«…wirst Du mich dreimal verleugnen« – Skizze zur Politischen Psychologie

Klaus-Jürgen Bruder

Zusammenfassung

Die Skizze zur politischen Psychologie stellt die Verleugnung der gesellschaftlichen Macht als den entscheidenden Beitrag zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsverhältnisse »von unten« dar.

Solche Verleugnung findet statt »im Angesicht der Macht«, »erzwungen« durch die Macht – von der die Verhältnisse durchzogen sind, sichtbar in ihren Wirkungen, repräsentiert in ihren Vermittlern, der »politischen Klasse«, wozu die Medien sich selbst rechnen.

Deshalb oder damit ist Verleugnung zugleich: Unterwerfung unter die (Forderung, Zumutung der) Macht, Affirmation der Macht, trägt zur Aufrechterhaltung (des Diskurses) der Macht bei – der entscheidende Mechanismus der Reproduktion der Macht – »von unten«.Diese Verleugnung greift auf der Ebene des Diskurses der Macht ein. Deshalb ist Parrhesia, die Regeln des Diskurses der Macht nicht zu befolgen, so bedrohlich für die Macht.

Schüsselwörter: Diskurs der Macht, Parrhesia, Politische Psychologie, Psychoanalyse, Subjektivierung, Triangulierung, Verleugnung

Summary

The outline of political psychology shows how the disavowal of societal power constitutes a decisive part of maintaining existing power relations in a bottom up process.

Such disavowal happens »in the face of power«; »enforced« by power that is present in all societal circumstances: it is visible in its consequences, represented in its facilitators which is the political elite and the media which considers itself to be part of this elite.Given this, disavowal is at the same time subjugation by power (and its demands and impositions), affirmation of power, fosters the conservation of (the discourse of) power. It is the decisive mechanism of reproduction of power in a bottom up process.This disavowal intervenes on the level of the discourse of power. That’s why Parrhesia’s disobeying of the rules of the discourse of power entails a danger to power.

Keywords: discourse of power, Parrhesia, political psychology, psychoanalysis, subjectivication, triangulation, disavowal

Die Definitionen der »politischen Psychologie« bzw. ihres Gegenstandes sind vielfältig. Deshalb will ich zunächst meine Vorstellung skizzieren. Meine Frage: was trägt das Individuum, was tragen die Individuen dazu bei, was erleichtert es ihnen, – auch gegen ihren Willen – dazu beizutragen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erhalten, so wie sie sind: »von Machtstrukturen durchzogen«, sie zu »reproduzieren« – gemäß der berühmten Formel Foucaults: »Die Macht kommt von unten« (Foucault 1975-76, S. 66; 1976 & 1984, S. 115; 1977-1978, S. 387).

Wenn man davon ausgeht, wie ich es tue, dass diese Verhältnisse den Individuen, bzw. der Mehrheit der Individuen, nicht nur zum Vorteil gereichen, materialistisch ausgedrückt: dass sie nicht befriedigend in ihnen leben können (wie Brückner mal formulierte, a.a.O), sondern (durchaus auch) unzufrieden mit dem Zustand ihres Lebens in diesen Verhältnissen sind, so bietet ihre Möglichkeit, so zu tun, »als ob« sie zufrieden wären, also die dieser Behauptung widersprechende »Realität« zu »verleugnen« (Erdheim 1982) eine Erklärung.

Der Begriff der »Verleugnung« ist zugleich einer der frühesten der Psychoanalyse. Wäre das nicht ein guter Zugang zur Politischen Psychologie?

Bevor ich damit beginne, diesen Begriff aus dem psychoanalytischen Diskurs heraus zu entfalten, möchte ich einige allgemeinere Anmerkungen machen. Dass zur Zeit – die als Zeit der »Krise« zu bezeichnen wahrscheinlich kaum auf Widerspruch stoßen wird – dass also zur Zeit viel Verleugnung im Spiel ist, ist ebenfalls kaum zu bestreiten: »Was soll man auch machen«, was soll man auch anders machen, als – die Drohungen der Inflation, der Entwertung der finanziellen Rücklagen, der Zerstörung der Absicherungen der Lebensgrundlagen nicht so ernst zu nehmen, aus dem Blick zu schieben, zu verleugnen, jedenfalls ihnen dadurch ihre Bedrohlichkeit zu nehmen?

Die Kehrseite dieses »Realismus« der Verleugnung ist der Irrationalismus, buchstäblich nichts zu tun – zur Abwehr der Gefahren: der Extraprofit für die für die Zustände der »Krise« Verantwortlichen: sie ihrerseits brauchen sich nicht bedroht zu fühlen, es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das umkehrt, keine Anstrengungen, keine Bewegung.

Hier klinken Verleugnung auf der Seite des »man« (»man kann nichts machen«) und Verleugnung auf der Gegenseite derer, die sich gerne mit »wir« vorstellen, durchaus mit die »man« vereinnahmender Absicht, ineinander. Das »Wir« (der Politiker, Journalisten, »Stützen der Gesellschaft« usw.) sagt nichts anderes: »die Krise ist vorüber«, »wir müssen zwar noch … aber es geht wieder aufwärts« – ebenfalls eine Verleugnung? Oder eher eine Lüge? Jedenfalls ist es nicht das »man kann nichts machen«, sondern ein »Wir machen nichts (nichts anderes), wollen nichts anderes machen.

In nicht mehr zu zählenden Beispielen ist das erdrückende Gewissheit – ob im Fall des Krieges, wo die Wahrscheinlichkeit, dass dieser für den Westen nicht zu gewinnen ist, größer ist als das Gegenteil (und wo die Bevölkerung mit großer Mehrheit die Fortsetzung des Krieges ablehnt – und jetzt droht bereits der dritte: im bzw. gegen den Iran) oder im Fall der Banken»rettung«, wo die Wahrscheinlichkeit, dass das Geld in neue Spiele der Geldvernichtung gesteckt wird, – man sieht es ja schon wieder – größer ist als das Gegenteil (dass damit »die Wirtschaft« »angekurbelt wird).

Zweierlei Verleugnung: »man kann nichts machen« und »Wir wollen nichts machen«. Verleugnung und Erhaltung des status quo greifen ineinander. Aber auch: die »Wir« tun alles, um die Verleugnung der »man« aufrecht zu erhalten: sie sind es, die der Verleugnung der »man« Futter geben, sie unterhalten diese: Die Funktion des Diskurses – der Macht.

Diese Verleugnung (der »Wir«) hat nicht (nicht nur) die Funktion der Selbstberuhigung (wie bei der Verleugnung der »man«), sondern der Beruhigung der »man«, ihrer Täuschung, (nicht nur der Selbsttäuschung), die Funktion der Lüge.

»Lüge und Politik«: damit sind wir durchaus auf bekanntem Boden der Politischen Psychologie. Es war Hannah Arendt (1971), die den Politiker mit dem Lügner auf eine Stufe gestellt hatte. Von ihr stammt die Formel vom »Lügner als Politiker par excellence«(Bruder 2009, S. 22, 122). Sie hat es getan auf der Basis der Charakterisierung beider als »Männer der Tat«, die beide die Welt verändern möchten. Der Lügner stelle die Welt so dar, wie er sie haben möchte, wie er will, dass man sie sieht. Er verändert die Realität, indem er behauptet, sie sei bereits so, so wie er sie will, wie er sie darstellt.

Genauso hatte Marcuse (1964) die Werbung, bzw. die Meinungsumfrage charakterisiert. Und: Wahlwerbung ist auch Werbung – ein nicht unwesentlicher Teil von Politik. Nehmen wir einen der Slogans der Wahlplakate der CSU (bei der Bundestagswahl 2009): »Was unser Land braucht – Verantwortung«. Das ist nicht gelogen – im Gegenteil, das ist die ernste, oder »bittere«, jedenfalls die Wahrheit. Deshalb trifft das Wahlplakat der CSU auch genau ins Schwarze. Aber es ist auch nicht nur die unschuldige Verkündung der »reinen« Wahrheit, denn irgendwie können wir nicht umhin, uns bei diesem Plakat daran zu erinnern, dass man auch bei denen, die sich auf den Wahlplakaten präsentieren, den Eindruck desselben Mangels hatte. Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, das waren nicht nur die Banken, nicht nur die Bankenaufsicht, die die Banken nicht kontrolliert hatten, auch die Politiker, die die Bankenaufsicht erst zahnlos gemacht hatten.

