Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen in einer klinischen Ambulanz: Anspruch und Wirklichkeit

Christiane Kiese-Himmel & Marcus Reeh

Zusammenfassung

In einem 3-Jahreszeitraum haben die Phoniater/Pädaudiologen der (inzwischen aufgelösten) Abteilung Phoniatrie/Pädaudiologie (Universitätsmedizin Göttingen) – der vor allem Kinder von niedergelassenen Kinder-, HNO-Ärzten oder Allgemeinmedizinern überwiesen werden – 29 Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen zur psychologischen Diagnostik (Testung) abteilungsintern vorgestellt. Offensichtlich sahen sie wenig Notwendigkeit für eine psychologische Diagnostik/Differentialdiagnostik dieser Klientel – obgleich eine solche gemäß ICD-10 mit Ausschluss- und Diskrepanzkriterien vorgesehen ist. Allein 55 % dieser sinnesgesunden, sprachgestörten Kinder (16/29) wiesen komorbide Besonderheiten bzw. Begleitstörungen auf, deren Relevanz für die individuelle Entwicklung schwerlich von einer Berufsgruppe allein überblickt werden kann. Bei den psychologisch vorgestellten Kindern wurde phoniatrischerseits primär eine normorientierte entwicklungspsychologische Diagnostik nach vermeintlich wenig erfolgreicher Sprachtherapie erbeten, 19 Kinder wurden als Therapie-Non-Responder bzw. zur Klärung der Frage einer Fortsetzung der logopädischen Therapie, ggf. Abklärung eines anderen Förderbedarfs vorgestellt. Mögliche Gründe für die niedrige Überweisungsrate an Psychologen werden diskutiert mit dem Ziel, einer praktisch stärkeren Integration psychologischer Fachkompetenz in der Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen näher zu kommen.

Schüsselwörter: Kinder, psychologische Diagnostik, Sprachentwicklungsstörung, Überweisung, Interdisziplinarität

Summary

In a 3-year period, 29 children with language impairments – referred to the former Department of Phoniatrics and Pediatric Audiology (University Hospital Goettingen; in the meantime closed) by practicing paediatricians, otorhinolaryngologists or general practitioners – were presented for psychological examination (testing) by the phoniatric doctors. Of these language impaired-children, 55% (16 of 29) had comorbid dysfunctions or associated disorders. Their relevance for the individual development of a language-impaired child can hardly be observed respectively diagnosed by only one professional group. However, the phoniatric doctors within the Department saw little need for professional psychological diagnostics/differential diagnostics in this clientele, although such is obligatory according to ICD-10 having regard to exclusion and discrepancy criteria. In the majority of cases, the selective psychological referral to norm-referenced developmental diagnostics came after supposed unsuccessful language treatment. Nineteen children were introduced to the psychologist as therapy-non-responders respectively to clarify the question whether the language therapy should be continued or to investigate special educational needs. To achieve the aim of a stronger integration of psychological professional competence in the diagnostics of developmental language disorders reasons for the low rate of referrals to clinical psychologists are discussed together with possible implications.

Keywords: Children, psychological diagnostics, developmental language disorder, referral, multidisciplinarity

Einleitung

Phoniatrie und Pädaudiologie ist seit 1993 ein selbständiges medizinisches Fachgebiet für die Pathophysiologie der Kommunikation (vgl. Wendler 1993) im Gebiet der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde mit interdisziplinärem Profil und Schnittstellen zur Musikermedizin. In die Facharztkompetenz von Phoniatern/Pädaudiologen fallen Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von Stimm-, Sprech-, Redefluss-, Sprach-, Schluckstörungen sowie von Hörstörungen im Kindesalter (z. B. Schönweiler 2007). Die interdisziplinäre Verortung von Phoniatrie und Pädaudiologie spiegelt sich im klinischen Alltag in der Kooperation mit verschiedenen Disziplinen, insbesondere Logopädie, Pädagogik einschließlich ihrer Fachgliederungen, Linguistik mit den Subdisziplinen Psycholinguistik, Entwicklungspsycholinguistik, Neurolinguistik, Soziolinguistik, aber auch mit anderen medizinischen Fächern (z. B. Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kieferorthopädie, Kieferchirurgie, Neurologie) sowie mit der Psychologie. »Ohne kompetente Disziplinen keine überzeugenden interdisziplinären Leistungen« (Wendler 1993, 136).

