Wozu noch Metapsychologie

Christine Kirchhoff

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der Reformulierung der Psychoanalyse als Neuro-Psychoanalyse wird nach dem Stellenwert der Freudschen Metapsychologie für das gesellschaftskritische Potential der Psychoanalyse gefragt. Dabei wird zunächst eine Parallele zu Adornos Verteidigung der Philosophie gezogen, Freuds Definitionen einer metapsychologischen Darstellung vorgestellt, um schließlich an den Konzepten Befriedigungserlebnis und Lebensnot zu zeigen, dass metapsychologische Konzepte inkompatibel mit einer positivistischen Auffassung der Psychoanalyse sind und menschliche Natur als gesellschaftlich vermittelte zu denken erlauben. Kontrastiert wird diese Darstellung mit einer kritischen Untersuchung von »Das Gehirn und die innere Welt« von Mark Solms und Oliver Turnbull, prominenten Vertretern einer Neuro-Psychoanalyse. Abschließend wird in einigen Thesen zusammengefasst, inwiefern die Metapsychologie den »Stachel Freud« repräsentiert und daher »stört«.

Schüsselwörter: Metapsychologie, Psychoanalyse und Philosophie, Befriedigungserlebnis, Lebensnot, Neuro-Psychoanalyse, Kritische Theorie

Summary

Against the background of the reformulation of psychoanalysis as neuro-psychoanalysis this article asks if and how Freudian metapsychology is needed in order to capture the critical potential of psychoanalysis. By outlining a parallel to Adorno’s arguments on behalf of Philosophy, the article examines Freud’s own definitions of metapsychology. It demonstrates both, the potentials of metapsychology to think the dialectic of human nature and culture and its incompability with a positivistic approach to Psychoanalysis by discussing the earlier Freudian concepts of »experience of satisfaction« and »Lebensnot«. This argument is contrasted with a critical investigation of »The Brain and the inner world« by Mark Solms and Oliver Turnbull, both pioneers of Neuro-Psychoanalysis. In conclusion it seems clear that metapsychology constitutes a disturbing concept and this is precisely the reason it needs to be appreciated.

Keywords: metapsychology, psychoanalysis and philosophy, experience of satisfaction, neuro-psychoanalysis, Critical Theory

Die an den Anfang gestellte Frage »Wozu noch Metapsychologie« hinterlässt leicht den Eindruck eines defensiven Unterfangens mit einer melancholischen Grundnote. In der Zeit scheint diese Frage vor allem rückwärts zu weisen: Der Sinn, wenn nicht die Legitimation dessen, was zur Disposition gestellt wird, war in der Vergangenheit gegeben und ist nun fraglich geworden. Was aber ist in der Zwischenzeit geschehen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich mich zunächst einer verwandten Konstellation zuwenden, in der es ebenfalls um eine Infragestellung geht.

Der Titel dieses Beitrages ist einem Aufsatz von Adorno abgeschaut, in dem dieser nicht nur die Frage nach der Aktualität der Philosophie stellt, sondern auch eine dichte Darstellung dessen vorlegt, was für ihn Philosophie ist. Die Arbeit »Wozu noch Philosophie« stammt aus dem Jahre 1962, hat aber seitdem an Aktualität nichts eingebüßt. Adorno stellt zu Anfang fest, dass wer eine Sache verteidige, »die der Geist des Zeitalters als veraltet und überflüssig abtut, (…) sich in die ungünstigste Position« begebe (Adorno 1962, S. 459). »Seine Argumente klingen schwächlich beflissen. Ja, aber bedenken sie doch, sagt er, als trachte er, solchen etwas aufzuschwatzen, die es nicht wollen.« (ebd.) Die Frage nach der Berechtigung der Philosophie stellt sich Adorno vor dem Hintergrund von deren Herabstufung zur Einzelwissenschaft: Spätestens nach Kant habe sich die Philosophie durch »ihr Mißverhältnis zu den positiven Wissenschaften, zumal denen von der Natur verdächtig gemacht« (ebd. S. 460). Der Legitimitätsverlust der Philosophie steht also im Kontext des Aufstiegs der Naturwissenschaft. Adorno geht es aber nicht darum, den Totalitätsanspruch der Philosophie restaurieren zu wollen (vgl. ebd. S. 461), im Gegenteil. Für ihn ist Philosophie, die er in Opposition zu Positivismus und Fundamentalontologie sieht, deren gemeinsamer Feind die Metaphysik sei (vgl. ebd. S. 462ff), nötig als »Kritik, als Widerstand« (ebd. S. 464), als »bindende Verpflichtung zur Unnaivetät« (ebd. S. 467). Wenn Adorno mit dieser Emphase von Philosophie spricht, dann spricht er nicht von irgendeiner Philosophie sondern von der Kritik an den bestehenden Verhältnissen im Hinblick auf eine im emphatischen Sinne vernünftige und damit menschliche Welt: »Die ungeminderte Dauer von Leiden, Angst und Drohung nötigt den Gedanken, der sich nicht verwirklichen durfte, dazu, nicht sich wegzuwerfen. Nach dem versäumten Augenblick hätte er ohne Beschwichtigung zu erkennen, warum die Welt, die jetzt, hier das Paradies sein könnte, morgen zur Hölle werden kann. Solche Erkenntnis wäre ja wohl Philosophie.« (ebd. S. 470).[1] Nur Denken, das nicht von vorneherein auf Funktionieren aus ist, könne vielleicht einen Blick auf eine »Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären« erhaschen (ebd. S. 471). Und gerade das, was der Philosophie genauso wie der Metapsychologie vorgeworfen werden kann, nämlich dass sie unmittelbar zu nichts nütze ist, wird von Adorno als ihre Aktualität begriffen: »Weil Philosophie zu nichts gut ist, ist sie noch nicht verjährt (…)« (ebd.).

An dieser Stelle lassen sich Parallelen zwischen Metaphysik und Metapsychologie ziehen, ähnelt doch die von Adorno beschriebene Konstellation der, in die man unversehens zu geraten droht, wenn man heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts für die Freudsche Metapsychologie eintritt. Auch heute ist es das Missverhältnis zu den Naturwissenschaften, das die Metapsychologie verdächtig macht. Metapsychologie scheint veraltet und verzichtbar, da es dank der neuen bildgebenden Verfahren[2], die einen direkten Einblick in die Prozesse im Gehirn versprechen, nun endlich möglich zu sein scheint, die Psychoanalyse mit den Weihen einer richtigen Wissenschaft auszustatten und sie von ihren verstaubten Anteilen zu befreien. Die Psychoanalyse soll gerettet werden, soweit sich ihre Konzeptionen experimentell überprüfen lassen: Wenn man das Unbewusste und andere von der Psychoanalyse angenommene Dynamiken und Instanzen im Hirnscan sehen kann, kann Freud so falsch nicht gelegen haben – so kurz wie polemisch lässt sich dieses Unterfangen zusammenfassen.[3]

Vielleicht aber, und dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden, liegt die Aktualität der Metapsychologie auch darin, dass sie »zu nichts gut ist«, dass sie sperrig ist und dabei stört, die Psychoanalyse in den Kanon der positiven Einzelwissenschaften einzugliedern und nicht zuletzt darin, dass sie der zur Zeit stattfindenden Rebiologisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften einen anderen Entwurf von Subjektivität entgegenstellen kann. Zunächst aber soll kurz erläutert werden, was unter Metapsychologie zu verstehen ist.

