Wie Klaus Holzkamp posthum auf den Kopf gestellt wurde

Günter Rexilius

Zusammenfassung

Der Beitrag nimmt die Beschäftigung mit der »Grundlegung der Psychologie« zum Ausgangspunkt für den Versuch, die Entwicklung der kritischen Psychologie und den Einfluss, den Klaus Holzkamp auf sie genommen hat, nachzuzeichnen. Auf dem Hintergrund der Studentenrevolte, die Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts begann, wird die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Zuständen, die viele Menschen ausgrenzen und krank machen, der Entfaltung kritischer Wissenschaft – einschließlich kritischer Psychologie -, die theoretische und praktisch ihre Verantwortung gegenüber diesen Menschen wahrnahm, und dem bemerkenswerten und beispielgebenden persönlichen Beitrag von Klaus Holzkamp untersucht. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Scheitern kritischer Psychologie aufgrund staatlicher und wissenschaftlicher Repression. Ergänzend wird die aktuelle Diskussion, die anlässlich der vierzigjährigen Geschichte der 1968er Bewegung geführt wird, hinterfragt. Abschließend führen einige persönliche Anmerkungen zu den emotionalen Residuen jener Zeit.

Schüsselwörter: Kritische Psychologie, Studentenbewegung, wissenschaftliche Ausgrenzung, Berufsverbote, kapitalistische Gesellschaft, Randgruppenarbeit, Soziale Amnesie, Geschichtsvergessenheit

Summary

This article takes the »Grundlegung der Psychologie« as its basis to try to trace the development oft Critical Psychology and Klaus Holzkamp’s influence on this movement. Against the background of the Student Movement that was initiated at the end of the 60s of the last century, the interdependency between the social conditions, which segregated a lot of people and morbidly affected them, the evolvement of critical sciences – including Critical Psychology -, which took responsibilty for those people on a theoretical and practical level, and the remarkable and exemplary contribution of Klaus Holzkamp will be explored. A particular focus will be placed on the collapse of Critical Psychology as a consequence of governmental an scientific repressions. Additionaly, the current discussion about the movement of '68 that was triggered by the 40th anniversery of the student revolt, is challenged. Finally, some special personal notes of the author tackle the emotional left overs of that time.

Keywords: Critical Psychology, Studentmovement, scientific marginalisation, banning from profession, capitalistic society, marginal group work, social amnesia, history oblivion

Mein Blick auf die Bücher im Regal für psychologische Literatur fällt auf einige zerfledderte, weil zerlesene Exemplare, darunter von Klaus Holzkamp der Sammelband »Kritische Psychologie« (1972) und die »Sinnliche Erkenntnis – Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung« (1973). Die »Grundlegung der Psychologie« (1983) daneben ist noch gut erhalten. Können Bücher sprechen? Diese jedenfalls erzählen eine Geschichte: Über kritische Psychologie, über die Studentenrevolte um 1968, über die gesellschaftliche Wirklichkeit in dieser Zeit und über die Verwobenheit dieser drei Realitätsebenen miteinander. Die beiden ersten Bücher gehören in eine Zeit, in der die Beschäftigung mit kritischer Psychologie ein aus- und erfüllender Lebensinhalt war. Das dritte Buch war nicht weniger wichtig und inhaltsschwer, aber kritische Psychologie und der Umgang mit ihr hatten sich verändert. Ihre Entwicklung möchte ich in vier Phasen unterteilen, deren Verlauf in diesem Beitrag nachgezeichnet werden soll. Eine Hauptrolle in ihnen hat, jedenfalls aus psychologischer Sicht, Klaus Holzkamp, deshalb wird ihr und ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

1. Wissenschafts- und Gesellschaftskritik als epochale Hoffnung

Als wir Ende der sechziger Jahre Psychologie studierten, lebten wir quasi dreifach. Wir studierten nach Studien- und Diplomprüfungsordnung, um später einen psychologischen Beruf ausüben zu können; wir eigneten uns kritische Gesellschaftswissenschaft an, oft viel gründlicher als die traditionelle Psychologie; und wir arbeiteten im sozialen Feld, in psychiatrischen Einrichtungen oder in Knästen oder in Obdachlosenasylen. Konfrontiert mit sozialem Elend und materieller Armut stellten wir fest, dass Theorien und Methoden der wissenschaftlichen Psychologie weder das Funktionieren der Institutionen noch ihren gesellschaftlichen Auftrag noch ihre Folgen für die Menschen, die in ihnen aufbewahrt wurden, verständlich machten. Zwischen unserer eigenen Hilflosigkeit angesichts des allgegenwärtigen Leidens, das erschütterte und manchmal vor Entsetzen und Wut schreiende Gefühle auslöste, und dem Psychologiestudium tat sich eine schier unüberbrückbare Kluft auf.

Erklärung und Beistand boten gesellschaftskritische Analysen, die sich als probate und wirksame Schlüssel zum Verstehen, zum begrifflichen Durchdringen dieser bedrückenden Wirklichkeiten und als hilfreich bei dem Bemühen erwiesen, zur Veränderung der Lebensbedingungen der ausgegrenzten Menschen beizutragen. Die nach Aufklärung suchenden Studierenden lernten Marx und Engels und Lenin, Kritische Theorie und kritische Psychoanalyse kennen, und wir machten die Erfahrung, dass diese theoretischen Zugänge zur gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeit nicht nur darüber aufklärten, wie sie zusammenhängen und funktionieren, sondern auch Trost spendeten und Mut machten, es mit der Veränderung ernst zu meinen.

Irgendwann und irgendwie lernten wir bei der Suche nach psychologischen Antworten auf die vielen Fragen, die sich bei der theoretischen Annäherung an die praktischen Erfahrungen ergaben, Schriften von Klaus Holzkamp kennen. Sich auf sie einzulassen war spannend, weil psychologische Theorien und Methoden plötzlich ihre Selbstverständlichkeit verloren. Die Art und Weise, in der Holzkamp das scheinbar sichere Wissen der Lehrbücher und die angeblich verbindlichen wissenschaftlichen Handlungsmuster hinterfragte, ermunterte, sich mit der studienordnungsrelevanten Psychologie, die vor der alltäglichen Realität versagte, auseinander zu setzen, und sie trug zu einem veränderten intellektuellen Selbstverständnis der Studierenden bei, für die es selbstverständlich geworden war, wissenschaftliche und praktische Erfahrungen miteinander zu verbinden.

Seine grundsätzliche Kritik an einer positivistisch verkürzten Psychologie, die an den wissenschaftlichen Hochschulen herrschte, ließ Holzkamps wissenschaftliche Arbeiten zu einem Gegenentwurf werden. Es waren zunächst die Anstöße durch »Wissenschaft als Handlung« (Holzkamp 1968), die über die experimentell-distanzierten theoretischen und methodischen Modelle behavioristischer Psychologie hinauswiesen. Für die substanzielle Kritik am psychologischen mainstream, die sich aufgrund der Erfahrungen im sozialen Feld aufdrängte, erwies sich Holzkamps Feststellung als qualitativer Entwicklungssprung, »dass das Einzelindividuum keineswegs eine schlichte, ‚konkrete’ Vorfindlichkeit darstellt, sondern dass das Konzept des Einzelindividuums vielmehr außerordentlich abstrakt, nämlich Ergebnis der Abstraktion von der konkreten historisch-gesellschaftlichen Lage des Menschen ist (Hervorhebung durch Holzkamp) (1972, 100). Bürgerliche bzw. traditionelle Psychologie[1] ignoriert das Verhältnis des einzelnen Menschen zu seinen gesellschaftlichen Entwicklungs- und Existenzbedingungen und zu ihrem geschichtlichen Werden, sie übersieht, dass Theorien und Experimente der Psychologie sich auf ein abstraktes, von seinen gesellschaftlichen Verhältnissen und seiner historischen Gewordenheit abgetrenntes Individuum kaprizieren.