Psychologie in Phoniatrie und Pädaudiologie

Der klinische Stellenwert der Psychologie in Phoniatrie und Pädaudiologie gründet vor allem in einer ganzheitlichen Diagnostik von Schwächen und Stärken, indem kognitive, motorische, psychische und soziale Facetten wie auch das Lebensumfeld des Patienten berücksichtigt werden und nachgeordnet in Beratung und Therapie. Ein gutes Beispiel hierfür sind Kinder mit Störungen in der Sprachentwicklung – eine heterogene Gruppe mit komplexem Störungsbild und unterschiedlichem Entwicklungsverlauf (Kiese-Himmel 2008).

Eine Sprachentwicklungsstörung liegt bei signifikanten zeitlichen und inhaltlichen Abweichungen von der normalen Sprachentwicklung im Kindesalter vor. Auf Grund der großen Variabilität in der Sprachentwicklung ist die Identifikation von Sprachentwicklungsstörungen nicht leicht. Dies gilt gleichermaßen für umschriebene, also isolierte, Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (UES; F80; Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kpt. V (F)) wie für Sprachentwicklungsstörungen im Zusammenhang mit anderen Entwicklungsstörungen oder Primärerkrankungen (z. B. Sinnes-, Intelligenz-, Mehrfachbehinderung, Syndrome, neurologische Störungen). Gemäß der von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) veröffentlichten Leitlinien (Dt. Gesellschaft f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie 2003 sowie der Dt. Gesellschaft f. Phoniatrie und Pädaudiologie 2008) schließt die Diagnostik und Therapie von Sprachentwicklungsstörungen interdisziplinäre Kontakte ein. Goorhuis-Brouwer und Wijnberg-Williams (1996) betonen, dass die Diagnose UES des Sprechens und der Sprache nur durch ein interdisziplinäres Team nach eingehender ärztlicher und psychologischer Untersuchung gestellt werden sollte, ähnlich auch Kiese schon 10 Jahre früher: »Die hier verlangte Diagnostik und Differentialdiagnostik […] ohne sprachpsychologische Diagnostik nicht abgesichert bzw. gar nicht möglich« ist (1986, S. 8).

Ca. 10 % aller Kinder haben gravierende Entwicklungsprobleme, chronische Erkrankungen oder Behinderungen (Bode 2007). Spracherwerbsstörungen im Kindesalter machen einen recht großen Anteil der Entwicklungsstörungen aus; bis zum Schulbeginn sind sie die häufigste Entwicklungsstörung. Allein UES des Sprechens und der Sprache (ICD-10 F80.0 – F80.2) treten bei knapp 8 % der Kinderpopulation auf (Tomblin et al. 1997; Grimm 1999); die hinzu kommende Prävalenz von Spracherwerbsstörungen bei Komorbidität wird auf annähernd 3 % geschätzt (Kany & Schöler 2007), wenngleich die Zahl wahrscheinlich zu niedrig angesetzt ist; allein für Schallleitungsschwerhörigkeit durch Tubenventilationsstörungen wird eine Prävalenz von 10 bis 20 % im Vorschulalter und 5 bis 10 % im Schulalter angenommen (Northern & Downs 2002). Die Öffentlichkeit ist – nicht zuletzt angeregt durch den PISA-Schock in 2001 – für das Thema Sprache als Schlüsselfähigkeit sensibilisiert. Inzwischen wurden auf bildungspolitische Initiative der Bundesländer hin landeseigene, flächendeckende Sprachstandsfeststellungen (als Test oder Beobachtungsbogen) entwickelt, die in Kinderstätten eingesetzt werden, um bei Kindern mit Sprachdefiziten die Zeit vor der Einschulung zur Sprachförderung nutzen zu können. Die Bundesbildungsministerin Annette Schavan forderte 2008 für alle Kinder ab 4 Jahren verbindliche Sprachtests im Kindergarten – vor allem bei Kindern mit Migrationshintergrund, um Defizite frühzeitig zu erkennen. Spracherwerbsprobleme können sich schlimmstenfalls auch in umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (ICD-10 F81) fortsetzen und dauerhafte Auswirkungen auf die kognitive, psychosoziale, schulische und berufliche Entwicklung haben, wie Longitudinalstudien gezeigt haben (z. B. Aram & Nation 1980; Aram et al. 1984; Felsenfeld et al. 1992; Conti-Ramsden et al. 2009a,b). Kiese-Himmel schrieb bereits 1993: »Die Beobachtung und Beurteilung des sprachentwicklungsrückständigen Kindes ist […] eine fortlaufende Aufgabe« (20).