1. Was ist Metapsychologie?

Es ist an dieser Stelle aufgrund der gebotenen Kürze nicht möglich, eine systematische Einführung in die Metapsychologie zu geben, gibt es doch eine seit Freuds Zeiten andauernde Debatte darum, was Metapsychologie sei und wie sie zu bewerten, weiterzuentwickeln oder zu korrigieren sei. Ich halte mich daher im Folgenden zunächst an Freuds eigene Aussagen über die Metapsychologie und werde dann anhand des Konzepts des Befriedigungserlebnisses exemplarisch demonstrieren, wie an metapsychologische Begriffen die von Freud gewählten Darstellungsebenen miteinander in Beziehung treten, und zeigen, wie diese als Darstellung eines Vermittelten funktionieren.

In »Das Unbewusste« schlägt Freud als Definition vor, »dass es eine metapsychologische Darstellung genannt werden soll, wenn es uns gelingt, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben« (Freud 1915e, S. 281). In »Psycho-Analysis« (Freud 1926f), geschrieben für die Encyclopaedia Britannica fasst er zwei dieser drei Faktoren kurz zusammen: Die ökonomische Betrachtung sei die quantitative, der psychische Apparat versuche eine Stauung von Energie zu verhüten und die Gesamtsumme der Erregungen möglichst niedrig zu erhalten und werde nach dem Lust-Unlust-Prinzip reguliert (ebd. S. 301).[4] Die topische Betrachtung fasse den psychischen Apparat als »ein zusammengesetztes Instrument«, es geht hier um die Gliederung des psychischen Apparates in Es, Ich und Über-Ich (ebd.). Dynamisch schließlich heißt, so ist hier zu ergänzen, dass psychische Phänomene als Resultate persistierender Triebkonflikte betrachtet werden.

In der »Selbstdarstellung« betont Freud noch einmal, dass er, als er die sogenannten metapsychologischen Abhandlungen schrieb (also ab 1914), zu der auch die oben zitierte Schrift über das Unbewusste gehört, den »Versuch einer Metapsychologie« gewagt habe, »eine Weise der Betrachtung, in der jeder seelische Vorgang nach den drei Koordinaten der Dynamik, Topik und Ökonomie gewürdigt wird« (Freud 1925d, S. 85).

Eine solche Darstellung nennt Freud, »das äußerste Ziel, das in der Psychologie erreichbar ist« (ebd.). Diese kurzen Ausführungen decken nicht die Reflexion seines Vorgehens ab, sie sollen an dieser Stelle vor allem auf eines hinweisen: Nimmt man Freud hier beim Wort, dann ist die Metapsychologie keine verzichtbare Zutat zur Psychoanalyse sondern sie ist diese. Man könnte sagen, sie ist deren abstrakte theoretische Reflexion, die Art und Weise, wie Freud die seelischen Vorgänge als Vorgänge im psychischen Apparat konzipiert, wie er diesen Apparat entwirft.

Darüber hinaus, und das ist den zitierten Passagen nicht zu entnehmen, möchte ich hier vertreten, dass Freuds Metapsychologie in den beobachtbaren Äußerungen des Psychischen nicht aufgeht und erst recht nicht in dessen materiellem Substrat, ohne dieses aber nicht zu haben ist. Sie ist das Denken der Vermittlung von Körper und Psyche und daher nur dialektisch zu begreifen, ist an sich Vermittlung: Der Körper erscheint hier immer schon als sein Anderes. Ich möchte versuchen, diesen Gedanken anhand der Konzeption des Befriedigungserlebnisses einzuholen, das schon im Entwurf einer Psychologie von 1895 eine entscheidende Rolle spielt. Das Befriedigungserlebnis: Wunsch und Lebensnot

Der Entwurf einer Psychologie wurde lange Zeit kaum rezipiert, erfreut sich aber seit der neurowissenschaftlichen Entdeckung der Psychoanalyse außerordentlicher Beliebtheit, legt seine Sprache – Neuronen, Bahnungen und Besetzungen – doch nahe, den Entwurf als neurowissenschaftliches Unterfangen zu interpretieren und Freuds vollmundig an den Anfang gestellte Absicht ernster zu nehmen, als dieser selbst es getan hat. Am Anfang des Entwurfs bekundet Freud die Absicht »eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d.h. psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile und sie damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen« (Freud 1950c, S. 387). Doch schon wenige Seiten später unterläuft Freud diesen sich selbst auferlegten Positivismus, indem er angesichts seines klar formulierten Vorhabens erstaunlich umstandslos die Referenz wechselt: Bewegt er sich bei seiner Darstellung des Gedächtnisses »durch die Unterschiede in den Bahnungen zwischen den Ψ Neuronen« (ebd. S. 393, Hervorh. i. Orig.) noch auf einer zumindest sprachlich als neuronal zu bezeichnenden Ebene, beantwortet er die an sich selbst gestellte Frage, wovon die Bahnung in den Ψ Neuronen abhänge, mit der »psych[ologischen] Erfahrung«, nach der »Gedächtnis, d.h. die fortwirkende Macht eines Erlebnisses« von einem Faktor abhänge, den man die »Größe des Eindrucks« nenne (ebd.). Nun besteht die psychologische Erfahrung, wie Freud sie gemeinsam mit Breuer zu machen beginnt (vgl. Freud 1895d), weder aus aufzeigbaren materiellen Teilen, noch ist sie widerspruchsfrei. An der Konzeption des Befriedigungsverhältnisses lässt sich außerdem zeigen, wie psychoanalytisch Freud im Entwurf, diesem Grenzdokument an der Schwelle zu einem neuen Diskurs.

In der folgenden Darstellung vermischen sich Passagen aus dem Entwurf und aus dem siebten Kapitel der Traumdeutung, da Freud seine Konzeption des Befriedigungserlebnisses im Entwurf zum ersten Mal ausführt und diese Darstellung dann in der Traumdeutung mit leicht verschobener Akzentuierung wieder aufnimmt. Er kommt auch in späteren Schriften noch des Öfteren auf diese Konzeption zu sprechen, zitiert sich dabei aber nur noch selbst; eine konzeptionelle Weiterentwicklung findet nicht mehr statt (vgl. Kirchhoff 2009: S. 21ff).

An den Anfang setzt Freud einen psychische Apparat, der »in seinem ersten Aufbau«, wie er in der Traumdeutung schreibt, nach dem »Schema des Reflexapparates« (Freud 1900a, S. 570) entworfen ist: Jegliche Erregung wird sofort abgeführt. Dieses Modell erweist sich jedoch im Fortgang von Freuds Entwurf schnell als unhaltbar. Der Apparat wird in statu nascendi aus der Bahn geworfen. Das von Freud vorausgesetzte »einfache Funktionieren« muss verlassen werden, wenn »in Form der großen Körperbedürfnisse« die »Not des Lebens« an den Apparat herantritt und ihm den »Anstoß zur weiteren Ausbildung« gibt (ebd.).

