Ungeplante Dialoge – religiöse Mission und interkulturelle Symmetrie

Joachim Renn

Zusammenfassung

Der Beitrag identifiziert als zentrales Problem des »interkulturellen« Dialogs die Paradoxie, dass bei ernsthafter kultureller Differenz eine Kommunikation über Inkommunikables erforderlich wäre. Am Beispiel der religiösen Gewissheit wird gezeigt, dass die diskursive Auseinandersetzung zwischen religiösen Überzeugungen die religiöse Gewissheit als Kern kulturellerer Eigenheit entweder verfehlen oder auflösen muss. Denn der Modus der Gewissheit zeigt, dass die wesentliche kulturelle Differenz auf der Ebene des impliziten Wissens liegt. In einem zweiten Schritt relativiert der Beitrag die skeptischen Implikationen, die aus der Analyse der inkommunikablen Gewissheit zu folgen scheinen: Die historische Faktizität interkultureller und religiöser Austauschprozesse belegt, dass die identifizierte Kommunikations-Paradoxie auflösbar ist. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Faktums liegt, so die weitere Analyse, im Verhältnis zwischen Organisation und performativer Kultur, d.h. religiöse und allgemein interkulturelle Dialoge profitieren von der Dialektik zwischen Organisationsmitgliedschaft und Milieuzugehörigkeit, die sich am Beispiel der Religion in der historischen Verzweigung zwischen Glaubensgemeinschaft, Kirchenorganisation und speziell missionarischer Administration entfaltet hat.

Schüsselwörter: Glaube, religiöse Gewissheit, interkultureller Dialog, implizites Wissen, Organisation und Milieu, Mission

Summary

The essay describes as a central problem of intercultural dialogue the paradoxical structure of communicating the incommunicable. Religious certainty, taken as a significant example, necessarily is either misrepresented or seriously transformed by discursive dialogues between explicitly articulated religious beliefs, as the core of religious or cultural identity lies on the level of implicit knowledge. The discursive optionalization of religious belief corrupts the constitutive status of implicit religious certainty. In the second part this sceptical account is confronted with the historical factuality of intercultural and religious exchange. Structural conditions are identified which help to overcome the mentioned paradox of communication. Importantly, these conditions are based on the differentiation of forms of religious knowledge andbelief, which again is connected with the difference between membership (in organisations) and participation (in life forms).

Keywords: Religious belief, religious certainty, implicit knowledge, organisation, milieu, cross-cultural dialogue, mission

Eine Soziologie der Religion macht es sich zu leicht, wenn sie schon in die Sprache der Beschreibung des Phänomens der Religion eine funktionalistische Erklärung hineinsteckt, denn dann erklärt sie ihre Beschreibung, nicht aber das angeblich Beschriebene. Die Soziologie der Religion und eine durch sie womöglich beförderte Reflexion interreligiöser Dialoge müssen es sich zuerst einmal schwer machen und die relative Unzugänglichkeit des (religiösen) Glaubens (von der rationalen und argumentativen Rekonstruktion aus gesehen) in den Vordergrund stellen. Dann erst zeigt sich die sachliche Schwierigkeit des »Dialoges zwischen den Religionen«, die von einer Betrachtung des Verhältnisses zwischen expliziten Religionen, die bereits in Systeme propositionaler Gehalte umgeformt sind, schon verdeckt wird. Denn der Glaube – so die Annahme – ist verankert in einer bestimmten Form impliziter kollektiver Gewissheit; und diese Form (nicht der jeweils spezielle »Glaube«) wird gefährdet durch die Transformation des Glaubens in ein Wissen über Geglaubtes, auf die aber jene Art von Dialog zwischen Religionen und Kulturen angewiesen ist, die dem modernen Maßstab symmetrischer prozeduraler Vernünftigkeit genügt.

Entscheidend für das Problem interreligiöser Kommunikation ist darum die in Teilen inkommunikable »religiöse Gewissheit«, weil sie eine spezifische Form impliziter Selbstverständlichkeit darstellt, die konstitutiv ist für religiöse Sprachspiele und die Plausibilität von weitgehend existentiellen Selbstverhältnissen. Natürlich steht der Begriff des Inkommunikablen schnell und zu Recht unter Verdacht. Jede Berufung auf ein Unsagbares erscheint zunächst als uneinlösbare Behauptung (man ist gewohnt zu sagen: als Metaphysik), schon weil sie eine Aussage über etwas ist, das ausgerechnet über die Unmöglichkeit der Repräsentation definiert sein soll. Aber doch ist es möglich, die Grenzen der diskursiven Repräsentation zuerst performativ zu erfahren und dann diskursiv zu repräsentieren, wie Paul Ricœur an Kierkegaards »indirekter Mitteilung« zeigt (Ricœur, 1979, 586) und was Jürgen Habermas (1999, 263) am Fall der Übersetzung zwischen Handlungsgewissheit und diskursiv geprüftem Wissen diskutiert.

Gelebte Religiosität ist ein Spezialfall der praktischen Gewissheit, deren Artikulation und Explikation immer eine Formtransformation, eine Übersetzung (Renn, 2006a, 120ff) darstellt, die durch das repräsentationalistische Modell der Abbildung eines (angeblich schon propositional gebauten) Gehaltes von Elementen des Hintergrundwissens durch explizite Aussagen verzeichnet wird. Zwischen der Gewissheit des Glaubens (aber auch der Gewissheit eingespielter Praxis im Sinne von Wittgenstein, 1969) und der Geltung propositionalen Wissens besteht eine Differenz, an der sich die Grenzen der Repräsentation bilden und schließlich praktisch zeigen (Renn, 2004 und 2006b).

Die Grenzen der Repräsentation einer impliziten Gewissheit sind im Fall des religiösen Dialoges interessant, wenn man Religiosität primär als Element einer kulturellen Lebensform, als eine pragmatische Form impliziten Wissens betrachtet. Erst auf dieser Ebene erscheinen die problematischen Konsequenzen der Eigenarten des interkulturellen und des interreligiösen Dialoges: Denn die Differenz zwischen Horizonten impliziten Wissen ist nicht von vornherein aufgehoben in der Identität einer für zwei pragmatische Horizonte jeweiliger »Welterschließung« gleichermaßen adäquaten Form des expliziten (diskursiv rationalen) Diskurses. Unterschiedliche Lebensformen haben bestenfalls das Eine notwendig gemeinsam, dass sie im Übergang zur Form diskursiver Selbstrechtfertigung einer Transformation unterzogen werden, die ihnen in dann allerdings unterschiedlicher Form eine verzerrende Artikulationsweise, eine selektive Übersetzung aufnötigt. Das wird im Fall der Religion gerade im Kontrast zu institutionalisierten Rationalitätskriterien einer säkularen Ordnung von »Wertsphären« (M. Weber) besonders deutlich, denn das Religiöse bewahrt auch unter modernen Bedingungen die Spur der Transzendierung empirischer Bestätigung eines für gültig genommenen Wissens.[1]

Durch den Rekurs auf die implizite Basis der Gewissheit verschärft sich zunächst das Problem der Verständigung in der Richtung des Problems radikaler Übersetzung und unbestimmbarer Referenz (Quine, 1980), der radikalen Interpretation (Davidson, 1986) und einer Hermeneutik, die den Dialog zwischen erheblich unterschiedlichen Sprachspielen nicht als Folge oder Leistung, sondern als Vorbedingung und Realisierungsmedium eines gemeinsamen Bodens der Verständigung versteht (Gadamer, 1975, 342; Rorty, 1989). Erst wenn kenntlich gemacht wird, dass der religiöse und interkulturelle Dialog – wenn er denn ein Gespräch zwischen ernsthaft und erheblich differenten Horizonten ist – prinzipiell eine paradoxe Anforderung an mögliche Protagonisten stellt, lässt sich zeigen, dass eine spezifische Form der Arbeitsteilung, die soziale Differenzierung von Organisation und Milieu, notwendige Bedingung der Lösung dieses Problems ist.

