Kategorialanalyse und Aktualempirie. Eine kritische Bemerkung zu Klaus Holzkamps Grundlegung der Psychologie

Michael Zander

Zusammenfassung

Der Aufsatz thematisiert die Kategorialanalyse als empirisches Verfahren zur Konzipierung psychologischer Grundbegriffe. Es wird gezeigt, dass die in der Grundlegung der Psychologie vertretene Auffassung, Kategorien seien ausschließlich historisch-empirisch fundierbar, nicht zu halten ist; vielmehr kann Aktualempirie in die Kategorialanalyse eingehen. Abschließend wird gefragt, was dies für das Profil der Kritischen Psychologie heißt.

Schüsselwörter: Kategorien, Einzeltheorien, historische und Aktualempirie, Vorbegriffe

Summary

The article is concerned with the concept of categorial analysis as an empirical method for the conceptualization of the fundamental terms of psychology. It is shown that Holzkamp`s notion, that categories can exclusively be founded by means of historic empiricism, is indefensible; in fact it is possible that actual empiricism becomes part of the categorical analysis. Finally, the article will raise the question about the consequences of this theoretical shift for the Critical Psychology itself.

Keywords: psychological categories, single theories, historic and actual empiricism, pre-terms

1. Wozu Kategorialanalyse?

Als »Kategorialanalyse« bezeichnet Klaus Holzkamp (1983a) in seiner Grundlegung der Psychologie (im folgenden: GdP) ein Verfahren zur empirischen Fundierung psychologischer Grundbegriffe. Mein Anliegen ist, eine Ungereimtheit in diesem Verfahren aufzuklären. Es geht um die in der GdP vertretene Auffassung, psychologische Kategorien seien ausschließlich durch historische Empirie fundierbar. Holzkamps eigene Ausführungen sprechen jedoch zumindest implizit dagegen. Die Themenstellung ist nicht so speziell, wie es zunächst erscheinen mag. Immerhin berührt sie nicht nur erkenntnistheoretische und forschungsstrategische Probleme, sondern wirft auch Fragen nach dem Profil der Kritischen Psychologie auf, sieht Holzkamp 1983 deren genuinen Beitrag doch gerade in der historischen Kategorialanalyse.

Die GdP bildet zum Zeitpunkt ihres Erscheinens den vorläufigen Höhepunkt kritisch-psychologischer Bemühungen, die Bildung psychologischer Grundbegriffe auf eine empirische Basis zu stellen. Durch die Unterstützung des Biologen Volker Schurig wird es möglich, insbesondere die naturhistorischen Grundlagen des Psychischen, d.h. die Psychophylogenese zu untersuchen. Zu nennen sind hier vor allem Schurigs Monografien über die »Naturgeschichte des Psychischen« (1975a und b) und die »Entstehung des Bewusstseins« (1976) sowie Ute Osterkamps erster Band der »Motivationsforschung« (1975). Die GdP zielt darauf, die früheren Arbeiten zusammen zu fassen und zu systematisieren. Von großer Bedeutung ist der Nachweis, dass die menschliche Fähigkeit zur Vergesellschaftung ein Resultat der biotischen Evolution ist: Ab einem bestimmten Punkt wirkt die Vergesellschaftung nicht mehr zurück auf die genomische Information, und an die Stelle der i.e.S. biologischen tritt die gesellschaftliche Entwicklung. Damit richtet sich die Kategorialanalyse einerseits gegen Biologismen und spekulative Anthropologien (z.B. der Freudschen Psychoanalyse), andererseits aber auch gegen sozialwissenschaftliche (darunter auch bestimmte marxistische) Ansätze, in denen Gesellschaftlichkeit und Natur des Menschen einander unvermittelt gegenübergestellt werden (vgl. Holzkamp 1983b). Das innerpsychologische Problem, zu dessen Lösung die Kategorialanalyse beitragen soll, besteht in der Ahistorizität und der mangelnden empirischen Fundiertheit der herkömmlichen psychologischen Grundbegriffe, d.h. im weitgehend ungeklärten grundsätzlichen Gegenstandsverständnis der Psychologie.