In dem Moment also, in dem es ganz und gar unmetaphorisch ums physische Überleben geht, der Apparat beispielsweise Nahrung benötigt, wird das von Freud zugrunde gelegte Reiz-Reaktionsschema überschritten, und zwar in Richtung beginnender Subjektivität. Die Hilflosigkeit des menschlichen Neugeborenen, liest sich mit Freud folgendermaßen: Da der Apparat seine »großen Körperbedürfnisse« nicht allein befriedigen kann, ist er auf einen anderen verwiesen, auf ein »erfahrenes Individuum«, wie Freud es im Entwurf nennt (Freud 1950c, S. 490), welches ihm zur »Erfahrung des Befriedigungserlebnisses« verhelfen soll (Freud 1900a, S. 570). Aufgabe des erfahrenen Individuums sei es, mit der »spezifischen Aktion« eine »Veränderung in der Außenwelt« vorzunehmen, die den Reiz für eine Weile aufhebe und die Spannungsabfuhr ermögliche (Freud 1950c, S. 410). Wichtig ist an dieser Stelle, dass das erfahrene Individuum eine Frage beantwortet, die aus der Perspektive des Apparates noch keine Frage ist, durch die Antwort aber nachträglich zu einer geworden sein wird. Es antwortet auf das, was Freud in der Sprache des Apparates etwas umständlich »Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung« (ebd.) nennt. Weil z.B. dem erfahrenen Individuum das Schreien des Babys etwas bedeutet, und es Schrei wie Hunger stillt, entsteht mit dieser bedeutungskonstitutiven Antwort eine zweite Funktion, nämlich »die höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung« (ebd.). Aus dem scheiternden Versuch der direkten motorischen Abfuhr wird so ein Schreien von Bedeutung. Freud entwirft hier Anfänge zu einer Theorie der nachträglichen Konstitution von Bedeutung: Da die motorischen Aktionen dem erfahrenen Individuum etwas bedeuten, denn genau darin besteht seine Erfahrung, werden sie auch für das Kind bedeutend; durch die Vorgängigkeit der Bedeutung für den anderen übersetzt sich Abfuhr in Kommunikation, die Ebene des körperlichen Bedarfs in psychische Bedeutung.

Freud wendet sich jedoch an dieser Stelle einem anders gelagerten Problem zu: Wie erwirbt der Apparat die Möglichkeit, Realität und Phantasie auseinander zu halten? Die Erkennbarkeit der äußeren Realität wird hier von Freud nicht vorausgesetzt, und auch das unterscheidet seinen Entwurf von den meisten gegenwärtigen Lektüren. Die Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität muss der anfänglichen, diesbezüglich nicht differenzierenden Funktionsweise des psychischen Apparats mühsam abgerungen werden.

Mit dem Wiederauftreten des »Drang- oder Wunschzustandes«, so bezeichnet Freud den erneuten Spannungsanstieg, werde die »Objekt-Erinnerung« erneut besetzt und die Abfuhr eingeleitet. »Ich bezweifle nicht«, fährt Freud fort, »dass diese Wunschbelebung zunächst dasselbe ergibt, wie die Wahrnehmung, nämlich eine Halluzination« (ebd. S. 412, Hervorh. i. Orig.). Da nun aber, wenn das Objekt als anwesend halluziniert wird, die Befriedigung ausbleibt, misslingt der Versuch, die Spannung auf dem nun zur Verfügung stehenden schnellsten Wege abzuführen. Die Lust bleibt aus, da der Reiz bestehen bleibt. Um nun Phantasie und Realität auseinander halten zu können, die Abfuhr nicht fälschlicherweise einzuleiten, muss die Abfuhr der Erregung solange gehemmt werden, bis ein »Realitätszeichen« eintrifft: »Die Einsetzung einer Realitätsprüfung wird als notwendig erkannt« (Freud 1900a, S. 572, FN).

Da der Versuch, per Halluzination zur sofortigen Abfuhr zurückzukehren, vom Apparat um des Überlebens willen aufgegeben werden muss, konzipiert Freud das Denken als einen Umweg zur Wunscherfüllung:

»All die komplizierte Denktätigkeit aber, welche sich vom Erinnerungsbild bis zur Herstellung der Wahrnehmungsidentität durch die Außenwelt fortspinnt, stellt doch nur einen durch die Erfahrung notwendig gewordenen Umweg zur Wunscherfüllung dar. Das Denken ist doch nichts anderes als der Ersatz des halluzinatorischen Wunsches, und wenn der Traum eine Wunscherfüllung ist, so wird das eben selbstverständlich, da nichts anderes als ein Wunsch unseren seelischen Apparat zur Arbeit anzutreiben vermag. Der Traum, der seine Wünsche auf kurzem regredienten Wege erfüllt, hat uns hiermit eine Probe der primären, als unzweckmäßig verlassenen Arbeitsweise des psychischen Apparats aufbewahrt.« (Freud 1900a, S. 572, Hervorh. i. Orig.)

Würde die sofortige Abfuhr nicht gehemmt werden, dann käme es überhaupt nicht zur Ausbildung des psychischen Apparates. Das heißt aber auch, dass der Apparat weder als Reflexapparat noch als Wunschapparat überlebensfähig wäre. Er würde im Übrigen auch nicht nur nicht denken, sondern auch niemals träumen, keine Symptome entwickeln, keine Fehlleistungen vollbringen und nicht über Witze lachen – all diese Äußerungsformen des Unbewussten setzen eine Hemmung der Abfuhr, einen Aufschub voraus. Ein Reflexapparat würde alle Erregungen sofort abführen. Die Pointe der Freudschen Konzeption ist, dass er die gerade erwähnten spezifisch menschlichen Leistungen, die so sublim und kultiviert daherkommen und schon komplexe Umarbeitungen des anfänglich vorausgesetzten Konfliktes von Wunsch und Realität sind, Kompromissbildungen wie Kulturleistungen, mit der Notwendigkeit der Selbsterhaltung beginnen lässt und somit im Körper verankert. Allerdings, und das unterscheidet seinen Entwurf der Konstitution des Psychischen grundsätzlich von allen positiven Entwicklungspsychologien, lässt sich erst nachträglich angeben, welche Verlaufsform der hier anfänglich gesetzte Konflikt aus Wunsch und Lebensnot genommen haben wird, da sich die hier von Freud an den Anfang gesetzte Urszene des Subjekts nur aus ihren Überetzungen und Umarbeitungen rekonstruieren lässt.

Die oben genannten drei Ebenen der Darstellung lassen sich hier noch einmal rekapitulieren: Ökonomik (hier: Abfuhr der Erregungsspannung ausgelöst durch den organischen Bedarf), Dynamik (hier: Konstitution des Konflikts aus Wunscherfüllung qua sofortiger Abfuhr und der Selbsterhaltung geschuldeter Hemmung bis zum Eintreffen eines Realitätszeichens) und Topik (hier: nur die Einführung zweier gegenstrebiger Tendenzen, einen ausdifferenzierten psychischen Apparat gibt es an diesem Punkt der Darstellung noch nicht). An dieser kurzen Darstellung des Befriedigungserlebnisses lässt sich gut sehen, dass Freuds metapsychologische Konzeptionen nicht Namen für beobachtbare Vorgänge sind, sondern im besten Sinne Begriffe: In ihnen und an ihnen zeigt sich, wie Körperliches und Psychisches von Anfang an miteinenader verwoben sind. Natur (repräsentiert durch die Not des Lebens) erscheint immer schon als ihr Anderes. Eine metapsychologischer Begriff, wie hier das Befriedigungserlebnis, stellt den Versuch dar, Vermittlung zu denken, ist daher dialektisch: Unmittelbar empirisch feststellen lassen sich weder der Wunsch noch die Not des Lebens. Indem Freud nicht die Perspektive eines neutralen Beobachters einnimmt, sondern radikal aus der Perspektive des Apparates denkt, erscheinen der Körper und seine Bedürfnisse so unbestimmt, dass man nur feststellen kann: sie sind da und sie müssen befriedigt werden.