In diesen Jahren bis etwa 1972 dominierte die kritische Auseinandersetzung mit der das Studium beherrschenden Psychologie. Teils durch ihre kritischen Studien beflügelt, teils aufgrund eigener Erfahrungen nachdenklich geworden, schufen die Studierenden eine soziale und wissenschaftliche Bewegung, deren Impulse weit über die Hochschulen hinausreichten. Ihr neues Wissenschaftsverständnis und ihre praktische Arbeit vor Ort wurden zu einer unerhörten Provokation für die etablierten Institutionen. Die kraftvollen Effekte ihrer theoretischen und praktischen Aktivitäten speiste sich einerseits aus einem profunden Wissen über gesellschaftliche Verhältnisse, über historische Entwicklungsverläufe und über ihre Bedingungen, andererseits aus der überzeugenden wie überzeugten Ernsthaftigkeit der Versuche, praktisch und in der Zusammenarbeit mit den einzelnen Menschen, die auf irgendeine Weise von der gesellschaftlichen und ökonomischen Logik ausgespuckt worden waren, Lebensverhältnisse zu verändern. Franco Basaglia[2] hat für viele gesprochen, als er die wissenschaftliche und praktische Leidenschaft, die für jene Jahre typisch war, in Worte fasste: »Wir müssen gemeinsam mit den Unterdrückten kämpfen. Aber das setzt voraus, dass wir eigene Gründe haben, uns an den sozialen Auseinandersetzungen zu beteiligen, dass wir uns die Motivation des Handelns nicht ausborgen. Der gemeinsame Prospekt ist die Abschaffung des Elends« (1980, 46).

Die VertreterInnen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Institutionen reagierten zunächst eher verwirrt und überrascht, sie wehrten die neuen Ideen und die praktischen Veränderungen einerseits ab, andererseits waren sie neugierig oder öffneten sich ihnen vorsichtig. Sowohl an den Hochschulen als auch in den Institutionen im sozialen Feld entstand eine vielleicht nicht im emphatischen Sinne diskursive, aber doch eine Atmosphäre, die vielerorts Diskussion, Debatte, Dialog möglich machte. In Berlin konnte kritische Psychologie, getragen nicht zuletzt von der intellektuellen Produktivität Holzkamps und anderer Mitglieder des Psychologischen Instituts an der Freien Universität, die eine anregende und ermunternde politische Dynamik entfalteten, sich eigenständige personelle und förmliche Konturen geben, in Hannover war Peter Brückner (1972, 1982) Mittelpunkt eines kritisch-psychologischen Forums, das der gesellschaftlichen und individuellen Sprengkraft psychoanalytischer Theorie und Praxis vertraute, an vielen anderen Orten, vor allem Hochschulen, bildeten sich psychologiekritische Zirkel, die sich theoretischen Studien und sozialen Projekten widmeten. Es war eine Zeit, in der bei den politisch aktiven Studierenden und HochschullehrerInnen und bei vielen anderen Menschen die Hoffnung wuchs, in eine konservativ-kapitalistische Gesellschaft und eine ihr loyale Wissenschaft verändernde Bewegung bringen zu können.

2. Kritische Wissenschaft – Barrikaden statt Diskurs

Von der Aufbruchstimmung in eine neue Gesellschaft Anfang der siebziger Jahre belebt, verbanden Denken, Fühlen und Handeln sich zu einer praktisch werdenden Kraft. Mit analytischer Präzision wurden die materiellen, also die kapitalistischen Grundlagen der bundesrepublikanischen und der weltweiten Wirklichkeit auf ihre Begriffe gebracht; aus ihnen wurden vielfältige und einfallsreiche Projekte zur Veränderung der Lebensbedingungen benachteiligter, verarmter, ausgegrenzter Menschen abgeleitet; nicht immer zielsicher aber von scheinbar unerschöpflicher Ausdauer getragene politische und soziale Aktionsformen entstanden; sie führten zu der wissenschaftlich geradezu revolutionären Einsicht, die so entschieden am ehesten bei den französischen Utopisten des 19. Jahrhunderts zu finden war, dass mitfühlendes und mitleidendes Handeln fundamentale Erkenntnisinstrumente sind; gesellschaftspolitisches Engagement wurde mit dem offensiven Anspruch gekoppelt, der gesellschaftlichen Amnesie in Bezug auf Faschismus und Weimarer Republik lautstark und resolut entgegenzuwirken.

Kritische Psychologie war ein Teil dieser Bewegung. Ihre theoretischen und praktischen Projekte waren von dem Willen getragen, psychologisches Denken und Handeln in die Pflicht zu nehmen. Psychologie sollte ungerechte und kränkende Lebensverhältnisse theoretisch und methodisch nicht stabilisieren, sondern die ökonomischen, politischen und sozialen Gründe für Entwicklungsdefizite, Lebenskrisen und Leidensprozesse aufdecken und sie zu beseitigen helfen. Der »Schülerladen Rote Freiheit« (Autorenkollektiv 1971)[3] und die »Projektgruppe Brelohstraße« (1971)[4] waren zwei Beispiele von vielen anderen, in denen die Akteure ihren praktisch-eingreifenden Auftrag, den sie sich selbst gegeben hatten, zielsicher verfolgten. Gemeinsam mit benachteiligten und verelendeten Kindern und ihren Eltern, in der praktisch-politischen Arbeit, klärten sie über die Hintergründe von Obdachlosigkeit und Verschiebung an den gesellschaftlichen Rand auf und bewirkten konkrete Veränderungen. Unser Menschenbild, an dem wir unser praktisches Handeln orientierten, formte sich als Ergebnis der Analyse kapitalistischer Lebensverhältnisse und der konkreten Erfahrungen mit vielen Menschen, die aus ihnen ausgestoßen wurden und an ihnen litten. Sie mündete in der Erkenntnis, dass materielle, kulturelle, geistige und soziale Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum über Entwicklungsmöglichkeiten und Lebenschancen von Menschen entscheiden. Die gesellschaftlichen – vor allem die politischen und ökonomischen – Verhältnisse, in die wir hineingeboren werden, formen uns und geben unserem Leben Konturen; als ihre Subjekte gestalten wir sie aber auch aktiv und greifen in sie ein, kultivieren, verändern sie. Als Subjekte ihres eigenen Lebens und ihrer Existenzbedingungen werden Menschen entmachtet, wenn Menschen über andere Menschen herrschen, sie für ihre Interessen funktionalisieren, sie ausbeuten, unterdrücken und damit gerechte und gleiche Lebensgrundlagen für alle Menschen aufheben oder verhindern. In diesem Zustand, so befanden wir als Ergebnis unserer politisch-psychologischen Aktivitäten, war die kapitalistische Gesellschaft hier und anderswo längst angekommen.

Den Übergang von einer herben und differenzierten Kritik an der traditionellen zur Entwicklung einer neuen, kritischen Psychologie, die diesem Menschenbild theoretisch und praktisch folgte, markieren einige Sätze von Holzkamp, die so etwas wie ein theoretisches und wissenschaftstheoretisches Gerüst für psychologisches Denken und Handeln bilden. »Die entscheidende Voraussetzung für die Konzeption einer kritisch-emanzipatorischen Psychologie« besteht darin zu verstehen, dass »konkrete, lebendige Menschen immer in einer besonderen historischen Form« (Holzkamp 1972, 102, Hervorhebung dort) von gesellschaftlichen Lebensverhältnissen stehen und nur in einer dialektischen Wechselwirkung mit ihnen Untersuchungsgegenstand einer Psychologie sein können, die ihrem Lebenszusammenhang gerecht wird. Er nimmt Bezug auf die Feuerbachthesen von Marx, die der Entstehung und Entwicklung einer neuen, einer kritischen Psychologie erkenntnistheoretisch Pate gestanden haben: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx 1969, 6). Wenn das, was am Menschen wesentlich ist, gesellschaftlich ist, dann ist jeder psychologische Gedanke oder jedes psychologische Verfahren, die ihn von seinen gesellschaftlichen Verhältnissen isolieren, sinnlos oder interessengeleitet (Habermas 1969).

