Zur Politischen Psychologie des Antisemitismus

Samuel Salzborn

Zusammenfassung

Antisemitismus und die moderne Gesellschaft gehören zusammen und sind auf das Engste miteinander verwoben. Der vorliegende Beitrag versucht diese Erkenntnis unter Bezugnahme auf die wesentlichen soziologischen und psychologischen Überlegungen mit Blick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aufzuklären. Dabei wird der Versuch unternommen, individuelle, überindividuelle und strukturelle Dimension in eine Politische Psychologie des Antisemitismus zu integrieren. Das Hauptanliegen des Aufsatzes besteht darin, die theoretischen Erkenntnisse zu dieser Frage in einem integrativen Ansatz miteinander zu vermitteln.

Schüsselwörter: Antisemitismus, Antijudaismus, Politische Psychologie, Psychoanalyse, Massenpsychologie

Summary

Antisemitism and modern society are inextricably and intimately interwoven. This idea will be explicated by drawing upon major sociological and psychological theories regarding the relationship between the individual and society. The goal is to integrate individual, supraindividual, and structural dimensions into a political psychology of antisemitism. The main objective of this article is to gather various relevant theoretical insights and synthesize them into an integrated approach.

Keywords: Antisemitism, Antijudaism, Political Psychology, Psychonalysis, Mass Psychology

Ausgehend von den Überlegungen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947) gehe ich davon aus, dass eine theoretische Reflexion über Elemente einer Politischen Psychologie des Antisemitismus nicht nur als einen Aspekt bürgerlicher Vergesellschaftung zu begreifen ist, sondern als Theorie der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Antisemitismus und Moderne gehören dem Verständnis von Horkheimer und Adorno folgend unauflöslich zusammen, der moderne Antisemitismus hat Aufklärung gleichermaßen zur Bedingung wie zur Limitierung, die durch die naturwissenschaftliche Emanzipation geschaffene Möglichkeit zur (und: Realität der) Barbarei beinhaltet zugleich in Form der religionskritischen Affiliierung das Potenzial zur Selbstreflexion und kritischen Aufhebung der Unmündigkeit.

Das dialektische Verhältnis von Zivilisation und Natur, das Horkheimer und Adorno (1947, 219) in den Satz »Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt«, gefasst haben, beinhaltet dabei Natur gleichermaßen als Bedingung wie als Notwendigkeit, als Voraussetzung wie als Zwang, als Ausgangs- wie Endpunkt aller Versuche zur Etablierung einer allgemeinen, objektiven Vernunft im Gegenspiel zur instrumentellen, subjektiven. Genau in dieser Dialektik ist Horkheimer und Adorno zufolge der Kern antisemitischer Welterklärungsversuche zu sehen. Das Natürliche wird durch Zivilisierung eliminiert und in diesem Eliminierungsprozess, da es sich nicht um eine integrative Aufhebung, sondern um eine Zerstörung handelt, wiederum in schroffe Natur und damit Gewaltform verwandelt. Gesellschaftstheoretischer Schlüssel dieser metatheoretischen Annahme ist die Codierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft über das Medium des Triebes, der Lokalisierung des einzelnen Menschen in seiner ersten und zweiten Natur. Den Kern des Antisemitismus, den Horkheimer und Adorno letztlich als psychologisch zu begreifendes Phänomen fassen, bildet der »unerhellte Trieb« – der sich individuell manifestierende, aber über-individuell generierte und kollektiv ausagierte Wunsch nach Identität der psychischen Instanzen, der angesichts der Triebbeschränkungen der bürgerlichen Gesellschaft unerfüllt bleiben muss. Der moderne Antisemitismus bedurfte – so paradox es klingen mag – der Aufklärung, um in die Barbarei umschlagen zu können; er ist zugleich die Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft, wie ihre Negation.

Projektion und Wahn

Der moderne Antisemitismus hat dabei den religiösen Antisemitismus, der in seiner antijüdischen Zielrichtung zwar willkürlich, aber keineswegs zufällig war, traditional inkorporiert und kann damit »sein christliches Erbe nicht leugnen« (Bauer 1992, 77), wobei die binnenstrukturelle Codierung antisemitischer Chiffren die genetischen Simultanitäten von vormodernem und modernem Antisemitismus offenkundig werden lassen. Mit Bezugnahme auf Sigmund Freud (1939) ist festzuhalten, dass der Antisemitismus bzw. der Judenhass seinen theologischen Ursprung im Christentum hat und dieser unbewusst in Form von christlichen Metaphern und Mythen in den Phantasien der Antisemit(inn)en weiterlebt. Die tiefere Ursache für die Projektionsorientierung auf »den Juden« liegt in den Differenzen von Christentum und Judentum, dem kleinen narzisstischen Unterschied begründet, d.h. die Ursprünge des Antisemitismus sind im Kern weitgehend religiöser Natur, da der jüdische Monotheismus dem Menschen die Illusion nahm, Gott sein zu können (vgl. Grunberger/Dessuant 1997, 262 u. 300), doch formiert sich der Antisemitismus als – angesichts der bis zur Massenvernichtung getriebenen antisemitischen Barbarei: zweifelsfrei pathischer – Versuch zur »Schiefheilung« (Freud 1921, 159) der einschneidenden narzisstischen Kränkung als Ausdruck antisemitischer Phantasien, als »Gerücht über die Juden« (Adorno 1951, 125) – und nicht als reale Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion oder der Geschichte des Judentums. Antisemitismus kann deshalb auch nur durch eine Analyse der Antisemit(inn)en dechiffriert werden – und nicht durch eine des Judentums oder der jüdischen Geschichte. Damit ist es weder Zufall, dass der Antisemit sich für seinen projektiven Wahn »den Juden« ausgewählt hat, noch zutreffend, dass der Antisemitismus etwas mit realem jüdischen Verhalten zu tun hat.