Fragestellung

An der Abteilung Phoniatrie/Pädaudiologie (Universitätsmedizin Göttingen) waren vor allem drei Fachdisziplinen vertreten Phoniatrie/Pädaudiologie, Logopädie und Psychologie. Neben der Leiterin der Funktionseinheit Psychologie arbeiteten dort im auswertungsrelevanten Zeitraum zwei weitere Diplom-Psychologen und eine Psychologie-Studierende als Hilfskraft. Am Beispiel psychodiagnostisch vorgestellter Kinder mit gestörter Sprachentwicklung in der genannten klinischen Ambulanz in einem definierten Zeitfenster werden Vorstellungsanlass und Untersuchungsgeschehen ausgewertet und analysiert. Kinder mit permanenten Hörstörungen, deren sensorische Beeinträchtigung elektroakustisch versorgt wurde, sind in diesem Kollektiv nicht enthalten.

Ergebnisse

Im Zeitraum Juni 2005 bis Juni 2008 haben die Phoniater/Pädaudiologen der ehemaligen Abteilung Phoniatrie/Pädaudiologie (Universitätsmedizin Göttingen) – der vor allem Kinder von niedergelassenen Kinder-, HNO-Ärzten oder Allgemeinmedizinern überwiesen werden – 29 monolingual deutschsprachig aufwachsende Kinder (16 Jungen, 13 Mädchen) im Alter von 3;4 bis 11;8 Jahren (überwiegend 4- und 5-Jährige) zu einer selektiven entwicklungspsychologischen Diagnostik abteilungsintern vorgestellt (Grundgesamtheit der in der Abteilung im genannten Zeitraum mit Verdacht auf SES vorgestellten Kinder: n=1341). Nicht-Schulkinder (n=21 Kindergartenkinder) überwogen gegenüber Schulkindern (n=7 bis zum 4 Schuljahr; n=1 häusliche Betreuung). Zwei Kinder kamen aus Migrantenfamilien, in denen die Eltern außer Deutsch auch ihre jeweilige Heimatsprache (Russisch; Polnisch) sprachen.

Alle 29 Kindern waren sinnesgesund; 16 von ihnen hatten neben der Sprachstörung komorbide Besonderheiten (z. B. eine kombinierte Entwicklungsstörung, ein Syndrom, umschriebene Entwicklungsstörungen im motorischen Bereich, ein Verdacht auf eine tief greifende Entwicklungsstörung [Störungen aus dem autistischen Spektrum], ein auffälliges sozial-kommunikatives Verhalten, Trennungsangst, sozial-emotionale Schwierigkeiten, Ein- und Durchschlafprobleme, eine Dyskalkulie oder eine ADHS).