Holzkamps Buch »Sinnliche Erkenntnis« (1973) markiert einen ersten systematischen Meilenstein in der Entwicklung von der Psychologiekritik zur kritischen Psychologie als eigenständiges wissenschaftliches Modell. In ihm versucht er, die historische Gewordenheit der Wahrnehmung und ihre materielle Abhängigkeit von konkreten Lebensbedingungen nachzuweisen. Er war nicht der erste und nicht der einzige Wissenschaftler, der sich auf die Feuerbachthesen berief, aber indem er ihre Substanz für eine neue Psychologie theoretisch kompakt und präzise ausformulierte, indem er menschliche Lebensäußerungen konsequent in ihrer dialektischen Einheit als subjektive und objektive Bewältigung ihrer Lebensbedingungen untersuchte, gab er dem psychologischen Paradigmenwechsel eine Grundlage. Neben der »Grundlegung« kann die »Sinnliche Erkenntnis« deshalb als ein Hauptwerk des wissenschaftlichen Schaffens von Klaus Holzkamp eingeordnet werden, trotz seines späteren »großen« Werkes stellt sie einen bedeutenden Schritt bei seinem Versuch dar, ein neues psychologisches Paradigma wissenschaftstheoretisch und theoretisch zu unterfüttern.

Holzkamps Ideen waren nicht neu, als er die Dialektik von Mensch und Gesellschaft, von Freiheit und Unterdrückung, von Bereicherung und Ausbeutung, von Herrschaft und ideologischer Verdummung – falsches Bewusstsein von den wirklichen Zuständen und Verhältnissen – als wissenschaftlichen Gegenstand aufgriff und zur Grundlage einer kritisch-psychologischen Theorie der sinnlichen Erkenntnis machte. Nicht nur die Schriften von Marx und Engels und anderer marxistischer »Großväter« hatten aufgedeckt, dass im Kapitalverhältnis, im Verhältnis von Kapitalbesitzer und Besitzer der Ware Arbeitskraft, der Schlüssel zum Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft liegt. Die Kritische Theorie mit ihren Arbeiten zum Verhältnis von Mensch und Gesellschaft, die Diskussionen um Psychoanalyse und Marxismus in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts und dann wieder zwischen 1960 und 1980 (Gente 1970, Caruso 1972, Parin 1978), französische Philosophen und Sozialwissenschaftler wie Sartre (1981), Althusser(1972) und Gorz (1972), sowjetische Psychologen wie Rubinstein (1962) und Leontjew (1972) hatten viele Facetten der Enteignung des Subjektseins durch kapitalistische Ökonomie, die Profit und Bereicherung als erklärtes Ziel verfolgt, beschrieben, untersucht und begrifflich fixiert.

Auf diesem wissenschaftshistorischen Hintergrund muss der Beitrag von Holzkamp zur Entwicklung kritischer Psychologie hervorgehoben werden, weil er zeitgenössisch und später oft unterschätzt oder übersehen worden ist. Er hat die historischen und materialistischen Analysen über die kapitalistische Gesellschaft, über die materiellen Lebensgrundlagen des menschlichen Lebens, zum begrifflichen Schlüsselbund für den Zugang zu einer neuen Psychologie, zu ihrem Fundament gerinnen lassen. Neben seinen Arbeiten wurden andere psychologische Versuche, das Eindringen des Verwertungsprinzips bis in die letzten Fasern des menschlichen Lebens zu verfolgen, etwa von Sève (1972) und Leontjew (1972), zu Versatzstücken und Grundlagen kritisch-psychologischer Ansätze. Durch sie angeregt und befruchtet, beteiligten sich viele PsychologInnen an vielen Universitäten an ihrer Weiterentwicklung. Sie hatten durchaus unterschiedliche Ausgangspunkte und setzten in Theorieentwicklung und methodischer Innovation verschiedene Akzente, aber in Bezug auf Zielsetzung, ihre Kritik an der herrschenden Psychologie und den gesellschaftlichen Zuständen und ihre theoretische Anbindung an marxistische Theorie und gesellschaftsverändernde Traditionen hatten sie ihre gemeinsamen Nenner. Vielerorts waren die Seminare zu kritisch-psychologischen Themen besser besucht als die zur traditionellen Psychologie, die VertreterInnen kritischer Psychologie erlebten mit ihren theoretischen und ihren methodischen Arbeiten ein teilweise begeistertes Interesse von Studierenden. Kritische Psychologie schien sich zu einer theoretischen Alternative auch an den Hochschulen zu entwickeln.

Wer kritische Psychologie machen wollte, bewegte sich allerdings schon zu der Zeit, als die »Sinnliche Erkenntnis« erschien, in Feindesland. Wie die soziale Bewegung die etablierte Gesellschaft und ihre Institutionen beunruhigte und störte, so bedrohte das kritisch-psychologische Wirken das Selbstverständnis der VertreterInnen behavioristischer Psychologie und die Selbstverständlichkeit ihres Daseins an den Hochschulen und außerhalb von ihnen. Überall dort, wo kritisch-psychologische Nester sich an den Hochschulen herausbildeten, stießen sie auf Abwehr, Misstrauen und Ablehnung, die der Neugier und Dialogbereitschaft der Jahre zuvor gewichen waren. Sie wurden, wo und wenn möglich, ausgegrenzt, exkommuniziert, aus der WissenschaftlerInnengemeinschaft ausgeschlossen bzw. gar nicht erst in sie aufgenommen. In Berlin gelang es zwar, so etwas wie eine kritisch-psychologische Festung zu errichten, als Psychologisches Institut an der Freien Universität, dessen Erfolg aber zugleich ein Symptom für die Lage der kritischen Psychologie insgesamt war: Er wurde nur möglich durch Abspaltung der KollegInnen und Studierenden, die der kritischen Psychologie ablehnend gegenüber standen, in ein eigenes psychologisches Institut. Wie in Berlin blieb das Bestreben der kritischen Psychologie, sich wissenschaftlich und praktisch zu behaupten, an allen Orten ein ausdauernder Kampf um ihr Überleben und gegen eine konsequente, unerbittliche Abwehr durch diejenigen, die an den Hochschulen die kritisierte Psychologie repräsentierten. Seit Mitte der siebziger Jahre begannen die psychologischen Institute an den Hochschulen zu uneinnehmbaren Bollwerken gegen kritische PsychologInnen zu werden.

3. Die »Grundlegung der Psychologie« – bis hierher und nicht weiter

Mit der »Grundlegung der Psychologie« hat Klaus Holzkamp versucht, auf gesellschaftskritischer Grundlage ein systematisches psychologisches Konzept zu entwickeln. Sein Ziel war einerseits, das psychische Geschehen und das menschliche Handeln in ihrer Erstarrung und Verarmung, die es in einer durchkapitalisierten Gesellschaft erleidet, zu erklären und sein Funktionieren verständlich zu machen, andererseits Einstellungs- und Handlungsmuster zu entwerfen, die helfen konnten und können, sich von den vorgegebenen Zwängen zu emanzipieren. Holzkamps Bild vom Menschen, der Subjekt seines Lebens, Gestalter seiner Lebensverhältnisse ist, und dort verändernd und konsequent eingreift, wo andere Menschen ihm dieses Subjektsein, diese Gestaltungskraft nehmen oder einschränken wollen, trägt sein theoretisches Werk und seine praktische Arbeit und kumuliert in seinem Hauptwerk. Statt die theoretische und praktische Wirkung zu erzielen, die seinem Umfang und seinem Inhalt angemessen gewesen wären, stieß es auf äußere Umstände, die seiner Resonanz Grenzen setzten.

