Das Mathem der Macht. Spekulation und Verschulden politischen Sprechens

Harald Strauß

Zusammenfassung

In der wechselseitigen Spiegelung von zeichentheoretischen Erkenntnissen mit zentralen Elementen der Philosophie Kants ergibt sich eine veränderte Perspektive auf die Rolle der Sprache in Emanzipationsprozessen. Die Unmöglichkeit sowohl von Letztbegründung wie relativistischem Opportunismus wird zur Möglichkeit eines ethos der Kommunikation gewendet, die ihre Kraft gerade aus dem Mangel der Herrschaftsinstanz zieht. Hiermit verbindet sich die Einsicht in die Funktionsweise der Herrschaft, die auf Grundlage der Verpflichtung zur symbolischen Rückerstattung den Äquivalententausch als gerechte Ordnung inszeniert. Das berechenbare Moment dieser Inszenierung beruht, so die These, auf einem Mathem der Macht, dem jedoch Herrschende selbst erliegen. In Verbindung mit einer Relektüre der Begriffe des Schönen und des Erhabenen ergeben sich hieraus neue Perspektiven für die Kritik an Herrschaft.

Schüsselwörter: Emanzipation, Erhabenes, Macht, Schönes, Politische Ökonomie

Summary

The mutual reflection of semiotic findings with basic elements of Kant’s philosophy provides a change of perspective concerning the role of language in emancipatory processes. The impossibility of both ultimate justification and relativistic opportunism is turned towards the possibility of an ethos of communication which invigorates itself on the dominance’s constitutive lack. This is connected with insights into the function of domination which orchestrates the exchange of equivalents as just order with regard to the obligation of symbolic recompense. The predictable momentum of this enactment bears on a mathem of power to which the ruling class however succumbs. In connection with a relecture of the notions of the Beautiful and the Sublime this argumentation delivers new perspectives on the critique of dominance.

Keywords: Beautiful, Emancipation, Power, Sublime, Political Economy

Emanzipation, Erhabenes, Macht, Schönes, Politische Ökonomie

Etwas über die Möglichkeiten der Sprache im Ringen um Emanzipation von Herrschaft herauszufinden, ist ein umwegiges Unterfangen. Ein kritisches Potenzial der Sprache als innerweltlich begegnende menschliche Rede (langage) (Saussure 2001, 11) gibt es nicht. Was heute als Inbegriff des Widerständigen firmiert, kann morgen schon zum Fundus des Marketing-Vokabulars zählen. Die theoretische Erfassung von Sprache als Norm aller Äußerungen menschlicher Rede (langue) (Saussure 2001, 11) wiederum ist dem Schein nach metasprachlicher Bezug auf ein Objekt »Sprache«, doch ist diese Hierarchie nicht zu rechtfertigen. Jede Metasprache sieht sich selbst auf die Struktur zurückverwiesen, die sie an ihrem Objekt zu untersuchen trachtet. Aufklärung in wie über Sprache zu betreiben, stellt eine reflexive Wendung dar, die sich an der Grenze des Sagbaren vor die Entscheidung gestellt findet, dem variationsreichen Mythos eingeborener Sprachbefähigung nachzugeben oder den Aufenthalt an der Grenze zu verlängern. Im Letzteren kommen die Oppositionen natürlich/gesellschaftlich, angeboren/erworben etc. ins Wanken und mit ihnen werden alle Wendungen fragwürdig, welche die Sprache einem Benutzerverhältnis unterstellen. Sollte sich als Lohn dieser Einsicht die Kontur einer scharfen Waffe der Kritik abzeichnen, so verdankt sich dies einer Spekulation: Dass Sprache als Zeichensystem selbst eine Weise des Einschneiden, krinein, ist und erst in den Differenzen als Resultat dieser Schnitte positive Werte – Bewusstsein zumal – zeitigt. Das kann nicht selbst Objekt einer Betrachtung werden, gehört nicht der dualen Ordnung von Möglichkeit (potentia) und Wirklichkeit an. Nach Aristotelischer Tradition wird die Möglichkeit als von der Wirklichkeit determiniert gedacht (Aristoteles 1995, 1050a), und das macht Wirklichkeit intelligibel; freilich durchkreuzt das unerwartet Wirkliche den Dualismus. Die Herausforderung besteht daher in der Kultivierung einer Haltung gegenüber der Geltungsgenese neuer Positivitäten, also: von Wahrheit. Darum ist Spekulation keineswegs optional und im Gegensatz zu Faktentreue zu verstehen; zu verweisen ist auf die implizite Spekularität, die mit dem Setzen der Positivitäten einhergeht, eine Scheidung von Sichtbarem/Unsichtbarem durch Sprache – mit anderen Worten: Die Einführung der Ordnung des Blicks, die phantasmagorisch als einheitliche Autorität vorgestellt wird.

Das Sublime der Kritik (abzielender wie veranlassender Genitiv) wird das Gewahren der Spekulation als Semiose gewesen sein. Diese Beziehung zu den Grenzen des Sagbaren und des Sichtbaren ist keine Einladung zum Relativismus. Zu wissen, dass es keine letzte Instanz gibt, die richten wird, heißt: den konstitutiven Mangel des Lacan’schen großen Anderen als Movens im Subjekt zu begreifen, das sich in diese Ordnung bahnt. Insofern ist solche Ordnung wahr. Der Wahrheitsanspruch, von dem unablässig Gebrauch macht, wer das Wort führt, ist weder empirischer Natur noch in einer Universalstruktur aufgehoben, in der das Symbolische eins wäre mit Ordnung der Materie; wie sich zeigen lässt, ist der Anspruch auf Wahrheit als conditio sine qua non in die flüchtigste Beziehung eines Gedankens eingewoben. Anders formuliert: Es ist sprechenden Wesen nicht möglich, nicht von Wahrheitsansprüchen Gebrauch zu machen. Die größte Lüge, die verstörendste Poesie teilt sich mit, indem sie in Beziehung zur Allgemeinheit des Sinns gesetzt wird. Die unumgängliche Figur der Verallgemeinerung kündet von einem Gemeinsamen in Einzelnem und Gattung, die das Symbolische in ihnen erzeugt – indem es sie voneinander scheidet und die Leerstelle okkupiert. Die erste Zumutung besteht darin, dies nicht als Subjekt-Objekt-Relation zu denken, obwohl die Sprache hier unzweideutig zu sein scheint.

Zunächst ist der Zusammenhang der Kantischen Figur des Ansinnens mit dem mehrdeutigen Begriff des Aufschubs zu beleuchten. Mit dem Ansinnen erscheint bei Kant ein impliziter Bezug auf Sprache, der einer gewissen Klärung bedarf. Ein Zwischenergebnis dieser Untersuchung wird eine im ursprünglichen Sinne des Wortes radikale Fortbestimmung des Schönen und des Erhabenen darstellen. Dem steht, wie zu zeigen ist, der fatal gültige Komplex von Kommunikation und Äquivalententausch gegenüber. Die Hinderungsgründe einer Emanzipation von Herrschaft aus der Perspektive der Sprache werden schließlich unter dem Begriff Mathem der Macht bestimmt.