Und wir werden das Gefühl nicht los, dass es die selben Leute sind, die die Krise vorher geleugnet hatten, die sie nun ge-managed haben, die selben, die davor die Bedingungen für ihr Entstehen geschaffen hatten und die sich nun wieder zur Wahl gestellt haben mit der Parole, das Land brauche Verantwortung, denn sie sind »Klug aus der Krise« gekommen (auch ein CDU-Wahl-Slogan) – sollte es nicht heißen: »Schlau durch die Krise gekommen / aus der Krise entkommen«.

Das ist keine Lüge, aber in ihrem Hof: diese eigenartige verdrehte Figur, dieses »war hier etwas?« die sich windet, nicht dazu steht, was sie getan, dieses »ich doch nicht«, das sich selbst verrät.

Die Wahl-Plakate: eine grande exposition der Verleugnung – nicht nur die der CDU – die Plakate der anderen Parteien ebenso. Nehmen wir nur jenes: »wir haben die Kraft« – ja, woher haben »Wir« die denn, wenn »Wir« sie nicht gestohlen haben – durch die »Krise« und ihre »Bewältigung«. Oder die SPD: »Wirtschaft braucht klare Regeln« – Dieselbe SPD, die die Regeln vorher abgeschafft hatte, tut nun so als sei nicht sie es gewesen und als sagte sie jemandem etwas Neues. Oder die FDP: »Ihre Arbeit soll sich wieder lohnen« – Der »Lohn«, den die FDP meint, besteht allein in der Differenz zwischen Lohn und ALG/Hartz. Und wird nach dieser Regel sich allein dadurch wieder lohnen, dass die Hartz-Sätze weiter abgesenkt werden.

Aber ebenso wie man behaupten kann, Politiker wollten die Welt verändern, seien Männer (und Frauen) der Tat und für diesen guten Zweck bedienten sie sich halt der Lüge, könnte man behaupten, sie wollen die Welt so belassen wie sie ist, indem sie verleugnen – nicht nur was sie getan haben, sondern indem sie sich weigern zur Kenntnis zu nehmen: wie die Welt ist, was zu tun, zu verändern wäre, und was sie nicht anpacken. Die Armut z.B. ist sehr beliebt, die Ungleichheit, Ungerechtigkeit – in der dritten Welt stirbt alle 5 Sekunden ein Kind, alle 5 Sekunden – so schnell kann man gar nicht denken. Das zu ertragen, dazu gehört eine ganz massive Verleugnung(s. Ziegler 2005, S. 102).

Verleugnung von Leid, Verleugnung der Perspektive des anderen, z.B. beim – sexuellen – Missbrauch. Hier: Verleugnung der Auswirkungen des eigenen Tuns, Verleugnung, einen anderen geschädigt, zu haben, Verleugnung der eigenen Verantwortung (»das Kind wollte es«). – Verleugnung der Zugehörigkeit, Begeisterung – vieler Vertreter unserer Eltergeneration über den Faschismus – Verleugnung der eigenen Vergangenheit. – die Verleugnung der Rücksichtslosigkeit, Egoismus, Gier, Ehrgeiz. Hier geht die Verleugnung in Projektion über: Gier sieht man beim anderen, etc.

Überhaupt kann alles Gegenstand von Verleugnung werden, was unseren Idealen widerspricht, die wir vor uns hertragen, unseren ideologischen Vorgaben, so: dass alles gerecht, demokratisch, human, edel, hilfreich und gut zugeht. Diese Ideale können Opfer von Verleugnung werden nach dem Muster: »weil (es) nicht sein darf, dass diese verletzt werden«, findet keine Verletzung statt, dieses »findet nicht statt«: eine Formulierung, die bereits im »Grundgesetz« steht (Art 5, GG). Allerdings gibt es Verleugnung auch als Straftatbestand: »Holocaust-Leugner«. Das ist (aber) so etwas wie: »es darf nie wieder geschehen«. Aber auch das »nie wieder« ist unsicher geworden – »nie wieder Krieg«. Es wird unsicher gemacht – durch Lüge und Verleugnung, was schon Orwell die Umdefinition von Krieg in Frieden genannt hatte (Bruder 2009, S. 53, 60).

Verleugnung und Lüge treffen sich in der Absicht, den anderen über die eigenen Absichten zu täuschen. Aber Verleugnung hat noch eine andere Dimension: die des »Sich-Verratens« – in der Doppelbedeutung von sich »verraten« in der Zurückweisung einer Behauptung, Unterstellung, eines Vorwurfs eines anderen und: sich »selbst« verraten. Lüge und Verleugnung sind sozusagen die 2 Seiten einer Medaille:

»etwas anderes sagen (S2) als man denkt« (S1): der Algorithmus der Lüge – den ich der Lacan’schen Formel des Diskurses entnommen habe (Bruder 2009).

In ihm kann ich auch die Verleugnung darstellen. Auch bei ihr gilt: »etwas anderes sagen (S2) als man denkt« (S1). Allerdings: während der Lügner S1 »schützt« (indem er »etwas anderes (nämlich S2) sagt, verrät der Verleugnende (sein) S1, das er denkt, wovon er überzeugt ist (und er verrät damit sich selbst).

1. Verleugnung der Vorstellung

Freud verwendet den Ausdruck »Verleugnung« bereits 1895 in den »Studien über Hysterie«. In dem Kapitel »Zur Psychotherapie der Hysterie«, wo Freud über den »Widerstand« der »Kranken« gegen die (»Grund)Regel« schreibt, »alles zu sagen, was ihnen () einfällt, gleichgültig, ob es ihnen () angenehm zu sagen ist oder nicht«, schreibt er: »Es gibt auch Fälle, wo der Kranke sie [die »pathogene« Erinnerung] noch bei ihrer Wiederkehr zu verleugnen versucht« (1895, S. 282).

Zu verleugnen versucht der Patient: die »pathogene« Erinnerung, die beim Reden des Pat.[1] auftaucht. Damit haben wir es mit etwas zu tun, was nicht anwesend ist – nicht anwesend in der analytischen Stunde, die charakterisiert ist durch das Reden vor dem Analytiker, vor Freud. Anwesend ist dieses Etwas also nur im Imaginären.

Sehr wahrscheinlich war die »pathogene« Erinnerung eine Erinnerung an etwas innerhalb einer Beziehung, an ein Ereignis, an das die Patientin nicht mehr erinnert werden wollte. Denn (wie Freud 1905 (S. 172f) sagt): »pathogen« geworden sei dasjenige »psychische Material«, []welches kraft des Widerstrebens, das sein Inhalt rege macht, vom Bewusstsein abgesperrt, verdrängt [worden ist]« (S. 172f). Gegen sein Wiederauftauchen richtet sich die Verleugnung, von der Freud spricht.

Verleugnung (innerhalb der Analyse) sei: eine der »Formen und Vorwände des Widerstandes« – [in der Therapie] »gegen die Reproduktion der einen Erinnerung – die »Sie [der Pat.] nicht gerne sagen wollen« (Freud 1895, S. 281) »die wir trotzdem anerkennen müssten« (1895, S. 282) die »nur mit Widerstand ausgesproc hen wird«.

Auch wenn Freud die analytische Situation nicht ausdrücklich als »intersubjektive« bezeichnet,[2] so können wir davon ausgehen, dass ihm selbst klar war, dass diese Verleugnung zugleich nicht unabhängig von seiner Anwesenheit stattfand, also an die Anwesenheit des anderen – hier: des Analytikers – gebunden erscheint. Denn in der Geschichte, die Freud von dem Patienten erzählt, berichtet er zugleich beispielhaft von dessen Äußerung: »Jetzt ist mir etwas eingefallen, aber das haben Sie mir offenbar eingeredet« (1895, S. 282).

Freud war tatsächlich insofern im Spiel (gewesen) als er nämlich den Patienten aufgefordert hatte, alles zu sagen, was diesem eingefallen sei. Und dann fällt diesem etwas ein, was er nicht sagen will und schiebt den Einfall Freuds »Einreden« zu. Verleugnet er diesen damit (als seinen eigenen)?

Freud behauptet: der Patient verleugnet – »weil er es »nicht gerne sagen wolle[n]« (Freud 1895, S. 281) – und zwar vor den Ohren Freuds – nicht unabhängig von diesem Zuhörer. Genau das bestätigt allerdings nur die »intersubjektive« Struktur der Verleugnung.