I. Zur Eigenart von religiöser Gewissheit als Teil einer »performativen Kultur«

Wenn der »Glaube«, die mehr pragmatisch ausagierte als theoretisch geprüfte Frömmigkeit, auf impliziter Gewissheit und damit auf Implizitheit beruht und angewiesen ist, dann bildet das Gefälle zwischen religiöser Gewissheit und diskursiver Prüfung ein Hindernis für den Eintritt in den ernsthaft offenen Dialog, denn dieser Eintritt bedeutet das Risiko, »den Glauben zu verlieren«. Deshalb kann diese Schwelle für die Gläubigen, die ihren Glauben im Modus einer »performativen Kultur« (Renn, 2004) vollziehen, zu hoch sein. Der Eintritt in den Dialog ist riskant, weil die Infragestellung (das Kontingent-Setzen) der Gewissheit, wenn sie konstitutiv für personale Identität im Feld kollektiver habitueller Gleichsinnigkeit (gemeinsamer Praxis und Routine) ist, den möglichen Verlust der sozialen Identität impliziert. Dieses Hindernis ist durch diesen Übergang gerade im Fall religiöser Gewissheit erheblich. Historisch aber haben sich religiöse Dialoge entfaltet. Dafür war entscheidend, dass neben die Form praktischer Gemeinschaft (Milieu) die Organisation der Religion treten konnte. Für die Person erscheint der Unterschied zwischen diesen kollektiven Formen als Differenz von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft. Die Entstehung einer Kirche und ihre theologische und administrative Rationalisierung garantieren aber noch keinen symmetrischen und vernünftigen Dialog, wie wir ihn heute verstehen. Das Problem zeigt sich im historischen Beispiel: Verhöre, die im Verlauf der zwischen 1318 und 1325 durchgeführten Katharerinquisition in Pamier durchgeführt wurden (durch ein neu eingerichtetes Ketzergericht, das neben der dominikanischen Zuständigkeit operierte), enthalten den Quellen zufolge über weite Strecke erstaunliche Elemente von Disputation und Überzeugungsversuch, sie erweisen sich aber am Ende nicht als rechte Dialoge:

»Nach der Vereidigung begann das Verhör. Jacques Fournier [Bischof von Pamier] stellte Fragen, ließ den Angeklagten reden, hörte aufmerksam zu, stellte, dunkle Punkte die Aussagen betreffend, weitere Fragen, ließ den Angeklagten reden (…). Zu diesem Ende führte er lange Gespräche mit den Delinquenten und versuchte, sie mit philosophischen und theologischen Argumenten von der Irrtümlichkeit ihrer Anschauungen zu überzeugen. Vierzehn Tage seiner kostbaren Zeit wandte er daran, den vom Katholischen Glauben wieder Abgefallenen (…) mit dem Geheimnis der Dreifaltigkeit zu versöhnen, eine Woche, ihn von der doppelten Natur Christi zu überzeugen, und nicht weniger als drei Wochen verstrichen bei der Erörterung der Identität Christi mit dem verheißenen Messias. Zuletzt freilich wurde das Urteil gesprochen und Strafe verhängt« (LeRoy Ladurie, 1982, 28f; Hervorhebungen: J.R).

Auch das ist ein Dialog der Religionen; doch der moderne Betrachter zögert, hier Dialogizität zu attestieren, denn die Interaktion weist eine entscheidende Asymmetrie auf, wenn Richter und Opponent identisch sind, was eine Seite in ungehörigen Vorteil bringt. In diesem Zögern verraten sich indirekt die normativen Implikationen, die unser moderner Vorbegriff von einer akzeptablen Form des Dialoges zwischen den Religionen enthält. Das Privileg des Inquisitors verletzt ein diskurstheoretisch ausführlich expliziertes Prinzip (Habermas, 1983) von selbst moralischer Dignität: jenes der Symmetrie bzw. der Reziprozität von wechselseitig zugestandenen Autonomieansprüchen, die weder den einseitigen Zwang, die Drohung mit Strafe noch die ungleiche und monopolistische Verteilung von Autorität in der Position des Richters verträgt. Die denkbare Korrektur der jeweils eigenen, zuvor gewissen Überzeugungen hat de jure keinem anderen Druck zu folgen als dem »zwanglosen Zwang des Argumentes«. Dem Glauben erscheint aber womöglich nicht erst dieses oder jenes Argument als zwingend, sondern zuvor kann bereits die Pflicht zur argumentativen Probe auf Haltbarkeit im Kontrast zur lebenspraktisch konstitutiven Gewissheit als Zwang erscheinen. Das Problem des religiösen Diskurses, der etwas anderes ist als eine Debatte über Religion(en), unterscheidet sich in einen zentralen Punkt von der allgemeinen Frage, wann ein Dialog »fair« strukturiert sei. Was, so lautet nämlich die Frage, gilt im Lichte religiöser Gewissheit als ein zwingendes Argument, wenn denn die Gewissheiten auf der konstitutiven Ebene einer Lebenspraxis liegen, von der abhängt, was als überzeugende Begründung zählt?

Das Gefälle zwischen Richter und bedrohtem Diskutant im zitierten Beispiel ist mit Rücksicht auf die Frage der Konstitution von Plausibilitätskriterien nur die augenfällige Asymmetrie. Es gibt eine zweite: das Medium der argumentativen Rede (dahinter steckt auch im gewählten Beispiel das Medium der Schrift und über die Form der Aktenführung das formalisierte Sprachspiel einer Organisation) unterscheidet sich vom Medium der pragmatischen Reproduktion einer performativen Kultur bzw. der spezifisch habituellen impliziten Gewissheit, die in rituellen Formen und Auslegungsroutinen kollektive Gestalt erhält. Und die Gewichtung dieser Sprachspieltypen fällt einseitig aus zugunsten der inquisitorischen Argumentation. Der Bischof Fournier sucht die »Wahrheit«[2] – und nicht ausschließlich, ja nicht einmal zuerst das »Verständnis« der anderen Überzeugung; er legt zudem einen Maßstab der Widerspruchsfreiheit an, vermittels dessen er versucht zu überzeugen, obwohl die Kriterien der Plausibilität autoritär (d.h. nicht selbst verhandelbar) durch das System und das Medium seiner Theologie definiert werden. Der Glaube aber, der sich hier vor dem Tribunal einer (spezifischen) argumentativen Rationalität behaupten soll, besteht nicht in einem System überprüfbarer Behauptungen, sondern er besteht in einer von außen schwer zugänglichen, weil nur indirekt aus der Artikulation, die schon eine Übersetzung ins Diskursive bedeutet, erschließbaren subjektiven Gebundenheit und Getragenheit. Nicht das »Geglaubte«, als Bezugsobjekte eindeutiger assertorischer Sätze, die wahr oder falsch und in Relation zu weiteren eindeutigen Sätzen kohärent oder nicht sein können, sondern der »Glaube« steht auf dem Spiel.