1. Aufschub und Ansinnen

Dem Symbolischen eignet eine Produktivität, die keinem Autor oder dem Beschlussakt einer Gemeinschaft zuzuschreiben ist. Es gibt das Material zur Spekulation, eröffnet den Blick auf Neues, aber unsichtbar bleibt in ihm der Ursprung dieser Differenz. In der Tat sistiert nur die eigentümliche Verwiesenheit des Denkens auf die Ursache einer in Rede stehenden Wirkung sowie die abermals nur mit Gewalt aussetzbare Frage, was der Ursache ihrerseits vorangegangen sein mag. Symbole verweisen auf Symbole (Peirce 2000a, 200), die sprachliche Interpretation (und nicht nur diese) der Wirklichkeit ist ein Prozessieren in Zeichen. Charles S. Peirce bestimmt das Zeichen als ein Etwas, das eine andere Sache veranlasst, sich zu einem Objekt zu verhalten, wie dieses Etwas selbst sich zu diesem Objekt verhält. Die Sache ist im Verhältnis zu diesem Etwas ein »Interpretant«. Im Vollzug dieser Veranlassung wird der Interpretant selbst zum Zeichen, also: »Anything which determines something else (its interpretant) to refer to an object to which itself refers (its object) in the same way, the interpretant becoming in turn a sign, and so on ad infinitum.« (Peirce 1998, 2.300; dt. Peirce 2000a, vgl. 375)

Die Wirklichkeit ist in diesem Sinne die symbolische Wirklichkeit eines Ununterschiedenen, das sich deren Momente in Aufschüben als solche in Zeit und Raum erst erkennbar macht. Jacques Derrida hatte in diese Schwierigkeit mit dem Neologismus der différance eingeführt; aber auch von der Spur her und weiteren Rätseln, die entschieden nicht als Begriff oder Wort zu denken sind, ist diese Ökonomie des Differenziellen beschrieben worden. (Derrida 1988, 33f) »Bien sûr, si vous y tenez, la Chose est en même temps Non-Chose.« (Lacan 1978, 163) Es »ist« Realität, die gebietet, wie Hans-Dieter Gondek Jacques Lacan übersetzt. (Gondek 1994, 156) Die Effekte dieses subjektlosen Gebots schreiben sich – nicht ausschließlich, aber eben auch – als Sprache ins Subjekt ein. Die Geltung der Zeichen rührt nicht von einer ihnen immanenten Substanz, sondern »beruht auf ihrer gegenseitigen Stellung.« (Saussure 2001, 141) Und obwohl es der Logik widerstrebt, gibt es in der Sprache nur »Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder«. (Saussure 2001, 143)

Es ist dieser konstitutive Mangel an Präsenz »vor und außerhalb der semiologischen Differenz« (Derrida 1988, 38), der dem Symbolischen Geltung verschafft. Es ist nicht möglich, sich aus Erfahrung einen – positiven – Begriff der Ursache oder eines Subjekts zu machen, das selbst nicht wieder Prädikat eines anderen Subjekts ist. Das Sprachsystem ist nicht Funktion des Subjekts, das Subjekt ist vielmehr in das Sprachsystem eingeschrieben und geht als bewusst denkender Mensch daraus hervor. Der Gesetzmäßigkeit dieser Prozesse verlieh Kant das Signet des Apriorischen. Zur Rekapitulation eines zentralen Punkts in Kants Kritik am Humes erfahrungsbasierter Erkenntnistheorie: Die Verknüpfung der Dinge und die Ursache derselben können nicht als Erscheinung gedacht werden; was gedacht werden kann, ist die Vorstellung einer solchen Verknüpfung, »Verknüpfung der Vorstellungen in unserem Verstande und zwar in Urteilen überhaupt […]« (Kant 1993, 69f). Oder wie es in der Kritik der Urteilkraft heißt: »Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache, und geht vor der letztern vorher.« (Kant 1996, 135) Die Vorstellung hat keine letzte Referenz in der Sache; zugleich ist der Mensch lebenspraktisch gezwungen, sich in der Welt einzurichten, als ob dem so wäre.

Die Vernunft kommt um das magische Denken nicht herum; vernünftig ist nicht die Verleugnung, sondern der Magie ihren Platz einzuräumen, denn sie begegnet ohnehin immer wieder. Die Extreme verweisen hier auf die Tendenz: Nie wird gedacht werden können, wie das eigene Denken eingesetzt hat, nie, wie sein Aussetzen sich vollzogen haben wird. Die Zeitformen dieses Satzes, Perfekt und vollendete/vorweggenommene Zukunft, markieren zwei Positionen zur Subjektivität, denen Samuel Weber die Namen Hegel und Lacan zuweist. (Weber 2000, 23ff)

Der Begriff der Ursache macht Kant zufolge die Vorstellung von Erfahrung überhaupt gangbar, da er die synthetische Vereinigung der Wahrnehmungen zu denken ermöglicht; doch ist Ursache kein Ding an sich, weil Ursache als Begriff im Verstand ist, nicht außerhalb desselben. (Kant 1993, vgl. 70f) Selbst der Begriff des Begriffs ist über den Raum des Symbolsystems der Sprache, wo er synthetisierend fungiert, hinauszutreiben; die Einheit geht aus einer Differenz hervor. Insofern formiert dieses Geschehen, das Begriff genannt wird, die Erfahrung. Als Sprache ist das nicht mehr zu denken, es ist eher in dem Sinn jener hellsichtigen Aussage Freuds zu verstehen, der in seinem Entwurf einer Psychologie von 1895 den Bedarf eines Zeichens für das neuronale Geschehen registrierte: »Andererseits bedarf ψ [das System hemmender, retenierender Neuronen im Gegensatz zum System Φ; H. S.] eines Zeichens, um auf die Wiederbesetzung des feindlichen Erinnerungsbildes aufmerksam zu werden und der daraus folgenden Unlustentbindung durch Seitenbesetzung vorzubeugen. Wenn ψ diese Hemmung zeitig genug vornehmen kann, fällt die Unlustentbindung und damit die Abwehr geringfügig aus, im anderen Falle gibt es enorme Unlust und exzessive primäre Abwehr.« (Freud 1975, 332)

Wie Derrida anmerkt, verbinden sich bei Freud die verschiedenen Bedeutungen von différance, »das différer als Unterscheidbarkeit, Unterscheidung, Abweichung, Diastema, Verräumlichung, und das différer als Umweg, Aufschub, Reserve, Temporisation. […] Man kann den Ursprung des Gedächtnisses und des psychischen Lebens als Gedächtnis überhaupt (bewußt oder unbewußt) nur beschreiben, wenn man dem Unterschied zwischen den Bahnungen Rechnung trägt.« (Derrida 1988, 44) Die neuronale Organisation, die eine direkte »Unlustentbindung« vermeidet und so die Erinnerung an eine Sache von der Sache selbst zu scheiden (krinein) ermöglicht, geht ontogenetisch dem Sprechen voraus; zugleich ist dieser Prozess als die Weise denkbar, in der Sprache individuell Einzug hält. Was Freud als Bedarf des neuronalen Geschehens verzeichnet, trifft sich mit Peirce' o. g. enigmatischer Definition des Zeichens; das neuronale Geschehen kann in diesem Sinne in Korrespondenz zur Semiose gestellt werden, sofern jede nominalistische Einordnung des Zeichenbegriffs unter ein anwendendes Subjekt fallen gelassen wird.[1]

Begriffe wie Substanz, Kraft, Handlung, Realität und Ursache zielen als Verstandeswesen, Noumena, auf Kants Ding an sich – sie können dieses aber unmöglich in der Weise von Erscheinungen, Phenomena, zeigen. Realität erscheint nicht einfach, es ist der Prozess der Wahrnehmung (was auch Täuschung beinhaltet), der erscheint, keine Realität an sich. Darüber hinaus enthalten Noumena eine Bestimmung von Notwendigkeit und Allgemeinheit an sich, die es in der Erfahrung nicht gibt: Der Begriff der Ursache benennt die Regel, nach der mit Notwendigkeit aus einem Zustand ein anderer folgt – qua Erfahrung ist diese Notwendigkeit nicht zu behaupten, weil die Kette möglicher Folgen nicht abgeschlossen, damit auch nicht einsehbar ist. Dennoch enthält der Begriff diese unbedingte Notwendigkeit, die ihm, d. h. dem Denken, die Funktionsfähigkeit stiftet. (Kant 1993, vgl. 74f) Im Begriff hallt das Echo jener Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt nach, das die Utopien der Versöhnung nährt. Die drohende Dysfunktion eines infiniten Regresses, die Kant an Humes Rückführung der Erkenntnis auf Erfahrung kritisiert, entspräche einem Versagen dessen, was Freud sich vor 115 Jahren unter dem System hemmender Neuronen vorgestellt hat. Ein Wesen ohne dieses Moment innerhalb seines neuronalen Geschehens wäre vermutlich nicht lebensfähig. Der Begriff ist demgemäß wesentlich Hemmung, Aufschub und differenzierende Seitenbesetzung.