Die Anfänge des Psychischen sind so auf doppelte Weise nachträglich bestimmt: durch die notwendige Nachträglichkeit in der Rekonstruktion eines konstitutionslogischen Entwurfs und durch die Nachträglichkeit im Subjekt, da der Wunsch der Freud zufolge den psychischen Apparat antreibt, kein Wunsch nach einem konkreten Objekt ist sondern einen um des Überlebens willen scheiternden Versuch darstellt, nachträglich das einzuholen und wiederzubekommen, was als konstitutiv Verlorenes zum unmöglichen Objekt – es ist keines und wird doch in jedem späteren gesucht – des Wünschens wird.[5] Es ist auch kein Zufall, dass Freud bezüglich des Befriedigungserlebnisses nicht einfach davon spricht, dass der Apparat respektive das Baby Hunger hat, obwohl es sich zweifellos darum gehandelt haben wird. Die Lebensnot, von der Freud hier spricht, hat in seinem Werk eine viel weitere Spanne an Bedeutung:

Sie ist materielle Not, wenn Freud über seine eigene Situation als junger Gelehrter schreibt, in der die »Not des Lebens« ihn »hart anfasste« (vgl. Freud 1899a, S. 545). Sie imponiert als grausames Naturgesetz, etwa wenn Freud ihn seiner Schrift über Leonardo die Sterblichkeit des Menschen thematisiert (Freud 1910c, S. 197). Das Festhalten daran, bezüglich des Todes einem Naturgesetz zu unterliegen, deutet er später wiederum als Rationalisierung der Zufälligkeit des Todes (Freud 1920g, S. 47). Zugleich bezeichnet er die Lebensnot als den »Grund des Denkens«: Ihre Anerkennung, also die Anerkennung des Schicksals, so Freud in Totem und Tabu, sei die erste theoretische Leistung der Menschheit, genau wie das Forschen der Kinder (und das Forschen überhaupt) Produkt der Lebensnot sei »als ob dem Denken die Aufgabe gestellt sei, das Wiedereintreffen (…) gefürchteter Ereignisse zu verhüten« (Freud 1908c, S. 175). Die Kultur sei »auf Kosten der Triebbefriedigung« unter dem »Antrieb der Lebensnot« geschaffen worden (Freud 1916-17a, S. 5f). »Sie (die Lebensnot, Ch. K.) ist eine strenge Erzieherin gewesen und hat viel aus uns gemacht (…).« (ebd. S. 368).

Freud hat dieses weite Bedeutungsspektrum der Lebensnot nicht reflektiert oder gar entwickelt; er hat lediglich in unterschiedlichsten Kontexten auf diesen Terminus zurückgegriffen. Was all den verschiedenen Bedeutungen gemein ist ist, dass die Lebensnot das Subjekt an die äußeren Realität bindet, sich als Anker in der durch die Nahrungsbedürftigkeit des Körper gegebene Realität der Selbsterhaltung der Bewegung des Wünschens entgegenstemmt. Natur insistiert im psychischen Apparat, sie ist konstitutives Moment, der psychische Apparat in Freuds Konzeption geht aber nicht darin auf. Wenn Freud von Lebensnot spricht, dann insistiert er auf die Notwendigkeit der Selbsterhaltung in all ihren in den oben aufgeführten Beispielen angedeuteten Facetten, denkt Subjektivität aber immer vom Wunsch her, und dieser will nichts als Lust: größtmöglichste Befriedigung auf schnellstem Wege.[6]

2. Wie es sich anfühlt Natur zu sein: Zur Neuro-Psychoanalyse

An dieser Stelle ist es an der Zeit, das bisher Entwickelte mit einer ganz anderen Lesart Freuds zu konfrontieren, mit einer, die antritt, die Psychoanalyse zu retten. Ich möchte mich exemplarisch mit dem gemeinsamen Werk zweier prominenter Vertreter der Neuro-Psychoanalyse auseinandersetzen, da die dort ausgeführte Argumentation die Problematik des derzeitig stattfindenden Unterfangens, die Psychoanalyse als Neuro-Psychoanalyse neu zu fundieren, sehr deutlich zeigt. Es handelt sich um »Das Gehirn und die innere Welt« (2004)[7] von Mark Solms und Oliver Turnbull. Hintergrund ihrer Argumentation ist die Annahme eines existenziellen Bedrohungsszenarios, nämlich dass der Druck, »die Psychoanalyse in Bausch und Bogen abzuschaffen« enorm sei (Solms/Turnbull 2004, S. 309). Die Autoren sind gegen die Abschaffung der Psychoanalyse, da diese doch in der Lage sei, »eine Hälfte des Rätsels, mit dem uns die menschliche Psyche konfrontiert«, zu lösen (ebd.). An dieser Stelle ist es entscheidend zu wissen, dass für Solms/Turnbull der psychische Apparat »ein Aspekt der Natur wie jeder andere« (ebd. S. 302) ist, allerdings mit einer »unverwechselbaren Eigenschaft« ausgestattet: »Er ist genau jenes Segment der Natur, das wir selbst inne haben. Er ist wir.« (ebd. Hervorh. i. Orig.). Daher könnten wir ihn aus einer »einzigartigen Perspektive« beobachten: »Wir wissen, wie es sich anfühlt, ein psychischer Apparat zu sein.« (ebd. Hervorh. i. Orig.) Die Perspektive auf den psychischen Apparat, welche diesen als Objekt der Naturwissenschaft und damit auch der Naturbeherrschung sieht, wird von den Autoren nicht reflektiert oder gar problematisiert, sondern lediglich äußerlich durch eine weitere Perspektive ergänzt. Gedächtnis und andere mentale Systeme nämlich könnten nicht nur mit naturwissenschaftlichen Methoden beobachtet sondern auch noch im Hinblick auf die Frage untersucht werden, »wie es sich anfühlt, solche Systeme zu sein« (ebd. Hervorh. i. Orig.). Zunächst wird also der psychische Apparat des Menschen auf Natur reduziert und damit die bei Freud vorliegende Konfliktstellung des Menschen zwischen Natur und Kultur, die darin gründet, dass das Psychische eben nicht in Natur aufgeht, unterschlagen. Wenn nun der psychische Apparat ein Teil der Natur ist, dann könnte mit ihrem Gegenstand, dem psychischen Apparat, situiert zwischen Natur und Kultur, auch die Psychoanalyse selber obsolet werden. Sie wird aber an dieser Stelle als Hilfswissenschaft wieder eingeführt, welche für die zweite Perspektive zuständig sein soll, nämlich eben dafür, wie es sich anfühlt, ein psychischer Apparat zu sein. Bezeichnenderweise wird für diese Behauptung, ausnahmsweise nicht Freud als Gewährsmann angeführt, der – so die Standardrhetorik am Anfang fast jedes programmatischen Aufsatzes zum Thema Neuro-Psychoanalyse – sich genau das erhofft habe, was nun endlich möglich sei und was die Neuro-Psychoanalyse mache: Die Psychoanalyse naturwissenschaftlich zu begründen.[8]