»Während in bürgerlicher Sicht die Erstellung von Kategorien […] lediglich als Sache von beliebigen Definitionen […] aufgefasst werden kann, ist die von uns voranzutreibende ‚historische’ Kategorialanalyse ein in empirischem Material gegründetes, nach wissenschaftlichen Kriterien […] ausweisbares Verfahren, in welchem die wissenschaftliche Rationalität auf einen Problembereich ausgedehnt ist, der ihr bisher verschlossen war: die Konzipierung psychologischer Grundbegriffe« (ebd., 50; s.u.).

Holzkamp spricht von einer »Ursprungs- und Differenzierungsanalyse«, die die Entwicklung des Psychischen rekonstruiert. Er beginnt – in Anlehnung an A. N. Leontjew – mit einer analytischen Abstraktion und bestimmt das Psychische zunächst hypothetisch als Sensibilität, die es dem Organismus gestattet, äußere Reize, die keinen unmittelbaren Bezug zum Stoffwechsel haben, für die Orientierungsaktivität zu nutzen. Die Berechtigung dieser Abstraktion soll im Zuge der Rekonstruktion nachgewiesen werden. Von ihr ausgehend untersucht Holzkamp in der GdP verschiedene im Tierreich vorhandene Lernformen und entwickelt deren evolutionären Zusammenhang untereinander, bis hin zur Vergesellschaftung des Menschen.

2. Kategorien, Einzeltheorien, historische und Aktualempirie, Vorbegriffe

»Mit ‚Kategorien’«, so Holzkamp, »sind hier diejenigen Grundbegriffe gemeint, mit welchen in einer empirischen Wissenschaft […] ihr Gegenstand, seine Abgrenzung nach außen, sein Wesen, seine innere Struktur, bestimmt sind (in der Physik sind derartige Kategorien etwa ‚Masse’, ‚Energie’, ‚Kraft’ etc.). […] Kategorial-methodologische Bestimmungen, wie sie von der Kritischen Psychologie entwickelt worden sind, sind etwa spezielle Fassungen der Begriffe des ‚Psychischen’, der ‚Tätigkeit’, der ‚Bedeutung’, der ‚Aneignung’, der ‚Handlungsfähigkeit’, jeweils in kritischer Absetzung von traditionellen Kategorien wie ‚Erlebnis’, ‚Verhalten’, ‚Reiz’, ‚Lernen durch Verstärkung’ etc., wobei diese kategoriale Begriffsbildung und -kritik immer auch methodologische Implikationen hat« (1983a, 27f). Von der kategorialen unterscheidet Holzkamp eine »einzeltheoretische Ebene«. Einzeltheorien enthielten einerseits kategoriale Bestimmungen, andererseits darüber hinaus »Annahmen über Zusammenhänge mit Bezug auf jeweils ‚jetzt und hier’ vorliegende, also ‚aktualempirische’ Erscheinungen« (ebd., 28). Ansetzend an der aktualempirischen Beschaffenheit der Oberflächenphänomene, müsse bei der Kategorialanalyse »weiteres empirisches Material herangezogen« werden, »nämlich solches, in dem der reale historische (natur- und gesellschaftsgeschichtliche) Prozess […] dokumentiert ist, und das man deswegen in Abhebung vom aktualempirischen Material als ‚historisch-empirisches Material’ bezeichnen kann« (ebd., 50). Begriffe, die sich auf Eigenarten der Oberflächenphänomene beziehen, aber noch nicht in die Kategorialanalyse einbezogen wurden, nennt Holzkamp »Vorbegriffe«. »Derartige Vorbegriffe […] in den Begriffen der vorfindlichen Psychologie wären etwa […]: ‚Verhalten’, ‚Erleben’, ‚Wahrnehmung’, ‚Lernen’, ‚Denken’, ‚Emotionalität’, ‚Stimulus’, ‚Response’, ‚Verstärkung’, ‚Angst’, ‚Bedürfnis’, ‚Motivation’, ‚Äquilibration’, ‚kognitive Dissonanz’, ‚Stimulus-Gradient’, ‚Verdrängung’, ‚Übertragung’, ‚Kontingenz’, ‚Reaktanz’ etc.« (ebd., 51). Am Bereich der Vorbegriffe gelte es, so Holzkamp weiter, »die verschiedenen Formen und Aspekte von kategorialen Bestimmungen herauszuarbeiten, die ‚vermischt’ und unexpliziert ‚in’ bzw. ‚hinter’ ihnen stecken«, wodurch »der Stellenwert der einzelnen Vorbegriffe im kategorialen Gesamtzusammenhang« geklärt werden könne. Damit werde auch deutlich, inwieweit die Vorbegriffe »zu weit, zu eng, ‚schief’, in falschem Kontext gefasst sind, welche wesentlichen Zusammenhänge in ihnen wegisoliert […] sind etc.« (ebd.).

