Editorial

Peter Mattes & Martin Dege

»Kritische Psychologie … [ist] … der Versuch, die gesamte Psychologie durch Kritik und Revision ihrer Grundbegriffe und darin eingeschlossenen methodischen Vorstellungen auf eine neue wissenschaftliche Basis zu stellen«, nichts weniger als das wollte ein Buch, das 1983 unter dem Titel »Grundlegung der Psychologie« erschienen ist. Autor war der Berliner Psychologe Klaus Holzkamp, Haupt einer damals nicht wenige Anhänger vereinenden Schule ‚Kritische Psychologie’ und darüber hinaus in weiteren Kreisen der psychologischen Wissenschaftlergemeinschaft so bekannt wie anerkannt als kompetenter Sozialpsychologe und Methodenkritiker. Ziel war es, sowohl über die »latente Inhumanität der herrschenden Psychologie« hinaus neue Perspektiven zu eröffnen als auch je individueller Lebens- und Weltsicht zu praktischer Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit im gesellschaftlichen Zusammenhang zu verhelfen. Ein umfassendes, viel versprechendes Programm, das zu seinen Zeiten Aufmerksamkeit weckte und Hoffnungen zu schüren geeignet war. An einigen Universitäten begeisterte es Studierende und (meist jüngere) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nachhaltig.

Das ist jetzt 25 Jahre her. Was ist daraus geworden? Wohin hat sich die Kritische Psychologie entwickelt und in welcher Weise gelingt und gelang es dem Werk Klaus Holzkamps, Bereiche der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen zu beeinflussen?

Die Geburtsstunde kritischer Psychologien in der damaligen Bundesrepublik Deutschland und Westberlin ist eng verbunden mit der Studentenrevolte der späten 60er Jahre. Innerhalb eines sich neu etablierenden Möglichkeitsraumes gewann kritische Wissenschaft zunehmend an Bedeutung. In der Psychologie waren dies zunächst Auffassungen, die sich kritisch mit der herrschenden Mainstream-Psychologie auseinandersetzten. Den besonderen historischen Umständen der Etablierung eines eigenen Instituts, dem Psychologischen Institut (PI) an der Freien Universität Berlin geschuldet, war es einer größeren Anzahl von WissenschaftlerInnen dann jedoch möglich, die kritische Betrachtung psychologischer Ansätze zu einer eigenen Theorie weiterzuentwickeln und so eine eigene Konzeption von Psychologie zu erschaffen, einer Psychologie, die nicht mehr affirmativ, also die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände bejahend, sein wollte, sondern ‚emanzipatorisch’: Zunächst von der Perspektive ‚der Betroffenen’ (ein bald dialektisch aufgehobener Terminus) her, dann systematisch auf die ‚Befindlichkeit der Subjekte’ zentrierend sollte eine Wissenschaft begründet werden, deren wesentliches Ziel ein Entwurf für die Ermöglichung der Erweiterung der Bedingungsverfügungen des Einzelnen war. Aus einer den Mainstream kritisierenden kritischen Psychologie ging damit, neben mehreren Ansätzen mittlerer und kleiner Reichweite, eine groß angelegte Subjektwissenschaft mit Namen Kritische Psychologie hervor.

Ursprünglich die Zusammenfassung bis dahin vorgelegter unterschiedlicher Arbeiten innerhalb der Kritischen Psychologie planend, erarbeitete schließlich Klaus Holzkamp in einem 1983 veröffentlichten Buch die ‚kategorialen’ Grundlagen psychologischer Theorie und Praxis systematisch. Es wurde sein und seiner Schule Hauptwerk. Konsequenter Weise wählte er für sein 600 Seiten starkes Werk den Titel »Grundlegung der Psychologie«.

Aus einer Kritik an der Hegemonie des naturwissenschaftlich geprägten psychologischen Mainstreams war der Versuch der Etablierung einer eigenen Hegemonie entstanden, die nun selbst den Anspruch hegte, eine Wissenschaft vom Menschen – die Psychologie – umfassend zu begründen.