Nun beziehen sich die erwähnten Abschnitte der Prolegomena insbesondere auf die Klärung der Frage, wie reine Naturwissenschaft möglich sei, und dahinter steht die Frage »Was kann ich wissen?« Die Erkenntnis, dass der erkennbare Teil des Verhältnisses Mensch/Natur den Gesetzen unterliegt, welche die Natur des Verstandes (Kant 1993, vgl. 82) den Dingen vorschreibt und sie gewissermaßen dem Erkennen kommensurabel macht, gibt Hinweise auf die Bedingungen der Erkenntnis der menschlichen Verhältnisse und der Selbsterkenntnis. Dazu ist die synthetische Funktion, die Kant den reinen Verstandesbegriffen beilegt, als ein Spezifikum des Symbolischen zu erkennen. Die vermeintlich gültige Reinheit der Verstandesbegriffe – historisch erfahren sie eben doch eine Reduktion oder Erweiterung, was aufmerken lassen muss -, ist selbst eine Behauptung, die einer imaginären Gemeinschaft von Sprecher/innen angesonnen wird. Solches Ansinnen begegnet bei Kant in der Kritik der Urteilskraft. Die Frage nach dem kritischen Potenzial der Sprache ist demgemäß in die Frage nach der Kraft zum Urteil zu übersetzen. Es wird im Folgenden eine Revision der Begriffe des Schönen wie des Erhabenen zugemutet werden, was einer radikalisierenden Relektüre der Kritik der Urteilskraft geschuldet ist.

Mit dem logischen Urteil hat das ästhetische Urteil strukturelle Ähnlichkeit, weil »man die Gültigkeit desselben für jedermann daran voraussetzen kann«, wie Kant schreibt. (Kant 1996, 125) Da das Schöne dasjenige ist, was allerdings ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird, bezieht das ästhetische Urteil seine Geltung nicht aus der begrifflichen Erkenntnis über die Eigenschaften des beurteilten Gegenstandes. Ebensowenig beruht die Geltung des ästhetischen Urteils auf privatem Interesse und Wohlgefallen eines Einzelnen, sondern ist im Gegenteil in völliger Absenz solcher Neigungen als »in demjenigen begründet anzusehen, was er auch bei jedem andern voraussetzen kann; folglich muß er glauben Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.« (ebd.) Dieses Ansinnen ist keine Ableitung von einem Begriff, das Schöne wird nicht – wie das Gute – »durch einen Begriff als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt« (Kant 1996, 127), sondern ist subjektiv. Geltung bezieht hier ihre Kraft nicht aus der Weise, in der sich Vorstellungen auf das Erkenntnisvermögen beziehen, der Weise also, in der die Welt als sinnlich wahrgenommen wird (soweit die Begriffe dafür vorhanden sind); das in Frage stehende ästhetische Urteil betrifft als Reflexionsurteil (in Abgrenzung gegen Sinnesurteile und logisch-bestimmte) eine Vorstellung in Beziehung auf Lust- wie Unlustempfinden, seine ästhetische Quantität. Letzteres ist nichts anderes als ein neuronales Geschehen, das durch die Überschreitung einer Reizschwelle seinerseits in Gang gesetzt wurde. Die Vorstellung dieser Beziehung eines Gegenstandes auf die Empfindung ist von der Empfindung, die dieser Gegenstand auslösen mag, zu unterscheiden; es geht im ästhetischen Urteil nicht darum, Marketing für eine Sache zu betreiben und seine Mitmenschen mit einem Wellness-Versprechen in die Zustimmung zu Plunder zu schwätzen.[2] Etwas – siehe Peirce’sche Definition des Zeichens – hat also eine Reizschwelle überschritten und Erscheinung bewirkt, als ob es dem Wahrnehmenden als Bild entgegentritt. Das Etwas kann allerdings auch als Nicht-Bild entgegentreten und überführt dann in die Registratur des Erhabenen, vorausgesetzt, der Überforderte behält trotz des Scheiterns seines Formsinnes die sprichwörtlichen Nerven. Formbarkeit und Überforderung der Form markieren den Unterschied zwischen dem Schönen und dem Erhabenen in Hinsicht auf das neuronale Geschehen.

2. Kants Stimmen

Das ästhetische Urteil macht genau das geltend: Dass die Perzeption prinzipiell jedes Menschen zu dieser Konstellation herausgefordert ist. Kant bezeichnet dies als subjektive Allgemeingültigkeit, subjektive Allgemeinheit. Der Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation ist ein eigentümlicher Bezug auf Sprache, wenngleich er diesen Bezug nicht ausführt. Kant notiert, »daß in dem Urteile des Geschmacks nichts postuliert wird, als eine solche allgemeine Stimme, in Ansehung des Wohlgefallens ohne Vermittelung der Begriffe; mithin die Möglichkeit eines ästhetischen Urteils, welches zugleich als für jedermann gültig betrachtet werden könne.« (Kant 1996, 130) Die Einstimmung wird nicht postuliert, sie wird angesonnen. Die Bestätigung des ästhetischen Urteils, also: die gesuchte Allgemeinheit, stellt sich nicht über die im Marx’schen Sinne fetischisierte Instanz eines objektiven Gegenstandes her, sondern durch die Erwartung des Beitritts jener Anderen, denen das ästhetische Urteil angesonnen wird. In diesem Prozess wird die subjektive Be-Stimmung des Gegenstandes zur Stimme Egos, die sich an Alter richtet.

Da Kant sich an dieser Stelle nicht näher mit dem Komplex Sprache auseinandersetzt und den/die Leser/in mit dem Hinweis bescheided, die allgemeine Stimme sei nur eine Idee, und worauf diese beruhe, werde hier noch (!) nicht untersucht, soll diesem Beruhen nun ein wenig nachgegangen werden. Näherhin ist Alter, dieser Andere, dem im Medium der allgemeinen Stimme ein Urteil in ästhetischer Dimension angesonnen wird, zunächst nämlich gar kein Mitweltbewohner. Es muss zunächst Ego sein, dem eine Stimme unter Abzug aller privaten Empfindungen als Stimme des (lacanianisch: »großen«) Anderen entgegenkommt. Dieses Entgegenkommen ist kein bewusster innerer Dialog, es ist eine gesellschaftliche Form, die im Symbolsystem der Sprache die Stimme zum Werkzeug der Entäußerung macht.[3] Im Zuge dieser Entäußerung bildet sich die Täuschung heraus, diese Stimme sei immer schon die eigene; diese Täuschung ist freilich konstitutiv für die Möglichkeit, in Kategorien des Eigenen, des Selbst, des Ich zu denken und innere Monologe zu führen. Kurz gesagt: Die zivilisatorische Leistung, Aufschubleistungen zu erbringen, ist das, was das Beruhen auszeichnet. Mit Ruhe hat das freilich nichts zu tun, einmal grundsätzlich wegen der konstitutiven Täuschung, und dann erst recht in Ansehung des Erhabenen.

Zusammengefasst passiert hier das Folgende: Das Potenzial an Lust oder Unlust, zu dem ein Gegenstand reizt, wird im Symbolsystem Sprache bestimmt, doch nicht die Empfindung wird direkt versprachlicht, sondern das Potenzial der Reizung. In diesem Moment beschäftigt sich Ego mit dem Anderen seiner selbst; dem Ansinnen an die weltlichen Anderen geht dieses Aufheben der Empfindung voraus – selbst wenn die Anderen diesen Reiz hervorrufen. Das Reizpotenzial – die erwähnte ästhetische Quantität – treibt hier den Beginn einer Kommunikation an, die der Empfindung nicht ausgeliefert ist. Der Vorschlag sei an dieser Stelle vorweggenommen, in diesem Prozess das Potenzial der Kritik durch Sprache zu erblicken, weil die Abstinenz von direkten Lust- wie Unlustbekundungen im ästhetischen Urteil, wie zu vermuten ist, abwehrende Aggression in Reflexivität transformiert.

Doch das klärt an dieser Stelle noch nicht hinreichend auf. Diese Dialektik beherbergt eben auch ein gewisses ethos, den Kern einer ethischen Seite des ästhetischen Urteils, über die Kant indirekt Auskunft gibt (Kant 1996, vgl. 137) – obwohl das ästhetische Urteil des Schönen und des Erhabenen zunächst nichts mit Ethik zu tun hat. Da nichts dazu zwingt, ästhetische Urteile privaten Sinneseindrücken vorzuziehen, hat es den Anschein, dass einer, der die Welt darüber auf dem Laufenden hält, was ihn euphorisiert, eben keinen Gebrauch von ästhetischen Urteilen macht. Dieser Verzicht wirkt harmloser als er ist. Dann ist allerdings mit Berechtigung in Zweifel zu ziehen, ob der einstweilen durchgesetzte Vorrang der privaten Emotionsbekundung noch die Dignität der Kommunikation hat.[4]

Während beim Schönen die allgemeine Stimme ihre Unsicherheit einigermaßen im Zaume halten kann, kommt es beim Erhabenen zur Panikattacke. Der Unterschied liegt zunächst in der subjektiven Responsivität. Hat das Schöne die Brust geschwellt, so ist das Erhabene gewissermaßen atemberaubend; das Schöne initiiere das Spiel der Einbildungskraft, das Erhabene jedoch mache sich bemerkbar in einer Hemmung der Lebenskräfte, die sich im Anschluss umso stärker »ergießen«. Kant bezeichnet dies als negative Lust, die sich mit dem Gefühl der Achtung [5] verbinde.