In Aufgreifung der Annahmen von Parsons (1942), Sartre (1945), Horkheimer/Adorno (1947) und Arendt (1951) über die konkrete Ausgestaltung der antisemitischen Projektionsorientierung gegen »die Juden« ist zu betonen, dass durch die Totalisierung der bürgerlichen Gesellschaft und die damit verbundene prinzipielle Austauschbarkeit durch die warenförmige Verwandlung allen Lebens die Projektionsfläche des Antisemitismus instrumentell geworden ist und deshalb in einem entmenschlichten Sinn willkürlich. Die Ticket-Mentalität (Horkheimer/Adorno) äußert sich in einer verdinglichten Form der Weltwahrnehmung, die auf Austauschbarkeit, Beliebigkeit und Willkür hin sich orientiert und von einem erheblichen Maße an Desinteresse und Empathielosigkeit gegenüber anderen gekennzeichnet ist. Dass sich das antisemitische Ressentiment keineswegs nur auf Jüdinnen und Juden beschränkt, sondern – wie Sartre (1945) betont hat – in der antisemitischen Phantasie prinzipiell fast jede/r die Funktion eines Juden einnehmen kann, ändert allerdings nichts an der historischen Tatsache, dass sich der Antisemitismus immer und mit barbarischer Brutalität gegen Jüdinnen und Juden gerichtet hat und richtet.

Das antisemitische Weltbild wird dabei durch eine manichäische Abgezogenheit von der Außenwelt mit ausbleibender Realitätsprüfung der eigenen Weltsicht strukturiert, bei denen die Antisemit(inn)en auf eine nicht vorangegangene Aktion oder Äußerung (die eben lediglich von ihnen phantasiert wurde bzw. wird) (schein-)reagieren, wobei als »Jude« oder »Jüdisch« auch Menschen oder Eigenschaften deklariert werden können, die es real nicht sind: »Juif par le regard de l’autre.« (Traverso 1997, 203) Weil dieser Prozess auf antisemitischer Seite mit der Formierung einer Idee des Jüdischen stattfindet, für die jüdische Kultur, Religion oder Geschichte zwar als Transparenzfolie dienen, aber letztlich willkürlich entstellt oder auch neu generiert werden, folge ich der Argumentation von Sartre (1945), den Blick auf die Weltanschauung und die Leidenschaft der Antisemit(inn)en zu lenken, um den Antisemitismus verstehbar machen zu können. In Anlehnung an Arendt (1951) wird hier argumentiert, dass der moderne Antisemitismus im Unterschied zum vormodernen Antijudaismus eine sich historisch entwickelnde und im 20. Jahrhundert weiter zuspitzende Abstraktionsleistung vollzieht: weg von realen Jüdinnen und Juden als Projektionsobjekte, hin zum fiktiven, völkisch fremd bestimmten »Juden«, der lediglich durch die Antisemit(inn)en definiert wird und für den es keine hypothetische Möglichkeit mehr gibt, sich dem antisemitischen Wahn zu entziehen.

Damit handelt es sich Arendt folgend in der Entwicklung des modernen Antisemitismus seit dem 18. und 19. Jahrhundert um einen sich radikalisierenden Prozess, bei dem antijüdische Vorurteile und Ressentiments zunehmend von der Realität gesellschaftlicher Provenienz entkoppelt werden, bis sie schließlich in der totalen Ideologie des Nationalsozialismus zur vollkommenen Abstraktion geworden sind, die »keiner Juden, sondern nur Judenbilder bedarf, um den Haß auf sie loszulassen« (Schulze Wessel/Rensmann 2003, 128). Die in der empirischen Wirklichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts lokalisierbaren Konflikte zwischen Juden und Nicht-Juden, die von Arendt (1951) und in einer um ein bzw. zwei Jahrhunderte transformierten Weise auch von Parsons (1942) zum Ausgangspunkt ihrer theoretischen Reflexionen genommen wurden, stellen nicht die Ursache für Antisemitismus dar, sondern es handelt sich bei ihnen vielmehr um das auslösende Moment für den transformierenden Quantensprung vom vormodernen, religiösen zum modernen, völkischen Antisemitismus (vgl. Nonn 2008, 10ff.).

Das heißt auch, dass nicht historische Konflikte und gesellschaftliche Differenzen zwischen Juden und Nicht-Juden als genuine Ursache zur Erklärung von Antisemitismus herangezogen werden können. Für den Antisemitismus sind nicht die historischen Tatsachen von Bedeutung, sondern die Vorstellung, die sich die historischen Akteure »vom Juden« gemacht haben, wie Sartre betont hat. Es geht um die Idee, »qu’on se fait du Juif qui semble déterminer l’histoire, non la ‚donnée historique' qui fait naître l’idée.« (Sartre 1945, 447) Insofern ist für Sartre der Antisemitismus auch nicht von einem äußeren Faktor (der sozialen oder historischen Erfahrung) her erklärbar, sondern lediglich durch die formulierte und phantasierte Idee vom Juden. Nicht der reale Jude, nicht das reale Verhalten von Jüdinnen und Juden, sondern »l’idée de Juif« (Ebd., 448), die Vorstellung, die sich die Antisemit(inn)en vom Juden machen, ist bedeutsam.

Das Wahnhafte an dem Prozess der antisemitischen Projektion konkretisiert/e sich in einem Vorgang wechselseitiger Verkehrung der Relationen zwischen Individuum und Gesellschaft, einer Umkehrung des Innen und des Außen, von Psyche und Sozialität. In Anlehnung an Max Horkheimers und Theodor W. Adornos (1947, 220ff.) Ausführungen in der Dialektik der Aufklärung über Mimesis und falsche Projektion gehe ich davon aus, dass die antisemitische Weltauffassung nicht an einem mimetischen Transformationsprozess mit gelingender Objektrepräsentanz bei gleichzeitiger Subjektanerkennung interessiert ist, sondern ungekehrt an einer projektiv-wahnhaften Transformation der äußeren Wirklichkeit mit dem Ziel der Angleichung der gesellschaftlichen Umwelt an die wahnhafte Triebstruktur des Individuums. Denn der moderne Antisemitismus vollzieht im Unterschied zum vormodernen Antijudaismus wie gesagt zwar eine Abstraktionsleistung, sucht dann aber wahnhaft nach konkreten Projektionsflächen und macht den Jüdinnen und Juden zum Vorwurf, nicht konkret, sondern abstrakt zu sein – etwa in Form der Ware oder des Geldes. Die Antisemit(inn)en lehnen dabei, wie Sartre (1945) betont hat, bestimmte Abstraktionen der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere Formen modernen Eigentums wie Geld und Aktien ab, da diese dem Vernunftwesen nahe stünden und somit der abstrakten Intelligenz des Jüdischen verwandt seien.