In der Arena einer diskursiven Prüfung schon der Bedeutung von Artikulationen des Glaubens, die die Geltung auch expressiver Sprechakte an die adäquate Repräsentation propositionaler Einstellungen bindet, ist die Glaubensgewissheit etwas Inkommunikables. Viel später (gegenüber der Inquisition des 14ten Jh.) wird diese negative Erscheinungsweise einer »authentischen« inneren Bindung an das religiös Gewisse von Martin Buber dramatisiert:

»Der wirkliche Glaube (…) fängt da an, wo das Nachschlagen aufhört, wo es einem vergeht. Was mir widerfährt, sagt mir etwas, aber was das ist, das es mir sagt, kann mir durch keine geheime Kunde eröffnet werden, denn es ist noch nie zuvor gesagt worden und es setzt sich nicht aus Lauten zusammen, die je gesagt worden sind. Es ist undeutbar, wie es unübersetzbar ist, ich kanns nicht erklärt bekommen und ich kanns nicht darlegen, es ist ja gar nicht ein Was, es ist ja mir in mein Leben hinein gesagt (…)« (Buber, 1978, 29).

Diese indirekte Annäherung an die positive Gestalt des Glaubens ruft auf expressive Weise die unzugängliche Innerlichkeit der Einzelperson auf. Sie überlässt dabei den Begriff der Übersetzung dem Reduktionismus, der sie als Übertragung behandelt, als inhaltsbewahrende Repräsentation einer bestimmten Proposition im Übergang von einer Sprache zur anderen, in denen jeweils »das Selbe« gesagt werden kann. Bubers Zuspitzung übertreibt mit beiden Zügen die Ausschließlichkeit der Alternative zwischen dem innerem Erlebnis und der intersubjektiven Öffentlichkeit propositionaler Gehalte. Im Kontrast zu beiden Modi steht jedoch als ein dritter Modus die für das religiöse Empfinden konstitutive intersubjektive Gewissheit, die der vergemeinschaftenden Erfahrung einer geteilten Praxis der Verwendung von Symbolen und des Vollzugs von rituellen Handlungssequenzen entstammt. Der Abstand dieser Glaubensgewissheit zu einem kognitiven »Für-Wahr-Halten« entspricht keineswegs der Unterscheidung zwischen einer privaten Sprache (bzw. existentieller Innerlichkeit) und öffentlich intelligibler (und überprüfbarer) Bedeutung. Dass es sich auch auf der Seite der Gewissheit um einen kollektiv abgesicherten, eingespielten Modus handelt, zeigt der Bezug auf die pragmatistische Tradition. So wendet sich Hans Joas auf der Suche nach der Entstehung der Werte zuerst an William James, mit dem die spezifisch religiöse Erfahrung als Selbstentgrenzung gedeutet werden kann. Sie wird auch hier zuerst von innen beschrieben als „(…) der Verlust aller Sorge, das Empfinden, dass es letztlich gut mit einem steht; der Friede, die Harmonie, die Daseinsbereitschaft, auch wenn sich die äußeren Lebensbedingungen nicht ändern (…). Eine Leidenschaft des Wollens, des Ergebens, des Bewunderns ist das glühende Zentrum dieses Geisteszustands« (James, 1997, 263).

Joas (1999, 80f) erläutert mit diesem Zitat den Begriff des religiösen »Sicherheitszustands«, der allerdings nicht mit James in der Überverallgemeinerung einer historisch kontingenten, vornehmlich bürgerlichen, Introspektion psychologisiert werden muss. Joas selbst entziffert mit Hilfe von Durkheim die Jamessche Beschreibung als Ausdruck der Innenansicht, der intentionalen Seite eines kollektiven Aggregatzustandes affektiver Selbstranszendierung. Sie ist eine in der »kollektiven Efferveszenz« (Durkheim, 1984; Joas, 1999, 94f), in der gemeinsamen Ekstase begründete intersubjektive Gewissheit außerordentlicher, transzendenter Bindungen des Einzelnen und der Gemeinschaft, die nur der Soziologismus auf die verzerrte Selbstdarstellung einer Gesellschaft reduziert. Die religiöse Gewissheit ist gerade weil und wenn sie eine kollektiv beglaubigte Selbstverständlichkeit angenommen hat, kein geprüftes Wissen, sondern sie beruht auf der kooperativen, rituell und metaphorisch bestätigten Gleichsinnigkeit in der praktischen Verwendung von Symbolen (Renn, 2006a, 286ff). Die Überzeugungskraft der Religion ist dann primär an die Vitalität einer eingespielten Praxis gebunden, die auf die argumentative Bewährung von wahrheitsfähigen Aussagen gar nicht angewiesen sein darf, weil sie ihre konstitutive Funktion vor aller Explikation und Rationalisierung impliziten Wissens schon entfaltet haben muss. Die religiöse Gewissheit verträgt sich darum schlecht mit der diskursiven Form argumentativer Rede, bei der Überzeugungen als wahrheitsfähige Behauptungen oder normative Sätze behandelt werden und der Probe der argumentativen Einlösung propositionaler Geltungsansprüche ausgesetzt sind.

Wenn die spezifische Form der religiösen Gewissheit, der individuelle und kollektive Glaube, als Bestandteil, als Element und als Folge einer »performativen Kultur« begriffen wird, zeigt sich das Schwellenproblem der Motivation und der Bereitschaft zu einem »echten« religiösen Dialog erst in der ausreichenden Schärfe. Die Motivation zur dialogischen Verständigung müsste im Übergang von der impliziten, praktisch bewährten Gewissheit hin zum Austausch von Argumenten zugleich schon vorausgesetzt und noch erzeugt werden. Denn der Eintritt in das Spiel einer diskursiven Prüfung von Geltungsansprüchen verlangt es, auch die normative Grundlage zur Disposition zu stellen, die eben jene Bereitschaft zum Eintritt motivieren müsste. Zudem bedeutet die Bereitschaft, eigene implizite Gewissheiten zur Disposition zu stellen, im Falle erheblicher kultureller und religiöser Differenzen, die konstitutiven Voraussetzungen performativer Kultur, d.h. das eigenen Sprachspiel und die Sicherheit personaler und kollektiver Identität zu verlassen. Die Differenz liegt nicht erst auf der Ebene konkurrierender Glaubensinhalte und religiöser Vorschriften, die auf einem einheitlichen Spielfeld der kriterial geordneten Konkurrenz von Argumentationen liegen. Es geht vielmehr um den Übergang in ein rationalisiertes Selbstverhältnis, dass den Rückgriff auf ein anderes konstitutives Fundament als eben jene religiöse Gewissheit erforderlich macht. Dabei wechselt der Glaube aus der Position des pragmatischen Hintergrundes in die Position expliziten Wissens, und dabei hat er entweder seine konstitutive Funktion eingebüßt, oder aber wird als fraglicher Glaube im Dialog etwas verhandelt, was den existentiellen Bezug der Gläubigen zu dem für sie Gewissen in keiner Weise angemessen wiedergibt. Der Glaube geht verloren, oder aber er bleibt verborgen hinter der Fassade einer mehr oder weniger strategisch rationalisierten Version, über die zu verhandeln man bereit ist, weil sie einen nicht wirklich betrifft.