Solms/Turnbull entwickeln ein dichotomes Modell der Psyche, auch wenn sie den Anspruch erheben, die »irreführende Dichotomie« der Aufteilung des psychischen Apparates in zwei Stoffe (Gehirn und Selbst) unterlaufen zu wollen, indem sie behaupten, es mit einem Gegenstand zu tun zu haben, der lediglich aus zwei Perspektiven betrachtet wird (ebd. S. 303). Wenn der psychische Apparat Natur wie jede andere auch ist, dann ist konsequenterweise die Metapsychologie nicht das Aufgabenfeld der Psychoanalyse, schreiben Solms/Turnbull doch eine Seite vorher, dass »Metapsychologie (das heißt die Beschreibung der funktionellen Architektur des psychischen Apparats)« das sei, womit sich die Kognitionswissenschaften beschäftigten, welche sich in dieser Hinsicht (dass sie es mit Abstraktionen zu tun hätten, Ch. K.) nicht von anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen unterschieden (ebd. S. 301).

Zwei Seiten weiter allerdings taucht, nachdem in der bisher nachgezeichneten Argumentation vom psychischen Apparat oder vom Gehirn die Rede war, auf einmal wie aus der sprichwörtlichen Flasche der Geist auf: Psychoanalyse und Neurowissenschaften hätten sich heute immer mehr zu sagen, weil die Neurowissenschaftler begonnen hätten, »sich auch für die inneren Funktionsweisen des Geistes zu interessieren« (ebd. S. 303, Hervorh. i. Orig.). Der Ort dieses Geistes bleibt aber ungeklärt, der psychische Apparat kann es zumindest nicht sein.

Die Metapsychologie im oben dargestellten Sinn gehört, wenn es, wie Solms und Turnbull nachdrücklich betonen »nur einen psychischen Apparat« (ebd. S. 323) gibt, dieser Teil der Natur ist, und die Metapsychologie Aufgabe der Kognitionswissenschaft ist, die sich hier als Naturwissenschaft versteht, sicherlich zu den »altehrwürdige Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie (gehören), die der wissenschaftlichen Überprüfung nicht mehr standhalten« und daher, wolle die Psychoanalyse nicht abgeschafft werden, »zu revidieren oder durch andere zu ersetzen« seien (ebd. S. 309).

Die erkenntnistheoretische Position, die Solms und Turnbull vertreten, nennen sie »Doppelaspekt-Monismus«. Dieser erkenne an, »dass wir aus lediglich einem Stoff bestehen«, behaupte aber zugleich, »dass dieser Stoff auf zwei unterschiedliche Weisen wahrgenommen werde« (ebd. S. 70). Das Gehirn erscheine körperlich, wenn man es von außen betrachte, und mental, wenn man es von innen betrachte (ebd.). Den Unterschied zwischen Körper und Seele erklären sie kurzerhand zu einem »Wahrnehmungsartefakt« (ebd. S. 71). An dieser Stelle wäre es interessant zu wissen, in welcher Bedeutung Artefakt hier verwendet wird, reicht das Bedeutungsspektrum dieses Begriffes doch vom allgemein menschlich Hervorgebrachten im Gegensatz zum passiv Vorgefundenen bis zu von den Untersuchungsinstrumentarien hervorgebrachten Resultaten z.B. in der empirischen Sozialforschung oder zum schlicht verfälschten Ergebnis einer technischen Messung. In den beiden letzten Gebieten ist ein Artefakt eine Störung, der man beizukommen trachtet. Allen Bedeutungen von Artefakt ist gemein, dass es notwendig ist, von einem echten Ergebnis auszugehen, von der dann das Artefakt abweicht. Verfolgt man die Argumentation von Solms/Turnbull weiter, dann kann man zu dem begründeten Verdacht kommen, dass die subjektive Wahrnehmung eher eine Störung des Blicks auf den einen Gegenstand in seiner Objektivität darstellt.

Notwendig wird der Doppelaspekt-Monismus den Autoren zufolge – und an dieser Stelle wird dann auch deutlich, was für hemmungslose Positivisten Solms und Turnbull sind – da wir selber das seien, was wir beobachten. Das heißt nämlich auch, dass es das Problem dann ihrer Meinung nach für Objekte in der Außenwelt nicht gibt. Programmatisch stellen sie fest: »es gibt tatsächlich nur ein einziges 'Ich'« (ebd. Hervorh. i. Orig). Für Solms und Turnbull läuft das Leib-Seele-Problem »letztlich auf ein Problem der Beobachtungsperspektive« hinaus, das schwierige Problem – damit ist gemeint, wie Bewusstsein aus Materie hervorgeht (vgl. ebd. S. 61f), also der schon von Freud problematisierte Übergang von Quantitä in Qualität, löse sich damit in Luft auf (ebd. S. 72).[9]

An der Stelle, an der der Verzicht auf altehrwürdige Konzepte gefordert wird, wird der »psychoanalytisch vorgebildete Leser« getröstet (ebd. S. 309). Er habe schließlich schon den ersten Schritt getan, »nämlich den anfänglichen Widerstand überwunden, der unsere beiden Disziplinen voneinander trennt« (ebd.). Dies sei, so die Diagnose, ein »sehr wichtiger Schritt«, mit dem sich der Leser »der Avantgarde von Gleichgesinnten angeschlossen habe« (ebd. S. 310). Diese Widerstände überwunden zu haben, scheint sehr lohnend, versprechen Solms und Turnbull doch nicht gerade wenig:

»Wir befinden uns am Beginn eines aufregenden, neuen Zeitalters der Wissenschaft vom menschlichen Geist (!). Alle Möglichkeiten stehen uns offen. Wir werden schon bald – endlich – in der Lage sein, unsere 'innere Welt' in messbaren, physikalischen Einheiten zu untersuchen.« (ebd. S. 323)

Hier steht dann die 'innere Welt' nicht nur in Anführungszeichen sondern ist auch komplett zum Gegenstand der Naturwissenschaft geworden und damit auch zu vermessen. Die Psychoanalytiker, denen ein ähnliches Anliegen unterstellt wird, sind an der Vermessung der inneren Welt bisher gescheitert, sei es ihnen doch in hundert Jahren nicht gelungen, »die wissenschaftliche Community davon zu überzeugen, dass sie den Gesetzen, denen dieser wunderbarste und geheimnisvollste Teil der Natur – unser Selbst – gehorcht, wirklich auf die Spur gekommen ist« (ebd., falsches Deutsch i. Original). Dem Versprechen folgt die Drohung:

»Natürlich können die Psychoanalytiker es vorziehen, sich weitere hundert Jahre lang von der Neurowissenschaft fernzuhalten, doch wir haben kaum Zweifel daran, dass dies für die Psychoanalyse ebenso wie für die Neurowissenschaft von Nachteil wäre. Es gibt nur einen psychischen Apparat. Langfristig wird sich eine umfassende Neurowissenschaft der subjektiven Erfahrung (?) entwickeln – mit der Psychoanalyse oder ohne sie. Wenn sich die Psychoanalytiker jetzt zur Kooperation entschließen, wird dies den Prozess zweifellos beschleunigen und unschätzbar bereichern. Trotzdem ist die Neurowissenschaft in der Lage, auch im finsteren Wald allein ihren Weg zu finden und sich zu orientieren.« (ebd. Hervorh. i. Orig.)