2. Verleugnung der Beziehung

Peinlich – in Anwesenheit eines anderen: Hier treffen wir auf eine Struktur, die älter ist, als die von Freuds Erzählung. Wir alle kennen die Geschichte der Verleugnung Christi durch Petrus.[3] Christus Jesus, der von Judas verraten worden war, war auf dem Ölberg von den Knechten des Hohenpriesters Kaiphas gefangen genommen worden und zu Kaiphas gebracht worden. Petrus war den Knechten bis in den Hof des Palastes des Hohenpriesters gefolgt. Während Christus dort von Kaiphas verhört wurde, wartete Petrus unten im Hof des Palastes beim Gesinde.

Eine Magd, die Petrus erkannte, konfrontierte ihn damit, dass er »auch mit dem Jesus aus Galiläa« zusammen gewesen sei (Mt 26, 69). Als Petrus aber dies leugnete (Mt 26, 70), bestätigte eine zweite Magd die Behauptung der ersten (Mt 26, 71). Wieder leugnete Petrus (Mt 26, 72) und nochmal, nachdem alle aus der Gruppe der Umstehenden diese Behauptung wiederholten (Mt 26, 73-74).

Also nimmt Freud die Stelle der Magd ein? Jener, die Petrus dermaßen in Bedrängnis gebracht hatte, dass er (seine Beziehung zu) Christus verleugnete?

Diese Position – des Bedrängers – will allerdings nicht zum Selbstbild oder Selbstverständnis des Therapeuten passen. Schon eher mag er sich in einer Rolle sehen, die Rudolf Eksteins mit der Rolle des »Kellners« vergleicht. »Der Psychoanalytiker könnte mit einem Kellner verglichen werden, der wartet. In der englischen Sprache heißt Kellner ja auch 'waiter'. Damit ist eine Person gemeint, die wie eine Art Diener wartet, um herauszufinden, was der, der bedient werden soll, braucht und wünscht. Er nimmt an jenem Prozess teil, aber er manipuliert ihn nicht. Er wartet und erlaubt damit dem Prozeß, sich zu entwickeln.« (Ekstein 1988, S. 34).

Jedoch dürfte Freuds Verständnis von Verleugnung und dem Umgang mit dieser durchaus jener inquisitorischen Haltung (der Magd) entsprechen. Jedenfalls empfiehlt Freud seine Psychoanalyse dem Untersuchungsrichter, der Aussagen aus dem Delinquenten herauslocken möchte (oder muss) und der ebenso mit dem »Widerstand« zu kämpfen hat, wie Freud (1906, S. 9): »Die Aufgabe des Therapeuten ist […] die nämliche wie die des Untersuchungsrichters«: »wir sollen das verborgene Psychische aufdecken«.[4]

Für die Aufdeckung des verborgenen Geheimnisses »haben wir […] »eine Reihe von Detektivkünsten erfunden…« – die Freud hier dem Untersuchungsrichter andient. »Wir fordern [den Kranken] auf, sich ganz seinen Einfällen zu überlassen (S. 9)

»Hält der [er] einen Einfall zurück« und »bedient sich dabei verschiedener Motivierungen: es sei ganz unwichtig, gehört nicht dazu« […] so »verlangen wir, dass er den Einfall trotz dieser Einwendungen mitteile« (S. 9)

»Ein sorgfältig gehütetes Geheimnis verrät sich [bereits] durch feine, höchstens zweideutige Andeutungen«. Des weiteren sind »Stockung, Zögern Pausen machen« »Zeichen für die Zugehörigkeit zum [verborgenen] Komplex« »selbst leise Abweichungen von der gebräuchlichen Ausdrucksweise« (S. 10), oder die »Abänderung bei der Reproduktion« eines bereits dargestellten Inhalts« (der »Irrtum«) (S. 11).

»In dieser »indirekten Darstellung« gibt uns der Kranke, was wir benötigen« (S. 10). Der Unterschied zwischen Hysteriker und Verbrecher bestehe lediglich darin, dass der Hysteriker sein verborgenes Geheimnis selbst (auch) nicht kennt, während es der Verbrecher nur [vor dem anderen] verbirgt« (S. 8). Dass also sein »Widerstand« ganz aus dem Bewusstsein herrührt« (S. 13).

Wenn Freud hier diesen Unterschied (zwischen Kranken und Beschuldigten) – erstaunlicherweise[5] – klein hält, so weil er den Unterschied zwischen der Aufgabe von Therapeut und Untersuchungsrichter nicht zu groß erscheinen lassen will. Dieser Unterschied sei nur ein gradueller: »In der Psychoanalyse liegt ein einfacherer, ein Spezialfall der Aufgabe vor«, die dem Untersuchungsrichter in »umfassenderer« Weise vorliege: »Verborgenes im Seelenleben aufzudecken« (S. 12).

Mit dem Widerstand – ob des Kranken oder des Beschuldigten, ob bewusst oder nicht – haben beide zu kämpfen.[6] Aber schreibt Freud: im Unterschied zum »Kranken«, der »mit seiner bewussten Bemühung gegen seinen Widerstand« mithelfe, denn er hat ja Nutzen von dem Examen zu erwarten, die Heilung, arbeite der Verbrecher nicht mit.[7]

Im Gegenteil: Er arbeite eher dagegen – das sei seine »bewusste Bemühung«. Diese richtet sich also nicht »gegen seinen Widerstand« (wie beim »Kranken«), sie ist vielmehr der Widerstand.

Der Beschuldigte richtet seinen Widerstand also gegen eine Bedrohung, die »von »Außen« kommt. – So hat Anna Freud »Verleugnung« von Verdrängung unterschieden als »Verteidigung des Ich« – gegen »Unlust, die aus der Außenwelt stammt« – im Unterschied zur »Verdrängung« (und anderen Abwehrmechanismen), mit denen sich das Ich gegen die »Triebansprüche« zu schützen versuche, also gegen »Unlust, die von innen kommt« (1936, S. 35).

Mit dieser – erst von ihr eingeführten – Unterscheidung hat Anna Freud zugleich »Verleugnung« definiert (S. 55) als »Verleugnung der [äußeren] Realität mit Hilfe [der] Phantasie« (1984, S. 58).

Freud hatte die Unterscheidung nicht in dieser Weise gemacht. Er hatte die Trennungslinie zwischen »Verleugnung« und »Verdrängung« entlang der Unterscheidung zwischen Vorstellung und Affekt gezogen: verleugnet werde die Vorstellung, während die Verdrängung für die Affekte zuständig sei (1927): »Will man in ihm [dem Vorgang der Verdrängung] das Schicksal der Vorstellung von dem des Affekts schärfer trennen, den Ausdruck »Verdrängung« für den Affekt reservieren, so wäre für das Schicksal der Vorstellung »Verleugnung« die richtige deutsche Bezeichnung« (S. 313).

1925 führt Freud einen weiteren Begriff ein, den man in Beziehung zu Verleugnung stellen muß: den der »Verneinung«. Er wird von Freud genau so eingeführt, wie ursprünglich Verleugnung[8]: »Die Art, wie unsere Patienten ihre Einfälle während der analytischen Arbeit vorbringen, gibt uns Anlaß zu einigen interessanten Beobachtungen. »Sie werden jetzt denken, ich will etwas Beleidigendes sagen, aber ich habe wirklich nicht diese Absicht.« – sagt der Patient. Wir verstehen, das ist die Abweisung eines eben auftauchenden Einfalles durch Projektion.« (S. 11).

Zugleich betont Freud bei der Darstellung des Begriffs der Verneinung die der Verdrängung entgegenlaufende Tendenz: »Die Verneinung: eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung« (S. 12): »ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann also zum Bewusstsein durchdringen, unter der Bedingung, dass er sich verneinen lässt« (S. 12)[9]

Allerdings werde durch die Verneinung »nur eine der Folgen des Verdrängungsvorganges rückgängig gemacht«, und zwar »dass dessen Vorstellungsinhalt nicht zum Bewusstsein gelangt«: »eine Art intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung.«

Ich fasse zusammen: In den Studien (von 1895) war es die »pathogene« – Erinnerung, die verleugnet wurde. Wir können davon ausgehen, dass Freud diese (»pathogene Erinnerung«) nun der Vorstellung als dem Oberbegriff subsumierte. Der Zusammenhang zu einer – »äußeren« – Realität der im Begriff der (pathogenen) Erinnerung noch lebendig war ist im Begriff der Vorstellung gelockert, wenn nicht unter den Tisch geschoben.

Wenn sich nun (bei Freud) die Verleugnung gegen das Auftauchen der pathogenen Erinnerung richtet – kann man dann zu recht von einer (Abwehr einer) »Bedrohung von Innen« sprechen, oder gar von einem Widerstand gegen die Bedrohung durch die Triebansprüche?