Als die »Grundlegung« erschien, war unter den kritischen Intellektuellen und Studierenden, die zwischen 1965 und 1980 ihre Revolte gegen ungerechte und krankmachende ökonomische und soziale Lebensverhältnisse angezettelt und mit viel Enthusiasmus gesellschaftlich hatten wirksam werden lassen, schon längst eine schleichende Seuche ausgebrochen. Russell Jacoby, der vielleicht scharfsichtigste und scharfsinnigste Historiograf der politischen und seelisch-geistigen Prozesse, die sich in jener Zeit vollzogen, diagnostizierte: »Im Namen eines neuen Zeitalters wird die vergangene Theorie für verdienstvoll, jedoch für hinfällig erklärt: man kann Freud und Marx beiseite legen … Kurz: die Gesellschaft hat ihr Gedächtnis verloren und damit ihren Verstand. Das Unvermögen oder die Weigerung zurückzudenken, hat einen Preis: den der Unfähigkeit zu denken. Der Gedächtnisverlust nimmt vielfältige Formen an: von einem ‚radikalen’ Empirismus und Positivismus bis hin zur vollständigen Ignoranz unerwünschter Entwürfe (1980, 25). Die Grundlagen für den Gedächtnisverlust fokussierte Jacoby mit den folgenden Worten: »Der allgemeine Verlust der Erinnerung darf nicht allein psychologisch erklärt werden … Vielmehr handelt es sich um soziale Amnesie – Erinnerung, die durch die soziale und ökonomische Dynamik dieser Gesellschaft dem Gedächtnis entrissen wurde. Die Produktionsweise sozialer Amnesie kann hier nur angedeutet werden; ihre Erklärung müsste den Marxschen Begriff der Verdinglichung heranziehen. Verdinglichung bezieht sich im Marxismus auf eine von der Gesellschaft objektiv erzeugte Illusion.« (ebd. 27)

Holzkamp setzte gegen diesen Gedächtnisverlust das Denken, das Zurückdenken, er wiederholte ausdauernd, dass sein »grundlegendes« Buch zum Nach- und Mitdenken auffordere, weil nicht seine Gedanken oder seine Sprache komplex und kompliziert seien, sondern die Verhältnisse, denen sie auf den Grund gehen und zu deren Veränderung sie beitragen sollten. Empiristischer und positivistischer Kurzschlüssigkeit und Geschichtslosigkeit begegnete er, Adornos Zielsetzung in seinen Streitschriften gegen den Positivismus (1969) eng verwandt, mit einem Zugang zur menschlichen Lebenswirklichkeit, der sein Gewordensein durch gewaltförmige Lebensbedingungen aufdeckte und historisch aufrollte. Der abstrakte Mensch der Sozialwissenschaften konnte nur als konkreter in Wissenschaft und Praxis zurückgeholt werden, wenn er mithilfe der theoretischen Konzepte der marxistischen Ökonomie und Philosophie, die ihn entdeckt hatten, als in seine Lebensverhältnisse eingebunden, als in einer praktisch-dialektischen Beziehung zu ihnen überhaupt erst existierender Mensch verstanden wird. Um der »Unfähigkeit zu denken«[5] entgegenzuwirken, wollte er zum Denken befähigen.

Vor allem die »Grundlegung« von Klaus Holzkamp war geeignet, den Menschen und der Gesellschaft, in der sie leben, ihr Gedächtnis zurückzugeben und verdinglichtes Bewusstsein, dem die Wurzeln von Unterdrückung und Leiden nicht mehr zugänglich sind, durch historisch gestütztes und mit gesellschaftsanalytischem Potential ausgerüstetes Denken aufzubrechen. Kritik an beengten und entmutigenden Lebensverhältnissen und ein neues psychologisches Paradigma verbündeten sich zu einem wissenschaftlichen und praktischen Handlungsmodell, das geeignet sein konnte, Menschen zu ermuntern, sich gegen äußere Zwänge zur Wehr zu setzen, für eine andere und bessere Gesellschaft zu kämpfen und sie gemeinsam und selbstbewusst zu gestalten. Die gesellschaftsdurchdringende und -verändernde Theorie, also das insistierende Denken wollte Holzkamp – auch in dieser Hinsicht Adorno ähnlich – als eines der wirksamsten Mittel aufzeigen, zur Subjektwerdung der verdinglichten, also zu Objekten der Warenproduktion und des Warenverkehrs gewordenen Menschen, beizutragen. Es ist ein in der Geschichte der Psychologie seltenes Beispiel für eine kompromisslose und klare Parteinahme von Wissenschaft für die Menschen, die an den Verhältnissen, in denen sie leben, leiden. Holzkamp gehört mit dieser Haltung zu den nicht besonders zahlreichen Intellektuellen, die ihre gesellschaftliche Verantwortung, eine befreiende Zielsetzung von Wissenschaft, nicht nur eingefordert, sondern mit einem unermüdlichen Kraftaufwand in ihrem Fach und weit über es hinaus umgesetzt haben.

Die »Grundlegung« steckt voller Herausforderungen an Denken und Handeln. An der amnestischen Trübsal in vielen Köpfen und Seelen prallte sein Konvolut der Grundlegung psychologischer und psychischer Widerstandskraft ab. Die Amnesie resultierte zumindest teilweise aus der Bedrohung für die Existenz oder die Zukunft der Revoltierenden, aus dem »Roll back« des Establishments gegen die Revolte. Die politische Gegenbewegung grenzte diejenigen, die den Maßstäben der staatlichen Institutionen und ihrer Vertreter gemäß vermeintlich nicht auf dem Boden der »Freiheitlich-demokratischen Grundordnung« standen, mit dem sogenannten Radikalenerlass rigoros aus, entzog vielen von ihnen durch Berufsverbote (Jury Russeltribunal 1978) ihre Existenzgrundlagen und stabilisierte den gesellschaftlichen Status quo, der vorübergehend ins Wanken geraten war, durch staatstragend-autoritäre Maßnahmen, etwa die »Regelanfrage« beim Verfassungsschutz, wenn jemand Beamter werden wollte. Der provozierte Staat war in seinen Grundfesten erschüttert worden, das staatliche Gewaltmonopol schien einige Jahre lang ökonomischen Profit und private Bereicherung am gesellschaftlich produzierten Reichtum nicht mehr hinreichend sichern zu können. Es liegt in der inneren Logik des staatlichen Selbstverständnisses und der Loyalität der Politik gegenüber den gesellschaftlich herrschenden Gruppen, dass zurückgeschlagen wird, wer angreift, und wenn der Angreifer nicht stark genug ist sich durchzusetzen, wird er ruhiggestellt oder vernichtet. Die Berufsverbote waren, wie später die vielen Prozesse nicht nur gegen Gruppen, die zur Gewalt gegriffen, sondern gegen Menschen, die wegen Wohnungsnot Häuser besetzt oder gegen staatliche Willkür zivilen Ungehorsam geübt hatten, dem Selbsterhaltungsbedürfnis des autoritären Staates geschuldet, nicht etwa, wie es bis heute oft heißt, dem Erhalt der demokratischen Spielregeln, die teilweise gerade außer Kraft gesetzt wurden, um staatliche und wirtschaftliche Macht zu sichern.[6]

Nicht weniger konsequent überrollte das wissenschaftliche Establishment die wissenschaftliche Revolte, in besonders drastischer und folgenschwerer Weise in der Psychologie. Rückblickend lassen sich beide Ausgrenzungspraktiken, bei aller vergleichbaren Zielsetzung, das Kritische und Gesellschaftsverändernde zu ghettoisieren und wirkungslos zu machen, dennoch sehr unterschiedlich bewerten. Es gibt kein Gewaltmonopol herrschender Wissenschaft, auf das sich die an ihr beteiligten Menschen verständigt hätten oder berufen könnten. Mit der Ausgrenzung kritischer Psychologie aus der WissenschaftlerInnengemeinschaft wurde der wissenschaftlichen Diskurs durch reine Machtdemonstration ersetzt, auf verschiedenen Ebenen. In Antwortschreiben der Deutschen Gesellschaft für Psychologie auf Aufnahmeanträge kritischer PsychologInnen steht zu lesen: „ … keine wissenschaftlichen Arbeiten … nicht den wissenschaftlichen Standards, denen sich die Deutsche Gesellschaft für Psychologie verpflichtet fühlt, angemessen …«; Bewerbungen auf Hochschulstellen wurden entweder gar nicht erst in eine engere Auswahl gezogen oder in Berufungskommissionen gekippt; Anträge auf Forschungsgelder wurden ausnahmslos abgelehnt; Publikationen in den einschlägigen Fachorganen waren so gut wie ausgeschlossen; Versuche kritischer PsychologInnen, in einen Dialog mit VertreterInnen behavioristischer Psychologie zu treten, blieben fast durchweg erfolglos.