Damit werden in der antisemitischen Phantasie Juden zum Symbol für das Abstrakte als solches, was den höchst widersprüchlichen Gehalt antisemitischer Ressentiments begreifbar macht: den Juden wird die Abstraktheit und damit die Moderne zum Vorwurf gemacht, was Sozialismus wie Liberalismus, Kapitalismus wie Aufklärung, Urbanität, Mobilität oder auch Intellektualität gleichermaßen umfasst (vgl. Benz 2004; Schoeps/Schlör 1995). Einzig das Konkrete und im Politischen das Völkische werden nicht von der antisemitischen Phantasie erfasst, da sie den Gegenpol der – zuerst von Sartre (1945, 452) beschriebenen – Differenzierung zwischen allgemeiner und konkreter Denk- und Warenform und der daraus im antisemitischen Weltbild resultierenden Dichotomie von Weltgewandtheit und Bodenverbundenheit bilden. Mit Moishe Postone (1982) gehe ich davon aus, dass die Wertform der modernen Gesellschaft und die aus ihr resultierende Ausdifferenzierung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert auf der einen sowie die Warenfetischisierung auf der anderen Seite ursächlich sind für eine im Antisemitismus vollzogene Verknüpfung dieser ökonomischen Sphären mit einem konkretistischen Weltbild, in dem Abstraktes in manichäischer Weise assoziiert wird mit dem Judentum.

Bei dem antisemitischen Wahn hat es sich historisch nicht um ein individuelles, sondern ein über-individuelles Phänomen gehandelt, bei dem es nicht um einzelne Paranoiker/innen ging, sondern darum, dass die gesamte Gesellschaft das Wahnhafte des Antisemitismus sich zur Norm verklärte und somit historisch betrachtet das Phantasma der gesellschaftlichen Normalität durch den antisemitischen Wahn strukturiert wurde. Die Antisemit(inn)en entstellten sich ihren Wahn zur Wirklichkeit und versuchten die Wirklichkeit ihrer eigenen psychischen Devianz anzupassen. Der antisemitische Wahn steigerte sich dabei von einem nationalen Konzept der negativen Integration (vgl. Wippermann 1987, 36f.) hin zur Vernichtung der als nicht-identisch phantasierten Menschen mit dem konkreten Ziel der Herstellung von völkischer Homogenität und der Vernichtung der abstrakten Möglichkeit von Nicht-Identität und Ambivalenz. Die vom Nationalsozialismus exekutierte antisemitische Wahnstruktur ist dabei die deutlichste Hervorkehrung der gesellschaftlichen Wirklichkeit antisemitischer Phantasien, die Massenvernichtung der Jüdinnen und Juden die Utopie des modernen Antisemitismus, die in der Shoah auf barbarische Weise Wirklichkeit wurde – und deren Wiederholung in der Gegenwart vor allem vom islamischen Antisemitismus erstrebt wird. Die Antisemit(inn)en wollen vernichten, was sie begehren, aggressiver Vernichtungswunsch und narzisstische Identifizierung gehören zusammen, der phantasierte Neid generiert den omnipotenten Wahn.

Ambivalenz und Identität

Horkheimer und Adorno (1947) haben betont, dass der Antisemitismus nicht den ökonomischen Nutzen im Blick hat, sondern dass es vielmehr um psychische Dispositionen geht, wobei Antisemitismus nur vordergründig rational intentionslos ist: Die Intention bildet allerdings der (unbewusste) Affekt, der entladen werden soll – womit sie den entscheidenden theoretischen Schritt über Sartre hinausgegangen sind, der noch einen rational-ökonomischen Interessenbegriff vertreten hatte und nicht konsequent genug sah, dass das menschliche Interesse auch triebbedingt, sprich: unbewussten Phantasien zur Ausagierung verhelfend, dominiert sein kann, wie dies beim Antisemitismus auch der Fall ist. In Anlehnung an Grunberger (1962) kann gesagt werden, dass der Antisemit seine Konflikte auf den »Juden« projiziert und einige seiner psychischen Komplexe auf ihn abreagiert.

Die psychoanalytische Interpretation des frühkindlichen Ambivalenzkonfliktes und der ödipalen Situation als subjektive Orte antisemitischer Phantasien grundiert die psychosozialen Erkenntnisse über die antijüdische Projektionsorientierung des Antisemitismus und dem damit affiliierten Phantasien- und Mythenhaushalt wie auch die Frage der individuellen Attraktivität antisemitischer Ressentiments in ihrer sozialen Dynamik mit einer charakterologischen Perspektive, die wiederum über die trianguläre Familienstruktur in ihrer sozialfunktionellen Dimension als Medium Familie (vgl. Fromm 1936, 109) und damit »Agentur der Gesellschaft« (Adorno/Horkheimer 1991, 122) mittelbar mit der Meso- und Makrostruktur der bürgerlichen Gesellschaft verwoben ist.

Bezug nehmend auf die charakterologischen Interpretationen von Lœwenstein (1952), Fenichel (1946), Ostow (1996), Simmel (1946) und Grunberger (1962) ist aufgrund von empirischen Analysen davon auszugehen (vgl. Salzborn 2010), dass es eine einheitliche antisemitische Persönlichkeit nicht gibt, sondern dass vielmehr ein Ensemble an prädisponierenden Variablen existiert, die aber nicht zu identischen Persönlichkeitsstrukturen bei allen Antisemit(inn)en führen, da die in der psychoanalytischen Literatur beschriebenen Charakterstrukturelemente sozialpsychologisch parallel auftreten und sich ergänzen, möglicherweise auch abhängig von der individuellen Biografie und den gesellschaftlichen Kontexten mal mehr oder mal weniger stark radikalisieren (können).