Dieser Unterschied des Erhabenen zum Schönen durchkreuzt einen zentralen Begriff der Kantischen Konstruktion. Das Spiel von Einbildungskraft und Verstand, worauf das ästhetische Urteil des Schönen abzielt, rührt von der Zweckmäßigkeit des als schön Empfundenen. Wichtig ist, Zweckmäßigkeit nicht als positiven Befund eines durch den Gegenstand determinierten Zweckes zu lesen; das Spiel beruht gerade darauf, den Gegenstand vorzustellen, als ob dieser am Maß eines Zweckes zu seiner Form gereift sei – er ist an sich aber durch keinen Zweck bestimmt. »Die Zweckmäßigkeit kann also ohne Zweck sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einem Willen setzen, aber doch die Erklärung ihrer Möglichkeit, nur indem wir sie von einem Willen ableiten, uns begreiflich machen können. Nun haben wir das, was wir beobachten, nicht immer nötig durch Vernunft (seiner Möglichkeit nach) einzusehen. Also können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck (als die Materie des nexus finalis) zum Grunde legen, wenigstens beobachten, und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Reflexion, bemerken.« (Kant 1996, 135) Am ästhetischen Urteil wird nebenbei deutlich, dass erstens die Ordnung des großen Anderen imaginär ist, und dass zweitens die Imagination eine gewisse Notwendigkeit hat. Ein Wissen um diese Verwicklungen verstattete die Kraft zur versöhnenden Geste, zur Gabe und ließe eine andere Praxis der Kritik hervortreten.

Das Erhabene überfordert die Einbildungskraft, es entzieht sich jeglicher Zweckmäßigkeit. Damit entfällt im ästhetischen Urteil des Erhabenen die Ordnung der Form, der Mensch verhält sich hier zu seiner Überforderung. (Kant 1996, vgl.165) Während also beim Schönen eine Affinität zwischen Natur (auch künstlicher Natur) und reflektierendem Denken greifen soll – eine »subjektive Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen« (Kant 1996, 288) -, wird mit dem Erhabenen »das Verhältnis des Denkens zum dargestellten Gegenstand gestört«, wie Jean-François Lyotard anmerkt. (Lyotard 1994, 64f) Lyotard zieht daraus die Schlussfolgerung, dass das Erhabene jene heuristische Annahme einer Zweckmäßigkeit der Natur für das reflektierende Denken zerstört. Entsprechende Hinweise finden sich in der Erstfassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft; ohne es in gebotener Weise an dieser Stelle ausführen zu können, darf festgehalten werden, dass die Analytik des Erhabenen Momente birgt, die der Zweckmäßigkeit den Boden unter den Füßen wegziehen, das Erhabene »spricht [.] der Einbildungskraft das Formvermögen ab« (Lyotard 1994, 67). Allerdings ist auch anzumerken, dass diese Formulierungen von vorneherein am seidenen Faden eines Als-ob hingen; insofern gibt das Erhabene vielleicht eindringlicher als das Schöne Auskunft über die konstitutive Täuschung, die für den Aufstieg der Urteilskraft unumgänglich ist. Bemerkenswerterweise vernehme, so Kant, das überforderte Subjekt die Stimme der Vernunft, die dem Überforderten Zusammenfassung abverlangt, etwa angesichts des Unendlichen als des mathematisch Erhabenen. Dass es bei aller Überschreitung des Logischen dennoch möglich ist, zu versprachlichen, was über den Verstand geht, deutet Kant als »ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist«. Diesem Vermögen eigne die »Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet«, vielmehr als »Substrat« der Erscheinung zugrundeliegt (anstelle von Verstandeswesen als »Substrat« ist »Symbolisches« vorzuziehen, um jeder Assoziation mit ontologischen Tiefenschichten des Verstandes in nuce vorzubeugen). Damit wird die Sinnlichkeit keineswegs in die Lage versetzt, das Unendliche nun doch zu imaginieren, vielmehr wird in diesem Vernehmen der Stimme der Vernunft das »Gemüt« erweitert »welches die Schranken der Sinnlichkeit in anderer (der praktischen) Absicht zu überschreiten sich vermögend fühlt.« (Kant 1996, 177) Hier rettet also die Stimme des großen Anderen – also eine Imagination – den Überforderten.

In der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant darauf schon einmal Bezug genommen, indem »das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens« sich gegen die sinnliche Affektion in einem Akt apriorischer Einsicht durchzusetzen hatte, und zwar gegen die Selbstsucht. Dieses Einwirken auf das Gefühl erzeuge Schmerz, »und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältnis eines Erkenntnisses (hier ist es einer reinen praktischen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten.« Als Antidot gegen den Eigendünkel reduziert dieses andere Gefühl, der Stimme der Vernunft als Egos Stimme des Anderen nicht unverwandt, die Selbstliebe auf das Maß, das es gestattet, »die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze« zu erfüllen. (Kant 1998, 193) Der geforderte, der fordernde Imperativ wird vor allem dadurch kategorisch, weil er »von pathologischen, mithin dem Willen zufällig anklebenden Bedingungen unabhängig« gesetzt wird. (Kant 1998, 126) Hier nun wird zugunsten des großen Anderen Verzicht geübt.

3. Das Kommune und die Endlichkeit

Das Erhabene hat zunächst eine bedrohliche Wirkung auf die Dialektik des Ansinnens. Denn was mutet diese negative Ästhetik zu? Einsicht in die Unzulänglichkeit und Fragilität menschlicher Betrebungen – einerseits. Andererseits stärkt das Als-ob als Erinnerung an die Täuschung aber die Kritik sowohl an dogmatischen Letztbegründungen wie relativistischem Opportunismus. Diese Einsicht macht das Prinzip deutlich, dass das Sprechen, das in sich dem/der Sprecher/in wie den Angesprochenen Sinn und Ernsthaftigkeit ansinnt, keinen anderen Rückhalt hat, als diese fragilen Beziehungen der Menschen untereinander. Entscheidend ist, dass ausgerechnet diese Begründungslinie mit ihrem Offenbarungseid der konstitutiven Täuschung des Als-ob als einzige trägt – im Gegensatz zu Dogma und Relativismus. Das fällt allerdings nicht umgehend auf. Kants Einsichten zum Erhabenen führte auf die Achtung des erweiterten Gemütszustandes als einem Zuwachs an Urteilskraft – freilich unter Bedingungen, über die Kant keine Auskunft gibt: Die Überwindung der Schockstarre bedarf einer gewissen Hinwendung zu real Anderen.[6]

Ein weiteres Moment, das dem Prinzip dieses Rückhalts der Sprache hinzuzufügen ist, liegt in der Prüfung auf Verallgemeinerungsfähigkeit, die in der subjektiven Allgemeinheit der Mit-Teilung ihren Anfang hat. Eine Prüfung, die weder Dogmatismus noch Relativismus bestehen, weil deren Konstitution gerade auf dem Ausschluss ihrer Prämissen von der Allgemeinheit beruht, nicht nur als Narzissmus des Eigendünkels, sondern praktisch als Raub der Allmende, als ursprüngliche Akkumulation, kurz: als gewalttätige Unrecht vergangener Tage als Ausgangspunkt der Legitimation einer bestimmten ökonomischen Ordnung. (Marx 1983, 574f) Ein Sprechen, das solches in verallgemeinernder Absicht befürwortet, entzieht sich der subjektiven Allgemeinheit; das schlägt sich als Schädigung des Gesprochenen nieder – die Kommunion der Sprecher/innen findet nur noch ausnahmsweise statt, obwohl sie doch in Absicht stehen sollte. Die vom Narzissmus imprägnierte Weise des Sprechens kennt keine apriorische »intellektuelle Kausalität« (Kant 1998, 193) des Gefühls, in der ihr mit der Freiheit die Achtung vor der Würde zu Bewusstsein kommt. Der falsche Gemeinplatz, dass alles seinen Preis habe, zeugt davon.