Sicher: auch die »Bedrohung von außen« ist durch das »Innen« vermittelt (die »Repräsentanz«, die »Geschichte des Subjekts«) aber als solche Geschichte des Subjekts ist diese wiederum nicht unabhängig von den Vorgängen »außerhalb«, in den Beziehungen und Interaktionen mit anderen, den Orten und Zeiten, den Verhältnissen, in die diese eingebettet sind – Paul Parin: In der erwachsenen Struktur ist zwar in Kindheit und Pubertät eine Abwehrorganisation ua. etabliert worden und sind für das spätere Verhalten einige Weichen gestellt worden; aber der Einwirkung sozialer Kräfte bleibt der Erwachsene weiterhin in hohem Maße unterworfen« (1981/1988, S. 150).

Das »vergisst« die Psychoanalyse, wenn sie das »Innen« mit dem »Trieb« besetzt – ihre Verleugnung. Diese Verleugnung drückt sich aus in der »Hypostasierung der frühen Kindheit zu dem Ort der Vermittlung von »Kultur und Natur«.

»Wenn aber die familiale Sozialisation allein es ist, in der Triebstrukturen, psychische Apparate usw. des Erwachsenen produziert werden, so gerät konsequenterweise die Wirkung des Arbeits- und Produktionsverhältnisses auf die Konstituierung des Menschen aus dem Blick der psychoanalytischen Theorie« (Brückner 1972, S. 76).

Und, wie Parin festhält: tragen »psychologische Deutungen, die das Gewicht gesellschaftlicher Verhältnisse verleugnen, zur Verschleierung der Wirklichkeit bei.« (Parin 1981/1988, S.152)[10] Parin weiter: »Die Ethnopsychoanalyse betreibt eine Aufklärung, die den Wirkungen der Machtverhältnisse nachgeht. Sie lehnt es ab, einer Ideologie zu dienen, die die Macht freispricht, indem sie ihre Opfer psychologisch anklagt.« (Brückner., S. 152).

Die Frage muss also gestellt werden:[11] was macht die genannten »pathogenen« Erinnerungen zu pathogenen, dass sie verleugnet werden müssen? Ist es die pathogene Erinnerung, die Angst macht oder machte nicht etwas anderes Angst – und machte dadurch die Erinnerung zur »pathogenen«?

Oder geht es, wie Mentzos (1976) vermutet, um narzisstische Befriedigungen, um den Kampf um Anerkennung, bzw., wie Parin formuliert, um die Abwehr oder Vermeidung ihrer Frustration. Narzisstische Befriedigungen, schreibt Parin, die sich auf »Sicherheit, Macht, Geld« beziehen, regulieren das »automatische Funktionieren des Ichs, das sich mit seiner Berufs-, Klassen-, Familien-Rolle identifiziert hat. Parin nimmt an, »dass sich in solchen Fällen im Ich eine Repräsentanz etabliert hat, eine mit Emotionen besetzte, zumeist unbewusste Vorstellung, die das richtige Verhalten, die zugehörigen Werte, die der Rolle zukommenden Prämien und Frustrationen zusammenfasst, kurz das, was wir die Ideologie einer Rolle nennen.« (S. 151).

3. Triangulierung

Dreimal hatte Petrus verleugnet – »ehe der Hahn krähte«. Und: die dreifache Verleugnung wird bereits durch Christus vorhergesagt: »Ehe der Hahn kräht wirst Du mich dreimal verleugnen« (Mt 26, 34; s.a. Mk 14, 30). Also: ist die Zahl Drei nicht ohne symbolische Bedeutung.

Es ist sicher nicht einfach die iterative Bedeutung des »dreimal verdammt« oder »aller guten Dinge sind drei«. Eher ist es die christliche Symbolik der Drei der Dreifaltigkeit, die hier evoziert wird.

Aber die Drei als Heilige Zahl ist älter als die christliche Symbolik. Denken wir an den Dreifuß der Pythia, der Priesterin von Delphi, auf dem sie über der Erdspalte saß, aus der die Dämpfe stiegen, die sie in einen Trancezustand versetzten und sie ihre Weissagungen machen ließen. Drei Füße muss ein Tisch oder Stuhl mindestens haben um selbständig stehen zu können.

Nach dem Christentum hat Freud der Zahl Drei die Bedeutung einer säkularisierten Heiligen Zahl gegeben: »Triangulierung« – das Aufsprengen der Dyade (von Mutter und Kind).

Aber: die Drei ist nicht der Weisheit letzte Zahl – im Leben des Menschen. Der Mensch ist nicht nur durch die Drei bestimmt. Die Drei ist nicht ohne die Zwei und vor allem nicht ohne die Vier zu haben, zwischen die die Drei eingebettet ist – wie bereits das Rätsel zeigt, das die Sphinx dem Ödipus aufgegeben hatte.[12]

Das Rätsel der Sphinx, das erst Ödipus zu lösen vermochte, lautete: »Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig…

Ödipus Antwort: »Du meinst den Menschen…[13]

Wie die Geschichte weiter geht, ist bekannt: Nachdem Ödipus das Rätsel gelöst hatte, stürzte sich die Sphinx selbst in den Tod. Damit hat Ödipus Theben von dem Ungeheuer befreit. Er wurde mit der Königswürde belohnt. Das ging über die Heirat der Witwe des Königs Laios.

Dass sie seine Mutter war, – wusste Ödipus das nicht, oder doch? Dass er es war, der sie zur Witwe gemacht hatte, indem er seinen Vater getötet hatte, wusste Ödipus das nicht, oder hat er es (nur) verleugnet?

Der Seher Teiresias wirft Ödipus vor: er habe zwar das Rätsel der Sphinx erkannt, nicht aber das eigentliche Rätsel seiner eigenen Existenz: »Du schaust umher und siehst nicht, wo du stehst im Üblen, Nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du lebst – 'Weißt du, von wem du bist?«[14] Er hätte es wissen können: das Orakel hatte es ihm vorhergesagt. Er hat dieses »Wissen« »verdrängt« – Das Verdrängte (Wissen) setzt sich trotzdem in sein Recht, »kehrt wieder«, schafft sich seinen Ausdruck und Wirkung. Das ist (auch) eine Botschaft des Sophokleischen Dramas. Freud hat daraus das Unbewusste gemacht (Bruder 2005) – bei Sophokles: das Schicksal oder der Spruch der Götter das, was »jenseits« der Dyade und des Imaginären angesiedelt ist: die vierte Dimension, die wir »verdrängen«?

Ödipus hat ihr den – zu überwindenden, und damit vorübergehenden – Zustand der Kindheit zugeschrieben, dem er glaubte, entwachsen zu sein. Aber der Vorsehung, dem Spruch der Götter, der Macht des Schicksals entwachsen wir nicht so einfach, wie der Kindheit.

Ödipus habe zwar das Rätsel der Sphinx erkannt, nicht aber das eigentliche Rätsel seiner eigenen Existenz, der menschlichen Existenz, der conditio humana. Ödipus »Lösung« verblieb ganz im Rahmen der verrätselten[15] und verrätselnden Metaphorik – der Naturalisierung (oder Biologisierung) menschlicher, und dh sozialer Verhältnisse (Bruder 2006) – und die Naturalisierung eignet sich vorzugsweise dazu, auch heute wieder.

Nun: Petrus hat Jesus dreimal verleugnet – wir werden also immer auf die (verborgene Vier) gefasst sein müssen.[16] Zunächst: kann man die Dreizahl auch in der Gliederung der Perikope[17] der Verleugnung selbst wiederholt sehen: bei Mt (26) sind es die Abschnitte V 69-70, V 71-72, V 73-74).[18]

Ich gebe im Folgenden den Text in der Fassung der J.-S.-Bachschen Matthäus-Passion wider.

Nr. 45 (Rezitativ) (Mt 26, 69-73) 69 Evangelist. Petrus aber saß draußen im Palast, und es trat zu ihm eine Magd und sprach: Erste Magd. Und du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa. 70 Evangelist. Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Petrus. Ich weiß nicht, was du sagst.

71 Evangelist. Als er aber zur Tür hinausging, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren: Zweite Magd. Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth. 72 Evangelist. Und er leugnete abermal und schwor dazu: Petrus. Ich kenne des Menschen nicht.

73 Evangelist. Und über eine kleine Weile traten hinzu, die da standen, und sprachen zu Petro:

Chor. Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich. Nr 46 (Rezitativ) (Mt 26, 74-75) 74 Evangelist. Da hub er an, sich zu verfluchen und zu schwören: Petrus. Ich kenne des Menschen nicht! Evangelist. Und alsbald krähete der Hahn.

75 Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging heraus und weinete bitterlich.