Als Holzkamps Hauptwerk erschien, war jedem, der sich »inside the black box« der Hochschulpsychologie auskannte, bewusst, dass es in den Strudel dieser Ausgrenzungsstrategie geraten musste. Sein Buch, das sich gegen den nachlässigen Blick, das oberflächliche Diagonallesen von seiner ersten Seite an sperrte, hätte der Vermittlung bedurft, des aneignenden Diskurses. Er hätte getragen werden müssen auf der einen Seite von denen, die bereit waren, sich ihm zu öffnen und die es massenhaft gab, und auf der anderen Seite von denen, die mit den wissenschaftlichen Grundlagen kritischer Psychologie vertraut waren bzw. sie entwickelten. Diese VermittlerInnen oder LehrerInnen oder BegleiterInnen der produktiven Aneignung kritischer Psychologie waren, von wenigen Enklaven abgesehen, gewissermaßen ausgestorben: Die KollegInnen, die die Macht hatten, ihre Wissenschaftsauffassung als die richtige und rechte zu behaupten, verweigerten ihnen konsequent und rigoros den Zugang zu Stellen an den Hochschulen. Damit war ihnen die Basis entzogen worden, die wissenschaftlichen Grundlagen kritischer Psychologie weiterzuentwickeln und sie an andere, vor allem an Studierende, auch in bereichernder und theoretisch synergetischer Konkurrenz zu behavioristischen KollegInnen, weiterzugeben. Indem ihr die Lebensbasis entzogen wurde, starb kritische Psychologie aus, bis auf kleine, kaum noch erkennbare Reste.[7]

4. Rückblick auf 1968 – der politisch korrekte Gedächtnisverlust

Viele Rückblicke auf 1968, die sich nach vierzig Jahren in Feuilletons und Verlagsprogrammen häufen, produzieren nicht mehr soziale Amnesie, sie schreddern die Erinnerung an die aufregendste Zeit nach 1945 zu einem papiernen Müllhaufen. Diese Art gedankliche Purzelbäume zu schlagen schiebt sich schon seit Jahren eifrig und penetrant ins mediale Blickfeld, aber in diesem Jahr will sie mit Wucht Gedanken und Handlungsansätze aus der deutschen Geschichte radieren, denen aufgrund ihres mitfühlenden Verstehens und ihres sozialen Engagements besondere historische Aufmerksamkeit zusteht.[8]

Einer solchen Lawine von Ideologie, von falschem Bewusstsein des wirklichen Geschehens, steht man als Zeitzeuge, als an einer Revolte, die in vieler Hinsicht diese Bezeichnung zu recht trägt, aktiv Beteiligter, erstaunt gegenüber und weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Von Giovanni Jervis[9] gibt es treffende Sätze zu dieser Art der Abrechnung mit Vergangenheit, die ausgerechnet von denen besonders eifrig betrieben wird, die vom mehr oder weniger entschiedenen Protest zur politisch korrekten Anbiederung geschwenkt sind, als die eigentlichen »Wendehälse« in der deutschen Geschichte: Verwirrung über die wirklichen Zustände und Verhältnisse, sagt Jervis, tritt ein, wenn es gelingt, die »Absichten zu mystifizieren. Die Unterdrückung wird dann Schutz und Betreuung genannt; der Haß Liebe; der Raub Freigiebigkeit, die Aggression Verteidigung. Ein derartiger Mechanismus ist auf breitester Ebene und auf bewusste und zynische Weise in der politischen Propaganda und in der Werbung am Werk« (1978, 398). Jervis spricht über die Entstehung von Schizophrenie, und tatsächlich ist es zum Verrücktwerden, wenn man liest und hört, was über jene Jahre verbal abgesondert wird.

Auch wenn sie Holzkamp nicht oder nur am Rande erwähnen, stellen die geschichtsvergessenen Geschichts- und GeschichtenschreiberInnen einen engen Bezug zu ihm her, zu seinem Leben und zu seinem wissenschaftlichen Wirken. Viele Wortmeldungen zu 1968 und den Folgen dessen, was in den Jahren um dieses Datum herum geschehen ist, begründen, ergänzend zur wissenschaftlichen Ausgrenzung, einen zweiten Verdrängungsschub, der alle diejenigen trifft, denen Wissenschaft und Praxis als Mittel zur Veränderung gesellschaftlicher Lebensbedingungen wichtig waren. Die Botschaft der selbsternannten ExpertInnen zur Bewertung der sozialen – und wissenschaftlichen – Revolte jener Zeit, der zeitgenössischen wie der nachgeborenen, lautet unmissverständlich: Was ihr getan und was ihr gewollt habt, kann nicht ernstgenommen werden, es war lächerlich, hat der Gesellschaft geschadet, sie auf keinen Fall nachhaltig verändert oder verändernde Spuren hinterlassen.[10] In der psychotherapeutischen Arbeit erweisen sich abwertende, demütigende Erfahrungen von Menschen häufig als krankmachend bis zum suizidalen Absturz. Wer für seine Bemühungen um die Gestaltung seines Lebens, wie immer sie im einzelnen aussieht, für seine Leistungen und Anstrengungen von seinen Mitmenschen keine Anerkennung erhält, sondern diskriminiert, exkommuniziert oder gar verspottet wird, leidet seelisch, oft auch körperlich. Letztlich wird ihm/ihr ihre Existenzberechtigung, ihre Zugehörigkeit zur sozialen oder familiären oder auch zur wissenschaftlichen Gemeinschaft, abgesprochen. Verhaltensmuster, die andere Menschen abwerten, sind unsozial, undemokratisch und präpotent. Aus ihnen sprechen besserwisserische Attitüde und herrschaftsaffiner Gestus. Wenn sie sich auf Vergangenheit beziehen, haben sie zwar keine Leidensprozesse mehr zur Folge, aber sie reklamieren rechthaberisch einen Wahrheitsanspruch und sprechen anderen rückblickend ab, in einer bestimmen Phase sowohl der eigenen als auch der gesellschaftlichen Entwicklung verantwortungsvoll, ernsthaft und auf der Basis gründlicher und zwischenmenschlich sinnvoller Absichten und Zielvorstellungen gehandelt zu haben. Letztlich bleibt dieser Blick auf die Lebensleistung anderer verächtlich und süffisant.

Es lohnt, diese gefälligen Pamphlete mit Originalliteratur aus den Jahren zwischen 1965 und 1980 und früher zu konfrontieren.[11] Marx und Engels, Weber und Freud hatten die Menschen als historische Wesen wahr- und ernstgenommen, deren existenzieller Reichtum im experimentellen Design verstümmelt wird. Analytisch klar haben die kritisch-theoretischen Protagonisten, allen voran Adorno (1976) und Horkheimer (1968) (Horkheimer & Adorno 1968), sich gegen die positivistische Verkürzung eines Begriffs von menschlichem Dasein und gesellschaftlicher Wirklichkeit abgesetzt und ihre dialektische Beziehung, die von der menschlichen Praxis lebt, theoretisch wieder hergestellt. Fanon (1969), Foucault (1977) oder Goffman (1972) haben die von der kapitalistischen Ökonomie aufgesogenen Menschen über ihre progressive Warenförmigkeit, über die koloniale oder institutionelle Verwertung ihrer Körper, ihrer Empfindungen und ihrer Vernunft aufzuklären versucht und ihnen Wege aufgezeigt, sich ihr eigenes Leben und ihre existenziellen Bedingungen wieder anzueignen, selbst-bewusst zu werden. Lefebvre (1974) und Hofmann (1969) nahmen die vielgestaltige Verelendung und Entfremdung vieler Menschen, die aus der Wohlstandsgesellschaft herausfallen, nicht als »kollaterale« Erscheinungsformen einer an sich funktionierenden gesellschaftlichen Dynamik hin, sondern verstehen ihre wissenschaftlichen Anstrengungen als eigenen Beitrag, ausstoßende oder kränkende Lebensbedingungen zu überwinden. In der praktischen Arbeit am Rand der Gesellschaft haben Makarenko (1959) und Bettelheim (1973), Freire (1972) und Neill (1969) und Freinet (1965) Partei für die ergriffen, deren Lebenschancen schon kurz nach der Geburt in einem gesellschaftlichen Nirgendwo verschwinden, für Kinder und Jugendliche auf der Verliererseite der gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten.