In der Debatte um die Verpflichtung, religiöse Vorbehalte und Motive in einer modernen deliberativen Demokratie in eine säkulare Form zu bringen, kommt darum auch Habermas auf eine entsprechende Übersetzungsnotwendigkeit zu sprechen. Es könnte sein, dass sich Glaubensgewissheiten nicht ohne Verlust in rationales Wissen oder rationale Gründe umformen lassen, denn es ist möglich, dass „(…) die normative Erwartung, dass sich religiöse Bürger bei ihrer Stimmabgabe letztlich von säkularen Überlegungen leiten lassen sollen, an der Realität eines frommen Lebens, einer aus dem Glauben geführten Existenz vorbei (gehe)« (Habermas, 2005, 134). Habermas mildert diesen Einwand unter Hinweis auf die Argumentation von Thomas Schmidt, d.h. mit Bezug auf die Differenzierung zwischen Sphären heterogener Kommunikation in der modernen Gesellschaft, ab zu einem »institutionellen Übersetzungsvorbehalt« (Habermas, 2005, 136). Jenseits institutioneller Schwellen bzw. diesseits der Grenzen zu Foren der Deliberation öffentlicher Regeln und politischer Zielsetzungen zählen nur säkulare Gründe bzw. säkularisierte religiöse Ansprüche (die in diesbezüglich salonfähiger Form auf ein Recht auf Anerkennung pochen dürfen). Es wird jedoch durch das Zugeständnis eines Übersetzungsproblems zwischen religiöser Orientierung und rationaler Verständigung zugleich markiert, dass der Diskursbegriff einer prozeduralisierten Vernunft bestenfalls die Aussprache über Religionen bzw. die metaphorische Übersetzung religiöser Erfahrungen in die Sprache säkularer Dialoghaltungen berührt. Indirekt aber zeigt sich ebenso, dass der »Dialog der Religionen« als Gespräch aus religiöser Gewissheit heraus normativ, empirisch und historisch in den Begriffen des rationalen Diskurses allein nicht aufgeklärt werden kann. Denn wie ist dieser Dialog möglich, wenn der institutionelle Übersetzungsvorbehalt zwischen der aus dem Glauben geführten Existenz und der Rolle des Teilnehmers an rationalen Diskursen eine starke Grenze zieht und in der modernen dialogischen Attitüde erhebliche Momente religiöser Einbindung verloren gehen?

II. Die Unwahrscheinlichkeit des inter-religiösen Dialoges

Wie immer wir Religion also definieren – ob mit Bezug auf die Transzendenz, auf das Heilige, auf Gott oder die Jenseitigkeit – die angedeutete Rekonstruktion religiöser Erfahrung und entsprechender Gewissheit macht darauf aufmerksam, dass der (auch von Joas zuerst aufgegriffene) individuelle Charakter der religiösen Gewissheit, die sich vom geprüften Wissen unterscheidet, einem kollektiven Typus der gemeinsamen Überzeugung entstammt. Die soziale Bindung der Person an das Kollektiv, der auf der Bindungskraft geteilter praktischer religiöser Gewissheit beruht, ist als Zugehörigkeit (im Unterschied zur Mitgliedschaft) zu begreifen. Zugehörigkeit charakterisiert den Modus der sozialen Integration eines Kollektivs, der für den Typus eines Milieus spezifisch ist. Es ist als soziale Lebensform nicht auf der kognitiven Basis intersubjektiven propositionalen Wissens bzw. expliziter kultureller Normen und Werte integriert, sondern zunächst praktisch.[3] Intersubjektiv geteilte Religiosität ist in diesem Sinne ihrerseits ein kollektives System von Überzeugungen, Geboten und Praktiken, das sich nicht zuerst in der expliziten Form einer theologisch rationalisierten und verwaltungsmäßig durchstrukturierten Organisation zeigt – sondern zunächst als performative Kultur, deren Struktur auf der impliziten Gleichsinnigkeit in der Regelanwendung beruht: Der Zusammenhang zwischen generalisierten Vorstellungen, Symbolen und Geboten, einzelnen Handlungen, intentionalen Einstellungen und interaktiven Sequenzen ist hier durch die Übereinstimmung des impliziten Wissens zwischen Angehörigen eines Milieus habituell gesichert.

Der Eintritt in den Dialog bedeutet ein Risiko, gerade wenn die religiöse Gewissheit auf einem kollektiven Habitus der Zugehörigen zu einem Milieu beruht; denn dann bedrohen die Relativierung und die pragmatische Ent-Selbstverständlichung kollektiver habitueller Gleichsinnigkeit die gesicherte Zugehörigkeit und damit die individuelle und soziale Identität. Es ist darum zunächst historisch höchst unwahrscheinlich, dass die Angehörigen verschiedener Religionen, d.h. verschiedener religiöser Lebensformen mit jeweils eigenen habituell verankerten Formen religiöser Gewissheit, zu einem symmetrischen und dialogischen Austausch von Überzeugungen finden. Die Grenze zwischen Kulturen und Religionen liegt auf der Ebene der konstitutiven Voraussetzungen von Verständigungen aller Art. Das bedeutet auch, dass differente religiöse Gemeinschaften – wenn sie wirklich unterschiedlich sind – über keine gemeinsame Auslegung dessen verfügen, was ein »echter und offener Dialog« sei. Vom spezifischen Netz der sich gegenseitig stützenden impliziten Überzeugungen hängt jeweils intern ab, was Symmetrie bedeutet, was gegenseitiger Respekt, Achtung, Ehre praktisch bedeuten, was das Heilige fordert und welche Rolle Geschlecht, Stand, Klasse oder »ethnische« Zugehörigkeit spielen.

Der Dialog der Religionen ist darum zweifach paradox. Ein Paradox besteht erstens – wie bei jeder »interkulturellen« Kommunikation – darin, dass eine komplexe dialogische Aushandlung gemeinsamer Deutungen der Situation über erhebliche Grenzen hinweg erst hervorbringen kann, was diese Aushandlung schon voraussetzen muss: das Einverständnis über die (akzeptablen) Bedingungen der Möglichkeit gemeinsamer Verständigung angesichts problematischer Verständigung. Zweitens verlangt der interreligiöse Dialog eine Abstandnahme gegenüber der vorgängigen impliziten Selbstverständlichkeit, eine Dezentrierung also, die mit der Gewissheit des Glaubens seine Verbindlichkeit und damit die habituell eingespielte Integration des Milieus auflöst.