Während Petrus im ersten Abschnitt »leugnet«, mit Jesus zusammen gewesen zu sein (V 70), »schwört« er nach der zweiten Anschuldigung, ihn nicht zu kennen (V 72), und beginnt im dritten Abschnitt, »sich zu verfluchen« (V 73).

Willibald Bösen (1999, S. 192) sieht in dieser Dreiteilung der Szene die Bedeutung einer Verstärkung durch Iteration. Ebenso werde durch die Personen, die ihn beschuldigen, eine Intensivierung ausgedrückt.

So wird er im ersten Fall nur von einer Magd direkt angesprochen, während die Anschuldigung im zweiten Abschnitt nicht mehr nur individuell an ihn gerichtet wird, sondern von einer zweiten Magd zu den umherstehenden Personen gesprochen wird. Im Anschluss auf seine darauf folgende Verleugnung wird er bereits von allen Leuten, die in der Nähe stehen, auf seine Bekanntschaft mit Jesus angesprochen. So sind in jedem Abschnitt mehr Personen an den Beschuldigungen beteiligt, zugleich aber ändert sich auch die Struktur der Interaktion.

Der Zweck der Dreiteilung kann also nicht in der bloßen Intensivierung bestehen, denn es handelt sich nicht um eine bloße Iteration. Eine Magd, eine zweite Magd, die Gruppe der Umstehenden ist ja auch eine Variation, die uns den Blick dafür öffnet, dass etwas gleich bleibt, jenseits der Veränderung: egal ob eine Magd, zwei Mägde (zweite Magd) oder eine Gruppe von Leuten, es geht immer um das selbe: um eine Person außerhalb der Dyade, der Beziehung, oder besser: außerhalb der Interaktion P – M, um eine »dritte« Person: Christus. Es handelt sich also um »Triangulierung«.

Zugleich hat jeder der drei Abschnitte eine duale Struktur: die der Interaktion: P•––◄––• M Es wird hier also etwas gezeigt, was mit der Struktur der »Intersubjektivität« zu tun hat: was es mit der Struktur der »Intersubjektivität« auf sich hat: Während der erste Vers eines Abschnittes die Behauptungen bzw. Verdächtigungen Petrus sei mit Jesus zusammen gewesen beinhaltet, haben die jeweils zweiten Verse die Reaktion des Petrus auf diese Behauptungen, usw. zum Inhalt.

Petrus also (ver)leugnet – »mit dem Jesus aus Galiläa« zusammen gewesen zu sein -, nachdem eine andere Person, die Magd, dann eine zweite Magd, dann andere Umstehende, behauptet hatten, bzw. ihn mit der Behauptung konfrontiert hatte(n), dass er »einer von denen« sei, die mit Jesus zusammen waren.

Die Verleugnung geschah in Anwesenheit einer (oder mehrerer) anderer Personen. Die Anwesenheit der anderen erscheint hier (geradezu) konstitutiv für die Verleugnung: Petrus antwortet auf die Behauptung der – anwesenden – Magd. Und: er antwortet verneinend. Die Verleugnung ist also: eine Antwort auf eine vorausgegangene Behauptung (einer anwesenden Person), eine Interaktion auf der Ebene des Sprechens, und zwar eine verneinende Antwort: die Verneinung einer vorausgegangenen Behauptung, die Zurückweisung einer vorher geäußerten Unterstellung, Verdächtigung, eines Vorwurfs usw.

Dass Petrus diese Behauptung, Verdächtigung »zu Unrecht« zurückweist, dass er also lügt, nicht die Wahrheit sagt, also die Wahrheit verleugnet, wissen wir aus der Geschichte (Erzählung). Wüssten wir das nicht, kannten wir die Geschichte nicht, könnten wir nicht sagen: »er lügt« – wohl aber dass er verleugnet. Denn dass er »nein« sagt, die Behauptung verneint, das zu wissen, brauchen wir die weitere Geschichte nicht zu kennen. Das erfahren wir in der rezitierten Episode selbst.

Das ist der Unterschied zur Lüge und darin ist die Verleugnung (im Unterschied zur Lüge) »intersubjektiv«, in ihrem Status einer »Antwort auf…«.

Die Verleugnung Petri ist in einem zweiten Sinne »intersubjektiv«, als es sich bei ihr um die Verleugnung einer Beziehung handelte, bzw. die Verleugnung der Person, mit der Petrus eine Beziehung (die des Jüngers) verband.

Man könnte sagen: die Beziehung »Petrus –- Christus« wird durchgestrichen, verneint, geleugnet – vor den Augen der anwesenden Magd, angesichts ihrer inquisitorischen Behauptung gegenüber Petrus, unter der Wirkung des intersubjektiven Feldes »P – M«.

Man könnte (sollte man nicht?) von »Triangulierung« sprechen.

Nicht Christus ist der Dritte (in der Beziehung/Interaktion zwischen Petrus und der Magd), sondern er wird zum »Dritten« durch die Intervention der eigentlichen Dritten: der Magd (sowie der anderen); er wird aus der Beziehung »Petrus –- Christus« hinausgedrängt, die Beziehung »Petrus –- Christus« wird zerstört. Frage: Warum tut das Petrus? Warum lässt er das zu?

4. Die vierte Position

Bei Petrus jedenfalls war es keine – »pathogene – Erinnerung«, gegen deren Auftauchen er sich gewehrt hatte. Nicht die Erinnerung (an Christus) war es, die Angst gemacht hat, sondern eher eine – (nicht pathogene, sondern ganz realistische) Befürchtung, dass es ihm ebenso ergehen werde, wie diesem, wenn er sich als einer seiner Anhänger outen würde. Also eine Bedrohung »von außen« durchaus.

Ich werde Ihnen jetzt eine ganz außergewöhnliche Darstellung zeigen: »Christus vor dem Hohenpriester und Verleugnung Christi durch Petrus« von Duccio di Buoninsegna, Tempera auf Holz, entstanden: 1308-1311.

Es handelt sich um ein 99 × 53,5 cm großes Teil des Hauptregisters auf der Rückseite einer Altarretabel des Sieneser Doms (der »Maestà«) mit Szenen zu Christi Passion, heute im Museo dell’Opera del Duomo.

(Bild zum Vergrößern anklicken)

Duccio di Buoninsegna (um 1255 – 1319), Zeitgenosse des Florentinischen Malers Giotto di Bondone (1266-1337) prägte die Sienesische Schule der Malerei (deren Begründer Simone Martini und die Brüder Lorenzetti waren) für zwei Jahrhunderte.

Siena stand damals auf dem Höhepunkt seiner Macht. 1260 hatte es über seine Rivalin Florenz triumphiert und seine Gegnerschaft durch ein freundschaftliches Bündnis abgelöst. Im Inneren gewannen demokratische Bestrebungen an Stärke. Der Tyrannei der (ghibellinischen) Patrizierfamilien konnte mit ihrem Ausschluss aus dem obersten Magistrat 1277 ein Ende bereitet werden. Der 1285 eingesetzte Neunerrat, der ausschließlich aus Vertretern der (guelfischen) Mittelklasse bestand, führte die Regierung für rund siebzig Jahre. Die Territorien des Staats wurden vergrößert; der Handel blühte. Zeugen dieser »guten« Regierung sind der 1297 begonnene Palazzo Pubblico, Sitz der republikanischen Regierung mit Werken von Simone Martini, Pietro Lorenzetti und der berühmten Darstellung der Guten und der Schlechten Regierung im Saal der Neun (Sala della Pace) von Ambrogio Lorenzetti. 1321 wurde die Universität gegründet, bzw. durch Gelehrte aus Bologna wiederbelebt. Mit der 1339 begonnenen, aber dann doch nicht zu Ende geführten Erweiterung des Domes sollte sogar der damalige Petersdom in Rom übertroffen werden.

Die Außergewöhnlichkeit des Bildes von Duccio liegt für unsere Zusammenhänge darin, dass wir mit ihm das bisher über die Verleugnung (Petri) Gesagte in einem Bild zusammengefasst finden können und zugleich dieses dadurch (darin) zu überschreiten gestattet, dass die bisher vermisste (oder: vermiedene) 4. Dimension (der vierte »Fuß«) mit enthalten ist.[19] Sie erinnern sich an das Schema der »Triangulierung«, den »Dreifuß«:

Die Magd interveniert in die Beziehung »Petrus – Christus« (die Magd »bedroht« diese Beziehung), Petrus verleugnet (diese Beziehung) unter dem Druck der inquisitorischen Frage/Behauptung der Magd.