Natürlich musste sich ein solches Unternehmen verschiedensten Anfeindungen zur Wehr setzen. Zum einen wurde Holzkamps Grundlegung nicht in allen Bereichen mit offenen Armen empfangen sondern im Gegenteil (selbst innerhalb der Mauern des PI) kontrovers diskutiert und zum anderen sah sich eine Psychologie, die sich explizit auf marxistische Füße stellte, auf Grund der damaligen politischen Lage in Westberlin und Gesamteuropa vernichtenden Anfeindungen ausgesetzt. Die Geburt der Kritischen Psychologie stand so wohl von Beginn an unter einem schlechten Stern: Sie erblickte das Licht der Welt am Ende der großen Theorien, gerade als der Glaube an die Lösbarkeit gesamtgesellschaftlicher Problemstellungen mittels einer einzigen theoretischen Grundlage zu schwinden begann. Ihr fehlte von Beginn an eine Unterstützung, die über die Schranken einer ideell und institutionell begrenzten Gemeinschaft hinausging. Und schließlich kämpfte sie von Beginn an mit den konkreten politischen Umständen, die sie selbst zu kritisieren suchte.

Es stellt sich also die Frage, was geblieben ist vom Projekt der Etablierung einer Kritischen Psychologie auf Basis eines marxistisch-subjektwissenschaftlichen Ansatzes – ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen ihres Zentralwerks. Eine Frage, auf die die Autoren dieses Themenheftes des Journals für Psychologie unterschiedliche, jedoch durchweg die Möglichkeit und Notwendigkeit kritischer Theorie und Praxis nicht negierende Antworten geben.

Jens Brockmeier stellt in seinem Beitrag »Subjektivität und Bedeutung« zunächst die Zusammenhänge mit Denken und Handeln in einer Bewegung und an einem Ort her, einem Kontext, der inzwischen als historisch angesehen werden könnte. Doch darin erschöpft sich nicht die Relevanz des Werks von Klaus Holzkamp. Viele Denkfiguren der »Grundlegung der Psychologie« passen sich in andere, spätere paradigmatische Kontexte ein, wo sie ihre Fruchtbarkeit auch heute beweisen können. Es sind dies neuere alternative Psychologien, z.B. die von Jerome Bruner beeinflussten Ansätze. Dies auszuarbeiten wäre eine gegenwärtige Aufgabe von hoher Potenzialität.

Auch Günter Rexilius widmet sich in dem Aufsatz »Wie Klaus Holzkamp posthum auf den Kopf gestellt wurde« den Kontexten, die der Kritischen Psychologie sowohl ihre Bedeutung gaben wie auch ihre Wirksamkeit beschränkten. Dabei bringt sich der Autor, seinerseits einer der Protagonisten kritischen Denkens in der damaligen Psychologie, selbst ein. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Scheitern kritischer Psychologien aufgrund staatlicher und wissenschaftlicher Repression. Ergänzend wird die aktuelle Diskussion, die anlässlich der vierzigjährigen Geschichte der 1968er Bewegung geführt wird, hinterfragt.

Ähnlich wie Günter Rexilius setzt sich Wolff-Michael Roth in seinem Artikel »Klaus Holzkamp in the Americas: A Personal Account« mit seinem ganz individuellen Aufeinandertreffen mit den Arbeiten Holzkamps auseinander. Dabei steht für ihn im Vordergrund, dass die Diskussion der Arbeiten Holzkamps keineswegs abgeschlossen sein kann, sondern im Gegenteil gerade erst beginnt. Roth beschreibt Probleme innerhalb der qualitativen Forschungspraktik und seine damit verbundene Hinwendung zur Subjektwissenschaft als Möglichkeit, nicht bloß das Gemeinsame verschiedener Aussagen als Grundlage der Problemlösung im Forschungsfeld zu nehmen, sondern dem jeweilig subjektive Erleben überhaupt Geltung zu verschaffen. Darüber hinaus stellt Roth die Anschlussfähigkeit des Denkens Holzkamps an verschiedene Theorieschulen in der Philosophie und den Sozialwissenschaften, wie etwa die Arbeiten Pierre Bordieus, den marxistischen Feminismus, die schon in Jens Brockmeiers Beitrag dargelegte Verbindung zu Martin Heidegger und Paul Ricoeur, sowie die Anschlussfähigkeit an die Arbeiten von Emmanuel Levinas und Jean-Luc Nancy heraus.