Sollten sich aber eine »nennenswerte Anzahl von Psychoanalytikern« bereit finden zu kooperieren, würden diese für ihre Anstrengungen »reich entschädigt, indem sie eine radikal neue Psychoanalyse hervorbringen« (ebd.). »Diese Psychoanalyse« – aber auch nur diese – »wird ihre Vorrangstellung als Wissenschaft der menschlichen Subjektivität behalten – als jene Disziplin, die den 'Stoff' der individuellen Erfahrung erforscht, das Leben eines Lebens.« (ebd. S. 324, Hervorh. i. Orig.)

Auch an dieser Stelle wird nicht klarer, was denn nun noch der Gegenstand der Psychoanalyse sein soll, wenn es nicht mehr der psychische Apparat ist. Das Leben eines Lebens ist, kursiviert oder nicht, schlicht Nonsens, von menschlicher Subjektivität zu sprechen, wenn die gesamte Psyche nichts als Natur sein soll, ebenfalls. Von der Psychoanalyse bleibt hier nur die Methode.

Wenn Solms/Turnbull anschließend fortfahren, dass man vom »gesicherten Terrain aus« einmal erklären könne, »so funktioniert der menschliche Geist wirklich« (ebd.), steht das Vokabular der militärischen Landnahme hier nicht zufällig. Der Ansatz von Solms und Turnbull macht das Gehirn zum ersten, das Mentale, reduziert aufs Fühlen wird zu einer Eigenschaft des Neuronalen, welches ihm nur in der subjektiven Selbstwahrnehmung zukommt. Wenn der ganze psychische Apparat darauf reduziert wird, ein Teil der Natur zu sein, dann wird die Metapsychologie im Freudschen Sinne, nämlich als auf klinische Erfahrung und auf Spekulation gegründete Konzeption des psychischen Apparates, zur Freudschen Verlegenheitslösung. In der schönen neuen aufgeräumten Welt der Neuro-Psychoanalyse von Solms/Turnbull ist für freudsche Metapsychologie kein Platz mehr.

Das zeigt sich auch daran, was mit den psychoanalytischen Konzepten passiert, wenn sie »mühelos in eine neurowissenschaftliche Terminologie« übersetzt werden (ebd. S. 298). Als Beispiel mag hier die Verdrängung dienen. Unter der Überschrift »Neurobiologie der 'Redekur'« referieren Solms/Turnbull zunächst die Eigenschaften der Präfrontallappen. Diese stellten eine allen anderen Teilen des Gehirns übergeordnete Struktur dar, deren Aufgabe es ist, gegenwärtige Informationen, die das Gehirn erreichen, mit an anderen Orten des Gehirns gespeicherten Informationen aus der Vergangenheit in Verbindung zu bringen, auf deren Grundlage dann der optimale Handlungsablauf berechnet werden könne (ebd. S. 298f). Verdrängung wird nun definiert als ein Prozess, der diesen Prozess der Handlungsoptimierung kurzschließt, das Verdrängte ist der Teil der Hirnaktivität, »der von dem übergreifenden Netzwerk der Exekutivkontrolle durch die Präfrontallappen ausgenommen ist« (ebd. S. 299). Ziel der Redekur ist dann konsequenterweise, den »funktionellen Einflussbereich der Präfrontallappen« zu erweitern. In der erläuternden Fußnote wird deutlich, was Solms/Turnbull meinen, wenn sie vom Unbewussten sprechen: Das Ziel der Erweiterung der Einflussnahme der Präfrontallappen bleibe ein Ideal, weil es disfunktional wäre, wenn jeder Aspekt der funtkionellen Aktivität des Gehirn der selektiven Kontrolle der Präfrontallapen untergeordnet wäre (vgl. ebd. FN). Unbewusst ist also nicht, was als unerträglich verdrängt werden musste, sondern schlicht, was ohne den Umweg übers Bewusstsein genauso gut läuft. Was hier Verdrängung heißt, ist ein rundum funktionalistischer Prozess. Verdrängung wird hier reduziert auf das, was Freud in »Die Verdrängung« als deren Wesen beschrieb: »Abweisung und Fernhalten vom Bewussten« (Freud 1915d: S. 250). Nun gehört zur Verdrängung bei Freud aber die Sexualität und die Vielfalt der Symptome zeigt, dass Verdrängung nicht funktional ist im Sinne der Optimierung von Handlungsabläufen, im Gegenteil.

Die Neuro-Psychoanalyse ist nicht der erste Versuch, die Psychoanalyse zu retten, indem versucht wird, sie auf die Basis empirischer Verfahren zu stellen, steht aber anders als vorangehende Versuche in einem breiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext.[10] Die gegenwärtig stattfindende Reformulierung der Psychoanalyse als Neuro-Psychoanalyse sollte als Teil einer unter dem Vorzeichen des 'Neuro' stattfindenden umgreifenden Rebiologisierung des Sozialen und Kulturellen verstanden und kritisiert werden. Bedenklich, wenn nicht ärgerlich ist, dass Geistes- und Sozialwissenschaftler_innen, anstatt dies zu tun, oftmals – auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Forschungsgeldern – ihr eigenes Überflüssigwerden betreiben, indem sie ihr Fach mit der Vorsilbe Neuro- ausstatten, den entsprechenden inhaltlichen Turn vollziehen und somit langfristig ihre Daseinsberechtigung ad absurdum führen, was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht damit auch ihr Gegenstand spezifisch menschliche Dimensionen abgesprochen bekäme. So verhält es sich auch mit der Metapsychologie Freuds, die man vielleicht auch deswegen loszuwerden trachtet, weil sie empfindlich dabei stört, die Psychoanalyse in den Kanon der positiven (Neuro-)Wissenschaften einzugliedern.

3. Hexenjagd. Oder: Wobei stört Metapsychologie?

Worum aber geht es, wenn man sich der Metapsychologie als überholter zu entledigen trachtet? An dieser Stelle möchte ich zusammenfassend einige Thesen formulieren, was der Grund dafür sein könnte, das durchaus erleichtert auf die Metapsychologie verzichtet wird.

Es geht dabei unter anderem um ein zentrales Moment der psychoanalytischen Theorie, um das Konzept der Sexualität. Bei Freud findet sich diesbezüglich eine interessante Metapher: Bekanntlich bezeichnete Freud die Metapsychologie als Hexe (vgl. Freud 1937c, S. 69). Weniger bekannt ist vielleicht, dass Freud auch die Hysterika mit der Hexe verglich: »Warum«, fragt er sich in einem Brief an Fließ, »sind die Geständnisse auf der Folter so ähnlich den Mitteilungen meiner Patienten in der psychischen Behandlung« (Freud 1985c, S. 237)? Freud sprach sogar davon, sich den »Hexenhammer« zu bestellen, um die dort aufgeführten Phänomene als hysterische Symptome zu entschlüsseln (ebd. S. 239). Bei beiden, Hexen wie Hysterikerinnen, ist es das Sexuelle, das imponiert: Das überschießende, unpassende, unverständliche, anstößige Sexuelle. Freud stellt mit der Wahl der Metapher Hexe eine Parallele zwischen der Metapsychologie und den Symptomen der Hysterikerinnen her. Die Austreibung der Metapsychologie aus der Psychoanalyse kann insofern als Hexenjagd bezeichnet werden, als dass der Psychoanalyse mit der Metapsychologie auch die beunruhigende Sexualität ausgetrieben wird.

