»Die Traumprotokolle« von Theodor W. Adorno sind posthum 2005 im Suhrkamp Verlag erschienen. Von diesen etwa 100 Traumprotokollen werden zwei im Sinne der Traumdeutung Sigmund Freuds interpretiert. Dabei geht es darum, den gesellschaftlichen Gehalt der beiden Träume zu erfassen und nicht darum, etwas über die persönlichen Dispositionen des Träumers zu erkunden. Als eine Art »Tagesrest«, wie er in vielen Träumen zu finden ist, werden aus dem Inhalt der beiden Träume Aspekte der Kritischen Theorie herausgearbeitet. Weiterhin wird gezeigt, wie mit einer psychoanalytisch orientierten tiefenhermeneutischen Textinterpretation erinnerte und erzählte Träume verstanden werden können.
Schüsselwörter: Traumarbeit, latenter Traumgedanke, manifester Trauminhalt, gesellschaftlicher Gehalt, Psychoanalyse, Kritische Theorie
»The dream protocols« (»Die Traumprotokolle«) of Theodor W. Adorno were published posthume in 2005 by Suhrkamp. Two of the about hundred dream-protocols are interpreted in the sense of Freud’s dream-interpretation. The focus of the interpretation is the societal content of the dreams and does not lie on the personal dispositions of the dreamer. Some aspects of the Critical Theory are analysed in the »rest of the day« (Tagesrest) which is always a part of the dream. The process of the psychoanalytical orientated depth-hermeneutic method is shown in the interpretation.
Keywords: dream work, latent dream thought, manifest dream content, societal content, psychoanalysis, critical theory
Träume sind zarte psychische Gebilde. Die Traumforschung lehrt uns, dass wir während des nächtlichen Schlafes andauernd träumen. Wer sich am Tage ein wenig selbst beobachtet, merkt, dass er zuweilen Tagträume hat, Phantasien, in denen er sein Glück herbeiwünscht oder andere, die ihn sorgenvoll und ängstlich stimmen. Tagträume sind strukturierter, dem Bewusstsein in der Regel zugänglicher als Nachtträume. In den Nachtträumen schläft unser Ich. Es zieht sich zurück auf einige Notbeleuchtungen und Wecksignale für den Notfall. Das Ich macht so den Weg frei für unbewusste Vorgänge, die von dem Bewusstsein des Schläfers nunmehr Besitz ergreifen können. Erwacht das Ich, werden die meist rätselhaften Traumbilder aus dem Bewusstsein verbannt und in den Abgrund des Unbewussten gestoßen, der Ort ihres chaotischen Treibens, dessen versteckte Regeln und Sinn die Traumdeutung, ein Königsweg der Psychoanalyse, zu ergründen sucht.
Manche Träume allerdings sind hartnäckig. Sie wehren sich gegen die Unbewusstmachung und Bewusstmachung. Sie überraschen das aus dem Schlaf erwachte Ich und beschäftigen es als ganzen Traum oder häufiger als Traumfragmente in seiner Erinnerung, meist nur für eine knappe Zeit. Oft schon kurz nach dem Frühstück verfallen sie der Vergessenheit. Vergeblich versucht dann das wache Ich, sich an sie zu erinnern. Es weiß nurmehr, dass es geträumt hat, es weiß aber nicht mehr, was der Inhalt des Traumes gewesen sein könnte. Vielleicht vermerkt man bei sich selbst eine heitere, eine ängstliche, eine aggressive diffuse Gestimmtheit, die sich aus dem vergessenen Nachttraum herleiten könnte. Doch auch solche Aufmerksamkeit der Erinnerung verschwindet bald im täglichen Getriebe unseres Tuns. Das war es dann mit dem Traum. Doch zuweilen kehrt er auch wieder, selten in der gleichen, häufig in einer ähnlichen Gestalt oder in immer neuen Variationen, die auf ein gleiches Schema verweisen: Glück, Befriedigung, Not, Angst und Sorgen. Träume sind rätselhaft. Sie wecken die Neugier des Träumers, des Psychologen, des Soziologen, des Philosophen. Sie möchten wissen, was ein Traum bedeutet. Sie machen den Traum zu einem Untersuchungsobjekt, sie möchten ihn erforschen, seinen Sinn, seine Regelhaftigkeiten, vielleicht auch seine Gesetzmäßigkeiten zu Bewusstsein bringen. Sie möchten den Traum deuten. Magier tun das. Sie wollen in den Träumen lesen, was die Zukunft für den Träumer bringt. Psychologen deuten Träume. Sie wollen wissen, welche inneren Wünsche und Konflikte ein Traum zum Ausdruck bringt. Psychotherapeuten wollen herausfinden, wie die Deutung eines Traumes die Genesung eines Patienten fördert. Sigmund Freud war der große Meister der Traumdeutung als Wissenschaftler, Psychologe und Therapeut. Er sah die Traumdeutung als Königsweg zur Bewusstmachung von Unbewusstem.