Deshalb ist der »interreligiöse« wie der interkulturelle Dialog historisch oder genetisch gesehen zuerst gar nicht anders möglich als assimilativ, nostrifizierend und projektiv. Die Kohäsionsbedingungen einer performativen Kultur, die als kollektives Milieu einen sozialen Verbund bildet, unterlegen die religiöse Gewissheit mit einem Ausschließlichkeitsanspruch, aus dem in der Konfrontation mit alternativen Religiositäten die Neigung zum konfliktreichen Antagonismus folgt. Der Bezug auf die andere Religion, der den Horizont der jeweils eigenen religiösen Gewissheit unbeschadet lassen soll, nimmt deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit die Form der exkludierenden Stereotypisierung an. Er bleibt zentriert, d.h. je nach Lage ethno- oder kultur-zentrisch; eine mögliche Inklusion von Zugehörigen einer anderen Religion kann zunächst nur über die abstrakte Erweiterung des Geltungsbereiches der eigenen Überzeugungen in eine communitas aller Zurechnungsfähigen laufen, die materialiter aus »unseresgleichen« bestehen muss und bestenfalls »noch nicht« so weit ist. Auch für die tendenziell universal inklusive monotheistische Religion hängt die Persistenz des performativen Unterbaus religiöser Gewissheit ab von dem begrenzten Zugeständnis, dass die »Heiden«, wenn sie nicht als Tiere zählen, wie Kinder an das Ziel der eigenen Version von Zugehörigkeit herangeführt gehören. Der Universalismus einer Ausdehnung der Gemeinde auf tendenziell »alle« ist dabei dem Ethnozentrismus der assimilativen Projektion – wenn man den kritischen Kommentatoren folgt – eher förderlich, sofern es richtig ist, dass erst die monotheistische Zuspitzung jene freundliche archaische Vereinnahmung fremder Götter als bloße Namensalternativen durch die »mosaische« Unterscheidung zwischen falschem und rechten Glauben ersetzt hat (so Assmann, 2003).

Im ernsthaften Dialog der Religionen, das nicht nur dem Protokoll folgt, bei dem die beteiligten Seiten nur ins Spiel der Verständigung investieren, was das konstitutive Fundament des eigenen Glaubens eben nicht berührt, stehen Überzeugungen auf dem Spiel, die ein existentielles Gewicht haben, weil sie zu den sozialintegrativen und identitätsbedeutsamen Gehalten der Zugehörigkeit gehören. Eine rational verteidigte implizite Gewissheit ist keine implizite Gewissheit mehr. Der Glaube, der zum Wissen geworden ist, verliert mit dem Zugewinn an fallibilistischem Selbstzweifel seine für Identität und Praxis konstitutive Kraft.

III. Arbeitsteilung: Differenzierung zwischen Milieu und Organisation

Die Form eines Milieus, das durch die habituelle Gleichsinnigkeit religiöser Gewissheiten der Zugehörigen integriert ist, stellt jedoch nur eine Dimension religiöser Kollektivität dar. Gerade die monotheistischen und universalistischen Buch-Religionen haben wegen des Medienwechsels von einer rein performativen Routine der Bearbeitung des Außerordentlichen (Rituale) zur schriftlichen Fixierung von Erzählungen, Überzeugungen und Geboten den Weg von der rituellen zur textuellen Kohärenz beschritten (Assmann, 1999). Diese Entwicklung befördert die hermeneutische Praxis einer expliziten Reflexion auf die Applikation symbolischer Ausdrücke (was bedeuten, welche pragmatischen Konsequenzen haben sie hier und jetzt im Unterschied zu damals und dort?). Daraus erwachsen Formalisierung und Arbeitsteilung der religiösen Praxis. Die Rituale der Frömmigkeit kristallisieren sich in Ämter und Hierarchien, die Gemeinde wird Kirche und das Milieu der Glaubensgemeinschaft differenziert eine formal integrierte Administration aus. Die einzelne Person ist als Gläubige nun immer noch Angehörige einer Gemeinschaft, sie ist aber auch schon Mitglied einer Organisation, in der Würdenträger und Laien getrennt sind, in der aber auch den Laien eine Rolle zukommt, in der die Mitgliedschaft an formalisierte Rollenbeschreibungen, an einen Kodex des Verhaltens gebunden wird.

Erst unter dieser Bedingung, nur im Zuge der religiösen Arbeitsteilung, die zur Form der Organisation führt, erhält der »echte« Dialog der Religionen als Typus nicht assimilierender und nicht egozentrischer, sondern symmetrischer interkultureller Kommunikation auf lange Sicht eine Chance. Denn nur die Differenzierung zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft kann die oben analysierte Schwelle zur dialog-vermittelten Erfahrung des »anderen« senken, vor der die Angehörigen eines religiösen Milieus im anderen Falle zurückweichen. Das ist eine zumindest mögliche Nebenfolge des Übergangs von der existentiellen Bindung an ein Milieu (Zugehörigkeit) zu einer personen-internen Aufteilung (als subjektive innere Arbeitsteilung) zwischen der existentiell bedeutenden Zugehörigkeit zu einem Kollektiv geteilter religiöser Gewissheiten und einer formalen Mitgliedschaft in der kirchlichen Organisation. Wenn sich der Glaube an das Gebot und die Evidenz der performativen Religiosität auch nur in Teilen überträgt auf den Glauben an die Autorisiertheit der organisatorisch bestimmten Experten, an die administrativ formierten Sakramente und das »Amtscharisma« von bestallten Professionellen, so wird es möglich, dass sich der soziale Zwang zur Bewahrung der impliziten Überzeugungen lockert. Es sinkt die Schwelle zur Bereitschaft, religiöse Gewissheit in der Konfrontation mit »anderen« zu riskieren, also pragmatische Ungewissheit in Kauf zu nehmen und Selbstzweifel in die Konfrontation mit anderen zu investieren, sofern und weil einem die formale Mitgliedschaft heilsbezogen wie lebenspraktisch stabile Garantien verspricht.

Dafür ist die missionarische Bemühung um die Verbreitung des Christentums ein gutes Beispiel – obwohl in der skeptischen (poststrukturalistischen und -kolonialistischen) Diskussion der »Gewaltsamkeit« des hermeneutischen Verstehens die Mission geradezu als Wappentier der Assimilation und der Unterdrückung des Fremden herhält. Die Mission ist als praktische Anwendung universalistischer Prinzipien und Inklusion in einer Hinsicht jedoch nicht weit entfernt von abstrakten Anforderungen an interkulturelle Kompetenz, denn sie entfaltet von Beginn an – als eine Art Hybride zwischen existentieller Motivation (inklusive Opferbereitschaft mit Seitenblicken aufs Martyrium) und administrativer Logistik – einen Spielraum alternativer Umsetzungen des Missionsprogramms.