Holzkamp erklärt mehrfach, Kategorien seien „historisch-empirisch, Einzeltheorien dagegen aktualempirisch zu fundieren« (511). Die Realitätsbezüge von Kategorien und Einzeltheorien differenziert Holzkamp dahingehend, dass letztere die unmittelbaren »psychischen Erscheinungen« thematisierten; sie enthielten »einen größeren Reichtum an Bestimmungen […] als in den Kategorialbestimmungen angesprochen ist« (512). Die Aussage, dass Kategorien durch Aktualempirie nicht zu überprüfen sind, begründet Holzkamp am Beispiel der behavioristischen Lerntheorie. »Wenn […] die Annahme formuliert wird: Die Reinforcement- (‚Verstärkungs-’) Rate hat (den und den) Effekt auf den Lernerfolg, so liegt in der […] Kovariation zwischen Reinforcement-Rate und Lernerfolg der aktualempirische Bezug, im Begriff ‚Reinforcement’ aber der Kategorialbezug: […] Dabei ist die aktualempirische Zusammenhangsannahme dem Kategorialbezug in dem Sinne nachgeordnet, dass dieser der Zusammenhangsannahme vorausgesetzt, aber seinerseits durch diese nicht ‚erreichbar’ ist: Der Begriff Reinforcement, damit das, was hier als ‚Lernen’ gehandelt wird, kann durch die aktualempirische Zusammenhangsannahme […] selbst weder ‚widerlegt’ noch ‚bestätigt’ werden. Seine wissenschaftliche Tragfähigkeit müsste also auf andere Weise, nämlich durch […] Kategorialanalyse […] aufgewiesen werden« (514f). Überraschenderweise wird dies an anderer Stelle relativiert: Es sei, so Holzkamp, nicht gesagt, dass »die kategoriale Ebene von der aktualempirisch-‚praktischen’ Ebene her überhaupt nicht erreichbar wäre«; aus »Problemen der Aktualempirie/ Praxis« seien »Ansatzstellen für weitergehende, differenzierte Kategorialanalysen gewinnbar […], die dann nach historisch-empirischen Kriterien durchzuführen wären« (565f).