Die psychische Gemeinsamkeit aller Antisemit(inn)en besteht abstrakt formuliert lediglich in einer ähnlichen Prädisponierung des psychischen Apparats von Es, Ich und Über-Ich und ähnlichen Mustern bei der psychischen Reaktionsbildung. Generell betrachtet wird das antisemitische Ich durch Projektionen strukturiert, die in Erweiterung von Grunberger (1962) als vom Rest der Persönlichkeit mehr oder weniger stark isoliert beschrieben werden können, woraus eine – ebenfalls mehr oder minder ausgeprägte – Ich-Spaltung resultiert. Die Unauflöslichkeit der projektiven Strukturierung des antisemitischen Ichs ist der Grund, aus dem Antisemit(inn)en das Realitätsprinzip ablehnen und im Bereich primitiver seelischer Organisation, den so genannten Primärprozessen, verbleiben und sich eine Welt der Trugbilder schaffen. Deshalb reagieren Antisemit(inn)en auch auf den eigenen Phantasien zuwider laufende Hinweise auf die gesellschaftliche Realität gereizt und aggressiv, da sie – wie auch Horkheimer/Adorno (1947) betont haben – die Wirklichkeit außerhalb ihrer ideologischen Innenwelt ablehnen.

Diese Form der spezifischen Regression beeinflusst aber nicht nur das Ich, sondern ebenfalls das Über-Ich der Antisemit(inn)en, das Grunberger als unausgereift beschrieben hat und aus Komponenten verschiedener Entwicklungsphasen aufgebaut:

»Die Hauptrolle spielt hierbei ein Überich, das nicht aus Introjektion der Objekte, sondern aus Dressaten herrührt. Dieses prägenitale Überich, das sich mit der uns bekannten Strenge aufdrängt, führt nicht zu einer echten Identifikation, sondern bleibt immer ein System von Dressaten. Es besteht einzig aus Befehlen und Verboten.« (Grunberger 1962, 258)

Dieses antisemitische Über-Ich hat lediglich die formale Macht, die das Individuum zu den Dressaten zwang, introjeziert – unabhängig von ihrem Inhalt. Da die Projektionen der Antisemit(inn)en unter dem Druck des prägenitalen Über-Ich zustande kommen, kann in den Anschuldigungen gegen die Juden auch ihr prägenitaler Ursprung erkannt und an ihrer Stereotypie ihr regressiv archaischer Charakter abgelesen werden (vgl. Grunberger 1962, 259). Hinsichtlich der Konstituierung des individuellen Über-Ich steht gesellschaftstheoretisch aber nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft im Mittelpunkt, da die vermittels der primären Sozialisationsinstanz Familie vermittelten inhaltlichen wie formellen Werte, Normen und Gebote stets Reproduktionen politischer und gesellschaftlicher Wert- und Normorientierungen sind, freilich nicht unreflektiert und ungebrochen, aber eben in keiner Weise individuell, sondern lediglich individualisiert.

Bei der Frage nach der antisemitischen Persönlichkeitsstruktur handelt es sich überdies um einen historisch-affiliierenden Prozess, d.h. dass die Geschlossenheit des Weltbildes (und damit: die Radikalität der Ich-Spaltung) und die Harmonie oder Disharmonie von Ich und Über-Ich konkret von individueller Biografie und sozialen wie politischen Kontexten abhängig sind und sich je nach Sozialisation und Kontext weiter stabilisieren und radikalisieren können. Offen bleibt dabei die Frage nach dem point of no return, also dem Punkt, an dem sich das antisemitische Vorurteil zum Weltbild geschlossen und die Ich-Spaltung weitgehend zugunsten einer durch den Antisemitismus relativ homogen strukturierten Persönlichkeitsstruktur suspendiert hat. Es ist davon auszugehen, dass eine kognitive und vor allem emotionale Prädisposition für antisemitische Denk- und Gefühlsstrukturen in der Kindheit psychodynamisch generiert und damit auch mit einem graduellen Potenzial zur Revision im weiteren Leben versehen wird. Anders ausgedrückt: die Revision antisemitischer Ressentiments ist pädagogisch überhaupt nur denkbar, wenn diese nicht bereits in der Kindheit zum emotionalen und kognitiven Fundament für die gesamte Persönlichkeitsstruktur des Menschen geworden sind.

Wenn den Antisemit(inn)en ihre Projektion auf den Juden allerdings gelingt, dann haben sie ihr manichäisches Paradies verwirklicht: All das Böse befindet sich von nun an auf der einen Seite, eben da, wo der Jude sich in ihrer Sicht befindet, und all das Gute auf der anderen, da, wo die Antisemit(inn)en sich in ihrer Binnenperspektive selbst befinden. Das Ich-Ideal des Antisemiten ist laut Grunberger narzisstischer Natur und die Befriedigung entspricht einer vollständigen narzisstischen Integrität, die die Antisemit(inn)en durch die Projektion auf den Juden gewonnen haben. Das Ziel der Herstellung von narzisstischer Integrität besteht in der Verdeckung einer offen narzisstischen Wunde, die Grunberger folgend im Kontext des Ödipuskomplexes als zentral zu erachten ist. Denn Menschen mit antisemitischen Einstellungen haben die narzisstische Kränkung ihres Selbstgefühls nie zu korrigieren vermocht und sind damit am ödipalen Konflikt gescheitert. Mit der individuellen Kränkung korrespondiert die von Freud beschriebene kollektive Kränkung, die sich in der christlichen Eifersucht auf die religiöse Auserwähltheit des Judentums und der projektiven Phantasie einer »jüdischen Weltverschwörung« ausdrückt.