Hier lässt sich nun zeigen, was das Schöne und das Erhabene in sich bergen: Das Zweckmäßige ist das Denken des Kommunen als ausstehende Menschheit; das Jenseits aller Zweckmäßigkeit ist ihre Endlichkeit. Es gehört zur Dialektik der Aufklärung die Ernüchterung über die Sinnhaftigkeit des Lebens, die zunächst vor Augen führt, dass der Mensch stirbt, dass die Menschheit irgendwann nicht mehr sein wird. Das hat entweder ein Wiederaufleben der Flucht in religiöse Sphären zur Folge oder eine Hinwendung zu einem verzweifelten Hedonismus, bei dem jeder trunkenen Feier ein melancholisches Erwachen folgt. Es ist aber gerade die Forderung nach Allgemeinheit, die in solch vermeintlicher Lebensbejahung beschädigt wird. Der kategorische Imperativ hat seine zivilisierende Stärke genau in der Forderung, die Maxime des eigenen Handelns auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit zu prüfen, und das beginnt mit der Geltungsgenese des Sprechens selbst, der subjektiven Allgemeinheit. Die Möglichkeit, diese Maxime zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung machen zu können, bezieht sich auf alle – die Lebenden, die Toten und die Ungeborenen. Die Forderung kennt keine empirische Klausel außer die Existenz sprachbegabter Wesen. Das gleichzeitige Wissen um die Endlichkeit der Menschheit, die eigene Endlichkeit als das finale Thema des Erhabenen ist dabei die Heraus- und Überforderung der Urteilskraft; je weniger das ins Auge gefasst wird, desto zersetzender schlägt dieser Mangel an Bewusstsein auf die Versuche zurück, sich und dem Anderen eine zivilisierte Verfasstheit zu geben. Es erscheint nicht von ungefähr die Würde des Menschen umso disponibler, je heftiger die Vorherrschaft der kapitalistischen Ökonomie im Namen der Zivilisation verfochten wird.[7]

Das enthebt nicht der Festlegung, der Entscheidung und der Aktion, worin Politiken nun einmal bestehen. Wie eine Schraffur zeichnet die wiederholte Einübung dieses Ethos die Konturen einer ausstehenden Ethik ab, auf die emanzipatives politisches Handeln gegründet werden kann, das die stets drohende Willkür im Bann der Aufschübe hält. Nicht von ungefähr geht das Wort bannen auf die Macht, das Wort zu führen selbst zurück. (Strauß 2010a, 77ff) 4. Kommunikation und Äquivalententausch

Die in den sozialen Verkehr eingelassene Verpflichtung zur symbolischen Rückerstattung ist der Grundton geltender Gerechtigkeitsauffassungen – ein Denken in Äquivalenzen. Eine Spur Aggression trägt diese Gerechtigkeit in sich, ein Rest Unverfugtes, etwas, das der Verfügung des Gesetzes entgeht, eine Ungerechtigkeit inmitten der Ordnung des Gerechten. Die Verteilung gemeinsam geschaffenen Reichtums nach Maßgabe vordergründig gerechter Äquivalenzprinzipien ist eine Sache, bei der es nicht mit rechten Dingen zugeht. Gerechtigkeit, das wäre inmitten dieses Unverfugten nicht »die kalkulierbare und distributive Gerechtigkeit« (Derrida 2004, 40), sondern »die Gerechtigkeit als Unkalkulierbarkeit der Gabe und Singularität des an-ökonomischen Aus-setzens an den anderen.« (Derrida 2004, 41)

Dies motiviert unausgesetzt die Frage, wie die Gewalt des Gesetzes sich von der Gewalttätigkeit unterscheiden möge. (Derrida 1996, 12f) Wie bekannt ist, kann das Äquivalenzdenken als die Pflicht zur symbolischen Rückerstattung in den endlichen Zyklus wechselseitiger Überbietung zwingen: vom »System der totalen Leistungen« zur Leistung »agonistischen Typs« (Mauss 1990, 22-25), die das System zu seiner eigenen Schranke werden lässt. Der Zwang zum Ausgleichen geht nicht auf die Dinge als Objekte des Begehrens, sondern auf die Überbietungsgeste selbst – eine Parodie der Urteilskraft, die noch in einer Hegel’schen Urszene nachhallt, in der sich das Selbstbewusstsein einem anderen konfrontiert findet, und sich im anderen Selbstbewusstsein als disloziertes Selbst erblickt: »Es muß dies sein Anderssein aufheben«. (Hegel 1988, 128) Der Aufschub des Begehrens lenkt vom Objekt auf ein Superobjekt, das recht deutlich die Konturen des allgemeinen Äquivalents zu erkennen gibt. Hier beginnt die sukzessive Heraussetzung des Geldes aus dem Gelten. Darin erfahren die Dinge keine Schätzung ihrer jeweiligen Nützlichkeit nach; sie werden vielmehr als Verkörperungen der Geltungsmacht des Schenkenden in Anschlag gebracht. Das Geschenk wird zur Waffe im Überbietungswettkampf. Das Spiel der Überbietungsgesten kann als Vermeidungsstrategie gelesen werden: Es umgeht den offenen Kampf, mit dem eigentlich leicht zu entscheiden wäre, wer der Stärkere ist. Wo das Spiel nicht in eine agonale Spirale eindreht, stiftet es also durchaus eine Ordnung, in welcher der König ein solcher ist, weil alle anderen sich als Untertanen zu ihm als König verhalten, wie Marx seiner Leser/innen in einer Fußnote im Wertformkapitel des Kapitals aufklärt. (Marx 1974, 72)

Um ein mikrologisches Moment der herrschenden ökonomischen Ordnung herauszugreifen, dessen Struktur sich nicht auf dingliche Waren allein bezeiht, sondern wiederholt in die Ware Arbeitskraft einschreibt: Indem die Leinwandware auf die Rockware als Äquivalent bezogen wird, gilt der Rock als Wertausdruck der Leinwand. (Marx 1983, 631) Die Geltung, das Ausdrückliche eines Anderen, ist in einer semiotischen Dimension Symbol: Der Rock wird durch die Metaregel des Äquivalententauschs zum Interpretant des Leinwandwertes (nicht: der Leinwand) gemacht. Unter dem spekulativen Blick durch die ökonomische Charaktermaske des Leinwandbesitzers wird der Rock in die gleiche symbolische Ordnung gezwungen, die jener Besitzer zu seiner Leinwand unterhält – er ist am Tauschwert, nicht am Gebrauchswert seiner Leinwand interessiert, das ist das Objekt des Begehrens. In dieser Hinsicht ist die Leinwand Zeichen im Peirceeschen oder ein Symbolisches im hier vertretenen Sinne. Der Rock, der sich als Interpretant zum Tauschwert der Leinwand genauso verhält wie der Blick des Leinwandbesitzers auf die Leinwand, »becomes in turn a sign«. Und dies ist nur die Seite des Leinwandbesitzers, dem in einer Reziprozität des Begehrens der Rockbesitzer ebenfalls als ökonomische Charaktermaske gegenübersteht. Hier kündigt sich nicht nur Mystizismus vermeintlich intrinsischer Werte an, dem Marx in der überarbeiteten Fassung des Kapital unter dem Signet des Fetischismus einen eigenen Abschnitt widmet. Darüber hinaus zeigt die zeichentheoretische Perspektive das Unverfugte, wenn statt Rock- und Leinwandbesitzer Kapital und Arbeitskraft Äquivalententausch qua Vertrag symbolisch besiegeln.

Dieses kleine Prozessmoment aus der Dialektik der Wertform kann in beide Zeitrichtungen zeichentheoretisch in endlose Permutationen überführt werden. Selbst solch knappe Anwendung des Zeichenbegriffs ist in sich schon gedoppelt: Denn nicht die Leinwand »veranlasst« den Rock, als Wertgegenständlichkeit ihres Wertes zu fungieren, es sind die Besitzer. Was aber sind die Besitzer? Beide Akteure verhalten sich zu ihrer jeweiligen Habe, wie je ihr Begehren sie im blinden Vollzug einer symbolisch tradierten, neuronal gebahnten Regel veranlasst hat, sich zu verhalten. Hier wendet sich das Begehren symbolisch, und die Akteure gehen »in turn« als Zeichen aus dieser Veranlassung des Begehrens hervor – als Verkörperung ökonomischer Funktionen. Sie spekulieren, aber sie wissen es nicht. In der Begegnung von Kapital und Arbeitskraft fällt diese Spekulation im Zeichen des Geldes recht einseitig aus, obwohl das symbolisch gewendete Begehren bei Einhaltung des Vertrages auf beiden Seiten gemäß der Äquivalenzregel gestillt wird.