Das Unbewusste ist ein paradoxes Phänomen, dessen Existenz auf Grund von klinischen und sozialwissenschaftlichen empirischen Erfahrungen nicht in Abrede gestellt werden kann. Behauptet man das Unbewusste als einen rein theoretischen Begriff, so sieht man es als etwas immer schon Bewusstes, da ich das, das ich begriffen habe, durch mein Begreifen bewusst gemacht habe. Wie Freud in der »Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1932/1974, 451f.) darlegt, sind dem Unbewussten weder die Kategorien des Raumes und der Zeit noch die Verstandeskategorien zu eigen; es ist an sich begriffslos. Wird es begrifflich gefasst, ist das Phänomen Unbewusstes bewusst, durch sein Begreifen bewusst gemacht.
Das Unbewusste erscheint daher in der Psychoanalyse und den Sozialwissenschaften als ein empirisches Phänomen, dessen Erkenntnis und Verständnis ganz von der Art und Weise der Methode des Verstehens, Begreifens und Erkennens abhängig ist. Es ist in methodischer Hinsicht verstanden dem Phänomen Atom (atomos, das Unteilbare) in der Mikrophysik nicht unähnlich, dessen Gestalt seines wissenschaftlich zur Erscheinung Gebrachten von den Untersuchungsmethoden und den Forschungsinstrumenten abhängig ist. Man denke an die »Unschärferelation« von Werner Heisenberg. Je feiner die Forschungs- und Messmethoden sind, umso deutlicher wird der Einfluss auf das Erscheinungsbild des Untersuchungsgegenstandes, das Schema, unter dem er zur Erscheinung gebracht wird.
So macht die psychoanalytische Methode, das Setting von Couch und Sessel, die freien Assoziationen des Patienten und die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Psychoanalytikers aus dem Unbewussten ein individuelles Phänomen des Patienten, desgleichen des Psychoanalytikers. Im Lichte der sozialwissenschaftlichen Tiefenhermeneutik zeigt das Unbewusste seine soziale Phänomenalität. So ergeht es auch dem Traum: er wird Opfer der wissenschaftlichen Arbeitsteilung. Der Traum wird sowohl als ein individuelles als auch ein soziales Phänomen unabhängig voneinander untersucht.
Freud war diese Problematik der wissenschaftlichen Arbeitsteilung unbehaglich. So glaubte er, sich mit einer Analogie behelfen zu müssen, mit der er große Ähnlichkeiten zwischen dem Psychischen im einzelnen Individuum und im gesellschaftlichen Leben (»Völkerleben«) zu charakterisieren wagt. Das »Verdrängte«, das Vergangene, Verschollene, Überwundene kehrt zuweilen im »Seelenleben des Einzelnen« wie im »Völkerleben« wieder. Die »Wiederkehr des Verdrängten« ist sowohl individuell als auch gesellschaftlich. »Die Vorgänge, die wir hier im Völkerleben studieren, sind den uns aus der Psychopathologie (des Einzelnen) bekannten sehr ähnlich, aber doch nicht ganz die nämlichen« (Freud 1939/1974, 577). Freud sieht im Verhältnis von individualpathologischen und sozialpathologischen Vorgängen ein evolutionstheoretisches Problem. Er spricht sehr spekulativ von einem »phylogenetischen Erwerb«, »psychische Niederschläge« aus Urzeiten seien Erbgut geworden. Mit archaischen Bildern aus solchem urzeitlichen Erbgut könnten wir es auch in unseren Träumen zu tun haben.