Beim 3. Internationalen Kongress Kritische Psychologie, der 1984 in Marburg stattfindet, steht das Verhältnis von Kritischer Psychologie und Phänomenologie und insbesondere auch die im Jahr zuvor erschienene GdP im Mittelpunkt (Braun & Holzkamp 1985). Rainer Seidel thematisiert in der Diskussion das Verhältnis von Kategorialanalyse und Phänomenebene: »Wir gehen aus von der empirischen, historisch-empirisch fassbaren Lebenspraxis und fragen' dann, diese Lebenspraxis als gegeben annehmend: Welche Strukturen müssen notwendig angenommen werden, damit diese Praxis überhaupt möglich ist? D.h. also, die psychischen Grundbestimmungen, die Kategorien, werden nicht aus dem Bewusstsein selbst bezogen, sondern sie werden erschlossen von einer historisch-empirischen Position aus. Durch diese Loslösung oder zumindest vorübergehende Loslösung von der Phänomenalität können, das ist der Sinn dieser Sache, glaube ich, unter anderem die vorfindlichen Phänomene relativiert werden. Wir können sie z. B. als falschen Schein, als Mystifikation bezeichnen; und umgekehrt können Dinge, die sich nicht zeigen, die also zunächst nicht Phänomene werden« (zit. n. Holzkamp 1985a, 144f). Ihm scheine allerdings, so Seidel weiter, »das Verhältnis von Kategorien und Phänomenen methodisch noch ganz ungeklärt zu sein« (ebd., 145). Man müsse sich »den kritischen Einwand gefallen lassen«, dass »die Phänomene ja in die historische Rekonstruktion selbstverständlich mit eingehen […]. Man kann in der historischen Rekonstruktion natürlich nur herausholen, was man irgendwo gesucht hat.« Es müsse »die Forderung aufgestellt werden, dass die Ergebnisse der Kategorienanalyse auf die Phänomenwelt rückbeziehbar sein müssen, d.h. Kategorien müssten, in welcher Form auch immer, als für die phänomenale Welt gültig ausgewiesen werden« (ebd.). Holzkamp erwidert, dass phänomenologische Konzepte wie Intentionalität oder Reziprozität intersubjektiver Perspektiven zu den »strukturellen Grundbestimmungen menschlicher Erfahrung« gehören, hinter welche die Psychologie nicht zurück könne. »Zwar ist das nicht alles, was ich [in der Kategorialanalyse – M.Z.] mache […], aber es darf am Ende nichts rauskommen, was hinter das zurückfällt, was in diesen Bestimmungen drin ist. Wenn ich anfange mit meinen logisch-historischen Analysen und am Ende kommt irgendwas raus, bei dem das Moment der Reziprozität der Perspektiven rausgefallen ist, ist meine Analyse Mist, weil sie nicht mehr von dem spricht, von dem sie zu reden behauptet« (ebd., 149f).

Wenn nun die Phänomenebene notwendigerweise in die historisch-empirische Analyse eingeht, dann müsste dies auch für die Ergebnisse aktualempirischer Untersuchungen gelten. Demnach wären die »Vorbegriffe«, an denen die Kategorialanalyse ansetzt, nicht nur hinsichtlich ihrer Defizite interessant, sondern auch im Hinblick auf das in ihnen enthaltene positive Wissen, wovon Holzkamp selbst ausgeht, wenn er die zumindest prinzipielle Reinterpretierbarkeit konventioneller Konzepte annimmt. Dies würde aber bedeuten, dass die Aussage, Kategorien seien – im Gegensatz zu Einzeltheorien – ausschließlich historisch-empirisch zu fundieren und falsifizieren, so nicht haltbar ist. Inwieweit Kritik und Fundierung psychologischer Kategorien durch Aktualempirie möglich bzw. nötig ist, soll nun anhand zweier Beispiele gezeigt werden.

3. Kritik an Kategorien durch aktualempirische Forschung

Das erste Beispiel bezieht sich negativ auf Kategorien und wird von Holzkamp (1993) selbst angeführt. Er referiert tierexperimentelle Untersuchungen, welche die Stimulus-Response-Psychologie Skinners in Frage stellen. »So stellte man […] fest, dass sich nicht alle ‚Reflexe’ gleich gut konditionieren lassen, und dass manche Tierarten bestimmte Verknüpfungen einfach nicht lernen konnten (in einer Untersuchung […] ergab sich etwa, dass vier von acht untersuchten Ratten auch nach 7330 Durchgängen noch nicht gelernt hatten, einen Hebel loszulassen, um einen Schock zu vermeiden). Ähnliche Anomalien ergaben sich auch […] in Untersuchungen über ‚Geschmacksaversionen’ von Ratten […], zum ‚spezifischen Hunger’ […], über ‚unverstärktes’ Pickverhalten von Tauben […] u.v.a.: Hier erwies sich durchgehend, dass die Tiere im Experiment Verhaltensweisen zeigten, die sie gemäß den unterstellten Konditionierungsgesetzen eigentlich nicht hätten zeigen dürfen« (1993, 42). In anderen Untersuchungen habe sich gezeigt, dass »die zunächst mit Hilfe der Skinnerschen ‚Verstärkungspläne’ […] erreichten […] Verhaltensmodifikationen bei verschiedenen Tierarten nach mehr oder weniger langer Zeit durch artspezifische Verhaltensweisen überlagert und schließlich verdrängt wurden (so zeigten etwa Waschbären, die auf das Einstecken von Münzen in ein Sparschwein dressiert worden waren, nach einiger Zeit ihr arttypisches ‚Waschverhalten’ […]; Hühner, die eine Art Pingpong-Spiel mit Kapseln gelernt hatten […], fingen völlig ‚unverstärkt’ an, den Kapseln nachzujagen« (ebd.). Berichtet wurden ferner Verhaltensweisen, die von den Untersuchenden als Folge des Zwangscharakters der Konditionierungen interpretiert wurden: „‚Nichtverstärktes’ exzessives Trinken, Fressen von nicht-essbarem Material […], tickartiges Umherrennen, ungezielte Aggressionen etc.« (ebd., 43).