Diese Integration ins Symbolische hängt eng mit Sprache zusammen: »Der Mensch spricht also, aber er tut es, weil das Symbol ihn zum Menschen gemacht hat.« (Lacan 1973, 117) Im Symbolischen waltet kein Unheil, erst recht keine Entfremdung; das Zivilisationshemmnis besteht vielmehr in der Undurchsichtigkeit dieser Spekulation. In der kulturell übergreifenden Regel des Äquivalententauschs ist die Tendenz zur Agonie aufgehoben, und dieses Muster erfährt eine bedeutende Transformation mit der Durchsetzung der Lohnarbeit. Unter der Bedingung des Äquivalententauschs nutzt der Kapitalbesitzer die Differenz von Arbeit und Arbeitskraft, den Unterschied zwischen den Dimensionen des Gebrauchswertes und des Tauschwertes der Arbeit aus – das ist der Kasus, wie Marx ab der zweiten Kapital-Auflage schreibt, der einen Kapitalbesitzer lachen macht. (Marx 1974, 208; Erstauflage 1983, vgl. 144) Er tauscht zu Äquivalenzbedingungen und erhält alles zurück – mit einem Überschuss. Das vergangene Unrecht der gewaltsamen Trennung der Produktionsmittel von den Produzenten ist zur Ausgangsposition gegenwärtiger Gerechtigkeit geworden.

Kapitalbesitzer heute sind gegenüber den Arbeitskräften in der exklusiven Position der Gabe, so die geltende Sprachregelung: Arbeitgeber. Die Gegengabe kann immer nur zu gering sein, nie wird auf gleicher Augenhöhe um Anerkennung gerungen, deshalb ist Rückerstattung immer nur ein Nehmen, das stets etwas schuldig bleibt: Arbeitnehmer lautet das sprachliche Komplement dieses symbolischen Platzverweises. Und diese Gabe ist knapp geworden in den vergangenen vierzig Jahren; der/die Einzelne ist gehalten, sich sehr anzustrengen, um überhaupt in die Zirkulation von Gabe/Gegengabe zu kommen, die dann wiederum nie eine gewesen sein wird. Der enteignete Mensch ist selbst das Objekt solcher Gabe geworden. Vor diesem Horizont wird deutlich, woraus die repressiven Parolen gegen Habenichtse ihre Kraft schöpfen können: Es ist nicht nur die Anwesenheit einer industriellen Reservearmee, in der Tiefenstruktur der Kultur ist es auch die symbolische Ordnung von Gabe und Gegengabe bzw. das Äquivalenzdenken.

Die Spaltung, der Doppelcharakter, selbst zugleich die Gabe und der im Darbieten der Gabe verfügende Geber zu sein, schlägt zuweilen um in subjektive Kompensation der ausstehenden Anerkennung im Gewande des Narzissmus. Das ist keine Ausgleichung in Geldwährung, sondern eine in der Währung der Geltung: in sprachlicher Form. Insofern das Muster des Äquivalententauschs in sich das alte Gesetz der symbolischen Rückerstattung birgt und dieses der Vermeidung von tödlicher Gewalt dienlich war, schleppt der enteignete Mensch in den Strukturen seines Äquivalenzverhaltens die Todesdrohung durch den Anderen mit sich. Aus dieser Perspektive ergibt die Todessimulation, das Erzittern in Todesangst, von dem Hegel im Kapitel zu Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes schreibt (Hegel 1988, vgl. 134), einen Sinn, der sonst fragwürdig geblieben wäre – bei Hegel stirbt nämlich niemand. Die Begegnung mit dem Erhabenen im vorgeblichen Kampf auf Leben und Tod lässt denjenigen gewissermaßen traumatisiert zurück, der es nicht schafft, den anderen zu überbieten. Mit dieser fleischgewordenen Disposition als einem »Gegenstand« (Hegel 1988, 134), auf den der Herrn sich in seiner Verfügungsgewalt bezieht, lässt sich durchaus rechnen.

5. Das Mathem der Macht

Es gibt in einem Gespräch, das Antonio Negri mit Gilles Deleuze 1990 für die Zeitschrift Futur antérieure führte, eine denkwürdige Stelle, die der Zwiesprache auf gewisse Weise die Grundlage zu rauben scheint. Negri sinnt Deleuze eine in Frageform gehüllte These an: Ob der Umstand, dass alle Menschen, vor allem die Unterdrückten vermöge der neuen Kommunikationsmittel das Wort ergreifen könnten, nicht die Möglichkeit der freien Assoziierung freier Individuen befördert habe. Deleuze verneint zögerlich: Die Worte, die Kommunikation seien verdorben (Deleuze 1993a, 252).

Unschwer ist diesem Dialog zu entnehmen, dass hier zwei unverträgliche Haltungen konfrontiert sind. Negri ist einer gewissen traditionellen Auffassung vom Aufstand des revolutionären Subjekts verpflichtet, das die Ausbeutung endigt und sein Selbstverständnis als Teil einer freien Assoziation auf die Kraft des Lebens gründet; Deleuze teilt diese Vorstellung nicht, weil ihm das Subjekt immer eine Figur der Beherrschung ist, gleich welcher Ordnung.

Diese kleine Episode findet deshalb Erwähnung, weil sie auf eine Spaltung verweist, die alle politischen Entwürfe der Freiheit von Herrschaft durchzieht und eben auch solche Fragen betrifft, welche Rolle Sprache als Momentum im Kampf um die (Selbst-)Befreiung spielt. Spaltung und Kairos – hier entscheidet sich, ob sich das politische Sprechen verschuldet, wo es an die narzisstische Struktur anknüpft oder ob es der Herausforderung der Gerechtigkeit gewachsen ist und sich erhaben setzt. Sich ohne fremde Anleitung des eigenen Verstandes zu bedienen, um Mündigkeit an die Stelle selbst verschuldeter Unmündigkeit treten zu lassen, beschränkt sich nicht darauf, das Wort in eigener Sache zu ergreifen, wie Negri angesichts der um 1990 relativ neuen Kommunikationsmittel hofft. Die appellative Formulierung, mit der Kant seine Leser/innen adressiert, lautet bekanntermaßen »Habe Mut« – und das ist mehr als ein verbaler Klaps auf die Schulter des Zauderers. Im hier vorgetragenen Kontext des Erhabenen ist Mut vonnöten, um im Eingeständnis der Uneindeutigkeit eine gemeinsame Praxis anzustreben. Das Ansinnen wird zur Zumutung.

Was ist nun das Verderben der Worte, wenn Deleuze damit keinen Zustand vergangener Reinheit insinuiert? Diese Wendungen sind nicht allein der Widerspruchsgeste gegen einen Fragesteller geschuldet, der sein Steckenpferd reitet. Worte und Kommunikation seien, wie Deleuze nämlich ergänzt, vom Geld durchdrungen. Diese gewissermaßen poetische Bemerkung erscheint vor dem oben skizzierten Horizont des allgemeinen Äquivalents, der Verpflichtung zur symbolischen Rückerstattung und der infiniten Verschuldung der vermeintlichen Gabeempfänger in umso stärkerem Kontrast, je kommunikativer die Minderheit ihr Modell einer enteigneten Mehrheit oktroyiert. Dies ist ein Hintersinn jener Deleuze’schen Transposition von Majorität und Minorität aus der Bedeutung eines Zahlen- in das eines Herrschaftsverhältnisses. Es wirkt nicht bloß das Versprechen zukünftiger Wohlfahrt, um einen zahlenmäßig überlegenen Bevölkerungsteil zum freiwilligen Einverständnis in eine ökonomisch inkongruente Situation zu bewegen. In dem Maße, in dem die äußeren disziplinarischen Formen der Kontrolle durch vielfältige Variationen der Selbstbeherrschung ergänzt und zum Teil abgelöst werden, verlagert sich der Sinn (nicht nur) sprachlicher Kommunikation in den einer imaginären Aufwertung persönlicher Geltung. Nicht von ungefähr hat der Topos des Narzissmus in der Epoche einsetzender Überakkumulation, der Krisen, des wachsenden Drucks auf die abhängig Beschäftigen eine merkliche Konjunktur bekommen. Mit dieser Tendenz schreiben sich Effekte ins Subjekt ein, die der manipulativen Verallgemeinerung des majoritären Selbstbildes geschuldet sind.

