Mit dem vorliegenden Heft 3/2007 wird das Thema der vorangegangenen Ausgabe fortgesetzt. Ging es darin um den (zum Teil immer noch geringen, vor allem aber unterschätzten) Stellenwert von »Qualitativer Forschung in der Psychologie«, setzt Heft 3/2007 einen etwas anderen Akzent; und zwar nicht nur was die gewählten Anwendungsbeispiele anbelangt, die – im weiteren Sinne verstanden – aus dem Umfeld der klinischen Psychologie stammen, sondern auch mit Blick auf die Frage von interdisziplinären Bezügen und Berührungspunkten.
Dass qualitative Forschung nicht nur innerhalb der Psychologie einen schweren Stand hat, wird deutlich an den Ausführungen von Harald Weilnböck. Der Autor, der als Literatur- und Medienwissenschaftler arbeitet, weist zum »Jahr der Geisteswissenschaften 2007« auf einen erheblichen Handlungsbedarf in den »Textwissenschaften« hin, die ihm zufolge deutlich von einer Zurkenntnisnahme von qualitativen Verfahren und von einem konsequent qualitativ-empirischen Vorgehen profitieren würden. Der weitgehenden Scheu vor qualitativer Forschung in den »Textwissenschaften« stellt er sein Plädoyer für interdisziplinären Austausch und Berücksichtung von Klinischer Psychologie, Psychotraumatologie und Psychotherapie inklusive einem Methodologie- und Methodenverständnis einer qualitativen Psychologie entgegen, um den textwissenschaftlichen Bias der Geisteswissenschaften zu überwinden.
Dass Psychologie und Textwissenschaft sich nahestehen und in beiden auch Bezüge zu Literaturwissenschaft erkennbar werden, wird besonders deutlich im Rahmen der psychoanalytisch orientierten Sozialforschung, wie sie Thomas Leithäuser in seinem Beitrag darstellt. Er interpretiert im Sinne der Freudschen Traumdeutung zwei der posthum veröffentlichten »Traumprotokolle« von Theodor W. Adorno. Ihm geht es hierbei um den »gesellschaftlichen Gehalt« der Träume und eine Rekonstruktion der latenten Traumgedanken. In der Darstellung expliziert Leithäuser eigene biografische Bezüge gepaart mit Verweisen zu den »Traumprotokollen«, eine Vorgehensweise, die einen guten (Ein-) Blick in seine Interpretationsarbeit gestattet.
Eine grundsätzlichere Erörterung von subjektiver Erfahrung, gesellschaftlicher Bedeutung und wissenschaftlicher Verallgemeinerung findet sich bei Morus Markard. Er geht der Frage nach, was wissenschaftlich unter Bezug auf Erfahrung entschieden werden kann. Ihm zufolge ist allein mit empirischen Methoden die Relevanz von Begriffen nicht zu klären, sondern Erfahrungen sind auf die gesellschaftlichen Strukturen hin zu analysieren, da Erfahrungen im Medium gesellschaftlicher Denkformen gemacht werden bzw. das Unmittelbare und Authentische von Erfahrungen als je individuelle Realisierung von (gesellschaftlichen) Bedeutungen zu verstehen ist. Aufgrund konkurrierender Annahmen bezüglich Gesellschaft bleibt für Markard die Aufschlüsselung von Erfahrung notwendig strittig. Markard stellt die methodologischen Aspekte eines subjektwissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs dar und hebt die resultierenden Implikationen für den psychologischen (nomothetischen) Mainstream hervor. Die Notwendigkeit der Herausarbeitung von Annahmen über Handlungsgründe und -möglichkeiten wird damit deutlich.
In einem rein empirisch angelegten Beitrag im Bereich der Psychotherapieforschung will das AutorInnenteam Thomas Slunecko, Melitta Fischer-Kern, Othmar Zimmerleiter und Elisabeth Ponocny-Seliger mittels einer Kategorienbildung an offenen, schriftlich erhobenen Antworten die initiale Therapiemotivation bestimmen. Vorgestellt werden 16 mittels qualitativer Inhaltsanalyse entwickelte Motivkategorien. Besondere Aufmerksamkeit lassen die AutorInnen der Kategorie »Gesprächs- und Unterstützungsmöglichkeit« zukommen, da sie bis dato in einer problem- bzw. zielorientierten Therapieforschung vernachlässigt wurde. Als ein weiteres relevantes Resultat wird der Zusammenhang von Therapiemotivation der PatientInnen und ihrem »institutionellen Schicksal« herausgestellt, nach dem am Ende je nach Motiv(ation) eine unterschiedliche Therapieform nahegelegt scheint; und es aus dieser Perspektive auch »ProblempatientInnen« gibt, die keine Therapie beginnen.