Diese aktualempirischen Ergebnisse stellen behavioristische Kategorien des Reizes, der Response und der Verstärkung in Frage, die von der jeweiligen Artspezifik – auch der des Menschen – abstrahieren. Dies ist deshalb möglich, weil die Experimente zwar den Gegenstandsbereich der Kategorien berühren, aber sie nicht zur Voraussetzung haben. Das kritische Potenzial der Forschungen ist selbstverständlich begrenzt. Hier wird lediglich die Überverallgemeinerung der Kategorien hinterfragt, worauf Vertreter des Behaviorismus damit reagieren, dass sie Zusatzannahmen in ihre Theorien einführen (vgl. Holzkamp a.a.O.). Psychologische Kategorien lassen sich tatsächlich gegen Kritik auf aktualempirischer Ebene immunisieren, was die Notwendigkeit historisch-empirischer Analyse nur unterstreicht. Auch ist fraglich, ob es sich bei den Ergebnissen der zitierten Experimente tatsächlich um Aktualempirie handelt, fällt doch bei Untersuchungen außerhalb der Humanpsychologie eine wesentliche Frage der Kategorialanalyse weg, nämlich die, welche Dimensionen des Psychischen unspezifisch biologisch und welche spezifisch menschlich, insbesondere gesellschaftlich sind. Aber wie auch immer: Ein beliebiges Kategoriensystem lässt sich dann mit aktualempirischen Daten kritisieren, wenn diese den Aussagen des Systems zuwiderlaufen.

4. Der aktualempirische Anteil an der Begründung von Kategorien

Das angekündigte zweite Beispiel soll zeigen, dass Aktualempirie für die Konzipierung von Kategorien unerlässlich sein kann. Es handelt sich um das Konzept des »Unbewussten«, wie es Sigmund Freud begründet hat. Freud wendet sich seinerzeit gegen »die Philosophen« (wie er sagt), die das Konzept ablehnen und Psychisches mit Bewusstem gleichsetzen, und führt in der Hauptsache drei Argumente an. Erstens weist er auf die einfache Tatsache hin, dass Gedanken vergessen und wieder erinnert werden können; in der Zwischenzeit seien diese Gedanken »latent« oder »unbewusst«. Zweitens seien »die Daten des Bewusstseins in hohem Grade lückenhaft […]; sowohl bei Gesunden als bei Kranken kommen häufig psychische Akte vor, welche zu ihrer Erklärung andere Akte voraussetzen, für die aber das Bewusstsein nicht zeugt. Solche Akte sind nicht nur die Fehlleistungen und die Träume bei Gesunden, alles, was man psychische Symptome […] heißt, bei Kranken – unsere persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Herkunft wir nicht kennen« (Freud 1915a, 125f). Erst die Annahme eines Unbewussten mache diese Lücken verständlich und stelle den Zusammenhang zwischen den Gedanken her. Drittens zeige ein Experiment, dass vergessenes Bewusstes, also Unbewusstes, handlungswirksam sein könne. »Bei diesem Experiment, wie es Bernheim ausgeführt hat, wird eine Person in einen hypnotischen Zustand versetzt und dann daraus erweckt. Während sie sich in dem hypnotischen Zustande […] befand, wurde ihr der Auftrag erteilt, eine bestimmte Handlung zu einem genau bestimmten Zeitpunkt, z.B. eine halbe Stunde später, auszuführen. Nach dem Erwachen ist allem Anscheine nach volles Bewusstsein […] eingetreten, eine Erinnerung an den hypnotischen Zustand ist nicht vorhanden, und trotzdem drängt sich in dem vorher festgesetzten Augenblick, dieses oder jenes zu tun, dem Geiste auf, und die Handlung wird mit Bewusstsein, wenn auch ohne zu wissen weshalb, ausgeführt« (Freud 1912, 30). Der Handlungsvorsatz sei jedoch »nicht in seiner Gänze […] im Bewusstsein aufgetaucht, sondern nur die Vorstellung des auszuführenden Aktes« (ebd.). Der Auftrag aber bleibe unbewusst. Soweit scheinen Freuds Schlussfolgerungen tragfähig zu sein; allerdings weist Alfred Lorenzer (1993, 174ff) darauf hin, dass Freud in einer Darstellung einzelne Effekte der geschilderten Experimente übertreibt, und zwar abweichend vom Buch Bernheims, das er selbst übersetzt hat. (Referate über experimentelle Untersuchungen zum Unbewussten finden sich bei Holzkamp 1985b, Jahoda 1985.)