Das Beispiel der Mission zeigt, dass die Praxis, die aus der universalistischen Religion folgt und prima facie assimilieren will, durch die Abstände, die jeweils zwischen theologischer Doktrin, bürokratischer Organisation und konkreter Situation liegen, an die Erfahrung der erheblichen Differenz zwischen den (praktisch vollzogenen) Religionen und an die Bereitschaft zum Selbstzweifel heranführen kann. Die Komplexität der Kirche und die Multiplikation von Übersetzungsschritten zwischen Doktrinen, Behörden, Stäben und entfernten Niederlassungen erzwingen die Streuung von Handlungsweisen, die gegeneinander bald einen scharfen Kontrast bilden. Diese Erfahrung machen Bartholomäus Las Casas und anderer Missionare im Lateinamerika des 16ten Jahrhunderts. Sie folgen nach Auskunft der Quellen sicher noch nicht dem spätmodernen Prinzip der Anerkennungswürdigkeit von Differenz (Taylor, 1993) – wie sollten sie auch? Aber einige von ihnen geraten durch die Verzweigung von Praktiken, die als lokale Übersetzungen derselben Doktrin gelten wollen, in die Lage, jene grundlegende und folgenreiche Erfahrung zu machen, die das viel spätere Ethos eines symmetrischen interreligiösen Dialoges und das Prinzip »interkultureller Kompetenz« voraussetzt: die Erfahrung, dass der andere wirklich »anders« ist.

Die universalistische Mission sucht diese Erfahrung nicht offensiv. Sie folgt keinem differenzsensiblen interkulturellen Ethos – entwickelt sich dieser doch erst viel später u.a. in Reaktion auf die Gewaltsamkeit des »Missionarischen«. Sie wird vielmehr durch die Erfahrung der inneren Differenzierung der eigenen Kultur an einen Punkt gebracht, an dem die eigenen Voraussetzungen als kontingent erlebt werden. Dies geschieht durch den Zwang zur Übersetzung zwischen verschiedenen Medien der religiösen Artikulation und des rituellen bzw. administrativen Vollzuges und durch die Notwendigkeit der Streuung von möglichen Implikationen vermeintlich eindeutiger Regularien.

Mit dem Ausbau zunächst der kurialen, der klösterlichen, später der inquisitorischen und schließlich der missionarischen Administration wird es im organisierten Christentum zunehmend unumgänglich, die Frömmigkeit in eine explizite kulturelle Semantik der Theologie bzw. in Recht zu übersetzen und diese dann in die Verfahrensweisen und Regeln der bürokratischen Organisation der Kirche umzumünzen. Dabei werden Zuständigkeiten verteilt, Rechte und Pflichten überwacht und Anweisungen sowie Regeln und spezifische Direktiven für die Missionen in fernen Kontinenten erlassen. Diese Regeln müssen dann vor Ort in eine eigene konkrete Praxis, in den faktischen Vollzug, die tägliche Mühe der Missionsarbeit und schließlich in die Horizonte des Gegenübers übersetzt werden. Die pragmatische Auslegung der christlichen Botschaft vor Ort muss auf diese Weise – durch die unvermeidliche Streuung möglicher pragmatischer Implikationen von allgemeinen und kontext-entrückten Formeln – von anderen pragmatischen Auslegungen abweichen. Heterogene Auslegungen können schließlich in Konkurrenz zueinander treten, wenn die Kontrolle durch die Zentrale aufgrund großer Entfernung ausdünnt[4] und verschiedene Akteure an einem Ort (in einer Kolonie) sich mit unterschiedlichen Interessen auf die gleiche legitimatorische Semantik berufen.

Bartholomäus Las Casas ist zu Beginn des 16ten Jh. vom Vollstrecker kolonialer und missionarischer Praxis in Cumaná (im heutigen Venezuela) zum Kritiker der Ausbeutung der indigenen Bevölkerung geworden (Bitterli, 1992, 91ff; Todorov, 1985, 202ff). Er bereitet, wie einige andere, eine »heterodoxe« Deutung (Bourdieu, 1979) des offiziellen kolonialen Auftrags vor. Denn er kritisiert nicht die explizite Doktrin, sondern die Formen ihrer Umsetzung im Lichte einer friedlichen, wahrhaft christlichen Mission. Die kritische Distanzierung von der vornehmlich weltlich administrierten Praxis der »Nutzung« der Kolonien versteht sich als authentische Befolgung der Regeln der eigenen Kultur, doch sie mündet in die Abstandnahme vom assimilativen Programm und legt den Keim zu der Einsicht in die Heterogenität der anderen Kultur.

Las Casas kritisiert weder die christliche Botschaft und ihren Auftrag noch die kolonialistische Ideologie, aber manifeste Ausbeutung und grobschlächtigste Gewalt[5] sowie den Versuch, sie unter Berufung auf den inferioren Status der Indianer und die Superiorität der Christen zu rechtfertigen und dadurch als praktische Umsetzung der Missionsauftrages zu legitimieren (Todorov, 1985, 211). Die »philanthrope« Einstellung des Kritikers ist dabei Andeutung des Selbstzweifels christlicher Mission und der sie tragenden religiösen Gewissheit – Nebenfolge der langwierigen Transformation eines milieuspezifischen Glaubens in die komplexe Konstellation aus expliziten Glaubens- und Regelsystemen, Organisationsstrukturen und lokalen Stäben ihrer pragmatischen Applikation. Die flammende Anklage der unchristlichen Behandlung der Indianer durch die Christen, für die Las Casas noch heute berühmt ist (vgl. die Kontroverse von Valladolid, 1547), drückt deshalb eine Figur des strukturell vorbereiteten und ermöglichten Selbstzweifels an religiöser Gewissheit aus. Dieser Selbstzweifel ist mit die Folge der sozialen Differenzierung von Glaube und Kirche, von Milieu und Organisation, schließlich von Mitgliedschaft (im System der Behörde) und Zugehörigkeit (zum Milieu der lokal operierenden Missionare und ihres indigenen Klientels).[6] Die Mission (als Einheit aus Behördenprogramm und lokaler Praxis) ist darum keine starre und lineare Umsetzung assimilatorischer Prinzipien in eine ebensolche Praxis, sondern sie wird als komplexe Unternehmung selbst Ausdruck der internen Differenzierung einer kulturellen Lebensform. Denn die Erfahrung der Missionare richtet sich nicht zuerst auf die Eigenheit der indigen Bevölkerung, sie ist zunächst Erfahrung mit der internen Differenzierung der eigenen Kultur. Die Doppelstellung als Mitglied von Kirche und Missionsbehörde und als Zugehöriger eines nun differenzierten, lokalen Milieus macht die Unterschiede zwischen performativer Kultur und expliziter kultureller Semantik, den Abstand zwischen religiöser Gewissheit und kirchlicher Glaubensautorität erfahrbar. Und erst von da aus öffnet sich der Spielraum für Selbstzweifel und Selbstdistanz, der die Schwelle zum Eintritt in eine Interaktion mit dem Fremden als ein Fremdes senken kann. Auf diesem strukturell vorbereiteten Wege wird die christliche Mission zu einer historischen Voraussetzung für die Erfahrung der interkulturellen Differenz. Somit führt der Universalismus des Missionsgedankens zur Revision eigener Voraussetzungen, weil die Mission ein organisiertes Unternehmen ist. Durch den hohen Organisationsgrad der Kirche und ihrer Bürokratie entwickeln sich zwischen Glaubenslehre, Organisation und individueller Praxis Übersetzungsverhältnisse (Renn, 2006a, 443ff). Und nur dadurch eröffnet sich ein Spielraum dafür, die praktisch erfahrbare Abweichung des Fremden von den eigenen Projektionen zu realisieren. Erst Differenzierung schafft Dezentrierung.