Die kompensatorische Wirksamkeit der symbolischen Aufwertungen des Selbst wurde andernorts am Beispiel des Humankapitalbegriffs mit dessen makroökonomischer Untauglichkeit kontrastiert, die darin Ausdruck findet, dass Investitionen ins vermeintliche Humankapital (im internationalen Vergleich der Volkswirtschaften) keineswegs automatisch in einem größeren Einkommensstrom resultieren; der Common Sense hält hier den Statistiken nicht stand, vor allem aber nicht der Systematik, die als Mathem der Ökonomie eingeführt wurde. (Strauß 2010b) Umso frappierender ist demgegenüber die Verbreitung und Durchsetzung solcher Ideologie, was sich nicht kurzschlüssig auf ein Einverständnis der Betroffenen oder eine Interiosierung gründen lässt; in dieser Hinsicht ist das Marketing der Humankapital-Industrie von der Haltung der Rezipienten zu unterscheiden. Der Zwang, sich mit dieser Sicht zumindest auseinanderzusetzen, unterscheidet sich im Kapitalismus kaum von dem, sich dem System überhaupt als Ware Arbeitskraft zur Verfügung halten zu müssen. Im disziplinarischen Gefüge war dieser Zwang wesentlich äußerlich, und ihm entging einiges. Anders unter kontrollgesellschaftlichen Bedingungen: Die vorherrschenden Organisationsformen der Arbeit und ihre rhetorischen Komplemente zwingen eine Kultur der Selbstverantwortlichkeit und fortgesetzten persönlichen Steigerung auf, die nicht geldwert abgegolten wird, sondern fortlaufend neue Standards der Wertabschöpfung einführt. Das ist im Wesentlichen die restriktive Antwort auf die sich verschlechternden Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals – unter dem ökonomischen Gesetz des sich verwertenden Wertes gibt es dazu keine Alternative.

Hier konvergieren zwei fatale Momente: Sowenig eine Arbeitskraft die formalen ökonomischen Bedingungen erfüllen kann, das Kapital seiner selbst zu sein, so wenig kann sich der/die Einzelverantwortliche einen Rückzugsort inmitten der Arbeit organisieren, an dem er/sie der disziplinierenden Instanz entgeht, die er/sie fortan selbst sein soll. Das Deutungsangebot, das diesen Zwang orchestriert, geht also über eine Arbeitsanweisung hinaus und legt die sukzessive Einpassung an ein Selbstverhältnis nahe, das hier in die Pfütze des Narzissten versenkt wird: Selbstbezogenheit, Durchsetzungskraft, Überzeugung in die Fähigkeit, sich unter veränderten Marktbedingungen neu erfinden (!) zu können – faktisch: Entsolidarisierung, Ellenbogenmentalität, Ich-Schwäche. Arbeit trägt in sich die unausgesetzte Arbeit am Selbst, bloß dass sich hier kein Hegel’scher Knecht am Gegenstand der ihm aufgezwungenen Arbeit selbst bildet, zu Bewusstsein kommt und den Herrn überwindet. Es versteht sich, dass die Erfüllung dieser Anforderung nicht oder nur unter sehr speziellen Bedingungen vorgetäuscht werden kann, wie einst Arbeit in Leerlaufphasen den patrouillierenden Chefs mit dem Besen in der Hand vorgetäuscht wurde. Allerdings versteht sich auch, dass nicht jede/r dieser psychischen Umwandlung gewachsen ist. Doch wirkt der Anspruch, wie Deleuze mit Befremden feststellt: »Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, ›motiviert‹ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung; an ihnen ist es zu entdecken, wozu man sie einsetzt, wie ihre Vorgänger nicht ohne Mühe die Zweckbestimmung der Disziplinierungen entdeckt haben.« (Deleuze 1993b, 262) Die Umsetzung dieses Kontrollregimes vollzieht sich wesentlich sprachlich, Selbstmanagement ist – dem Anspruch nach – ein monologisches Verfahren, Anweiser, Motivator und strenger Richter seiner selbst zu sein. (vgl. Bröckling 2007) Es wurde an erwähnter Stelle mit Blick auf einschlägige Untersuchungen bezweifelt, dass diese Umsetzung ökonomisch optimal verläuft – was einer nahtlosen Realisierung der Interessen der (echten) Kapitalbesitzer gleichkäme. Die praktische Unausgegorenheit und widersprüchliche Mehrdeutigkeit der gegenwärtigen Ideologie, die Überforderung der Beteiligten bis zum Zusammenbruch, formt neben dem klaren Interesse der Kapitalbesitzer ein Gefüge, das als Mathem der Macht zu bezeichnen ist, um dem Unterton der erwähnten Berechenbarkeit einen Namen zu geben.

Dieses ist gegen das Mathem der Ökonomie abzugrenzen. Letzteres bezeichnet eine subjektlose Komputation, die Arbeitswertquanten im Symbolsystem des Kapitals (grob: alles, was sich um den Topos des Geldes situiert) integriert und den unhintergehbaren Horizont für die unerwünschten Nebenfolgen bewussten unternehmerischen Handelns darstellt. Da die herrschende ökonomische Denkungsart nichts von einer Arbeitswertlehre wissen will, bleibt der Zusammenhang einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und der daraus algebraisch resultierenden Verwertungsbeschränkung des Kapitals wie die Krisenphänomene, in denen sich dies ausdrückt, schleierhaft. Der Krise der Verwertung wird mit der nicht nur verbalen Mobilisierung ungenutzter Ressourcen zur gesteigerten Verwertung begegnet, bis zur nächsten Krise. Diese kurzsichtige Weise, die Angelegenheiten des Überlebens zu regeln, wird von einer Algebraik des Systems konterkariert, hinter der kein Mastermind steht. Das Kapital ist auch im zeichentheoretischen Sinne ein Automat. Peirce’sche Auffassung, die Schöpfung einer selbstregulierenden zeichenverarbeitenden Maschine, »die folgern kann, wie der menschliche Geist folgert« (Peirce 2000b, 333) sei unmöglich, ist nur insofern wahr, als sich derlei bewusster menschlicher Planung entzieht; in gewisser Weise schafft sich diese Maschine selbst, indem der menschliche Geist sich ihr mimetisch anschmiegt. Das Mathem der Macht verschränkt sich an diesem Punkt mit dem Mathem der Ökonomie.

Die Wahl des Begriffs Mathem unterscheidet sich von Lacans Verwendung, weil hier nicht die bewusste Notationsweise in den Blick genommen wird, sondern die Weise, in der sich Symbolisches als neuronales Geschehen einschreibt; das ist freilich nur eine Metapher, für das Reale solchen Geschehens herrscht Bilderverbot, und zwar aus guten Gründen, wie mit Blick auf das begriffliche Durcheinander der bildgewaltigen Neurowissenschaften festgestellt werden darf. Das Mathem der Macht zeigt sich, wo immer eine Manipulation greift. Die spezifische Berechenbarkeit des Menschen, welche mit der Macht einhergeht, unterstellt keineswegs eine algebraische Systematik, wie sie das Mathem der Ökonomie prägt. Vielmehr fungiert der Begriff als Index einer bestimmten Erbschaft der »mythologisierende[n] Gleichsetzung der Ideen mit den Zahlen« (Horkheimer/Adorno 1995, 13). Dieses Selbstmissverständnis, dem Horkheimer und Adorno die Erosion des mythologischen Ethos diagnostizierten, hat seine funktionale Produktivität nicht erlangt, weil in Wirklichkeit alles Fraktal und Mandelbrot wären, sondern weil der Mensch sich imaginiert, als ob er durch die Objekte seines Begehrens eine ursprüngliche Identität zurückerlangen könnte, wo nie eine gewesen ist. Zwischen diesen Polen oszilliert die Persönlichkeit in gesetzmäßig selbst verschuldeter Unmündigkeit, und das macht sie berechenbar. Es gibt also mehr als die algebraische Art von Berechenbarkeit.