Der Jude ist der Repräsentant der ödipalen Vaterimago, wobei die psychische Funktion des Juden in der Ermöglichung der Fernhaltung vom ödipalen Konflikt und der Verharrung in der narzisstischen Dimension besteht. Psychodynamisches Ziel ist dabei, eine »tiefe narzißtische Kluft innerhalb des Subjekts und zwischen Subjekt und Außenwelt zu füllen.« (Pohl 2006, 62) Es geht um das Ausweichen vor dem echten ödipalen Konflikt und in der Folge um eine prägenitale Regression, eine Flucht in das narzisstische Universum, dem Ort der Urmutter, der Sehnsucht nach der intrauterinen Vollkommenheit und einem »pränatalen erhaben-erhebenden Zustand« (Grunberger 1982, 44). Der Antisemit steht zwischen zwei Welten: der der Illusion und des Narziss und der der Realität und des Ödipus. Der Jude erscheint dabei für die Antisemit(inn)en als »der mächtige und als der kastrierte Vater«:

»Die Juden werden zur Abreaktion der ungelösten und damit ‚ewigen' Ambivalenz dem Vater gegenüber benützt. Entsprechend seiner inneren Gespaltenheit teilt er das introjizierte primitive Vaterbild in zwei Hälften: Die Aggressivität gegenüber dem schlechten, strafenden Vater wird auf die Imago des Juden gelenkt und dort abreagiert, während die positiven Gefühle dem geliebten väterlichen Bild, d.h. Gott, dem Vaterland, dem Ideal, erhalten bleiben.« (Grunberger 1962, 268)

Insofern wird auf der individualpsychologischen Ebene auch transparent, was Ostow (1996, 80 u. 85) für die apokalyptischen Vorstellungen des Christentums beschrieben hat, in denen von einer mythischen Spaltung der Welt in »elements of danger or destruction with elements of achievement or victory« gesprochen wird, die »death fantasies« mit »rebirth fantasies« kombinieren, stets verknüpft mit messianischen Elementen und einer Hoffnung auf das Ende des gegenwärtigen, negativ apostrophierten Zeitalters. In Anlehnung an Ostow ist das antisemitische Weltbild dabei von einer deutlich wahrnehmbaren Moralisierung geprägt, die Sartre als Manichäismus mit extremer Polarisierung und weitgehender Abgeschlossenheit von jedweder Realitätsprüfung beschrieben hat, was wiederum Bezug nimmt auf den Gedanken von Arendt, die die Totalität des Antisemitismus und die damit einhergehende hermetische Geschlossenheit des Weltbildes betont hat.

Die eigenen Konflikte der antisemitischen Psyche werden im Zustand ihrer radikalsten Zuspitzung nicht mehr ausgehalten, die Ambivalenz gegenüber den verdrängten Triebregungen des Es und der verinnerlichten Vater-Autorität des Über-Ich wird so unerträglich, dass sie nur noch durch Externalisierung und damit Projektion aushaltbar bleibt. Die Juden dienen damit wahnhaft als »dämonisierte Inkarnation der eigenen projizierten Zerstörungslust« (Beland 2004, 191f.). In Ergänzung zu Grunberger ist es insofern wichtig, den Hinweis von Lœwenstein aufzugreifen, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass »der Jude« in doppelter Hinsicht für den Antisemitismus als Projektionsobjekt fungiert: einerseits für die »verdrängten Triebe«, das eigene »Schlechte«, das Verbotene (was auf die psychische Verknüpfung antisemitischer Ressentiments mit dem Komplex der Analität und damit den semantischen Feldern des Schmutzes, der Exkremente, der Dunkelheit, des Geheimnisvollen, der Sexualität und des Geldes verweist), anderseits für den gehassten wie geliebten Vater, also – psychoanalytisch gesprochen – als Repräsentant sowohl für das Es wie zugleich auch für das Über-Ich. Ein deutlicher Mangel der theoretischen Antisemitismusforschung besteht dabei noch hinsichtlich empirisch gesicherter Erkenntnisse über das Es, bei dem zwar ebenfalls von einer prägenitalen Dominanz ausgegangen werden kann, die Bedeutung oraler und/oder analer Dimensionen aber bisher nicht hinreichend empirisch präzisiert wurde.

Der für den Antisemitismus charakteristische psychische Mechanismus der Projektion fungiert als Abwehrmittel gegen die Bestrebungen des eigenen Unbewussten, wie Fenichel (1946, 20) beschrieben hat:

»For the unconscious of the rioters, the Jew represents not only the authorities whom they do not dare to attack, but also their own repressed instincts which they hate and which are forbidden by the very authorities against whom they are directed. Anti-Semitism is indeed a condensation of the most contradictory tendencies: instinctual rebellion directed against the authorities, and the cruel suppression and punishment of this instinctual rebellion, directed against oneself. Unconsciously for the anti-Semite, the Jew is simultaneously the one against whom he would like to rebel, and the rebellious tendencies within himself.«

Der antisemitische Begriff vom Juden ist als irrational anzusehen und kann insofern auch nicht durch konkrete Erfahrungen mit Juden verändert werden. Der Antisemit, so Fenichel, sei der Auffassung, dass der jüdische Gott – und damit auch jeder Jude – der Teufel und der Anti-Christ sei, das böse, anti-göttliche Prinzip, auf dessen Grundlage Gott ans Kreuz geschlagen worden sei. Die Frage, warum der Jude diese funktionale Rolle für die Projektionen des Antisemiten eingenommen hat, ist mit Freud durch einen Blick auf das historische Verhältnis von Judentum und Christentum zu beantworten:

»Die tieferen Motive des Judenhasses wurzeln in längst vergangenen Zeiten, sie wirken aus dem Unbewußten der Völker, […]. Ich wage die Behauptung, daß die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben geschenkt hätten. Ferner hat unter den Sitten, durch die sich die Juden absonderten, die der Beschneidung einen unliebsamen, unheimlichen Eindruck gemacht, der sich wohl durch die Mahnung an die gefürchtete Kastration erklärt und damit an ein gern vergessenes Stück der urzeitlichen Vergangenheit rührt. Und […]man sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle ‚schlecht getauft', unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam.« (Freud 1939, 197f.)