In der Kritischen Psychologie wird das Unbewusste – wenn auch nicht alle näheren Charakterisierungen durch Freud – als bewiesen vorausgesetzt. Osterkamp schreibt (mit Recht) von Freuds »großen, für die psychologische Forschung unentbehrlichen Entdeckungen« (1976, 255), Holzkamp leitet das Unbewusste ab aus dem Widerspruch zwischen dem Apriori, dass man sich nicht bewusst selbst schaden könne, und der tatsächlichen potenziellen Selbstschädigung im Modus restriktiver Handlungsfähigkeit (1983a, 379ff). Damit wird das Unbewusste nicht als solches nachgewiesen, sondern in einen kategorialanalytischen Zusammenhang eingeordnet. Wie immer man dagegen die Theorie Freuds beurteilt, man wird anerkennen müssen, dass zumindest der methodische Zugang legitim ist. Ebenso unzweifelhaft dürfte das Unbewusste, sofern ihm Realität zukommt, den Status einer psychologischen Kategorie verdienen.

Übrigens war sich Freud über die Schwierigkeit der Entwicklung psychologischer Grundbegriffe im Klaren. Der Anfang wissenschaftlicher Tätigkeit, so Freud, bestehe in der »Beschreibung von Erscheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden. Schon bei der Beschreibung kann man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden, die man irgendwoher, gewiss nicht aus der neuen Erfahrung allein, herbeiholt. […] Sie müssen zunächst ein gewisses Maß von Unbestimmtheit an sich tragen […]. Solange sie sich in diesem Zustande befinden, verständigt man sich über ihre Bedeutung durch den wiederholten Hinweis auf das Erfahrungsmaterial, dem sie entnommen scheinen, das aber in Wirklichkeit ihnen unterworfen wird. Sie haben […] den Charakter von Konventionen, wobei aber alles darauf ankommt, dass sie doch nicht willkürlich gewählt werden, sondern durch bedeutsame Beziehungen zum empirischen Stoffe bestimmt sind, die man zu erraten vermeint, noch ehe man sie […] nachweisen kann. Erst nach gründlicherer Erforschung des Erscheinungsgebietes kann man auch dessen wissenschaftliche Grundbegriffe schärfer erfassen […]. Wie das Beispiel der Physik […] lehrt, erfahren auch die in Definitionen festgelegten ‚Grundbegriffe’ einen stetigen Inhaltswandel« (Freud 1915b, 81).

