein verhalten, verschiedene »Stufen des Organischen« beschrieben. Schon das unbelebte Objekt ist Plessner (1928) zufolge durch eine bestimmte Eigenständigkeit gegen das wahrnehmende Bewusstsein gekennzeichnet, da es selbst durch einen internen Verweisungszusammenhang gekennzeichnet ist: den zwischen seinem Kern und seinen eigenschaftstragenden Seiten. Während letztere die physische Erscheinung des Dings ausmachen, ist es die Referenz der eigenschaftstragenden Seiten auf den Kern, die das Ding als solches erscheinen lassen. Plessner spricht davon, dass ein lebendiges Ding ein Selbst ist, sobald es sich auf seinen je eigenen Umweltbezug selbst bezieht. Einem Selbst ist sein Körper als Leib, und es unterscheidet an diesem verschiedene Arten des Umweltbezugs, die sich wiederum am und im Leib vermitteln. Plessner differenziert hier zwischen Merken und Wirken. Das lebendige Selbst ist zentrisch positionalisiert: Es stellt den akuten Vollzug der Vermittlung von Merken und Wirken dar und bildet raum-zeitlich ein absolutes Hier/Jetzt. Das Tier lebt somit aus seiner positionalen Mitte heraus, nicht aber als Mitte. Der Leib ist dem Tier das Medium seines Umweltbezugs vermittels Merken und Wirken. Dem Menschen bleibt der Mediumcharakter des Leibs erhalten, so wie Plessner überhaupt davon aufgeht, dass sich auf jeder »höheren« Stufe des Organischen Strukturmerkmale der jeweils »niedrigeren« erhalten. Um sich allerdings gegenüber einem anderen Selbst als Selbst zu erfahren, muss ein Selbst sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hier/Jetzt, also innerhalb und außerhalb des akuten Vollzugs von Merken und Wirken sein: exzentrisch positionalisiert. Der Mensch ist nun sowohl leibliches Selbst als auch außerhalb davon. Die Spannung jener Bezugsgrößen kommt in der bekannten Unterscheidung zwischen Leibsein (zentrische Positionalität) und Körperhaben (exzentrische Positionalität) zum Ausdruck.

Autorenhinweis

Nora Ruck

Mag.a Nora Ruck ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Psychologische Grundlagenforschung der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Kulturpsychologie, body studies, (feministische) Wissenschaftskritik und -geschichte.

Mag.a Nora Ruck Fakultät für Psychologie der Universität Wien Liebiggasse 5 A-1010 Wien Österreich

E-Mail: nora.ruck@univie.ac.at