Im Spracherwerb entfaltet sich zunächst tentativ Berechenbarkeit in Vorwegnahme fremden wie eigenen Handelns, als neuronales Geschehen ist sie eine unabdingbare Eigenschaft zivilisatorischer Prozesse. Es kann sich auf dieser Ebene nicht um einen Missbrauch von Sprache handeln; der Symbolismus der Sprache entfaltet vielmehr eine Welt, in der Machteffekte in dem Moment erst entstehen, wenn sie sich einschreiben. Von bewusst ausgespielter Macht kann erst die Rede sein, wenn eine Kommunikation von vorneherein durch Rücksichten verstellt erscheint, insofern die alternativen Züge im Spiel der divergierenden Begehrungen von Alter und Ego von einer Seite vorweggenommen werden. Der Übergang vom Ansinnen zur Insinuation ist fließend. Die alte Kunst der Rhetorik beruht auf dieser Einsicht, die Berufsstände der Spindoctors und Marketingstrategen sind daraus hervorgegangen. Die klassenmäßige Organisation der Verfolgung von Partialinteressen, die unmöglich verallgemeinert werden können, weil ihre Durchsetzung gerade in der Nichtverallgemeinerbarkeit besteht, bei gleichzeitiger Behauptung, im Allgemeininteresse zu handeln, ist das Meisterspiel mit dem Mathem der Macht. Allerdings erliegen die Strategen der Faszination ihres Spiels, d. h., sie erliegen selbst dem Mathem der Macht mit Notwendigkeit, weil sie an die gewissermaßen algebraische Richtigkeit ihrer Manipulationen glauben müssen, deren Wesen jedoch nicht algebraisch ist. Hier enträt die vom Geld verdorbene, die verkannte Sprache, den berufsmäßigen Manipulateuren, was sich in den westlichen Demokratien nicht zuletzt in sinkender Wahlbeteiligung niederschlägt. Was die Adressaten der Manipulation einstweilen gelernt haben, ist, nicht länger als Mittel für fremde Zwecke zu dienen; was fehlt, ist die allgemeine Einsicht in die Unmöglichkeit, sich selbst als Mittel für vermeintlich selbst gesetzte Zwecke zu verwenden. So wird der deformierte Charakter des Narzissten Massenphänomen, und die manipulativen Interventionen kommen abgefälscht ins Spiel. Kants kategorischer Imperativ ist eine Form der Selbstregulation, die in durchaus berechnender Weise den stets drohenden Willen, den Anderen zum Mittel für fremde Zwecke umzumodeln, an die Kette legt. Die Kritik, die im trüben Lichte der Lebenserfahrung derlei für untauglich erklärt, griffe zu kurz. Der entscheidende Punkt ist, dass es prinzipiell die Möglichkeit gibt, das je eigene Machtpotenzial über andere zu begrenzen. Das hängt nicht von einem bestimmten Wertekanon ab, sondern paradoxerweise gerade von der Einsicht in die Unmöglichkeit, die Verallgemeinerbarkeit, die hierin gefordert ist, wirklich einzulösen. Diese Einsicht zwingt – abermals – Erhabenheit auf. Der Hintersinn ist, dass sich im kategorischen Imperativ immer subjektive Allgemeinheit birgt, weil hier die Gültigkeit einer Weltauffassung immer mit angesonnen wird. Ein bewusster Missbrauch der Sprache schlägt sukzessive auf den Sprecher selbst zurück – nicht erst durch Aufdeckung seiner eigennützigen Lüge; die Geltung seiner Begriffe ist ihm selbst ambivalent.

Was aber bedeutet das alles in Bezug auf eine ökonomische Formation, die einen wachsenden Teil abhängig Beschäftigter in die Lage manövriert, ideologische Mantras zu verinnerlichen, um irgendeinen Ausweg aus bestehenden oder drohenden Engpässen zu finden – die also zu einer Art Münchhauseniade motiviert? Der grundlegendste und älteste Zug ist in diesem Spiel zunächst die Isolierung der Akteure, heute im Gewande der Eigenverantwortlichkeit – divide et impera. Der vordringliche Gegenzug bestünde darin, das Kommune der Kommunikation wieder herzustellen, nicht im Register einer vermeintlichen Schönheit der Seele, sondern in Anbetracht der Herausforderung des Erhabenen. Die vermeintliche Alternativlosigkeit der herrschenden Verhältnisse, die tatsächlich die Verhältnisse sind, in denen sich Herrschaft alternativlos zu setzen vermag, fordert genau zu solcher Erhebung heraus. Proklamierte die Kritik am Bestehenden bloß ihre alternative Version der Realität wider die Herrschaft, sie bräuchte nicht Sätze, sondern Brandsätze, und tragischerweise ist sie historisch zuweilen solcher Wahlmöglichkeit überhaupt beraubt. So ist denn auch das Problem kaum, Machthabende überzeugen zu müssen, von der Ausbeutung abzulassen. Die Einsicht in die Figur des Ansinnens stellt eine Herausforderung an die Masse der Minoritären, die gemeinsam ihre Geschicke in die Hand nehmen müssen, und zwar jenseits der Wiederholung der Urszene in Gestalt von Terror und Rache, die immer ins Leere laufen und das Modell der bekämpften Autorität restaurieren. (Derrida 2004, 39) Notwehr, das ist etwas anderes. (Žižek 2010, 14f) Es geht vielmehr um eine Zusammenführung von Erkenntnisfähigkeit und An-Erkennung. Der Blick des Anderen, der die subjektive Allgemeinheit erst hervorbringt, entbirgt sich als Blick auf die »Menschheit« (Kant 1998, 263) im ansinnenden Subjekt selbst. Das hat zuallererst Geltung. Nicht der wieder und wieder stilisierte heroische Kampf gegen die väterliche Autorität des Ausbeuters steht auf der Agenda, sondern die Einübung eines Ethos, durch das sich die Minoritären in die Lage versetzen, zuvorderst einander den Respekt, die Geduld und Nachsicht zu verstatten, die eine Kommunikation möglich macht, damit die Kritik an der widersinnigen Einrichtung der Welt praktisch werde.

Literatur

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Žižek, Slavoj (2010). Zeit der Monster. Le Monde diplomatique, November 2010, 14-15.

Endnoten:

[1]

Peirce' Begriff des Zeichens soll univok mit Symbol verwendet werden, obwohl es neben Ikon und Index eine Klasse des Zeichens bildet; Denken, so Peirce, vollziehe sich in der Integration dieser Klassen, wobei das Symbol überwiege, was Peirce dazu veranlasst, das integrierte Ganze als Symbol zu bezeichnen; um die Differenz zwischen Klasse und Integral zu wahren, soll an dieser Stelle der Begriff des Symbolischen als Integral der analytischen Klassen Verwendung finden. (Peirce 2000a, 200).

[2]

Kant spart in Erläuterung der Sache übrigens keineswegs an Invektiven, in allen Versionen der Schrift heißt es »abschwatzen«, »beschwatzen«, »aufschwatzen«. KU, B26

[3]

Es gibt noch andere gesellschaftliche Formen, und zwar: soviele, wie es Symbolsysteme gibt.

[4]

Unter diesem Gesichtspunkt ist eine bestimmte Art der Nutzung von social media als Affektökonomie zu betrachten.

[5]

Achtung ist freilich als ein zunächst unterwerfendes Moment zu verstehen, das im alten Wort Acht im Vordergrund steht; es korrespondiert recht gut mit der Bedeutung des englischen awe. Nicht von ungefähr lautet die pönale Formel »in Acht und Bann tun«.

[6]

Die Begegnung mit dem Erhabenen kann durchaus auch traumatisch sein.

[7]

Notabene wäre dies die Grundlage einer im Wortsinne radikalen Kapitalismuskritik, die eben nicht normativ zwischen echten und falschen Bedürfnissen unterscheidet, sondern nach dem Beitrag der Warenwirtschaft in Sachen Zivilisation fragt.

Autorenhinweis

Harald Strauß

Harald Strauß, Soziologe M.A., z. Zt. Promotionsverfahren am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin. Freier Publizist, Schwerpunkte: Politische Ökonomie, Semiotik, Erkenntnistheorie.

E-Mail: harald.strauss@fu-berlin.de