Der jüdische Monotheismus hat im Unterschied zu prägenital gefärbten heidnischen Religionen, die aus schützenden, vor allem mütterlichen Gottheiten bestanden, durch die Besetzung des Vaters als Objekt die Religion verfinstert und ihrer mütterlichen Wärme beraubt. Die stärkere Einbeziehung des mütterlichen Elements wiederum im Christentum, in dem der Sohn die Mutter wieder gefunden hat, hat schließlich zur Entfachung eines jüdisch-christlichen Konflikts im Unbewussten geführt. Andreas Peham (2004, 5) hat das jüdisch-christliche Verhältnis aus theologisch-psychoanalytischer Perspektive zusammengefasst:

»Die Entwicklung zum Monotheismus, zur Vorstellung einer einzigen, abstrakten Gottes, der als Vater-Imago liebende und strafende Anteile in sich vereint, lässt sich in Analogie zur Ontogenese auch begreifen als ‚Entwicklung von der eingeschränkten Wahrnehmung von Partialobjekten hin zur Fähigkeit der Wahrnehmung des ganzheitlichen Objekts'. Nun besteht keine Notwendigkeit mehr, die aggressiv-destruktiven Anteile abzuspalten und nach außen zu projizieren (paranoid-schizoide Position). Vielmehr werden diese Anteile integriert, die widersprüchlichen Gefühle an einem inneren Objekt, das auch böse sein und gehasst werden kann, erfahren. Der Preis für diese Entdämonisierung der äußeren Welt ist der Ambivalenzkonflikt (depressive Position). Auf der Ebene der Gottesvorstellung bedeutet die christliche Etablierung einer vollkommen guten und liebenden Imago, welche der narzisstischen Ur-Mutter entspricht, die Rückkehr der Notwendigkeit zur Abspaltung und Projektion. Der Antisemitismus erscheint nun als überdeterminiert: Einerseits erweist er ‚sich als ein Hass auf jene, die am Ritual der Entlastung aus der paranoid-schizoiden Position nicht teilnehmen, denn sie werden als Bedrohung wahrgenommen, die an dem Sinn dieser Entlastung Zweifel entstehen lassen.' Andererseits ist er Projektion jener negativen oder analen Anteile, die nicht integriert werden können. Mit dem christlichen Gott betrat der jüdische Teufel die Weltbühne, der Narzissmus der Reinheit ist nur zu haben mit der Projektion des Unreinen, der Analität.«

Das Christentum, das sich quasi als junges Geschwister des Judentums ebenfalls eine monotheistische Weltauffassung gab, hat die einschneidende narzisstische Kränkung durch das Judentum – das dem Menschen die Illusion genommen hatte, Gott sein zu können (vgl. Grunberger/Dessuant 1997, 262 u. 300) – nicht reflektiert, wobei Antisemit(inn)en sich nicht mit dem strengen Gesetz, das nach der (symbolischen) Ermordung des Ur-Vaters angenommen wurde, identifizieren, sondern mit dem Vater selbst; sie haben nicht die abstrakte, strenge Gleichheit verinnerlicht, sondern die konkrete Macht und die mit dieser verbundene autoritäre Willküroption. Zugleich liegt in der Faszination der totalen (väterlichen) Macht auch sowohl die Angst vor dieser, wie die vor dem eigenen Macht- und Statusverlust, die im Antisemitismus in der Vorstellung des mächtigen wie machtlosen, des kastrierenden wie kastrierten Juden mündet, auf das Grunberger und Freud aufmerksam gemacht haben. Orale Aggression und anale Destruktion sind dabei unbewusster Ausdruck des narzisstisch-omnipotenten Verschmelzungswunsches. Die antisemitische Phantasie artikuliert sich psychologisch im Wechselverhältnis von Kastrationsangst und Kastrationsdepression (Freud), soziologisch als Angst vor Verlust von Anerkennung, Liebe oder Status bzw. als Reaktion auf genau diesen Verlust (Parsons), wobei erst genannte Angst eher zu aggressivem, letzt genannte Depression eher zu defensivem Ausagieren der unbewältigten Konflikte führt. Die vom Judentum praktizierte Beschneidung wird in den antisemitischen Phantasien zum unheilvollen, unheimlichen und verängstigenden Mythos, der in enger Beziehung steht mit den analen Vorstellungen von Juden als Teufel und Hexen, als »schreckliche, phallische, allmächtige und gefährliche Mutter« (Grunberger 1962, 259).

Individuum und Gesellschaft

In dem Wechselverhältnis von Kastrationsangst und Kastrationsdepression liegt auch die Perspektive einer geschlechterpolitischen Kontextualisierung einer Politischen Psychologie des Antisemitismus. Denn entgegen der – von einem differenztheoretischen Geschlechterverständnis ausgehenden – Annahme, dass Frauen aufgrund einer unterschiedlichen ödipalen Situation Antisemitismus lediglich als Anpassung an die »herrschenden männlichen Wertorientierungen« übernähmen, ohne dass dieser mit ihrer psychischen Struktur affiliiert wäre (vgl. Mitscherlich-Nielsen 1983, 52), zeigen die empirischen Befunde (vgl. Salzborn 2010), dass eine solche Unterscheidung lediglich normativ und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht haltbar ist. Wird das Motiv der Kastration hingegen sozial gedeutet, ist das biologische vom sozialen Geschlecht zu unterscheiden, d.h. es geht in der kindlichen Wahrnehmung nicht um einen realen Mangel oder Verlust, sondern um die mit den primären Geschlechtsmerkmalen durch die Eltern im Umgang mit den Kindern ausagierten Verhaltensmuster und die in der frühkindlichen Erziehung angelegte Fixierung auf bestimmte, sozial bedingte und trainierte Geschlechterrollen, die symbolisch in den primären männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen manifestiert werden. Elisabeth Brainin (1986, 108) hat überdies darauf hingewiesen, dass psychische Bedürfnisse und Mechanismen wie Narzissmus, Trieb- und Affektverdrängung und anal-sadistische Züge keine Besonderheiten männlicher psychosexueller Entwicklungen sind. Insofern kann gesagt werden, dass die theoretischen Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung empirisch für beide Geschlechter gelten, allerdings müsste in vor allem qualitativ-biografischen Studien untersucht werden, welche Formen geschlechtlicher Identifizierung bei Männern und Frauen konkret vorliegen, um ein präziseres Bild über die theoretische Geschlechterdimension im Antisemitismus zu gewinnen. Zu vermuten wäre auch hier ein breiteres Spektrum optionaler Identifizierungsmuster, das allerdings auf grundsätzlich ähnliche Erfahrungen in der Primärsozialisation zurückgehen dürfte.