Anders als Freud, doch gleichwohl eng auf ihn bezogen, untersucht Theodor W. Adorno, Philosoph und Soziologe, die Vermittlung von Individuellem und Gesellschaftlichem. Das Individuum, so Adorno, ist als Einzelwesen »in gewisser Weise« von der Gesellschaft getrennt und hat sich ihr »entgegengesetzt« und ist somit Untersuchungsgegenstand der Psychologie und Psychoanalyse. Es weist so »auch auf rationale Verhältnisse zurück, nämlich darauf, dass wir eben einfach als Einzelwesen auf die Welt kommen und nicht als Korallenstöcke, es wird aber dann auch dieses Verhältnis doch noch durch die Einrichtung der Gesellschaft reproduziert« (Adorno 1993, 189). Danach ist die Kategorie des Individuums eine gesellschaftliche Kategorie »im eminentesten Sinne«, die nicht aus der Soziologie auszusparen ist. Damit wird nicht alles, was als individuell aufgefasst wird, unmittelbar der Gesellschaft zurechenbar. Vielmehr muss man »die Kategorie der Individuation selber und die spezifischen Formanten der Individualität ihrerseits als Verinnerlichungen von sozialen Zwängen, Bedürfnissen, Anforderungen interpretieren« (Adorno 1993, 190). Das Kollektive des Unbewussten, das Freud evolutionstheoretisch verstehen wollte, wird bei Adorno zum Thema der Sozialisation. Die tiefste Schicht der Individuation erweist sich als ein gesellschaftliches Moment. Adorno entdeckt in der psychoanalytischen Erkenntnis und Methodik ein »dialektisches Motiv«: »Je tiefer man in die Phänomene der Individuation des Menschen sich versenkt, je rückhaltloser man das Individuum in seiner Geschlossenheit und Dynamik begreift, um so mehr nähert ein Individuum sich selbst dem, was eigentlich nicht Individuum ist« (Adorno 1993, 192). Aber, so soll man ganz im Sinne Adornos hinzufügen, wird durch die Aufdeckung der gesellschaftlichen Vermitteltheit des Individuellen das vom Gesellschaftlichen wirklich unterscheidbare Individuelle am Individuum begreifbar. Es gibt ein Mehr, ein über seine gesellschaftliche Kategorie Hinausweisendes.
Mit Freud folgt Adorno dieser innerpsychischen Dialektik, eine individuelle und eine gesellschaftliche Differenzierung, die zugleich ein gesellschaftskritisches Motiv impliziert, auf dem besonders Adorno insistiert und das er in der psychoanalytischen Therapie, aber auch in manchen metapsychologischen Reflexionen Freuds gelinde gesagt vernachlässigt sieht. In »Minima Moralia«, den »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« (1951), wendet er seine Kritik nicht nur gegen die Praxis der etablierten psychoanalytischen Therapie, sondern auch gegen das theoretische Denken Freuds selber, um zugleich den kritischen Impuls der Psychoanalyse zu retten. Auch sie ist in der totalitären Präsenz des Tauschprinzips gefangen, das sich globalisiert hat und alle Lebenszusammenhänge dieser Welt durchherrscht. Nichts vermag sich dem gesellschaftlichen Tausch in toto zu entziehen. Alle Beschädigungen des Lebens gründen in ihm, zugleich befördert das Tauschprinzip die Prozesse der Individualisierung und ermöglicht ein Moment freiheitlicher Entwicklungen, so die Reflexion des »beschädigten Lebens«, einer Reflexion, in der die Psychoanalyse als kritisierende und kritisierte ihren Ort hat.
»Wäre etwas wie eine Psychoanalyse der heute prototypischen Kultur möglich, spottete nicht die absolute Vorherrschaft der Ökonomie jeden Versuchs, die Zustände aus dem Seelenleben ihrer Opfer zu erklären, und hätten nicht die Psychoanalytiker selber jenen Zuständen längst den Treueid geleistet – so müsste eine solche Untersuchung dartun, dass die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht. Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, dass sie nur vermöge, der tiefsten Verstümmelung, einer Verinnerlichung der Kastration in den extroverts, der gegenüber die alte Aufgabe der Identifikation mit dem Vater das Kinderspiel ist, in dem sie eingeübt wurde. Der regular guy, das popular girl müssen nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse verdrängen, sondern auch noch alle die Symptome, die in bürgerlichen Zeiten aus der Verdrängung folgten« (Adorno 1951, 96f.).