Typische Vorstellungsanlässe (in absteigender Häufigkeit) waren: Ausschluss einer Intelligenzminderung (n=29); Frage zur Indikation der Fortsetzung der ärztlich verordneten logopädischen Behandlung bei geringem Therapiefortschritt (n=19); insbesondere bei Kindern mit einer Gesamtverordnungsmenge von 60 Therapieeinheiten. Es sollte eine altersnormorientierte Entwicklungsdiagnostik durchgeführt werden, um ärztlicherseits die lt. Heil- und Hilfsmittel-Richtlinien erforderliche Beurteilung vornehmen und die Ausstellung einer Folgeverordnung rechtfertigen oder verweigern zu können, z. B. weil es Rehabilitationsmaßnahmen i.S. von sonderpädagogischem Förderbedarf einzuleiten galt. (Anmerkung: Wenn die Gesamtverordnungsmenge erreicht ist, ist eine weitere Behandlungsverordnung begründungspflichtig und durch die Krankenkasse des Patienten genehmigen zu lassen); Frage nach Empfehlung für die Art der Kindergartenförderung bzw. Beschulung (n=5).

Zur diagnostischen Bearbeitung dieser Anfragen stellten sich die Psychologen aus den zur Verfügung stehenden Instrumenten »selbstgeschneiderte Untersuchungssets« i. S. einer konsistenten eklektischen Untersuchungsbatterie zusammen. Die Untersuchungen waren deutlich testlastig. Häufig wurden zur Untersuchung bestimmter Funktionen Subtests aus verschiedenen Testverfahren herausgegriffen (z. B. standardisierte Testmaße des Kurzzeitgedächtnisses wie »Zahlen- oder Wortspanne«), wenngleich die Durchführung isolierter Untertests aus methodischen Gründen (Reliabilität und Validität) nicht empfehlenswert ist. Pro Kind wurden zwischen drei und 18 Tests respektive Subtests, im arithmetischen Mittel 8,1 (SD 3,3), angewendet und mehrheitlich wurden hiernach defizitorientiert Teilleistungen beschrieben. Es erfolgten primär Statusmessungen.

Mit Ausnahme von drei Kindern wurde bei allen Kindern die allgemeine Intelligenzhöhe mittels eines nonverbalen eindimensionalen Verfahrens abgeschätzt. Mit solch einem Verfahren werden sprachentwicklungsgestörte Kinder nicht benachteiligt, weil es zum Anweisungsverstehen und zur Lösungsangabe keine sprachlichen Fähigkeiten verlangt (»Testfairness«). Diese Untersuchung diente der orientierenden Feststellung, ob ein sprachentwicklungsgestörtes Kind überhaupt in der Lage war, die Therapieanforderungen kognitiv zu bewältigen. Bei einem Kind (mit allgemeiner Entwicklungsverzögerung) war die sprachfreie Intelligenzmessung wegen mangelndem Anweisungsverstehen nicht möglich, bei einem anderen Kind wurde wegen Verdacht auf Hochbegabung auf eine orientierende Intelligenzmessung verzichtet, und bei einem knapp 7-jährigen Kind auf Grund seines Lebensalters ebenfalls gleich eine differenzierte Erfassung seiner Intelligenzstruktur vorgenommen.

Durch die Schwerpunktsetzung auf eine symptomorientierte Diagnostik fanden Sozial- und Spielverhalten, kommunikative und psychische Besonderheiten der Kinder wenig diagnostische Berücksichtigung. Einschätzungen des psychosozialen Funktionsniveaus durch standardisiert erhobene Selbst-, Fremd-, Eltern-, ggf. Lehrerurteile unterblieben häufig. Nur in wenigen Fällen fand eine bedingungsanalytische Abklärung der Sprachenwicklungsproblematik statt (psychologische Erklärung für Störungen, individuelles Krankheitsmodell). Die Phoniater/Pädaudiologen präferierten eine (weiterführende, entscheidungsorientierte) Diagnostik anderenorts (z. B. Sozialpädiatrisches Zentrum oder Kinder- und Jugendpsychiatrie, nach Möglichkeit wohnortnah) – sofern nicht bereits geschehen. 8 der 29 Kinder kamen von einem SPZ, wo sie wegen anderer Fragestellungen vorgestellt waren, was zeigt, dass diese interdisziplinären Einrichtungen den Psychologen in Phoniatrie und Pädaudiologie durchaus eine besondere sprachdiagnostische Kompetenz zusprechen.