Fällt der nachdenkliche und nicht vernebelte Blick auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand, sehen wir voller Erstaunen, in welchem Ausmaß in vielen seiner Facetten zu erkennen ist, was damals von uns, von vielen gesellschafts-politisch aktiven Menschen weltweit angestoßen worden ist. Die Auflösung der Langzeitpsychiatrien, die »Befreiung der Irren« in ein selbstbestimmtes Leben in Wohn- und Lebensgemeinschaften im Stadtteil[12], wurde von der sozial- bzw. antipsychiatrischen Bewegung angestoßen, in Italien – Basaglia (1973), Jervis –, in England – Cooper (1971), Laing (1972) –, in Frankreich – Castel (1982) –, in Deutschland – Dörner (1975)–. Damals entstanden Bürgerinitiativen, in denen Menschen ihre Interessen gegen die staatliche Obrigkeit organisierten, die zur Friedens-, Anti-AKW-[13] und Umweltbewegung ein neues soziales Selbstbewusstsein schuf. Frauenbewegung, feministische Theorie und Therapie (Corea 1985, Haug 1980, Menschik 1971), werden für Frauen, die patriarchaler Gewalt entfliehen müssen, noch heute in Gestalt von Frauenhäusern und in einem neuen, gleichberechtigten Umgang der Geschlechter miteinander greifbar. Lebendige Residuen der antiautoritären Kinderläden, die Erziehung von »schwarzer« und autoritärer Pädagogik lösten, finden sich bis heute in vielen selbstorganisierten Einrichtungen zur Betreuung von Vorschul- und Schulkindern. Die bildungspolitischen Initiativen, die aus der Kritik an schichtspezifischer Sozialisation und den Ansätzen kompensatorischer Erziehung herauswuchsen, wurden zu Keimzellen der Gesamtschulen und freier Schulprojekte und sind in den aktuellen Debatten über eine Gemeinschaftsschule für alle aufgehoben. Kriegsdienstverweigerung wurde zu einem selbstverständlichen Verhaltensmuster, dem eine pazifistische Grundhaltung vieler Menschen korrespondiert, die in mächtigen Friedensdemonstrationen zusammenfanden. Wohngemeinschaften, neue Lebensformen, bis hin zu den vielen heute existierenden Landkommunen bzw. Lebens- und Arbeitsprojekten, sind heute eine Selbstverständlichkeit nicht nur für junge Menschen.14

Die Ergebnisse gedanklichen und aktiven Durchdringens gesellschaftlicher Wirklichkeit erscheinen – gerade im Kontrast zu den distanziert-überlegenen Einschätzungen von heute – wie ein Programm zur Analyse einer immer unmenschlicher und auf vielfältige Weise gewalttätiger werdenden gesellschaftlichen Lage und zum konsequenten Eingreifen in sie, nicht nur damals, sondern hier und heute. In ihrer Kompaktheit und Konkretheit ist diese Zeit raumgreifender sozialer Bewegung mit dem Ziel, ein gerechtes, im Sinne der französischen Revolution ein brüderliches, freies und gleiches Zusammenlebens aller Menschen zu erreichen, nicht nur für die Geschichte nach dem 2. Weltkrieg, sondern für die deutsche Geschichte insgesamt eine Phase mit insistierender Dynamik. Kein Umsturz wie 1789, aber eine Revolte, deren Protagonisten für ihre Ziele lebten.

Zuversicht, dass soziale Amnesie in dialektischer Wendung zu lebendiger Erinnerung werden könnte, entsteht aus der Tatsache, dass ZeitgenossInnen so gut wie die gesellschafts- und kapitalismuskritischen Ahnen, die dem Vergessen der verarmten und verelendeten Menschen und den gesellschaftlichen Gründen für ihr existenzielles Desaster entgegengewirkt haben, für sich selbst sprechen können; denn der Weg in Bibliotheken, die eine aufklärende und mitreißende Begegnung mit ihnen möglich machen, ist kurz.

Wer zur »Grundlegung« greift, aber auch zu anderen Werken der kritischen Psychologie, und sie auf die aktuellen Debatten bezieht, erhält auch durch sie einen aufklärerischen Anstoß, der vor geschichtlicher Verfälschung schützt. Für eine innere gedankliche und emotionale Bewegung, die sich dem politisch korrekten Strom entgegenstemmen will, geben offen und betont parteinehmende und an den materiellen und historischen Lebensgrundlagen benachteiligter und ausgegrenzter Menschen orientierte theoretische Konzepte wie das von Holzkamp Zuversicht, dass ihre Umsetzung in eine äußere, politisch wirksame Bewegung nach wie vor sinnvoll und notwendig ist. Gerade im Brennglas aktueller Versuche, die bewegtesten Jahre der deutschen Nachkriegsgeschichte endgültig aus der deutschen Erinnerung zu polemisieren, überzeugt eine neue Lektüre der »Grundlegung« und der früheren Arbeiten von Holzkamp. Seine psychologische Argumentationsstringenz, die begriffliche Schärfe seines theoretischen Konzepts, führen zu der Gewissheit, die aus dem marxistisch geschärften analytischen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit resultiert, dass Klassengesellschaft kein Märchen von vorgestern, sondern der gesellschaftliche Alltag heute und morgen ist.

Wer Holzkamp und seine Texte als beredten Ausdruck eines kämpferischen Lebens nicht abstrakt für eine bessere Gesellschaft, sondern für das Starkwerden derjenigen, die zum Schwachsein verdammt zu sein scheinen, versteht, kann nicht nur gelassen auf die gegenwärtigen Abrechnungen mit seiner Generation blicken, sondern die Hoffnung haben, dass Nachdenken und veränderndes Handeln nach wie vor der eigentliche Motor gesellschaftlicher Entwicklung sind. Subjektiver Ausklang

Wäre in meinem Leben, in meiner beruflichen Praxis etwas anders, wenn Klaus Holzkamp nicht gewesen wäre, die Bereicherung durch seine Ideen und Anregungen, die Auseinandersetzung mit seinen theoretischen Provokationen? Holzkamps wissenschaftstheoretische und theoretische Impulse für die Entwicklung kritischer Psychologie haben Spuren hinterlassen, im eigenen Denken und im eigenen Handeln. Meine Distanz zur behavioristischen Psychologie speist sich nicht nur, aber zu einem erheblichen Teil aus dem, was ich von ihm gelernt habe. Nach wie vor ist für mich kritische Psychologie ein Paradigma, das voller analytischer und praktischer Energie steckt und das mit Gewalt daran gehindert worden ist, seine Kraft und seine Stärke zu entfalten. Solange ich die Möglichkeit hatte, an der Universität von dieser Substanz Teile zu vermitteln, haben mich die Neugier und die Bereitschaft der Studierenden, sich auf schwierige gedankliche Experimente einzulassen und ihre Rückmeldungen, wie bereichernd für sie die kritisch-psychologischen Erkenntnisse waren, in meiner Überzeugung bestätigt. Randgruppenarbeit und Studium, später Projekte mit den Studierenden, die aus einer engen, fruchtbaren Verbindung von Theorie und Praxis nicht nur für ihr Studium, sondern oft für ihre Lebensplanung entscheidende Impulse erhielten, ließen Lehre und praktische Arbeit zu einer jeden Tag neuen Entdeckungsreise zu Erkenntnis und praktischer Bewegung werden.

Seit diese Möglichkeit nicht mehr besteht, erlebe ich in der psychotherapeutischen Arbeit, gerade weil die alltägliche Konfrontation mit dem psychischen Elend, das beständig zunimmt, Nachdenken und Einfühlen verlangt, wie wichtig gesellschaftskritisches und emanzipatorisches Verstehen und Handeln sind. Wenn psychotherapeutische Unterstützung unter den gesellschaftlichen Voraussetzungen einer kapitalistischen Verwertung und Vernutzung von Menschen Sinn macht, dann mit dem Ziel, sie in doppelter Weise zu befähigen: Es geht darum, sie über die Hintergründe ihres Leidensprozesses aufzuklären, darüber, wie individuell-biografische, aber auch wie überindividuelle, also politische und ökonomische Lebensbedingungen sich in der seelischen Dynamik oder im psychischen Geschehen insgesamt niederschlagen. Nicht weniger wichtig ist es, ihren Handlungsrahmen zu erweitern, dazu beizutragen, dass sie stark werden, um sich gegen krankmachende Bedingungen zu wehren, sie zu verändern, und ihnen Mut zu machen, es auch zu tun. Nicht nur, aber ganz wesentlich haben meine kritisch-psychologischen Einsichten und Erfahrungen dazu beigetragen, psychotherapeutische Arbeit in diesem Sinne zu machen.