Adorno insistiert auf der psychoanalytischen Untersuchung der Pathologie des Normalen, demgegenüber die Analyse nur des individuellen Seelenlebens arglos bleibt, dem sich die meisten Psychoanalytiker in starrer Abwehr eines verinnerlichten Gesellschaftlichen verschrieben haben. Ohne Einsicht in die Pathologie gesellschaftlicher Normalität lassen sich die psychisch krank machenden Symptome in ihrer Komplexität nicht erkennen und deuten. Freud sah noch diese Problematik, in dem er Religionen als allgemeine Neurosen verstand, die sozial integriert und daher nicht krank machend, sondern in gewisser Weise heilsam die individuellen Neurosen, die individuellen pathologischen Symptome überdecken (Freud 1927/1974, 135f.). Die Ideologie des regular guy und popular girl, der viele anhängen, kann in dieser Hinsicht auch als eine Art Alltagsreligion, eine Pathologie des Normalen verstanden werden, die ein Stück weit vor dem Ausbruch individueller Neurosen zu schützen vermag. Auch die Psychoanalyse, die sich einzig auf die Analyse und Kur des individuellen Seelenlebens reduziert und dabei die Pathologie des Normalen, den pathologischen gesellschaftlichen Gehalt ausblendet, stabilisiert gleichermaßen wie die Religion, die Gegebenheiten des gesellschaftlichen Status quo; sie bescheidet sich als eine Therapie der bloßen Anpassung. Das muss nicht von vornherein als ein zu wenig bewertet werden. Gleichwohl scheint dabei der kritische Impuls der Psychoanalyse eskamotiert und die kritische Einsicht in das »allgemeine Unglück« (Freud) und das »beschädigte Leben« (Adorno) rudimentär. Psychoanalyse wird so zu einer Art Religionsersatz, für den sich fleißig eifern lässt. Aber auch dort, wo man beansprucht, dem kritischen Denken eine Heimstätte, wie in den verschiedenen Variationen der Kritischen Theorie und der Hermeneutik, bieten zu können, setzen sich leicht abgehobene Schemata und Dogmatik durch. Adorno sprach dann von einer »klappernden Dialektik«.
Heutzutage werden in der Psychoanalyse Träume als Bestandteile des therapeutischen Prozesses betrachtet und weniger als ein unabhängiges Phänomen, wie Freud dies noch in seinem Epoche machenden Werk »Die Traumdeutung« unternahm. Ein Traum, sofern er in einer Therapiestunde erzählt wird, gilt wesentlich als ein Ausdrucksmoment in der Patient-Therapeuten-Beziehung. Das ist gewiss ein sehr wichtiger Aspekt des Traumes, unter dem wir hier den Nachttraum verstehen, der erinnert, erzählt und aufgeschrieben werden kann. Ein solcher Traum kann aber nach wie vor auch als ein unabhängiges Phänomen untersucht werden. Allerdings ist der Traum nicht aus seinen gesellschaftlichen Kontexten herauszulösen. Er ist sehr komplex und vermag vielfältige Auskünfte zu geben. Dies gilt sowohl für die individuelle, idiosynkratische Seite des Unbewussten des Träumers, als auch für die gesellschaftliche Seite des Unbewussten, archaische Bilder, die als gesellschaftliche Erbschaft, als eine Art »kollektives Unbewusstes« im Traum sich Ausdruck verschaffen. Jeder Traum hat unter vielem mehr einen gesellschaftlichen Gehalt, der sich deuten, interpretieren und verstehen lässt. Ein erzählter und aufgeschriebener Traum wird zu einem Text, vielleicht ein literarisches Produkt, ein Gedicht, eine Novelle. Wird ein solcher Traum mit anderen gemeinsam in einem Buch veröffentlicht, so möchte der Autor des Buches und der Träume sehr wahrscheinlich nicht nur etwas Geheimnisvolles von sich selber mitteilen, sondern auch etwas Allgemeines, von dem auch die Leser mit ihren eigenen Erfahrungen betroffen sein können. Eine Buchveröffentlichung von Träumen verweist auf ihren gesellschaftlichen Gehalt. Das sind soziale Beziehungen, historische und aktuelle Ereignisse, politische Meinungen, kulturelle Dokumente, kollektive Emotionen, zivilisierte und unzivilisierte Haltungen, die sich kunterbunt zu einer kaum entwirrbaren Traumgestalt durcheinander mischen.