Die Vernetzung der Ergebnisse mit fachärztlichen und logopädischen Befunden gelang nicht in wünschenswertem Ausmaß, weil nur selten logopädische Berichte zum Therapieverlauf vorlagen bzw. nur in Einzelfällen Rücksprache mit den externen Therapeuten möglich war. In Folge dessen konnten Hypothesen zur Frage eines Ko-Therapeuten oder Therapeutenwechsels gar nicht erst geprüft werden. Sofern Sprachentwicklungsstörungen bei Komorbidität vorhanden waren, musste vorwiegend auf entsprechende Elternangaben vertraut werden.

Lediglich in 2 von 29 Fällen wurde eine psychologische Verlaufsdiagnostik erbeten; überwiegend blieb es somit bei der einmaligen psychologischen Vorstellung, nach Möglichkeit an einem Untersuchungstermin mit Pausen, auf Grund fehlender Refinanzierung. Das deckte sich nicht selten mit dem Interesse der Eltern eines Kindes, da diese lange Anfahrten von ihrem Wohnort hatten (teilweise bis 100 km).

Diskussion

In einem Zeitraum von 3 Jahren wurden in der Abteilung Phoniatrie/Pädaudiologie (Universitätsmedizin Göttingen) 29 Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen abteilungsintern zur Psychodiagnostik von den dort tätigen Fachärzten weitergeleitet, primär im Rahmen ihrer Rolle als Kontrollinstanz zur Beurteilung des Erfolgs der Sprachtherapie. Offensichtlich sahen die Kommunikationsmediziner wenig Notwendigkeit zu einer (gemäß ICD-10) differentialdiagnostischen oder ergänzenden psychologischen Untersuchung bei diesem Störungsbild.

Die Überweisung an die Psychologie war kaum hypothesengeleitet, eine eher wenig systematische Vorstellung, um die Folgeverordnung bzw. Nichtfortführung von Sprachtherapie durch Normabweichungen aus der Entwicklungsperspektive begründen zu können. Dieses Anliegen kann psychologischerseits aber nur mit einem umfassenden Verständnis der individuellen Sprachentwicklungsstörung, des störungsspezifischen Therapieansatzes, der Kenntnis des bisherigen Therapieverlaufs und anderer therapierelevanter Gegebenheiten aus dem Lebensumfeld des Kindes angemessen bearbeitet werden. Für therapeutische Empfehlungen ist zu dem die genaue Kenntnis von Sprachbehandlungsprogrammen nötig. Auf Grund wirtschaftlicher Rahmenbedingungen (möglichst nur ein Diagnostiktermin) konnten auch die Psychologen eher selten Hypothesen zu den Kindern und der Entwicklungsgeschichte ihrer Sprachentwicklungsstörungen aufstellen; nur vereinzelt wurden entwicklungspsychopathologische Modelle in Ansatz gebracht (wie bindungstheoretische Erklärungsmodelle) oder das adaptive Potential eines Kindes in Gestalt von protektiven Faktoren, Risikofaktoren oder Vulnerabilität untersucht.