Die missionarische Projektion des Bartholomäus Las Casas besteht darin, in der indianischen Bevölkerung wesensgleiche, potentielle Christenmenschen und Gotteskinder zu erkennen. Ein erster Schritt der Abwendung von orthodoxen Projektionen ist die Kritik an der instrumentalistischen Identifikation der Indianer mit Tieren. Das bedeutet bereits eine interne Differenzierung der westlichen Typisierung der Einwohner Südamerikas (vgl. Bitterli, 1992, 91ff und Todorov, 1985, 196ff). Doch auch das bleibt eine Projektion bis die jesuitische Missionsbestrebung auf das Mittel der Übersetzung des Glaubens in die eingeborenen Sprachen zurückgreift und dabei auf tief greifende Differenzen der jeweiligen symbolischen Ordnungen stößt. Sie entdecken, dass in den indianischen Sprachen keine begrifflichen Äquivalente für die scholastisch explizierten Eigenschaften der christlichen Gottheit zu finden sind – und damit nähern sie sich dem durch Kontrasterfahrung induzierten Selbstzweifel der religiösen Gewissheit. Der Effekt der Selbsttransformation des Glaubens als Folge der Interaktion mit dem Fremden und ernsthafter Übersetzungsbemühungen ist bereits für die nestorianische China-Mission im 7. und 8. Jahrhundert überliefert. Hier kam es zur »Pfropfung« christlicher Texte mit buddhistisch-taoistischer Semantik (Gott als »reine Leere«), worauf die Autoritäten schließlich mit den Vorwurf der Assimilation der Missionare reagierte (Rosenkranz, 1977, 126ff).[7] Vergleichbares gilt für die jesuitische Chinamission Matteo Riccis und anderer im 16. und 17. Jahrhundert, die »sich in jeder Hinsicht dem Mandarinat und der konfuzianischen Lebensart anzupassen« versuchten (Nelson, 1977, 72ff).

Die Bemühung, die indianischen Sprachen zu verstehen, zu dokumentieren und in sie zu übersetzen, war zunächst der Verkündung der universalen Botschaft untergeordnet. Aber angesichts der Erfahrung des Scheiterns linearer Übertragung entstehen Versuche der getreuen Wiedergabe der präkolumbianischen Religion. Der Dominikaner Diego Durán, schon als Kind in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Mexiko aufgewachsen und wie kaum ein anderer mit der aztekischen Kultur vertraut, kritisiert die Praxis eines Diego de Landa und des ersten Bischofs von Mexiko, Zumàrraga, bildhafte Darstellungen indianischer Bräuche zu verbrennen, da jede Evangelisierung zuerst eine tiefe Kenntnis der anderen Kultur erfordere. Zwar ist der ethnographische Eifer eines Duràn noch instrumentell auf das Ziel ausgerichtet, synkretistische Verschmelzungen indianischer Bräuche mit christlichen Ritualen und Zeichen zu erkennen und dann verhindern zu können. Dennoch transportiert die Praxis der detaillierten Dokumentation der anderen Religion die pragmatische Annäherung des Missionars an die Lebensweise seiner Studien- und Missionsobjekte. Aus der pragmatischen Annäherung folgt die intimere Kenntnis der praktischen Kultur der anderen, schließlich der Umschlag der Investigation nach Synkretismen in die eigenen Mestizierung (Todorov, 1985, 251) und den eigenen Synkretismus, der beginnt, die christliche Botschaft mit indianischen Metaphern und Gesängen zu verschmelzen. Ein rationaler Dialog zwischen den Religionen ist das nicht; doch die Verschmelzungen und Übergänge, die Annäherungen an den Sinn der fremden religiösen Gewissheiten geht hier den Weg der pragmatischen Annäherung an eine andere performative Kultur.

IV. Schluss: Lob der Bürokratie

Das Bemerkenswerte an der missionarischen Erfahrung besteht in der Andeutung der Möglichkeit eines Dialoges der Religionen, der – ohne ein Diskurs des Austausches von Argumenten zu sein, ohne Präferenzordnung zwischen Arten von Gründen, von der nur eine Seite überzeugt ist – auf der Ebene impliziter Routine und praktischen Wissens abläuft, so dass religiöse Gewissheiten nicht explizit bezweifelt werden, ihre pragmatischen Implikationen aber in einer interkulturellen und -religiösen Interaktion ineinander geblendet und somit überhaupt erst als unterschiedliche erfahrbar werden.

Die christliche Mission als Praxis kann als spezieller Typus der Operationalisierung einer weltzugewandten universalistischen Religion gelten, bei der die Übersetzung einer abstrakten Semantik, des rationalisierten christlichen Glaubens, in einer faktisch interreligiösen und -kulturellen Praxis zur Erfahrung erheblicher Differenz führen kann. Der Selbstzweifel an der (eigenen) religiösen Gewissheit geht dabei notwendig den Umweg über die Übersetzung performativer Kultur und ihres habituellen Hintergrundes in einen explizierten und theoretisierten, schließlich bürokratisierten Glauben und die Rückübersetzung dieser Semantik in lokale Kontexte. Denn auf diesem Wege differenzieren sich Mitgliedschaft und Zugehörigkeit im Zuge der Differenzierung komplexer institutioneller Ordnungen zwischen Milieu und Organisation.

Die Differenz der symbolischen Ordnungen unterschiedlicher Religionen ist dabei nicht nur eine Frage der Glaubenssysteme, sondern vor allem des Abstraktionsgrades der symbolischen Artikulation des Glaubens (der Theoretisierung, Kodifizierung und Axiomatisierung) und – damit verbunden – auch eine Frage des Mediums der semantischen Ordnung und des kulturellen Gedächtnisses, d. h. eine Frage des Unterschiedes zwischen oralen und Schrift verwendenden Kulturen (für Mesoamerikas vgl. Scharlau & Münzel, 1986).[8] Organisierte Religion vollzieht sich innerhalb eines rationalisierten Systems religiöser Überzeugungen, das in einer bürokratischen Organisation arbeitsteilig in die Praxis umgesetzt wird. In ihr ist die performative Kultur, aus der ein explizierter und organisierter Glaube einmal hervorgegangen ist, nur mehr ein Teilbereich. Und diese Aufteilung der Religion einerseits in die Bereiche rationaler Systematisierung und Verwaltung, andererseits in die von religiöser Gewissheit getragene religiöse Praxis teilt sich der Person mit, sobald und sofern sie zugleich Mitglied und Zugehörige ist. Das Risiko des religiösen Selbstzweifels wird in dieser personalen Resonanz institutioneller Arbeitsteilung vermindert. Wenn die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft im Kontext interkultureller und interreligiöser Praxis relativiert und kontingent zu werden droht, können die Mitgliedschaft und die Delegation der Sorge um das Heil an institutionelle Ordnungen den notwendigen Rückhalt beschaffen, ohne den die Öffnung für die ganz andere religiöse Gewissheit der anderen zu bedrohlich wäre.