Zugleich hat die kritische Auseinandersetzung mit Holzkamp dazu geführt, die Lücken in meinem Verständnis von menschlichem Leben zu füllen. Schon in den psychologiekritischen Diskussionen blieb mir unverständlich, dass die Seele keinen Platz in einer kritischen Psychologie haben soll. Psychisches Geschehen ohne einen Begriff von seelischer Dynamik schien mir leblos und begriffsstutzig zu sein und ein vertieftes Verständnis menschlichen Leidens zu verkürzen, wenn nicht gar zu verhindern. Gerade die Verbindung marxistischer Gesellschaftsanalyse mit psychoanalytischem Zugriff auf die komplexen und komplizierten seelischen Vorgänge konnte erklären, wie politischer und ökonomischer Druck sich im psychischen Geschehen so einnisten können, dass Menschen sich für Verhältnisse und Zustände, die für sie zerstörerisch sind, zurichten lassen. Ohne Einsicht in neurotische Reaktionsmuster, in die »Klebrigkeit der Libido« (Freud), fehlte im kritisch-psychologischen Paradigma meines Erachtens etwas Wesentliches. Im psychotherapeutischen Setting, im täglichen Umgang mit menschlichem Leiden, geschieht diese Ergänzung ganz praktisch, denn es erweist sich ausnahmslos, dass Menschen selbst-bewußt, selbst-sicher und verständig in Bezug auf die Hintergründe und Bedingungen ihres Leidens nur werden, wenn die vernarbte oder verwundete Seele, ihr gefühlsmäßiger Zugang zu sich selbst und zu ihrem Lebensumfeld, wieder zu einem Erkenntnisinstrument werden kann. Und handlungsfähig in einem offensiven, eingreifenden Sinne werden sie, wenn sie ihrem Empfinden, ihrem seelischen Sensorium, vertrauen können.

Holzkamp und seine MitstreiterInnen haben sich, in der Enklave ihres Berliner Instituts, schon in der psychologiekritischen Entwicklungsphase, konsequent dann in der Phase der Entwicklung einer kritischen Psychologie, von vielen der anderen kritisch-psychologischen Brückenköpfe, die es in jenen Jahren gab, abgegrenzt. Die Einschränkung von Diskurs und wissenschaftlicher Kooperation verengte das neue Paradigma in der Psychologie theoretisch und methodisch. In Berlin wurde nicht kritische, sondern Kritische Psychologie gemacht – hinter dem »großen K« verbarg sich der zuweilen gar explizite Anspruch, eine ganz neue psychologische Wissenschaft zu entwickeln, andere kritisch-psychologische Arbeiten (nahezu alle, die sich dem Umfeld der Zeitschrift »Psychologie und Gesellschaftskritik« zuordnen lassen) wurden in der Kritischen Psychologie kaum zur Kenntnis genommen. Es war bedrückend, diese Selbstgenügsamkeit zu verfolgen, sie passte so wenig zu dem Anspruch, materialistische und historische Wissenschaft zu machen, dem der lebendige, dialektische Bezug auch zum geistigen sozialen Erbe immanent ist. Dialektische Einbindung in die Wissenschaftsgeschichte hätte bedeutet, auch Kritische Theorie, auch Psychoanalyse, auch französische Philosophie, auch sozial- und antipsychiatrische und antipädagogische Denk- und Handlungsmodelle in doppelter Weise aufzuheben: verzichten auf das, was für ein neues psychologisches Paradigma nicht taugte, aber bewahren, was an gesellschaftskritischem und emanzipatorischem Reichtum in ihnen vorhanden war.

Dieser abgrenzende Umgang mit Vorhandenem war bedauerlich; als tragisch aber erwies sich, dass es keine wissenschaftspolitische Zusammenarbeit gab. Das »Forum kritische Psychologie« wurde zum Sprachrohr der Kritischen, die Zeitschrift »Psychologie und Gesellschaftskritik« zu dem der kritischen Psychologie, Ansätze der Institutionalisierung gemeinsamer Diskussionen blieben Randerscheinungen. Vielleicht wäre auch eine kritische Psychologie als diskursives und hochschulpolitisches Zusammenwirken aller Beteiligten zerschlagen worden, aber ihre theoretischen wie wissenschaftspolitischen synergetischen Effekte hätten möglicherweise doch andere Entwicklungsperspektiven des kritisch-psychologischen Paradigmas in Gang gebracht. Auch fünfundzwanzig Jahre nach Erscheinen der Grundlegung sind überzeugende inhaltliche oder gar personelle Gründe für das gescheiterte Miteinander nicht zu erkennen.

Soziale Amnesie, wissenschaftliche Ausgrenzung und politischer Druck, aber sicherlich auch die fehlende diskursive und politische Kooperation der kritisch-psychologischen AkteurInnen münden in ein tiefes Bedauern darüber, dass kritisch-psychologisches Wissen kaum noch Orte hat, an denen es auf interessierte, neugierige und nachdenkliche Menschen stoßen könnte; sie lösen zugleich eine hintergründigen Wut darüber aus, dass der eine oder andere Versuch, solche Orte zu schaffen, keine Resonanz gefunden haben. Der Umgang kritisch-psychologischer Akteure mit dem Reichtum an Ideen und der vorhandenen wissenschaftlichen Substanz erweist sich als triste Fortsetzungsgeschichte; sie hätten genutzt werden können, ein auf- und anregendes Werk- und Wirkungsbuch kritischer Psychologie zu schreiben. Sie könnten es noch immer werden. Epilog

Die Geschichte ist noch nicht zuende erzählt. Der letzte Blick verlässt die Bücher im Regal und wendet sich nach innen. Obwohl wir uns persönlich nicht sehr nahe standen, habe ich mich in den letzten zwanzig Jahren immer wieder mit Klaus Holzkamp beschäftigt. Manchmal gingen mir Sätze von ihm plötzlich durch den Kopf oder ich hatte ihn sprechend und gestikulierend vor Augen. Und jedes Mal begleiteten Bilder von seiner Beerdigung die Erinnerung, von den vielen dort anwesenden Menschen, von den KollegInnen von Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, die ihm das letzte Geleit gaben. Genoss Holzkamp eine so hohe Wertschätzung, dass so viele um ihn trauerten? Von wem verabschiedeten sie sich dort und damals eigentlich?

Es war mehr ein Trauerspiel als eine Trauerfeier. Menschen machen Geschichte, daran sei erinnert. Es war nicht zuletzt eine Reihe der KollegInnen, die den Friedhof bevölkerten, die kritischer Psychologie den Raum zur Entwicklung verweigert, die den wissenschaftlichen Diskurs unterbunden, die durch ihre inhaltliche Ignoranz und ihr hochschulpolitisches Handeln schließlich dafür gesorgt haben, dass auch Holzkamps »Grundlegung« kein Eckpfeiler einer neuen, einer anderen Psychologie werden konnte. Die Chance, auf dem Grund, den er für eine neue Psychologie gelegt hat, ein solides Gebäude zu errichten, hat ein Teil der demonstrativ Trauernden denen, die bereit waren, es theoretisch und methodisch aufzubauen, verweigert. Im Gegenteil wurde die kritische Psychologie »abgewickelt«, in Berlin und anderswo. Macht, die in dieser Weise an die Stelle eines offenen, dialogischen Wettstreits von Ideen und Methoden tritt, tötet, nicht nur Ideen. Es mag theatralisch oder kitschig gewirkt haben, aber vielleicht war es auch eine psychohygienische Kanalisierung von Wut, wenn früher manchmal an Gräbern Rache oder geschworen oder gelobt wurde, das Vermächtnis von Verstorbenen zu erfüllen, wenn er – oder sie – »für eine gute Sache« oder eine gemeinsam gekämpft hatten.