5. Zwischenfazit

Mit den »Vorbegriffen« gehen also z.T. Resultate aktualempirischer Forschungen notwendigerweise in die Kategorialanalyse ein. Deren spezifische Leistung besteht darin, unter kritischer Verwendung der Vorbegriffe die Geschichte des Psychischen zu rekonstruieren. Dadurch wird der „Stellenwert der einzelnen Vorbegriffe im kategorialen Gesamtzusammenhang« (s.o.) geklärt und die empirische Forschung auf die Konzipierung von Grundbegriffen ausgedehnt. Vorfindliche psychologische Begriffe, soweit sie nicht zum Gegenstand aktualempirischer Untersuchungen werden können, sondern diesen vorausgesetzt sind, werden in ihrem Geltungsbereich durch die Kategorialanalyse kritisierbar. Grundbegriffe können allerdings durchaus aktualempirisch erreichbar sein, wenn entsprechende Daten ihren Gehalt (partiell) nachweisen oder widerlegen. Das gilt natürlich auch für i.e.S. kritisch-psychologische Kategorien: Die Kategorialanalyse postuliert z.B., dass sich die Funktionsgrundlage menschlicher Handlungsfähigkeit aus dem subhumanen »Bedarf nach Umweltkontrolle« entwickelt hat (vgl. Holzkamp 1983a, 240). Unabhängig davon ist aber der auf diese Weise begrifflich gefasste Umstand evident, dass Menschen zu ihrer Reproduktion in irgendeiner Weise und irgendeinem Ausmaß über ihre gesellschaftlichen Lebensumstände »verfügen« müssen (siehe auch Friele 2008, 409ff). Außerdem müssen Kategorien sich aktualempirisch in dem Sinne »bewähren«, dass sie die schlüssige Bildung solcher Einzeltheorien erlauben, mit denen aktualempirische Phänomene hinreichend analysiert bzw. erklärt werden können. Holzkamp (1983a, 515) warnt allerdings zurecht: »Kategorien und Einzeltheorien bilden […] keinesfalls […] ein geschlossenes ‚Deduktionssystem’ o.ä., innerhalb dessen Einzeltheorien und aktualempirische Fragestellungen aus den kategorialen Bestimmungen ableitbar wären.« Vielmehr ist die Konkurrenz von Theorien, die anhand derselben Kategorien gebildet wurden, möglich und notwendig.

6. Zur »These von der paradigmatisch-kategorialen Stoßrichtung des Beitrags der Kritischen Psychologie«

Holzkamp bezeichnet die historische Kategorialanalyse als den Schwerpunkt der Kritischen Psychologie und folgert daraus: »Untersuchungen, praktische Arbeit etc. auf der einzeltheoretisch-aktualempirischen Ebene sind […] nicht kritisch-psychologisch, sondern einfach psychologisch […]. ‚Kritische Psychologie’ i.e.S. ist eben nur ein dezidierter Beitrag zur Erarbeitung eines individualwissenschaftlich-psychologischen Paradigmas« (1983a, 35). Damit will Holzkamp die seinerzeitigen kritisch-psychologischen Aktivitäten »in ihrer Spezifik fassbarer« machen und ihrem »Versanden in ‚Allem-und-jedem’, aber auch ihrem Verkommen zu einer bloßen (sich im Gebrauch von Redeformeln dokumentierenden) Überzeugung« (ebd., 26) entgegenwirken. Diese Zuspitzung ist m.E. im Rückblick fragwürdig: »Kritische Psychologie« bezeichnet inzwischen faktisch eine »Schule«, die in Berlin, Tübingen und Kopenhagen auch aktualempirische Untersuchungen durchführt; der Handlungsforschungsansatz der GdP wird dabei relativiert bzw. modifizert und zentrale inhaltliche Konzepte werden auf neue Bereiche angewendet – so z.B. in Ulrike Eichingers (2007) qualitativer Befragung zu Arbeitsbedingungen von Sozialarbeitern oder in Jochen Kalpeins (2007) exemplarischer Fallanalyse in der Familienhilfe. Auch praxisrelevante theoretische Untersuchungen werden im Rahmen dieses Ansatzes veröffentlicht, z.B. Boris Frieles (2008) Kritik der systemischen Familientherapie. – Die oben genannte Definition ist noch aus einem anderen Grund problematisch: Wenn es richtig ist, dass die bisher vorgenommenen Grenzziehungen zwischen historischer Kategorialanalyse und aktualempirischer Forschung unhaltbar sind, dass also Aktualempirie der historischen nicht per se nachgeordnet ist, dann muss auch eine daran gebundene Bestimmung der Kritischen Psychologie aufgegeben werden. Die Kategorialanalyse ist ein – allerdings wichtiges – Teilgebiet der Kritischen Psychologie. Insbesondere die Rekonstruktion der Psychophylogenese hat sich als ein tragfähiges Forschungsprogramm erwiesen, zu dem auch in jüngerer Zeit Beiträge veröffentlicht werden (Schurig 2007, ferner Jürgens 2006, Maiers 2006 und 2002).