Die Metapsychologie scheint darüber hinaus in mehrfacher Hinsicht störend zu sein. Ich möchte dies kurz zusammenfassen:

Metapsychologie stört dabei, die Psychoanalyse auf eine klinische Methode zu reduzieren, da metapsychologische Begriffe in klinische brauchbare Begriffe übersetzt werden müssen. So kann beispielsweise der Todestrieb als Aggression gegen sich und andere erscheinen, ist aber als »Aggressionstrieb« nicht zu fassen und erst recht nicht mit Modellen, in denen Aggression aus Frustration resultiert. Metapsychologische Begriffe fordern generell Übersetzung ein bzw. enthalten diese konzeptionell.

Folglich stört die Metapsychologie empfindlich dabei, die Psychoanalyse zu positivieren. Der Trieb ist nur in seinen Repräsentanzen zu haben, der unbewusste Wunsch, der Freud zufolge allein den psychischen Apparat antreiben kann, ist nur in seinen Abkömmlingen zu haben, die Not des Lebens resultiert aus dem physiologischen Bedarf des organischen Körpers, tritt aber in dieser Reinform nie auf – und so weiter und so weiter.[11] Metapsychologisches muss erscheinen. Damit aber ist es mit sich selbst nicht identisch. Diese Nichtidentität des Subjektes mit sich selbst als auch die Negativität der Theorie, die sich nicht ohne Verluste in positives Wissen überführen lässt scheint im doppelten Sinne eine Zumutung zu sein.

Aus dem letzten Punkt ergibt sich, dass die Metapsychologie bei der Vereinnahmung und Neutralisierung der Psychoanalyse stört, was wiederum erklärt, warum sie so beflissen für überflüssig erklärt wird. Sie stört deswegen dabei, die Psychoanalyse naturwissenschaftlich zu »fundieren«, da sie sich nicht beweisen lässt, und zwar grundsätzlich nicht, und nicht weil irgendeine empirische Messmethodik noch nicht so weit wäre.

Sie stört auch dabei, das Projekt der Kulturarbeit für abgeschlossen zu erklären, bei dem Versuch, wie man mit Freud sagen kann, die Zuydersee vollständig trockenzulegen: Freud sprach ja bekanntlich davon, dass das Projekt der Kulturarbeit dem Versuch ähnle, die Zuydersee trockenzulegen und ähnlich unabschließbar sei. Bei Freud heißt es »Wo Es war, soll ich werden« (Freud 1933a, S. 86). Damit formuliert er eine Hoffnung, nämlich auch, das im emphatischen Sinne vernünftige Verhältnisse – zu sich selbst und zu den anderen – möglich sein könnten, dass die leise Stimme des Intellekts, von er an anderer Stelle sprach, einmal doch gehört werde (vgl. Freud 1927c, S. 377). Freuds Formulierung impliziert allerdings auch eine vertrackte Form der Zeitlichkeit, da sie eine unendliche Aufgabe formuliert: Die Differenz liegt darin, dass es heißt, 'Wo Es war, soll ich werden' und nicht 'Wo Es war, soll ich sein'. Letzteres ist ein endlicher Prozess und hat vermutlich etwas mit den unbewussten Phantasien zu tun, die die Neurowissenschaften so attraktiv machen, wenn sie schon wie beispielsweise Solms/Turnbull vollmundig versprechen, die gesamte Innenwelt vermessbar zu machen. Die im Unbewussten wirkenden, nie zu stillenden und dazu auch noch sexuellen Wünsche in all ihrer unheimlichen Abgründigkeit, die sich zwar umarbeiten und eindämmen lassen, aber niemals Ruhe geben, scheint man so loswerden zu wollen.

Nicht zuletzt stört die Metapsychologie Bequemlichkeit wie Denkfaulheit: Es handelt sich im besten Sinne um das, was Adorno in einer Vorlesung als Erkenntnis bezeichnete, die man nicht in der Tasche nach Hause tragen könne. Sie ist anstrengend, kann nicht angeschaut werden, die Beschäftigung mit ihr ist unabschließbar, sie lässt sich nur sehr begrenzt auswendig lernen, man positioniert sich mit ihr, ob man will oder nicht, man kann sie nur denken und weiterdenken. Sie erfordert die Mühen des Lesens und Wiederlesens, sie lässt einen Höhenflüge erleben und sie kränkt, auf der sicheren Seite ist man nie so richtig – kurz: Man hat es mit einer Leidenschaft im Sinne des Wortes zu tun, wenn auch mit einer intellektuellen.

Das bis hierher ausgeführte gilt für die gesamte Metapsychologie, lässt sich aber besonders gut am Streit um den Todestrieb sehen, um den, so denke ich, häufig stellvertretend gestritten wird.[12]

3. Ausblick

Wenn man die Psychoanalyse nicht komplett entkernen möchte, wenn man an ihrem gesellschaftskritischen und subjektkritischen Gehalt interessiert ist, kurz, wenn man den »Stachel Freud« nicht ziehen will, dann gelingt dies nur mit der Metapsychologie und zwar inclusive dessen, was Freud mit einer seiner glücklichen Formulierungen das »Leitseil der Erfahrung« (Freud 1932b, S. 273) nannte, nämlich den spekulativen Anteil daran. Weiter zu untersuchen wäre, inwiefern die Metapsychologie Freuds nicht nur stört, sondern einen Denkraum offenhält, in dem es möglich ist, sowohl festzustellen, was gegenwärtig – subjektiv wie gesellschaftlich – der Fall ist als auch, was der Fall sein könnte. Sie erlaubt es, psychische Prozesse auf einem allgemeinen, subjektkonstitutiven Niveau zu denken. Die Implikationen und das Potential der Metapsychologie wären aus heutiger Perspektive weiterzudenken. Und dafür sollte man offensiv eintreten, ohne sich zu schämen, denn auch hier lässt sich eine Parallele zu dem eingangs zitierten Aufsatz Adornos ziehen:

»Solange der Philosophie die leiseste Spur des Titels eines vor mehr als dreißig Jahren publizierten Buches eines Altkantianers 'Aus der Philosophenecke' anhaftet, solange ist Philosophie der Spaß, den ihre Verächter mit ihr treiben.« (Adorno 1962, S. 473)

Um Veränderung denken zu können, bedarf es einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Teil davon ist eine Psychologie, die das Adjektiv politisch verdient. Diese bedarf der Psychoanalyse als der »einzigen« und zwar einer, der die metapsychologischen Mucken nicht ausgetrieben wurden.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1937): Neue wertfreie Soziologie. In: Gesammelte Schriften 20.1 (S. 13-45). Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (1952): Die revidierte Psychoanalyse. In: GS 8 (S. 20-41). Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (1962): Wozu noch Philosophie. In: GS 10.2 (S. 459-473). Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. In: GS 6 (S. 7-412). Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (1973): Philosophische Terminologie. Band 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (1977): Das Bewusstsein der Wissenssoziologie. In: GS 10.1 (S. 31-46). Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Freud, Sigmund (1895d): Studien über Hysterie. In: GW I (S. 75-312). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1899a): Über Deckerinnerungen. In: GW I (S. 531-554). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1900a): Die Traumdeutung. In: GW II/III (S. 1-642). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1908c): Über infantile Sexualtheorien. In: GW VII (S. 171-188). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1915e): Das Unbewusste. In: GW X (S. 264-303). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1920g): Jenseits des Lustprinzips. In: GW XIII (S. 1-69). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1925d): Selbstdarstellung. In: GW XIV (S. 31-96). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1926f): 'Psycho-Analysis'. In: GW XIV (S. 297-307). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1927c): Die Zukunft einer Illusion. In: GW XIV (S. 325-380).