Christina Kaindl untersucht in ihrem Beitrag »Kritische Psychologie im Neoliberalismus« inwieweit es möglich erscheint, die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Aufkommen des Neoliberalismus einhergehen, mit Hilfe der in der Grundlegung der Psychologie ausgearbeiteten Theoriekonzepte zu denken. Ihr Ausgangspunkt ist dabei die scheinbare Aufwertung des Subjekts unter neoliberalen Umständen, in denen die Selbstbestimmung des Subjekts nicht mehr als im Sinne der Steigerung der Produktivkräfte notwendig zu unterdrückend angesehen wird, sondern im Gegenteil eine »sozialtechnisch zu erschließende« Ressource darstellt. In einer Kritik an einer spezifischen Lesart von Michel Foucaults Schriften zur Gouvernementalität und unter Rückführung des dort entwickelten Subjektbegriffs auf Lacan weist sie darauf hin, dass das Subjekt allein durch Analyse der gesellschaftstheoretischen Bezugsebenen niemals vollständig erfassbar ist. Statt dessen bietet Christina Kaindl eine Erweiterung und Kritik der Debatten und Erklärungsmodelle um den Neoliberalismus mit der in der »Grundlegung der Psychologie« entwickelten Subjekttheorie sowie den dort explizierten Typen der Handlungsfähigkeit an.

Der Beitrag »Überlegungen zur Konstruktion des beruflichen Selbstverständnisses einer Kritischen Psychologin« von Sylvia Siegel schildert, wie eine im psychosozialen Feld Arbeitende mit den Konzepten der Kritischen Psychologie umgehen und diese als Erweiterung der Handlungsräume sowohl auf Seiten der TherapeutInnen wie der KlientInnen sehen kann. Aber auch hier müssen Grenzen aufgrund institutioneller und lebensweltlicher Umstände aufgezeigt werden. Sie setzt auf kommunikative Transferleistungen zwischen den Denk- und Sprachkulturen der Kritischen Psychologie und denjenigen ihrer Klientel als soziale Interaktionskomponenten.

»Kategorialanalyse und Aktualempirie. Eine kritische Bemerkung zu Klaus Holzkamps Grundlegung der Psychologie« lautet der Titel des dieses Themenheft abschließenden Beitrags. Michael Zander legt dort dar, wie, anders als bei Klaus Holzkamp postuliert, Aktualempirie in die Kategorienanalyse mit eingehen kann, diese also nicht reine Domäne der historisch-empirischen Analyseebene ist. Er argumentiert, dass, geht man davon aus, dass die Phänomenebene in die historisch-empirische Analyse eingeht, notwendigerweise auch die aktualempirischen Untersuchungen eine Rolle spielen müssen. Vorbegriffe erscheinen so eben nicht nur auf Grund ihrer Defizite interessant, sondern auch auf Grund des in ihnen enthaltenen positiven Wissens. Aus dieser Darlegung heraus argumentiert Michael Zander, dass es für den Fortgang einer Kritischen Psychologie unablässig ist, aktual-empirisch zu arbeiten, ihre Kritikhaftigkeit nicht nur auf einer historisch-empirischen Ebene zu belassen und sich innerhalb dieses Bereiches besonders auf gesellschaftliche Bewegungen zu fokussieren.

Wien / Berlin, im Juli 2008

Peter Mattes Martin Dege

Autorenhinweis

Peter Mattes

Peter Mattes, Dr.phil., Dipl.Psych., lebt in Berlin und Wien. Bis 2004 Freie Universität Berlin, Arbeitsbereich Subjektforschung und Kritische Psychologie im Studiengang Psychologie. Seither freier Wissenschaftler. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Psychologie, postmoderne und narrativ-konstruktionistische Ansätze.

Dr. H. P. Mattes Nassauische Straße 13/14 D-10717 Berlin-Wilmersdorf sowie ders., Georg-Sigl-Gasse 3/9 A-1090 Wien

E-Mail: petermattes@aol.com

Web: http://www.peter-mattes.de/

Martin Dege

Martin Dege ist Doktorand an der Clark University in Worcester, Massachusetts. Er ist Mitherausgeber des Journal für Psycholgie und Gründungsmitglied der Clark University Radical Psychology Group. In seiner Arbeit fokussiert er sich auf die Geschichte und Philosophie der Psychologie sowie auf die institutionellen Prozesse, die die akademische Psychologie konstituieren. Im Moment arbeitet er an einem Forschungsprojekt zum Begriff der Möglichkeit.

Martin Dege Frances L. Hiatt School of Psychology Clark University 950 Main St. Worcester, MA 01610 USA

E-Mail: mdege@clarku.edu

Web: http://students.clarku.edu/~mdege