Trotz des Anspruches der Psychologie, menschliches Erleben und Verhalten hypothesengeleitet zu verstehen und zu untersuchen, gingen die Psychologen primär messtheoretisch orientiert (somit reduktionistisch) vor, weil die Ärzte eine quantitativ-normorientierte Befunderhebung erwarteten. Doch Psychodiagnostik sollte sich nicht auf die Erhebung von Testbefunden beschränken. »Gerade in der klinisch-psychologischen Arbeit mit kommunikationsgestörten Patienten ist das teilnehmende Erleben auf dem Hintergrund theoretischer Konzepte Voraussetzung erfolgreicher psychologischer Arbeit« (Motsch & Kiese 1991). Ein quantifizierendes-psychologisches Untersuchungsvorgehen darf nicht eine ideografisch-phänomenologische Sichtweise verbauen.

Sprachentwicklungsstörungen und ihre Bedeutung für die Nutzung kommunikativer Fertigkeiten werden im Curriculum eines Psychologiestudiums – wenn überhaupt – lediglich angedeutet, als Randerscheinung der Entwicklungspsychopathologie oder Klinischen Entwicklungspsychologie. Der »klassische« Psychologiestudent hat im Verlauf seines Studiums i.d.R. keine Berührungspunkte mit dem Fach Phoniatrie/Pädaudiologie. So vermag er schwer die psychosoziale Dimension von Sprachentwicklungsstörungen hinreichend zu erfassen und deutlich zu machen. Hinzu kommt, dass sich die spezifische klinisch-psychologische Kompetenz nicht durch entsprechende Kapitel aus Lehrbüchern der Klinischen Kinderpsychologie (z. B. Esser 1996) oder Klinischen Entwicklungspsychologie (Oerter et al. 1999) erwerben lässt; dort sind selten spezifische Kapitel zu Sprachentwicklungsstörungen und eher rudimentäre Modelle und Erklärungsansätze zu UES des Sprechens und der Sprache zu finden. In Lehrbüchern der Kinder- und Jugendmedizin (z. B. Schmidt 2004) wiederum werden UES, insbesondere rezeptive Sprachstörungen und Lese-Rechtschreibschwäche, unter »wichtige psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen« aufgeführt, mit dem Tenor, dass sie »ein hohes Risiko für psychiatrische Sekundärsymptome beinhalten« (684); neben der Bestimmung des Entwicklungsstandes wird dort dann explizit eine sorgfältige psychiatrische Untersuchung gefordert. Selten werden in der Phoniatrie und Pädaudiologie tätige Psychologen zum Abfassen entsprechender Übersichtskapitel in der entwicklungspsychopathologischen Literatur gebeten; diese Einladung erfolgt paradoxerweise eher durch Phoniater/Pädaudiologen, die auf diesem Weg psychologisches Spezialwissen in ihr Fach absorbieren (z. B. Diendorfer-Radner 2000; Graichen 1998; Kiese-Himmel 2005a,b; 2006) und dann zum Bestandteil ihrer Facharztausbildung und –prüfung machen. So werden eigene Wissensgrenzen überwunden.

Ärzte in der Phoniatrie/Pädaudiologie scheinen in der Beurteilung von Sprachentwicklungsstörungen mehr auf die logopädische bzw. sprachtherapeutische Kompetenz zu vertrauen, wie anhand der kleinen Zahl abteilungsintern psychodiagnostisch vorgestellter Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen anzunehmen ist. Über mögliche Gründe kann man spekulieren. Zwei Vermutungen werden angestellt: (1) könnte der bessere Ausbildungsstand von Logopäden hinsichtlich Diagnostik und Therapie von Sprachentwicklungsstörungen ein Grund hierfür sein. De Langen-Müller und Hielscher-Fastabend (2007) haben anhand einer retrospektiven Auswertung therapeutischer Daten von 502 Kindern in neun sprachtherapeutischen Praxen/Ambulanzen in Deutschland die Übereinstimmung zwischen ärztlicher und sprachtherapeutischer Diagnose im Hinblick auf die Verordnungspraxis untersucht. Ärztliche und sprachtherapeutische Diagnose stimmten nur in einem Drittel aller Fälle überein, wobei das Ausmaß der Übereinstimmung störungsbildabhängig war (z. B. größer bei Einfach- statt Mehrfachdiagnosen oder bei Fehlbildungen bis zu zwei Sprachlauten). (2) Ein anderer Grund könnten ökonomische Überlegungen sein. Die (empfohlene) Diagnostik an Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) geschah (und geschieht), weil die Vergütung krankheitsbezogener Leistungen durch die SPZ-Fallpauschale für die Institution finanziell ertragreicher ist als die Pauschale für einen Kranken- resp. Überweisungsschein. (3) Ggf. wollten die Ärzte auch ihren »Arztvorbehalt« wahrnehmen und die psychologische Kompetenz nach dem Psychotherapeutengesetz ignorieren. (4) Vielleicht beginnt sich mittlerweile auch in interdisziplinären Arbeitsfeldern wie der Phoniatrie/Pädaudiologie ein Strukturwandel abzuzeichnen.