Antisemitismus, so lassen sich die strukturellen wie individuellen Faktoren zusammenfassen, ist – mit Horkheimer/Adorno (1947) und Arendt (1951) gesprochen – letztlich eine Art zu denken und – mit Sartre (1945) und Claussen (1987) – eine Art zu fühlen: Antisemitismus ist zugleich Unfähigkeit wie Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen; im Antisemitismus wird beides vertauscht, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein. So bleiben alle Ambivalenzen der modernen bürgerlichen Gesellschaft kognitiv nicht nur unverstanden und unreflektiert, sondern affektiv auch der emotionalen Bearbeitung vorenthalten, da Gefühle abstrahiert werden und damit die ambivalente Zerrissenheit des modernen Subjekts nicht ertragen wird. Das Individuum wird im Antisemitismus doppelt desubjektiviert, es verliert die intellektuelle Hoheit über seine Selbstreflexion und gibt die Möglichkeit des emotionalen Verstehens und Mitfühlens auf. Der antisemitische Wunsch, konkret zu denken, wird ergänzt um die Unfähigkeit, konkret zu fühlen; die Weltanschauung soll konkret sein, das Gefühl aber abstrakt – was sowohl die intellektuelle, wie die emotionale Perspektive einer Inversion unterzieht, die psychisch aufgrund ihrer Dichotomie zu inneren Konflikten führen muss. Auf der weltanschaulichen Ebene ist Antisemitismus damit eine dezisionistische Haltung zur Welt, eine radikale bewusste wie unbewusste Entscheidung für den kognitiven und emotionalen Glauben an den Manichäismus der antisemitischen Phantasie.

In der Erkenntnis über die kognitive und emotionale Struktur des Antisemitismus liegt auch eine wesentliche Perspektive für sozialwissenschaftliche Präventionsforschung, insbesondere psychologischer und soziologischer Provenienz. Denn legt man zu Grunde, dass es sich beim Antisemitismus um Weltanschauung und Leidenschaft handelt, die beide zwar von einer bestimmten psychologischen, in der frühen Kindheit prädominierten Basis ausgehen, sich allerdings erst entwicklungspsychologisch zu einem geschlossenen Weltbild formen, dann liegt die mikrotheoretische Perspektive zur Prävention von Antisemitismus vor allem in der frühen Kindheit: in der Förderung der Fähigkeit von abstraktem Denken und konkretem Fühlen und damit der Stärkung authentischer und situationsadäquater Artikulation eigener Bedürfnisse und Interessen – entgegen der für den Antisemitismus charakteristischen »besonders ausgeprägten Triebhemmung in allen Bereichen« (Brainin 1986, 107). Dabei wäre vor allem in empirischen Langzeitstudien zu klären, ob die Fähigkeit zu abstraktem Denken und konkretem Fühlen in den Individualbiografien auch tatsächlich mit einer Resistenz gegen antisemitische Welterklärungsmuster korreliert. Die Antwort darauf ist vollkommen offen, da die hier formulierte Skizze nur Erkenntnisse über die Charakteristiken des Antisemitismus explizieren kann – nicht jedoch, ob eine Revision oder Modifikation dieser basalen Strukturen auch tatsächlich eine erfolgreiche Präventionsstrategie auf individueller Ebene wäre, zumal wenn die strukturellen, d.h. gesellschaftlichen und kommunikativen Faktoren fortwähren.

Die kommunikative Vermittlung antisemitischer Ressentiments erfolgt über kulturelle Codes (Volkov 1978) in einer hermeneutischen Struktur der Triade, deren individuelle Attraktivität und soziale Dynamik aus dem strukturellen Verhältnis von Individuum und Gruppe verstehbar wird, in dem sich gesellschaftstheoretisch die Mikro- mit der Mesoebene verknüpft. Im Mittelpunkt steht hierbei das antisemitische Kollektiv, das sowohl als reale (als Massenansammlung) wie als gefühlte Gruppe (als intellektuelle Einheit) für die Massenbildung des Antisemitismus von Relevanz ist, da Masse dem klassischen psychoanalytischen Verständnis folgend nicht als numerische Größe verstanden werden sollte, sondern als spezifischer psychischer Zustand, der unabhängig von der Größe der Gruppe ist. Die in diesem Kontext eminent wichtige, von Sartre (1945) aufgeworfene Frage, warum der Antisemitismus auch ohne das unmittelbare physische Anschließen an eine Massenbewegung für die Antisemit(inn)en funktioniert, lässt sich in Anlehnung an Simmel (1946) dadurch beantworten, dass die Individuen am Antisemitismus als Massenbewegung intellektuell beteiligt sind und eben nicht zwingend körperlich im Sinne eines Massenaufmarsches: »The anti-Semitic idea is a substitute for the leader.« (Simmel 1946b, 54; Herv. i. Orig.), wobei Janine Chasseguet-Smirgel (1975, 95) ergänzend darauf hingewiesen hat, dass die Masse weniger einen Herrn als Illusionen (mit dem Ziel narzisstischer Befriedigung) begehrt und deshalb den als Leitfigur auswählt, der die »union du Moi et de l’Idéal« verspricht.