Bereits das ist: eine Bedrohung »von außen«, (die Petrus mit Verleugnung abzuwehren versucht).

Aber es ist mehr in dem Bild dieser Situation zu sehen:

Petrus wird Zeuge des Verhörs, der Folter, der Demütigung von Christus – durch Kaiphas. Die Magd, die Petrus konfrontiert ist aus dem Gesinde von Kaiphas, in dessen Hof Petrus dem gefangen genommenen Jesus gefolgt ist.

Die Frage der Magd »bist Du nicht einer von diesem da?« ist erschreckend klar. Die Verleugnung (durch Petrus) ist die nächstliegende Reaktion, ein Sicherungsversuch.

Aber: die Magd ist (lediglich) die Vermittlerin, das Medium der Macht des Kaiphas. Seine Macht ist es, die durch sie hindurch wirkt.

Die Angst des Petrus ist also: Angst vor Kaiphas (nicht Angst vor der Magd/Psychoanalytiker).

Diese Macht, die Macht, die Kaiphas hier repräsentiert, ist die (eigentliche) »triangulierende« Macht – nicht die (der) Magd. Sie ist die Macht, die die Beziehung (Petrus – Christus) zu sprengen vermag, den Verrat der Beziehung zu erzwingen, die Verleugnung durch Petrus.

Damit haben wir die 4 Positionen, zwischen denen die Intersubjektivität sich entfaltet, die condition humaine – oder besser conditio caesaro.[20]: die Vier-Füßigkeit, die das Wesen des Menschen ausmacht, die Beziehung, in die jeder einzelne eingebettet ist, die Macht, in die die Beziehung eingespannt, die die Beziehung durchkreuzt, der Vermittler, das Medium zwischen den Subjekten und der Macht.

P – M: die Ebene der alltäglichen konkreten Interaktion, die Ebene, auf der die Individuen etwas miteinander aushandeln können.

Von dieser Ebene gehen die Therapeuten aus, diese haben sie im Blick, wenn sie von Beziehung sprechen.

Sie nehmen zwar zur Kenntnis, dass P nicht alleine auftritt – in der Therapie, sondern C immer mit dabei ist (das »Selbst-Objekt«).

Aber sie reflektieren nicht die 4. Position, die das Ganze rahmt (framed) – damit auch die Möglichkeiten des Therapeuten.

Mit K, der »Macht« kommt man (P) nicht direkt in Kontakt, sondern über M, den Vermittler, das Medium (die Medien): »two-step-flow of Communication«: Lazarsfeld, Berelson & Gaudet (1944). Hier ist nichts auszuhandeln, hier fließt die Kommunikation in einer Einbahnstrasse.

Innerhalb dieses 4-füßigen Schemas sehen wir, dass die Kommunikation »von Oben nach unten« verläuft: die »Parole« geht von K aus und läuft über M zu P. Z. Tl. erscheinen uns die Medien (M) selbst als Parolengeber, aber das liegt daran, dass wir nur sie zu Gesicht bekommen, nicht »die Macht«: Foucault (1982): die Macht kann man nur von ihren Wirkungen her erfassen (Bruder 2007).

Was in der umgekehrten Richtung von unten nach oben entgegenkommt: die Verleugnung – sie ist nicht die »Umkehrung der Laufrichtung«, die Thomas Bernhard meint,[21] sondern ihre Verstärkung durch das Entgegenkommen.

Diese Richtung hatte Adler (1919) im Blick, als er in seiner Studie über die »Kriegsfreiwilligen« des 1. Weltkrieges »Die andere Seite, Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes« die Verleugnung (der Wirkung) der Macht darstellte.

Die Verleugnung, dem Druck der Macht gefolgt zu sein – wenn man ihm gefolgt ist, z.B. indem man die Parole des Herrn als eigene ausgegeben hatte, als eigene Überzeugung, Meinung und auf diese Weise sich in der Fiktion wiegt, Herr des eigenen Handelns zu sein – wie Adler (1919) beschrieben hat, ist der Mechanismus (der wichtigste der Mechanismen), Herrschaft durch die Beherrschten selbst abzusichern.

Die »Kriegsfreiwilligen« waren der Parole zum Krieg gefolgt, die die – kaiserliche – Macht ausgegeben hatte. »Nicht aus Sympathie, oder aus kriegerischen Gelüsten« seien sie (die Kriegsfreiwilligen) in den Krieg gezogen, sondern als »Opfer einer falschen Scham« (S. 13).

Das Opfer schämt sich für das, was ihm angetan worden war – wir kennen diesen Zusammenhang (inzwischen) aus der Arbeit über Missbrauch und Traumatisierung. »Zur Schlachtbank gezerrt, gestoßen, getrieben sah es [das Volk] sich in tiefster Schande aller Freiheit und Menschenrechte beraubt« (S. 15).

Und wie das Missbrauchsopfer Rettung von seinem Peiniger erhofft, »versuchte [das Volk] aus der Schande seiner Entehrung sich unter die Fahne seines Bedrückers zu retten« (S. 16) »und tat so, als ob es die Parole zum Krieg ausgegeben hätte« (S. 15). Die Psychoanalyse erklärt dies mit der »Identifikation mit dem Aggressor«: das Opfer übernimmt die Verantwortung, die der Täter nicht übernommen hatte, macht sich selbst zum Verursacher der Tat des anderen.

Adler: mit der Übernahme der Parole ihrer Peiniger (Bedrücker) »waren sie nicht mehr gepeitschte Hunde, die man gegen ihren Willen dem Kugelregen preisgab, nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre«! So wie das missbrauchte Kind, die Ehre der Familie und des Vaters verteidigt, um so seinen eigenen Wert zu verteidigen, um »sich selbst wieder zu finden«. Das ist aber nur möglich, um den Preis der Verleugnung: »In dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung, in diesem krampfhaften Versuch, sich selbst wieder zu finden, wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein und träumten lieber von selbst gewollten und selbst gesuchten Heldentaten… « (ebd., S. 14) – wie die missbrauchten Kinder: auch sie »träumen«, sie »spalten« »Realität« und »Traum«.

Aber: mit der Übernahme der Parole zum Krieg träumten sie nicht von eigenen Heldentaten statt sie zu vollbringen, sie träumten, es seien Heldentaten, was sie zu vollbringen gezwungen wurden. »Traum« und »Wirklichkeit« stimmten überein. Was sie vollbrachten, wurde – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – »Heldentaten« genannt. Der Traum, das Denken der Subjekte hat den »Gott des Generalstabs« »geschluckt«. Und der »spricht nun aus ihm« (ebd., S. 14). »Nun hatte er [der Träumer] wenigstens einen Halt und war der Schande und des Gefühls seiner Erbärmlichkeit ledig« (S. 15).

Adlers Analyse der Beziehung zwischen Macht und Subjekt ist keineswegs auf das von ihm gewählte Beispiel der Kriegsfreiwilligen des 1. Weltkriegs zu beschränken. Der Ausdruck »so zu tun, als habe man die Parole des Bedrückers selbst ausgegeben« stellt vielmehr prägnant dar, was unsere Beziehung zur Macht reguliert – auch außerhalb des Krieges.[22]

Wir folgen der Parole des Bedrückers – das klingt wie die Formulierung von Deleuze & Guattari: Die Sprache sei »dazu da um zu gehorchen und Gehorsam zu verschaffen«. der Befehl (die »Parole«, das Kennwort) sei die »Grundeinheit der Sprache« (1980, 106f). Aber das ist es nicht, was Adler sagt. Das Entscheidende an Adlers Analyse ist jedoch nicht, dass sie das Befehlsverhältnis verallgemeinert (ontologisiert), wie Deleuze & Guattari, sondern dass sie den entscheidenden Punkt darin festhält, dass die Parole erst als eigene ausgegeben werden muss, um gehorchen zu können, dass wir das Gehorchen verleugnen, indem wir so tun, als folgten wir dem eigenen Befehl.

Darin realisiert sich der Subjekt-Charakter, den die Macht berücksichtigen muss: Die Macht ist: »eine Weise des Einwirkens auf ein/mehrere Subjekte«, sie wirkt, indem sie »anstachelt«, »eingibt«, »ablenkt«. (Nur) »im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets sofern die Subjekte handeln oder zum Handeln fähig sind. Stets bleiben die Subjekte ihrer Einwirkung als solche anerkannt« (Foucault 1982/1987, S. 255).