Resümé und Schlussfolgerungen

Vor nahezu 20 Jahren wurde die Phoniatrische Psychologie als »junges Tätigkeitsfeld« beschrieben (Henze & Kiese 1990) und danach in einer Monografie vorgestellt (Kiese-Himmel 1995). Es ist ihr seitdem nur zum Teil gelungen, sich in der ärztlichen Kommunikationsmedizin selbstverständlich zu verankern und dort handlungsleitende Kompetenz in der Diagnostik und Therapie von Sprachentwicklungsstörungen zu gewinnen. Inwieweit das ein Defizit auf Grund des traditionellen Führungsanspruchs der Medizin bzw. des Arztes oder der unzureichenden Qualifikation der Psychologie bzw. des Psychologen ist, kann anhand des präsentierten lokalen, exemplarischen Ausflugs in die Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen der Jahre 2005-2008 an einer klinischen Universitätsambulanz nicht beantwortet werden.

Das vergangene Jahrhundert hat die Phoniatrie/Pädaudiologie zu einem Erfolgsmodell gemacht, weil die Dynamik ihrer Entwicklung einigermaßen linear war. Ursprünglich bildeten Logopäden den einzigen klinisch-sprachtherapeutischen Beruf. Mit dem Auftreten weiterer Berufsgruppen (Logopäden, Atem- Sprech- und Stimmlehrer nach Schlaffhorst-Andersen, akademische Sprachtherapeuten, Sprachheil- bzw. Sprachbehindertenpädagogen, Psychologen, Klinische Psychologen, Psychologische Psychotherapeuten, Klinische Linguisten, Patholinguisten), die sich erfolgreich in diesem Arbeitsfeld positionieren konnten und Qualitätssichernde Existenz in der Diagnostik und Therapie sprachentwicklungsgestörter Kinder im Gesundheitswesen beanspruchten (Himmel & Kiese 1987), kam es zu Diversifikationen und Bifurkationen, die möglicherweise die Kohärenz des Faches tangierten. Vielleicht intensivierten Phoniater/Pädaudiologen deshalb die Kooperation mit Logopäden, die an der ehemaligen Abteilung Phoniatrie/Pädaudiologie (Universitätsmedizin Göttingen) mehrheitlich eine klinisch tätige, nicht akademische Berufsgruppe bildeten. (Anmerkung: Gemäß Mitteilung der Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Logopädie dbl, Dr. Monika Rausch am 21. August 2009, ist die Zahl der im Bundesland Niedersachsen berufstätigen Logopäden mit akademischen Abschluss gegenüber der Zahl der im dbl berufstätigen Logopäden mit Fachschulabschluss nach wie vor kleiner einzuschätzen).