Simmel diskutiert das physische und/oder psychische Aufgehen der Antisemit(inn)en in der Masse, d.h. im – durch Ersetzung des Über-Ichs des Individuums durch eine externe Autorität (vgl. Freud 1921, 73ff.) und somit dessen Externalisierung (vgl. Adorno 1951, 416) – verantwortungslos seditiösen Kollektiv-Ich im Kontext des frühkindlichen Ambivalenzkonfliktes, den Grunberger (1962) unmittelbar auf die ödipale Situation bezogen hat. Der latente Ambivalenzkonflikt des antisemitischen Massenmenschen wird vorübergehend (wenngleich auch nur scheinbar) gelöst, eben durch die Teilhabe am Kollektiv-Ich der Masse und der Spaltung der veräußerlichten elterlichen Gewalt in einen Teil, der geliebt wird (den Führer oder die antisemitische Idee) und einen anderen Teil, der gehasst wird (die Juden). Die Vereinheitlichung der Masse manifestiert sich in der Verschmelzung von Ideen und Handlungsimpulsen, wobei es sich um einen Identifizierungsprozess handelt, der sich aus wechselseitigen Bindungen der einzelnen Gruppenmitglieder ergibt. Durch die Abgabe individueller Verantwortung wird der antisemitische Massenmensch zum egalitären Bestandteil der Masse, zu dem, was von Sartre unter dem Begriff der »Mittelmäßigkeit« der an der Masse partizipierenden Individuen gefasst wurde: Individuum ohne Verantwortung, phantasiertes Kollektiv-Ich mit externalisiertem Über-Ich.

Alfred Lorenzer (1981, 118f.) hat betont, dass die antisemitische Massenpsychose einen wesentlichen sozialisierenden Effekt hat, da sowohl eine Persönlichkeitsstörung wie eine besondere Vergesellschaftungsform vorliegt. In der Massenbildung organisieren sich die Erwachsenen als Kinder entlang ihres infantil fixierten und »zum Symptom geronnenen Persönlichkeitsdefekts«, wodurch auf individualpsychologischer Ebene die Massenbildung eine Stabilisierung bedeutet. Während auf diese Weise der ursprüngliche Triebimpuls in die Ersatzbefriedigung eingeht, wird die aggressiv-destruktive Dimension der antisemitischen Massenbildung durch die dem Individuum in der nachinfantilen Vergesellschaftung angebotenen Weltanschauung rationalisiert. Auf diese Weise, so Lorenzer, wird die Asozialität der individuellen Symptomatik aufgehoben und der Einzelne wird auf bewusster Ebene durch seine Einbettung aus der asozialen Isolierung gelöst: »Die Ersatzbefriedigung ist ins Bewusstsein eingegliedert.« (Ebd., 122) Denn da der antisemitische Wahn sich selbst, also in Bezug auf die an ihm partizipierenden Individuen, gegenüber seinen individuell-psychischen wie kollektiv-politischen Kontrollinstanzen nicht als wahnhaft eskamotieren darf, bedarf es im Sinne Freuds eben genau jener Rationalisierungen der antisemitischen Vorstellungen, ihrer Unterstellung als Fakten und die Leugnung ihrer Affekthaftigkeit.

Der Jude als Objekt des Antisemitismus ist Simmel zufolge das schlechte Gewissen der christlichen Zivilisation. Durch die Anklage eines Anderen statt des Selbst wird jedes Schuldgefühl vermieden, was zur Abwehr der Erkenntnis eigener Schuld dient. Aus religionspsychologischer Perspektive ergibt sich dabei eine weitere Ursuche für die Wahl des Projektionsobjekts durch die Antisemit(inn)en: Die architektonische Struktur der jüdischen Religion bietet nämlich durch ihre Gottes-Vorstellung eine alternative Form zur – in diesem Fall symbolischen und abstrakten – Überwindung des frühkindlichen Ambivalenzkonfliktes, der im Antisemitismus manichäisch und konkret gelöst werden soll; der von antisemitischer Seite verhasste Gegenentwurf ist die jüdische Vorstellung, die Simmel (1946, 61) als die religiöse Verwandlung eines »material parental image to a spiritual collective superego« beschreibt und die psychologisch nichts anderes bedeutet, als die eigene empfundene kindliche Impotenz gegenüber den Eltern (resp. dem Vater-Imago) im Stadium des Erwachsenen zu akzeptieren und damit verarbeitend zu historisieren, statt (notwendig erfolglos) gegen sie zu rebellieren, wie dies die Antisemit(inn)en versuchen. Diese antisemitische Rebellion in der Masse versucht somit die Angst vor Strafe aufzuheben und zugleich die Lust auf Anerkennung und Befriedigung zu sichern.

Dabei ist mit Simmel von einer letztlichen Unlösbarkeit des antisemitischen Konfliktlösungsmodells auszugehen, da selbst die totale Vernichtung der Juden (sowohl durch Assimilierung, wie durch physische Ermordung) die Antisemit(inn)en ihres Objekts berauben und ihnen somit die Notwendigkeit auferlegen würde, nach neuen Objekten zur Ausagierung ihres infantilen Lösungsmodells für den Ambivalenzkonflikt zu suchen. In diesem Kontext steht auch die komplette Realitätsverleugnung und der vollständige Verlust des Realitätsbezugs in den antisemitischen Phantasien, da es eben um einen Rationalisierungsversuch der aggressiven Triebenergien der Antisemit(inn)en geht und die von ihnen erhobenen Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden aufgrund der in der psychotischen Massensituation versuchten Spaltung des Eltern-Imago in zwei Teile – einen geliebten und einen verhassten – notwendig zu emotionalen Ambivalenzen führen muss, bei denen »den Juden« auch widersprüchliche Vorwürfe gemacht werden können. Denn eben weil die massenpsychologische Spaltung paranoid ist, bleibt ihr Ergebnis ambivalent und der antisemitische Massenmensch glaubt an seine falschen Beschuldigungen, nicht trotz, sondern wegen ihrer Irrationalität, da nur sie ihm in seiner Phantasie das gewonnene seelische Gleichgewicht und die scheinbare Stärke eines Erwachsenen garantieren.

Literatur

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Autorenhinweis

Samuel Salzborn

PD Dr. Samuel Salzborn ist Vertretungsprofessor für Demokratie- und Demokratisierungsforschung am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Giessen. Arbeitsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Methoden der Politikwissenschaft, Politische Kulturforschung.

PD Dr. Samuel Salzborn Institut für Politikwissenschaft Justus-Liebig-Universität Giessen Karl-Glöckner-Str. 21E D-35394 Giessen

E-Mail: samuel.salzborn@sowi.uni-giessen.de