Theodor W. Adorno hat nun eigene Träume, die er beim Aufwachen erinnern konnte, aufgeschrieben. Sie sind unter dem Titel »Traumprotokolle« posthum 2005 in einem Band der Bibliothek Suhrkamp erschienen. Adorno hat eine solche Veröffentlichung seiner Träume gewollt, aber selbst nicht vorgenommen. Die vorliegende Ausgabe ist von Christoph Gödde und Henri Lonitz herausgegeben und mit einem sehr lesenswerten Nachwort von Jan Philipp Reemtsma versehen. Der erste Traum Adornos stammt aus dem Jahre 1934, und der letzte aus dem Jahre 1969. In wie auch immer verworrenen Ausgestaltungen findet sich eine 35jährige Lebensspanne von Adorno in diesen 110 Träumen verdichtet. Sie umfasst den Nationalsozialismus in Deutschland, die Emigration in die USA und die Rückkehr und das Weiterleben in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Adornos »Traumprotokolle« sind ein einzigartiges Dokument seiner Lebenserfahrungen in Traumgestalt. Etwas von ihrem »gesellschaftlichen Gehalt« will ich im Folgenden herausarbeiten. Ich orientiere mich bei meinen Interpretationsversuchen an der Freudschen Deutungsmethode, wie er sie in der »Traumdeutung« und den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« sowie »Neue Folge der Vorlesung« erörtert hat.
Für meine Interpretation von Träumen von Adorno, deren gesellschaftlichen Gehalt ich erarbeiten möchte, ist die Freudsche Unterscheidung von »manifestem Trauminhalt« und »latentem Traumgedanken« inhaltlich und methodisch von besonderer Relevanz. Der latente Traumgedanke drängt zu einer Ausdrucksform, die im fortlaufenden Traum durch die Traumzensur, ein weiterer wichtiger Begriff für unsere Interpretation, wenn nicht völlig aufgehalten, aber dann durch manifeste Inhalte zugestellt und weitgehend unkenntlich gemacht wird. Dieses Unkenntlichmachen des latenten Traumgedankens nennt Freud die »Traumarbeit«. Im Gegenzug dazu steht die »Deutungsarbeit«, der es um die Erhebung des latenten Traumgedankens im Traumlabyrinth zu guter Letzt um eine Bewusstmachung des Traumes geht. Ich spreche in dem hier anstehenden Kontext lieber von einer Interpretationsarbeit, da der Begriff der Deutung im psychoanalytischen Konzept immer wesentlich die Beziehung des Patienten (Träumers) zu seinem Therapeuten (Deuter) in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt. Wir dagegen haben es mit aufgeschriebenen Träumen, also der Interpretation von Traumtexten zu tun, in denen sich durchaus, in welcher verstellten Form auch immer, Sedimente von Beziehungsfiguren ermitteln lassen, die sich aber nicht ohne weiteres auf aktuelle soziale Beziehungen hin analysieren lassen.
Freud klärt in seiner Vorlesung über »Die Traumarbeit«, dass jene Arbeit, welche den latenten Traum in den manifesten umsetzt, die Traumarbeit heißt. Die in entgegengesetzter Richtung fortschreitende Arbeit, welche vom manifesten Traum zum latenten gelangen will, ist die Deutungsarbeit. Die Deutungsarbeit (in unserem Falle die Interpretationsarbeit) will die Traumarbeit aufheben (Freud 1900/1972, 178). Mit unserer Interpretationsarbeit suchen wir nach der wahren Gestalt des gesellschaftlichen Gehalts des latenten Traumgedankens, die unter der Decke der manifesten Trauminhalte, die den latenten Traumgedanken enthalten, gefunden und rekonstruiert werden kann. Die methodischen Mittel, deren sich der manifeste Traum, die Traumarbeit bedient, sind u.a.: »Verdichtung«, »Verschiebung«, »die Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder« und »die Umkehrung des Sinnes, die Ersetzung durch das Gegenteil«, wie Freud sie beschreibt.