Der Nutzen einer intensiven Einbindung von Psychologie in die Regeldiagnostik von sprachentwicklungsgestörten Kindern ist evident (z. B. Kiese-Himmel 1997; von Suchodoletz 2003; Willinger et al. 2003; Gräßel et al. 2007) und sollte demgemäß selbstverständlich realisiert werden. Damit ist gleichzeitig ein Unterrichts- und Ausbildungsauftrag an die Fächer »Klinische Psychologie« wie auch »Medizinische Psychologie« gestellt, das Arbeitsfeld Phoniatrie und Pädaudiologie theoretisch und praxisnah im Rahmen ihres studentischen Unterrichts in das Psychologie- respektive Medizinstudium einzubeziehen. Wesentlich erscheint aber aus diesem Erfahrungsbericht nicht nur im Hinblick auf das Medizinstudium, sondern auch auf die postgraduale Ausbildung von Psychologen Anregungen für entsprechende Ausbildungsmodule oder Weiterbildung aufzugreifen. Bei den vor Ort in einer Einrichtung vorhandenen Berufsgruppen sollte im Interesse der Kinder und ihrer Familien eine maximale Motivation nach Kooperation geweckt werden. Zudem empfiehlt sich die interdisziplinäre Kooperation bei der Konstruktion von Sprachtests, indem Konzeption und Entwicklung nicht mehrheitlich Nicht-Psychologen (z. B. Sulser 1975; Wettstein 1983; Clahsen 1986; Clahsen & Hansen 1991; Motsch 2000, 2008; Kauschke & Siegmüller 2002; Fox 2006; Glück 2007) überlassen werden.

Zwangsläufig werden sich in einem interdisziplinären Ansatz in Abhängigkeit von neuen Versorgungskonzepten, die sich gesundheitspolitisch sinnvollen Lösungen anzupassen versuchen, Rollenveränderungen und Rollenverschiebungen ergeben. Keinesfalls darf hierdurch die ganzheitliche Sicht eines kommunikationsgestörten Patienten mit seinem Erleben und Verhalten in einem individuellen Lebenskontext aus dem Auge verloren werden. »Die Frage von Gesundheitsförderung und präventiven Strategien liegt oft in der Hand von Psychologen. So gesehen ist der gesellschaftliche Anspruch und die gesellschaftliche Realität anders zu bewerten als die Realität und der Anspruch einer klinischen Ambulanz« (persönliche Anmerkung von Heino Mönnich, Leiter der Sprachberatungsstelle im Gesundheitsamt Berlin-Reinickendorf).

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Autorenhinweis

Christiane Kiese-Himmel

Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Christiane Kiese-Himmel, Klinische Psychologin BDP; Psychologische Psychotherapeutin. Leiterin der Funktionseinheit Psychologie in Phoniatrie und Pädaudiologie an der Abt. Phoniatrie/Pädaudiologie (Universitätsmedizin Göttingen) bis zum 31. Dezember 2008. Arbeitsschwerpunkte: Sprachentwicklungsstörungen; Sprachentwicklung permanent hörgestörter Kinder; taktil-kinästhetische Wahrnehmung bei jungen Kindern; auditive Verarbeitungs- und Perzeptionsstörungen. Mitautorin der Leitlinie „Sprachentwicklungsstörung“ der DGPP in der AWMF. Seit dem 1. Januar 2009 vertritt sie die „Phoniatrisch/Pädaudiologische Psychologie“ an der Abt. Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie (Universitätsmedizin Göttingen).

Prof. Dr. rer. nat. C. Kiese-Himmel, Dipl.-Psych. Psychologische Psychotherapeutin Phoniatrisch / Pädaudiologische Psychologie a.d. Abt. Medizinische Psychologie u. Medizinische Soziologie Universitätsmedizin Göttingen Waldweg 35 D-37073 Göttingen Tel.: +49 (0) 551 39-22844 oder 39-8192 Fax: +49 (0) 551 39-8194

E-Mail: ckiese@med.uni-goettingen.de

Marcus Reeh

Dozent an der Fachschule für Logopädie seit 2002 (Universitätsmedizin Göttingen). Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Funktionseinheit Psychologie in Phoniatrie und Pädaudiologie (an der Abt. Phoniatrie/Pädaudiologie) von 2003 bis 2008, jetzt in der Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie (Universitätsmedizin Göttingen)