Freud, Sigmund (1932b): 'Geleitwort' zu Nunberg, Hermann, Allgemeine Neurosenlehre auf psychoanalytischer Grundlage, Bern 1932. GW XVI (S. 273). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1933a): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: GW XV (S. 1-208). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1937c): Die endliche und die unendliche Analyse. GW XVI (S. 59-99). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1950c): Entwurf einer Psychologie. In: GW Nachtragsband (S. 387-477). Frankfurt/Main: Fischer.

Freud, Sigmund (1985c): Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe. Hg. von Jeffrey Moussaief Masson. Dt. Fassung von Michael Schröter. Frankfurt/Main: Fischer.

Kirchhoff, Christine (2009): Das psychoanalytische Konzept der 'Nachträglichkeit'. Zeit, Bedeutung und die Anfänge des Psychischen. Gießen, Psychosozial-Verlag. S. 233-274.

Kirchhoff, Christine (2010a): Vom Überleben des Wunsches als Todestrieb. Nachträglichkeit, Subjekt und Geschichte bei Freud. In Falko Schmieder (Hrsg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen. München: Fink. (erscheint im Juni 2010)

Kirchhoff, Christine (2010b): Hoffnung, Aufschub, Reihenbildung. Freud und die Naturwissenschaften. In Christine Kirchhoff & Gerhard Scharbert (Hg.): Freuds Referenzen. Berlin: Kadmos. (erscheint Ende 2010)

Solms, Mark & Oliver Turnbull (2004): Das Gehirn und die innere Welt. Düsseldorf: Patmos.

Zunke, Christine (2008): Kritik der Hirnforschung. Berlin: Akademie Verlag.

Endnoten:

[1]

Dieser Gedanke, dass das Überleben der Philosophie in ihrer gescheiterten Verwirklichung gründet, ist bei Adorno zentral. So steht am Beginn der Negativen Dialektik eine ähnliche Formulierung: »Philosophie erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« (Adorno 1966, S. 15) Philosophie würde also allein durch ihre Verwirklichung veralten und nicht durch technischen Fortschritt, die Medien der Naturerkenntnis betreffend.

[2]

Gemeint sind Techniken zur Visualisierung der Hirnaktivität wie die Positronenemissions-Tomographie (Pet) und die funktionelle Magnetresonanz-Tomographie (fMRT).

[3]

Dass Freud seine Hoffnungen nicht in die bildgebenden Verfahren seiner Zeit – man denke an den Röntgenapparat – setzte, sei hier nur kurz erwähnt.

[4]

Das entspricht der Konzeption des psychischen Apparates aus dem »Entwurf einer Psychologie« (Freud 1985c).

[5]

Es ist kein Zufall, dass die Passagen des Entwurfs, in denen Freud das Befriedigungserlebnis behandelt (Freud 1950c, S. 410f), in den gegenwärtigen neurowissenschaftlich ambitionierten Neulektüren des Entwurfs keine Rolle spielen, ähnlich wie diejenigen, in denen es um die Fallgeschichte von Emma geht (ebd. S. 444ff), in der Freud mit die Nachträglichkeit und die Zweizeitigkeit der Sexualität behandelt. Dies liegt meines Erachtens daran, dass Freud in beiden Passagen den Boden der Neurologie, der ihm bezüglich des Entwurfes gerne untergeschoben wird, in einer Deutlichkeit verlässt, die kaum umzudeuten ist.

[6]

Mit der ihm eigenen Hellsichtigkeit sah Adorno das »gesellschaftliche Moment« bei Freud in der Lebensnot, »einigermaßen abstrakt, als ein der Psychologie Äußerliches« (Adorno 1966, S. 88). Die Lebensnot sei es, so Adorno an anderer Stelle, die »unter immerwährender katastrophischer Bedrohung und aberwitzigen Opfern den (gesellschaftlichen, Ch.K.) Mechanismus in Gang hält« (Adorno 1977, S. 32, vgl. auch Adorno 1937, S. 20). Allein durch »Leiden, Lebensnot« sieht Adorno das Individuum an die Totalität gebunden (Adorno 1952, S. 35). Siehe hierzu Kirchhoff 2009, S. 49ff.

[7]

Das englische Original erschien 2002. Ich arbeite mit der deutschen Übersetzung von 2004.

[8]

Zu dieser Argumentationsfigur und dem Umgang mit den dazu angeführten Freudpassagen siehe Kirchhoff 2010a.

[9]

Christine Zunke hat die erkenntnistheoretischen Position, wie sie Solms/Turnbull vertreten, in »Kritik der Hirnforschung« diskutiert (vgl. Zunke 2008: S. 93ff). Ein solcher »Eigenschaftsdualismus« sei keine vollständige Theorie, da ihm systematisch das logische Subjekt seiner Überlegungen fehle, nämlich die Subjekte, deren Eigenschaften Mentales und Neuronales sind (ebd. S. 95). Solms/Turnbull gehen an keiner Stelle darauf ein, aus welcher Perspektive sie eigentlich zu ihren Lesern sprechen.

[10]

Auch bei anderen »Ergänzungen« der Psychoanalyse, die sich als Ersetzung dessen, was sie ausmacht, entpuppten, steht die Metapsychologie zur Disposition. Ich denke dabei z.B. an die experimentelle Säuglingsforschung. Siehe hierzu die kritische Auseinandersetzung mit der »Ergänzung« der Psychoanalyse durch Ergebnisse experimenteller Säuglingsforschung in Kirchhoff 2009.

[11]

Dass Freud sich nicht nur über die Unmöglichkeit, den Gegenstand der Psychoanalyse, das Unbewusste, unmittelbar zu fassen zu bekommen, durchaus bewusst war, sondern ihm auch erkenntnistheoretische Vorbehalten gegenüber einer positivistischen Position geläufig waren, zeigt folgende Passage: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.« (Freud 1900a, S: 617f, Hervorh. i. Orig.)

[12]

Ich habe mich an anderer Stelle ausführlich mit der Kontroverse um den Todestrieb und seine Stellung innerhalb der Freudschen Triebtheorie beschäftigt. Siehe dazu: Kirchhoff 2009, S. 62ff und Kirchhoff 2010a.

Autorenhinweis

Christine Kirchhoff

Dr. Christine Kirchhoff, Dipl.-Psych., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Freud und die Naturwissenschaften" am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse und Neurowissenschaft, psychoanalytische Subjekttheorie und Konzeptforschung, Nachträglichkeit, Kritische Theorie.

Dr. Christine Kirchhoff, Dipl.-Psych. Schützenstr. 18 D-10117 Berlin

E-Mail: kirchhoff@zfl-berlin.org