Aus diesen strukturellen Überlegungen zu den Nebenfolgen der Komplexität organisierter Religion am Beispiel der Mission folgt am Ende ein vielleicht überraschendes Lob der Bürokratie. Denn eine ihrer ungeplanten Konsequenzen ist die Dezentrierung der Perspektive im Umgang mit anderen Religionen und die Freisetzung von Zonen pragmatischer Übergänge zu anderen performativen Kulturen, zu einer erfahrungsoffenen Begegnung mit dem Fremden. Aber diese Zonen liegen an den Rändern der Organisation, dort wo die Extension der Pastoralmacht wegen ihrer Abstraktheit endet, in den allgegenwärtigen Nischen, die ihr allgemeiner Zugriff aus struktureller Notwendigkeit produziert.

Literatur

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Assmann, Jan (2003): Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus München: Hanser.

Bitterli, Urs (1992): Alte Welt – neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München: Beck.

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Renn, Joachim (2006a): Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie. Weilerswist: Velbrück.

Renn, Joachim (2006b): Rekonstruktion statt Repräsentation – Der »pragmatische Realismus« John Deweys und die Revision des wissenssoziologischen Konstruktivismus. Soziologische Revue, Sonderheft 6, Wissenssoziologie, hrsg. von Hans Georg Soeffner und Regine Herbrik, 13-38.

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Rorty, Richard (1989): Contingency, Irony, Solidarity. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press.

Saeki, P. Y. (1937): The Nestorian Documents and Relicts in China. Tokyo.

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Wittgenstein, Ludwig (1968): Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen.

Wittgenstein, Ludwig (1969): On Certainty, Über Gewissheit (zweisprachige Ausgabe), hg. von G. E. M. Anscombe und Georg H. von Wright. New York: Harper & Row.

Endnoten:

[1]

Darauf weisen auch die fragmentarischen Hinweise Wittgensteins zum religiösen Sprachspiel hin, denen zufolge der religiöse Mensch mit der Behauptung der Existenz Gottes keine unhaltbare empirische Aussage trifft, sondern ein anderes Sprachspiel spielt, d.h. auf einem alternativen Boden praktisch verankerter Gewissheit operiert (siehe Wittgenstein, 1968, 89f und Phillips, 1965).

[2]

So ist nach Foucault (1994, 248) die technologische Zurüstung des »Willens zum Wissen« in Gestalt der »Pastoralmacht« älter als das moderne Disziplinardispositiv. Es entwickelt sich lange vor der spätmodernen Koalition zwischen Staatlichkeit und Sorge um die Existenz schon im christlichen »Pastorat«, das bereits das Seelenheil des Individuums und damit eine Form seiner Innerlichkeit hegt.

[3]

Stichworte zur Analyse der Logik der Praxis, in der sich eine kollektive Identität als habituelle Übereinstimmung bildet und reproduziert, liefert Bourdieu (1979). Das religiöse Gebot regelt die Praxis auf dieser Ebene habitueller Übereinstimmung nicht im Sinne der Ableitung von Handlungen aus allgemeinen Sätzen mit klaren Applikationsbedingungen. Das Milieu eines habituell und praktisch integrierten Kollektivs löst im Gegenteil das hermeneutische Problem der Anwendung, das keine Kasuistik hinreichend bewältige (Gadamer, 1975), mit Hilfe des impliziten Wissens, wie Regeln situativ angemessen anzuwenden sind (zu der damit vorgeschlagenen Verwendung des Milieubegriffs vgl. Renn, 2006, 410ff).

[4]

Zur Rationalität der spanischen Kolonialverwaltung im 16. und 17. Jhd. gehörte das Prinzip: »ich gehorche, aber ich führe es nicht aus«. Dadurch ließen sich Reibungsverluste und Blockaden lindern, die eine unweigerliche Folge des Nebeneinanders von redundanten parallelen Weisungsketten durch die »Audiencia«, die Gouverneure und Vizekönige und schließlich die Kirchenverwaltung waren (vgl. Phelan, 1971).

[5]

In den überlieferten Schriften von Las Casas spielen Massaker wie das Blutbad von Caonao (1512) eine – wenn auch genrespezifisch stilisierte – große Rolle (für die Genese seiner kritischen Haltung, siehe Las Casas, 1995, 255ff).

[6]

Dies entgeht der ihrerseits nicht wenig gewaltsamen Todorovsche Lesart, die Las Casas als unterdrückenden Hermeneutiker, der sein Objekt verkennt, d.h. als den eigentlichen Kolonisatoren beschreibt, während sie Cortés in Schutz nimmt, weil dieser alltagspraktisch gewitzt die aztekischen Besonderheiten zu lesen verstand. So heißt es bei Todorov (1985, 202): »Liegt nicht schon Gewalt in der Überzeugung, man selbst besitze die Wahrheit?«. Dieses Bedenken zeigt durch die unmittelbare Nähe zur Analyse der brutalen Konquistadoren eine gewisse Verselbstständigung der Hermeneutik des Verdachts. Todorov (1985, 221) resümiert: »Las Casas kennt die Indianer weniger als Cortés und liebt sie mehr; doch in der gemeinsamen Assimilationspolitik finden sie wieder zusammen«.

[7]

Aus den Spuren (Steindenkmal von Sianfu) der Nestorianermission im China des 7. Jh. lassen sich Hybridisierungen rekonstruieren. Die Missionstexte (Alopen-Schriften) stellen Mischungen dar aus christlichen Botschaften und buddhistisch-taoistischen Vorstellungen; Gott wird zu Buddha übersetzt und das Wesen Gottes in Begriffen der »reine Leere« erläutert. Um die christliche Verkündigung verständlich zu machen, haben die Nestorianer wesentliche Elemente »unbesehen von den vorhandenen Religionen übernommen« (Rosenkranz, 1977, 128) und wurden schließlich gerade wegen ihrer »Aufsaugung (…) durch die einheimischen Religionen« (Saeki, 1937, 50) im Jahr 845 mit Opfer der Buddhistenverfolgung.

[8]

Der Unterschied zwischen oralen und Schrift-Kulturen ist nicht ohne weiteres eine symmetrische Differenz zwischen Lebensformen, insofern Schriftlichkeit als Medium der Integration kulturellen Wissens und des Gedächtnisses der Kommunikation (vgl.: Assmann, 1999) mit höher Differenzierung einhergeht, Explikation einschließt und damit die Lebensform zu einem Milieu innerhalb komplexer Übersetzungsverhältnisse werden lässt (siehe Renn, 2006a, Kap. IX und X).

Autorenhinweis

Joachim Renn

PD Dr. Joachim Renn, Vertretungsprofessor für „Allgemeine Soziologie“ an der staatswissenschaftlichen Fakultät, Universität Erfurt, Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Wissenssoziologie, Interkulturelle Kommunikation, Phänomenologie, Pragmatismus, Systemtheorie.

PD Dr. Joachim Renn Staatswissenschaftliche Fakultät Universität Erfurt Nordhäuserstr. 63 D-99105 Erfurt

E-Mail: joachim.renn@uni-erfurt.de