Damit ist auch die Grenze der Macht bezeichnet: erst indem wir ihr Folge leisten, kann die Parole der Macht ihre Wirkung ausüben. Die Grenze markiert also zugleich den Bereich der Psychologie: die Möglichkeit des Subjekts, nicht Folge zu leisten, sich der Parole der Macht zu verweigern – ebenso wie es eine Möglichkeit des Subjekts darstellt, ihr zur folgen. Auch die Möglichkeit der Verleugnung dieser Möglichkeiten gehört in diesen Bereich der Psychologie. In Adlers Analyse begegnen wir der Verleugnung, den Parolen der Macht gefolgt zu sein und statt dessen so zu tun, als ob es die eigenen Überlegungen und Entscheidungen gewesen wären, denen man gefolgt ist. Damit wird zugleich auch die Macht verleugnet, der der Verleugnende nachgegeben, der er sich unterworfen hat – die andere Seite der Verleugnung der Ohnmacht, der Abhängigkeit.

Den frühen Christen war das (noch) klar bewusst. Die Macht war damals unmissverständlich als feindliche zu erkennen, dem Christentum feindlich gegenüberstehend. Nicht zufällig hat die Geschichte der Verleugnung Christi in der Zeit der Christenverfolgung eine große Rolle gespielt. Nicht wenige hatten damals dem Druck der Verfolger nicht standhalten können und haben ihren Glauben verleugnet (Bösen, S. 193).

Deshalb war für die Evangelisten klar, dass Verleugnung (der eignen Überzeugung) etwas mit der Realität der Macht zu tun haben müsse, mit Druck von außen und mit der Angst, sei es vor Bestrafung, Demütigung oder Tod wie im Fall des Petrus, aber auch vor den Reaktionen der anderen, die uns den Mut nehmen, entschlossen für unsere Meinungen einzustehen. Die Geschichte der Verleugnung Christi durch Petrus konnte in diesem Zusammenhang von den frühen Christen als Ermahnungsschrift (Paränese) benutzt werden, die sich an diejenigen richtete, die in ihrem Glauben gefährdet sind und sie ermuntern will, standhaft zu bleiben und ihren Glauben zu vertreten. Diejenigen, die vom Weg ihres Glaubens abgekommen sind, will sie zur Umkehr ermutigen. Der vierte Vers der Perikope zeigt die Umkehr des Petrus, bzw. die »Besinnung«, das »Bewusstwerden der Verleugnung«: Nachdem der Hahn gekräht hatte, »Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich« (Mt 26, 75; Mk 14, 72).[23]

5. Parrhesia

Damit tritt eine ganz andere Bedeutung der 4. Position hervor: nicht mehr die der Dimension der Macht, sondern deren genauen Gegenteils: – nicht der Ohnmacht: denn diese ist nur deren Entsprechung und Schatten. Das Bewusstwerden der Verleugnung bedroht die Macht in ihrer Stütze von unten.

Zugleich sehen wir eine andere Möglichkeit des Sprechens auftauchen: statt des Diskurses der Lüge und Verleugnung die des Wahrsprechens: »Parrhesia«. Im Angesicht der Macht (Foucault 1983) erfordert dieses Wahrsprechen Mut: die Überwindung der Angst – vor der Macht, ihrer Bedrohung, ihrer Möglichkeit der Gewalt, Zerstörung, Vernichtung, welche die psychologische Basis der Verleugnung gewesen war.

Für Drewermann steht Petrus für die moralischen Widersprüchlichkeiten, die jeder Mensch kennt, und dies nicht nur im Bezug auf den Glauben, sondern in vielen unterschiedlichen Konfliktsituationen, in denen der äußere Druck über unsere eigene Courage siegt und in deren Anschluss wir unser eigenes Verhalten verurteilen und bereuen (1995, S.258f).

»Äußerer Druck siegt über die eigene Courage«: das ist natürlich sehr moralisch formuliert. Aber über aller Empfindlichkeit gegenüber Moral sollte nicht untergehen, was Drewermann uns hier zeigt: dass sich in der Verleugnung (des anderen) zwei Kräfte, »Mächte« gegenüberstehen, die in der Psychoanalyse für gewöhnlich vernachlässigt werden: die »äußere Realität«, bzw. der von ihr ausgehende Druck und die »eigene Courage« – Mut würde Adler sagen. Adler war denn auch der einzige, der innerhalb des psychoanalytischen Diskurses »Mut«, »Ermutigung« eine zentrale Rolle in der Therapie zugeschrieben hatte. Und indem er »Ermutigung« stark machte, brauchte er auch über die – äußere – Realität (der Macht) nicht zu schweigen, brauchte sie nicht zu verleugnen.

Das ist das Dilemma der Psychoanalyse: solange sie über den »Wünschen, Trieben oder Begierden, und den Konflikten zwischen ihnen die – äußere – Realität (der Macht) vergisst, lieber vom »Wunsch nach Abhängigkeit« und dem Konflikt zwischen diesem »Wunsch« und dem »Streben nach Autonomie« spricht, wird aus dem Schweigen über die Macht, die die Abhängigkeit erzwingt – gegen den Wunsch nach Autonomie, die nur als Illusion existieren darf – eine Verteidigung der Macht – auf Kosten der Subjekte.

Freud sieht zwar, wie Peter Brückner einräumt, »im Bezugsrahmen des Widerspruchs von Natur und Kultur, was Herrschaft den Individuen zufügt«. Aber es »entging ihm durchaus die wirkliche, anthropologisch-geschichtliche Substanz dieser Verhältnisse: dass die Gattungskräfte […] nicht die der Individuen sind, sondern des Privateigentums« mit der Folge, dass »die Produktiv-Vermögen des homo sapiens historisch so herausgearbeitet [werden], dass die Produzierenden verarmen, und zwar um so mehr, je triumphierender die Entfaltung der Gattungskräfte voranschritt« (im materiellen und ideellen Reichtum der Gesellschaft) (Brückner, S. 74).

»Die Entfaltung zur kapitalistischen Produktionsweise muss, so Brückner, zugleich als »die Geschichte einer Verkehrung« gesehen werden: »unser eigenes Produkt hat sich auf die Hinterfüße gegen uns gestellt« (Marx 1844a, S. 461), der tätige Mensch wird von den Resultaten seiner Produktion überwältigt, die zu einer sachlichen Gewalt über uns geworden sind, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt (Marx 1845/46, S. 30). Die von Marx beschriebene »völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, welche die Form von sachlichen Mächten annehmen« (Marx 1857/58, S 545) gehe »in Struktur, Bewegungsgesetz, Regulation der psychischen Prozesse bestimmend ein«, müsse sich – über viele Vermittlungen und im Rahmen naturgegebener Konstitution – »im psychischen Apparat reproduzieren« (Brückner, S. 68).

In der Psychoanalyse finde dies seinen theoretischen Ausdruck, »aber sie weiß dies nicht und kann deshalb ihren adäquaten Ausdruck noch nicht finden« (S. 71). Ihr »Ausdruck«: der Widerspruch von Natur und Kultur, von Trieb und »Zähmung der Triebe« (Freud 1930, s. a. 1915, S. 333, 337f.) ontologisiert den historischen gesellschaftlichen Antagonismus von Herrschenden und Beherrschten, Erscheinung und Wesen.

Allerdings hatte hier Freud sich selbst die entscheidende Blickeinengung beigebracht mit seiner »Hypostasierung der frühen Kindheit«[24] zu dem Ort der Vermittlung von »Kultur und Natur« (Brückner, S. 76). Durch sie musste alles, was »außerhalb« der Familie spielte, »unvermittelt« bleiben, ohne Wirkung auf den psychischen Apparat und ohne dessen Vermittlung das Individuum »direkt« treffen, einer »Naturgewalt gleich »überfallen«, »Natur« nur sein konnte: Die Sphären der Arbeitswelt, und im weiteren Sinne der die Familie und Arbeitswelt umfassenden gesellschaftlichen Verhältnisse.

Deshalb wäre, »was die Psychoanalyse über die Individuen ermittelt«, »in das Verhältnis von Natur und Geschichte […] nur (einzubringen) unter Reflexion auf den eigentlichen Skandal, d.h. auf die im Kapitalismus ihr Maximum erreichende Verkehrung, also auf das Produktionsverhältnis« (Brückner, S. 74). Verleugnung wäre, diese Reflexion für unnötig zu erklären, zu unterlassen.

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Rohrwasser, Michael (2008): Sigmund Freud, Hans Groß und Otto Groß. Neue Blicke durch alte Löcher. In «… da liegt der riesige Schatten Freud’s jetzt nicht mehr auf meinem Weg«. Die Rebellion des Otto Groß. 6. Internationaler Otto Groß Kongreß Wien, 8.-10. September 2006. Raimund Dehmlow, Ralf Rother & Alfred Springer (Hg.): Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de, S. 255-269.