Wenn der nach Erklärung suchende Blick nachträglich auf die Trauergemeinde schwenkt, wachsen die so empörten wie aufrührerischen Fragmente, die ein Resümee der Arbeit von Klaus Holzkamp auslöst, zu einem innerlich raumgreifenden Gefühl. »Soziale Amnesie ist die Verdrängung der Erinnerung durch die Gesellschaft – die Verdrängung ihrer eigenen Vergangenheit. Innerhalb der Warengesellschaft ist dies ein psychischer Vorteil«, stellt Russell Jacoby (1978, 27) treffsicher fest. Als sich die Trauernden versammelten, um von Holzkamp Abschied zu nehmen, hatte soziale Amnesie bei manchen längst dafür gesorgt, dass sie ein Abstraktum zum Grab begleiteten: Als wäre es redlich oder ihm gegenüber passend gewesen, den Menschen Holzkamp vom Wissenschaftler und Wühler für eine bessere Gesellschaft zu trennen. Ihr Wirken und Werken in den Jahren danach belegt die Annahme, dass dieser und jene und manche anderen sich auf den »psychischen Vorteil« eingelassen, sich mit dem Status quo arrangiert und dem ruhelosen Denken, das den Verhältnissen keine Ruhe lässt, bis sie jedem Menschen Entwicklungschancen und grundsätzlich unbegrenzte Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ermöglicht, entsagt haben. Damit aber haben sie mit ihrer Anwesenheit bei der Trauerfeier den konkreten Holzkamp von seinen Lebensverhältnissen, die von dem unbeirrbaren Bemühen um einen radikalen Wandel eines gerechtigkeitsfernen Status quo geprägt waren, gelöst, ihn »von konkret in abstrakt verkehrt« und damit die Botschaft seines Wirkens gewissermaßen »von den Füßen auf den Kopf«[15] gestellt. Dieses Vergessen war nicht nur an diesem Ort zu dieser Zeit Holzkamp gegenüber respektlos, dass es seither das Denken vollständig ersetzt hat, ist nur die folgerichtige Pointe der Erfahrungen jenes Tages auf dem Friedhof in Berlin-Dahlem.

Literatur

Adorno, Theodor W. (Hg.) (1969): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand.

Agnoli, Johannes & Peter Brückner (1972): Die Transformation der Demokratie. Frankfurt/Main: EVA.

Althusser, Louis (1972) : Das Kapital lesen. Reinbek: Rowohlt.

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Basaglia, Franco (Hg.) (1973): Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Menschik, Jutta (1971): Gleichberechtigung oder Emanzipation? Frankfurt/Main: Fischer.

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Rexilius, Günter & Siegfried Grubitzsch (1986): Psychologie. Reinbek.

Rexilius, Günter (Hg.) (1988): Psychologie als Gesellschaftswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Rubinstein, Sergej L. (1962): Sein und Bewusstsein. Berlin: Akademie.

Sartre, Jean-Paul, (1981): Kritik der dialektischen Vernunft. Reinbek: Rowohlt.

Sève, Lucien (1972): Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin: Dietz.

Endnoten:

[1]

Die Attribute traditionell, bürgerlich, behavioristisch setzen unterschiedliche Akzente in der Psychologiekritik.

[2]

Franco Basaglia gehört zu den italienischen Antipsychiatern, die entscheidend zur Entwicklung eines therapeutischen Umgangs mit Psychiatrisierten und zur Öffnung der totalen Institution Psychiatrie beigetragen haben.

[3]

Der Schülerladen war ein Projekt, an dem Holzkamp und seine MitarbeiterInnen beteiligt waren.

[4]

Ich habe den Kinderladen im Obdachlosenasyl Brelohstraße in Bochum mitbegründet und dort jahrelang während meines Studiums, gemeinsam mit einer größeren Gruppe von KommilitonInnen, mit den Kindern pädagogische und mit den Eltern politische Arbeit gemacht.

[5]

»Die Unfähigkeit zu trauern« (Mitscherlich & Mitscherlich 1967) war typisch für die Nachkriegszeit; die Unfähigkeit zu denken scheint mir für die Zeit nach der Studentenrevolte nicht weniger typisch zu sein.

[6]

Einige grundsätzliche Überlegungen zur Entdemokratisierung finden sich bei Johannes Agnoli und Peter Brückner in ihrem Buch »Transformation der Demokratie« (1972), das mit Gewinn auch heute zu lesen ist, weil es viele aktuelle Bezüge hat.

[7]

An dieser Stelle ein persönliches Wort als Beispiel dafür, dass hier über gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeit gesprochen wird. Ich habe zwischen 1975 und 1982 mehrfach bei Bewerbungen auf Platz 1 von Berufungslisten gestanden und bin, wie Nachforschungen ergeben haben, an der Regelanfrage beim Verfassungsschutz gescheitert, aber auch an sozialdemokratischer Abwehr von Linken (ein Bremer Senator im Gespräch: »Bei uns kriegen Sie kein Bein auf die Erde«). Als es die Regelanfrage nicht mehr gab, war die Zeit, in der Listenplätze für kritische Psychologen erobert werden konnten, vorbei (ein Kollege in Gießen, den ich aus der Schulzeit kannte, in einem Telefonat: »Zieh’ Deine Bewerbung zurück, Du hast keine Chance«). Wie vergiftet die ausgrenzende Atmosphäre war, erlebte ich 1986 an der Bergischen Universität Wuppertal, als der Fachbereichsrat darüber entscheiden musste, ob mir, damals Wissenschaftlicher Oberassistent und Beamter auf Widerruf, der auf 1990 terminiert war, eine langfristige Stelle zur Verfügung gestellt wird. Als ich, selbst Mitglied des Gremiums, zu diesem Tagesordnungspunkt satzungsgemäß den Raum verlassen musste, raunte mir ein Kollege im Vorbeigehen zu: »Mach Dir klar, Rexilius, dass wir solche Marxisten wie Dich hier nicht wollen«. So geschah es denn auch.

[8]

Ich verzichte auf konkrete Literatur- oder andere Angaben, weil die Medien voll von Hinweisen sind.

[9]

Wie Basaglia gehört Giovanni Jervis zu den einflussreichsten italienischen Antipsychiatern.

[10]

In der »tageszeitung« vom 5./6. April 2008 äußert sich Rolf Dahrendorf in einer Weise über Rudi Dutschke (»konfuser Kopf«) und die Studentenbewegung, die genau dieses Muster der gepflegten Ignoranz aufweist. Mir bleibt unklar, weshalb er immer noch zum öffentlichen Auftritt ermuntert wird, mit seinen Äußerungen im Interview hat er am ehesten gezeigt, dass er die Zeit, über die er sich dort äußert, immer noch aus der Elfenbeinperspektive betrachte und von dem, was in der Gesellschaft konkret geschah, wenig weiß.

[11]

Die Hinweise auf Literatur in diesem Beitrag sind eine eher zufällige Auswahl, die zum Weitersuchen anregen soll, zugleich aber überzufällig, weil sie meine politische und wissenschaftliche Sozialisation begleitet hat.

[12]

Ich war selbst als Mitglied im Landesvorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie jahrelang an der Auflösung der damals berüchtigten Langzeitpsychiatrie Blankenburg in der Nähe von Bremen aktiv beteiligt.

[13]

Ich bin überzeugt davon, dass die großen Demonstrationen gegen die Atomkraftwerke in Brokdorf und Kalkar und anderswo das politische Denken und Handeln vieler Menschen, die an ihnen beteiligt waren, bis heute beeinflusst.

[15]

Marx hat, so sagt er selbst, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, also seine idealistische Dialektik materialistisch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ankommen lassen. Hier wurde Holzkamp aus ihr entfernt.

Autorenhinweis

Günter Rexilius

Günter Rexilius, Dr. phil. habil., Diplom-Psychologe. Psychotherapeutische Praxis, Gerichtlicher Sachverständiger. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Persönlichkeitspsychologie, Erkenntnistheorie, in den letzten Jahren Psychologie im Familienrecht.

Dr. Günter Rexilius Vereinsstrasse 17 D-41189 Mönchengladbach

E-Mail: guenter.rexilius@t-online.de