Der Beitrag von Slunecko, Fischer-Kern, Zimmerleiter und Ponocny-Seliger zeigt sehr anschaulich die Arbeitsweise mit der qualitativen Inhaltsanalyse, beschreibt den Prozess der Kategorienbildung nachvollziehbar und liefert damit – und dies ebenso wie Thomas Leithäuser und dessen tiefenhermeneutisches Vorgehen mit Bezug zu psychoanalytisch orientierter Sozialforschung und darin eingeflochtener selbstreflexiver Momente – Einblicke in die Praxis (richtiger: diversen Praxen) qualitativer Forschung im Rahmen psychologischer Arbeiten.
Neben diesen im Themenschwerpunkt sehr unterschiedlich präsentierten Vorgehensweisen und methodologischen Standpunkten, die die Bandbreite einer qualitativen Psychologie andeuten, widmet sich auch der Beitrag in der Rubrik »Aktuelles Thema« qualitativer Forschung. Irena Medjedović nimmt sich der Frage an, wie qualitative Interviewdaten für Sekundäranalysen nutzbar gemacht werden können; ein Thema, das gerade auch im Kontext von Open Access zunehmend ins Blickfeld gerät und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestützt wird, da die Wissenschaft von heute im hohen Maße auf entgeltfrei zugängliche Forschungsprimärdaten angewiesen ist. Anhand der Ergebnisse einer Interviewstudie, in der 36 qualitative Forschende zu Sekundäranalyse, der Bereitschaft zur Überlassung von Primärdaten für Archive und der Nutzung archivierter Daten befragt wurden, werden die Besonderheiten qualitativer Daten und qualitativen Forschens deutlich, wenn es etwa um Fragen der Kontextgebundenheit der Daten und der Gefährdung der Interviewbeziehung geht oder Fragen der Datenschutzvereinbarungen berührt sind, die allesamt in Minimalstandards überführt werden müssen, soll die Nutzung von Primärdaten im Sinne einer Forschungsstrategie eine weitergehende Verbreitung finden.
Fast ähnlich strittig wie in der Psychologie zuweilen die Methodenfrage debattiert wird, steht heute ausgehend von einer vermeintlichen Dominanz von „ neuro-science« innerhalb der Psychologie die Diskussion um »mind« und »brain« auf der Tagesordnung. In der Rubrik »Debatten und Kontroversen« dieser Ausgabe fragt Gerald Ulrich, wie es um die Psychologie unter den Auspizien der Naturalisierungsforderung steht. In einer im Duktus der Kontroverse angelegten Kurzabhandlung sondiert er die »Irrtümer«, die sich angesichts eines (einseitigen) Ausrichtens auf die Verheißungen der Neurowissenschaften für die Psychologie und aufgrund von Verkürzungen in der Diskussion für das Verstehen psychischer Prozesse einstellen. Wir hoffen, dass dieser Beitrag zu einer Diskussion anregt und einlädt, sich per Kommentar auf den Beitrag zu beziehen oder im Diskussionsforum dazu eine Stellungnahme einzubringen.
Eine Schlussbemerkung in eigener Sache: Wir haben mit dieser Ausgabe das erste Jahr als Open-Access-Zeitschrift erfolgreich abgeschlossen und – wie uns die Reaktionen von Lesenden und Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen zeigen – es ist damit auch gelungen, das Journal für Psychologie als Zeitschrift und das mit ihr vertretene Anliegen einer sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie wieder sichtbarer werden zu lassen. Wir bedanken uns – im Namen aller Herausgebenden – bei allen Lesenden, Autorinnen und Autoren sowie den Mitgliedern der Neuen Gesellschaft für Psychologie, die uns dabei begleitet und unterstützt haben.
Berlin, Dezember 2007; Günter Mey & Sebastian Ruppel