Schwab, Gustav (1986): Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Stuttgart: Reclam.

Sophokles: König Ödipus. In Sophokles. Die Tragödien, übers. von Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt/M.: Fischer 1963.

Weber, Andrea (1997): Duccio di Buoninsegna. Köln: Köneman.

Ziegler, Jean (2005): Das Imperium der Schande. München: Bertelsmann.

Endnoten:

[1]

Freud: des »Kranken«

[2]

Sagen wir: hier nicht ausdrücklich, später allerdings doch: Psychoanalyse sei »nichts anderes, als daß zwei miteinander reden« (Freud 1926 = 1968, S. 213)

[3]

Die Szene der Verleugnung Jesu durch Petrus findet sich bei Mt 26,69-75; Mk 14,66-72; Lk 22,54-62; Joh 18,12-27

[4]

Dieser Artikel Freuds ist insofern delikat, als er in der Zeitschrift von Hans Gross veröffentlich wurde, Kriminologe und Professor für Strafrecht, dem Vater von Otto Gross, einem glühenden Anhänger Freuds, den Freud aber seinem Vater ausgeliefert hatte: ein »Gutachten« geschrieben, das dazu beigetragen hat, ihn gegen seinen Willen in die Psychiatrie zu bringen. (s. Rohrwasser 2008)

[5]

erstaunlich, weil dieser Unterschied (zwischen »bewusst« und nicht bewusst, »unbewusst«) ja gerade der für Psychoanalyse zentrale ist.

[6]

Werner Morbach (2007): etwas als Widerstand, als Abwehrmechanismus zu diagnostizieren bedeute, den Patienten nicht verstanden zu haben, und damit dessen »Beziehungsangebot« (an den Therapeuten) zurückzuweisen.

[7]

»er würde gegen sein ganzes Ich arbeiten« (Freud 1906, S. 12)

[8]

Weshalb Laplanche und Pontalis (1967, S 599) den Begriff bereits in den Studien ansetzen, obwohl Freud damals von »verleugnen« sprach

[9]

Vielleicht: die von Intellektuellen bevorzugte Form der Verleugnung

[10]

Ein Meilenstein ist die Erklärung der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War): »Therapie ohne kritische Hinterfragung des politisch-militärischen Kontextes ist mit unserem Verständnis psychotherapeutischer Arbeit nicht vereinbar.« Mit dieser Begründung widersprach die Ärzteorganisation der Forderung der Bundeswehr, sich an der Behandlung von Soldaten aus Afghanistan-Einsätzen zu beteiligen. In ihrem offenen Brief an Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung vom 31.08.2009 schrieben sie »Damit der Krieg führbar bleibt, werden […] zusätzlich Psychotherapeuten angeworben«. (aus: »Wir lassen uns nicht für den Krieg instrumentalisieren«; www.ippnw.de 31.08.2009; s. a. Deutsches Ärzteblatt / PP / Heft 9/ September 2009, S. 390; s. a. Neue Gesellschaft für Psychologie: www.ngfp.de)

[11]

und zwar nicht zirkulär, wie bei Freud (1905): »pathogen« geworden sei, was verdrängt [worden ist]«

[12]

Auch die Dionysos -Festspiele im antiken Athen um 500 v. Chr. selbst, denen wir die Dramen der griechischen Klassik verdanken, waren gemäß einer Vier organisiert: sie hatten immer drei Tragödien, und als viertes Stück eine Komödie zur Aufführung gebracht. Drei Tragödien, gefolgt von einem erheiternden, befreienden Satyrspiel, bildeten eine »Tetralogie«.

[13]

»der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen, am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.« Zit. n. Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Stuttgart: Reclam 1986, S. 259

[14]

Sophokles: König Ödipus, V. 416-418, zit. n.: Sophokles: Die Tragödien, übers. Von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a.M.: Fischer 1963, S. 155

[15]

ein Rätsel soll es ja auch für die Zuhörer der Tragödie von Ödipus bleiben

[16]

Eine Dreiteilung erkennt man allerdings nur, wenn man den 4. (!) Vers, V 75 der die Perikope abschließt, nicht mitzählt (warum sollte man ihn nicht mitzählen?). Bach hat in der Matthäus-Passion die Perikope ganz anders strukturiert, nämlich in nur zwei Teile (die Rezitative 45 & 46), wodurch der 4. Vers deutlich herausgehoben erscheint

[17]

Perikopen (lat. Capitulae genannt) sind für die Lesung im Gottesdienst bestimmte Abschnitte des Bibeltextes – also mit Bedeutung versehene kanonisierte, jedenfalls für eine bestimmte Zeit.

[18]

bei Mk (14,66-72); bei Lk (22,54-62) als auch bei Joh (18,12-27)). Durch die deutlichen Parallelen der Szenen, sind sie eindeutig auf das Markusevangelium als Quelle zurückzuführen. (Matthäus 80-90 n. Chr; Markus ca. 65 n. Chr). Obwohl der Autor des Matthäusevangeliums einige narrative Ausgestaltungen vorgenommen hat, übernimmt er die Struktur, die bei Markus vorzufinden ist und gliedert die Perikope in drei Teile.

[19]

Allerdings muss man zur besseren Demonstration des Gemeinten die beiden Teile des Bildes gegeneinander drehen. Die Aussage des Bildes bleibt davon unberührt.

[20]

Der geneigte Leser erkennt das »Schema L« von Lacan (1954/55, S. 142), um 180° gedreht, das dort das Sprechen, bzw. die 4 Positionen darstellt, zwischen denen das Sprechen sich bewegt. Dies kann nicht weiter erstaunen, denn das Sprechen ist tatsächlich die condition humaine. Durch die Drehung, die hier in der vorliegenden Darstellung vorgenommen wird, wird nichts an der Bedeutung der 4 Positionen im Schema L verändert. Wird etwas verändert, wenn K (die Macht) an der Stelle erscheint, wo im Schema von Lacan A, der Große Andere steht? Es wird etwas geklärt: der große Andere, dessen Diskurs nach Lacan das »Unbewusste« ist wird als die Macht sichtbar, die im Verständnis der Psychoanalyse unser Denken und Verhalten bestimmt. War dieser Diskurs der Macht für Freud (noch) durch die Eltern und ihre Erziehung vermittelt, so erreicht er mittels der »Medien« die Subjekte zunehmend direkt (»Außengeleitete«).

[21]

»Ich wollte in die entgegengesetzte Richtung« sagt Thomas Bernhard über seine Jugend (in »Der Keller. Eine Entziehung«. 1976)

[22]

dass Adler damit nicht nur innerhalb der psychoanalytischen Gemeinde verrufen war, sondern auch außerhalb kann man sich denken: ein Beispiel für Verleugnung.

[23]

»Und der Hahn krähete zum andernmal. Da gedachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm sagte: Ehe der Hahn zweimal krähet, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er hub an zu weinen.« (Mk 14, 72)

[24]

von der ausgehend Freud die Nacherzählung der Geschichte der Menschheit als Familientragödie in die »Kindheit der Menschheit« (Marx), der griechischen nämlich, verlegt hatte.

Autorenhinweis

Klaus-Jürgen Bruder

Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP). Herausgeber der Schriftenreihe "Subjektivität und Postmoderne" im Psychosozial-Verlag Giessen; Mitherausgeber der Zeitschrift "Geschichte der Psychologie"; Veröffentlichungen u.a.: Psychologie ohne Bewußtsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt/M.(Suhrkamp) 1982; Jugend. Psychologie einer Kultur. (mit Almuth Bruder-Bezzel) München (Urban & Schwarzenberg) 1984; Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt/M.(Suhrkamp) 1993; Monster oder liebe Eltern. Sexueller Mißbrauch in der Familie. (mit Sigrid Richter-Unger) Berlin, Weimar (Aufbau-Verlag) 1993, 2. Auflage: Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1997; "Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben". Psychoanalyse und Biographieforschung. Giessen (Psychosozial-Verlag) 2003; Kreativität und Determination. Studien zu Nietzsche, Freud und Adler (mit Almuth Bruder-Bezzel). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2004; Individualpsychologische Psychoanalyse (hrsg. mit Almuth Bruder-Bezzel) Frankfurt (Peter Lang) 2006; Lüge und Selbsttäuschung. (mit Friedrich Voßkühler) Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2009.

Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder Psychoanalytiker Professor für Psychologie Freie Universität Berlin, FB 12 Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Psychologie Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin

E-Mail: klaus-juergen.bruder@fu-berlin.de