Trotzdem kann man Holzkamp darin zustimmen, dass die Kritische Psychologie ein eigenes Profil benötigt, um ein »Versanden in ‚Allem-und-jedem’« zu verhindern. Dieses Profil oder eigentliches Grundanliegen würde ich so beschreiben: Die Kritische Psychologie ist kritisch gegenüber bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen; sie untersucht wissenschaftlich diese Verhältnisse und trägt so zu deren Überwindung bei. In diesem Sinne ist sie eine emanzipatorische Psychologie und steht in der von Karl Marx und Friedrich Engels begründeten historisch-materialistischen Forschungstradition. Sie ist politisch, aber keine Politikwissenschaft, soziologisch informiert, aber keine Soziologie, sie reflektiert die ökonomischen Grundlagen der (kapitalistischen) Gesellschaft, ohne Ökonomie zu sein, sie argumentiert auch biologisch gegen Biologismus, ist aber nicht auf Biologie oder Anthropologie zu reduzieren. Sie hat als Psychologie ihren eigenen Gegenstandsbereich und Problemzugang. Stärker und expliziter noch als bisher sollte sie m.E. die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation in den Mittelpunkt stellen, aktualempirische Untersuchungen vorantreiben und Fragestellungen sozialer Bewegungen aufgreifen. Den Kampf gegen ihre Ausgrenzung an den Hochschulen fortsetzend, muss sie sich (wieder) stärker außeruniversitär verankern.

Literatur

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Eichinger, Ulrike (2007): Der neoliberale Wandel (psycho-)sozialer Praxis aus der Perspektive der Beschäftigten. Zwischenergebnisse einer qualitativen Befragung. Forum Kritische Psychologie 51, 25-37.

Freud, Sigmund (1912): Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse. In Studienausgabe, Bd. III, 2000 (S. 25-36). Frankfurt/M.: Fischer.

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Friele, Boris (2008): Psychotherapie, Emanzipation und Radikaler Konstruktivismus. Eine kritische Analyse des systemischen Denkens in der klinischen Psychologie und sozialen Arbeit. Gießen: Psychosozial.

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ders. (1985b): Zur Stellung der Psychoanalyse in der Geschichte der Psychologie. In K.-H. Braun et al. (Hg.), Geschichte und Kritik der Psychoanalyse (S. 13-69). Marburg: Verlag Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft.

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Jahoda, Marie (1985): Freud und das Dilemma der Psychologie. Frankfurt/M: Fischer.

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Kalpein, Jochen (2007): Praxis – eine neue Phalanx subjektwissenschaftlicher Theorieentwicklung? Forum Kritische Psychologie, 51, 87-108.

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Schurig, Volker (1975a): Naturgeschichte des Psychischen 1 – Psychogenese und elementare Formen der Tierkommunikation. Frankfurt/M.

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ders. (2007): Psychophylogenese und Umweltpsychologie als naturwissenschaftlicher Themenbereich in der Kritischen Psychologie. Forum Kritische Psychologie, 50, 133-51.

Autorenhinweis

Michael Zander

Michael Zander, Jg. 1972, Dipl.-Psych, promoviert zum Thema „Chancen auf Autonomieerhalt für alte Frauen und Männer aus privilegierten Milieus nach häufigen oder schwerwiegenden Stürzen“ im Rahmen des Graduiertenkollegs "Multimorbidität im Alter" an der Berliner Charité. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Psychologie, disability studies, soziale Ungleichheit.

Michael Zander Dipl.-Psych. Buchholzer Straße 22a D-10743 Berlin

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