Mit diesen Mitteln bringt der Traum unsere selbstverständliche, im Tagesgeschäft eingewöhnte und nicht weiter befragte Ordnung unserer Alltagsvorstellungen zum Einsturz. Auch die Gefühle, die uns im Traum befallen können, erleben wir als fremd und nicht so ohne weiteres als die eigenen. Da tauchen Formen von Hass, Liebe, Angst, aber auch Angstfreiheit und Leidenschaften auf, die uns im tageshellen Bewusstsein unbekannt sind. »Tagesreste« (wie Freud Erinnerungsreste des vergangenen Tages nennt), Erfahrungs- und Erlebnisreste, die ihre Quellen in der ganz frühen Kindheit haben können und ansonsten der Amnesie verfallen sind, tauchen in fremden und ungestümen Bildern und Szenen des Traumes auf und komponieren sich in bizarren Flickenteppichen. In solch verworrenen Traumgebilden hat es die Interpretationsarbeit schwer, den Sinn der latenten Traumgedanken zu rekonstruieren. Ich will mein Glück damit versuchen und sehen, wie weit sich zwei von mir aus Adornos Traumprotokollen ausgewählte Träume enträtseln lassen.
Der erste Traum stammt von Ende Mai 1942. Adorno träumte ihn in Los Angeles, wohin er vor den Nazis aus Deutschland geflohen war.
Los Angeles, Ende Mai 1942»Ich träumte, ich solle gekreuzigt werden. Die Kreuzigung fand bei der Bockenheimer Warte, nahe der Universität statt. Der ganze Vorgang war frei von Angst. Bockenheim glich einem sonntäglichen Dorf, totenhaft friedlich, wie unter Glas. Ich betrachtete es auf dem Spaziergang zum Richtplatz mit der größten Aufmerksamkeit. Ich glaubte nämlich, aus dem Aussehen der Dinge an diesem meinem letzten Tag etwas Bestimmtes über das Jenseits entnehmen zu können. Ich erklärte aber zugleich, man müsse sich dabei vor vorschnellen Schlüssen hüten. Man dürfte sich etwa nicht dazu verleiten lassen, deshalb, weil in Bockenheim noch die einfache Warenproduktion herrsche, der dort noch geübten Religion objektive Wahrheit zuzusprechen. Im übrigen hatte ich die Sorge: ob ich am Abend von der Kreuzigung zu einem großen, ungemein eleganten Diner, zu dem ich eingeladen war, beurlaubt würde, sah dem aber mit Zuversicht entgegen« (Adorno, 2005, 16).
Zunächst eine kleine Vorbemerkung zum Interpreten: Ich habe in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt studiert, Adornos Vorlesungen gehört und in seinen philosophischen und soziologischen Seminaren Referate gehalten und die obligaten Protokolle angefertigt. Bis heute spüre ich den Einfluss seines Denkens in meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit; ich lese immer wieder in seinem großen philosophischen und soziologischen Werk, besonders gerne seine Vorlesungen, die in den letzten Jahren erschienen sind und die ich alle seinerzeit gehört habe. Der Sprachduktus der Vorlesungen teilt auch als geschriebener Text ganz unmittelbar die Lebendigkeit und Engagiertheit von Adornos Denken, die negative Dialektik mit, in der er die großen philosophischen und soziologischen Texte durchging und mit immanenter Kritik an ihnen mit ihnen und durch sie hindurch die Kritische Theorie entwickelte. Mit einem alten kantianischen Philosophen, Herrn Leis, der zu meiner Schulzeit in Gießen an dem naturwissenschaftlichem Gymnasium Philosophie unterrichtete, und später mit Adorno an der Frankfurter Universität habe ich denken gelernt und tue es noch heute mit seinen Texten.
Bockenheim, ein Stadtteil von Frankfurt, und die Bockenheimer Warte, ein altes, mittelalterlich wirkendes Türmchen und heute wichtige Straßenbahnhaltestelle, kenne ich sehr gut. Bockenheim hatte in den 60er Jahren eine gewisse Lebendigkeit durch seine Kneipen und einfachen Lokale, den kleinen Cafés und kleinen Geschäften. Supermärkte gab es nur wenige. Nicht nur tagsüber, sondern auch noch bis in den späten Abend hinein sah und traf man viele Menschen. Ich wohnte damals in dem Studentenhaus direkt gegenüber der Bockenheimer Warte und bin häufig alleine oder mit meinen Freundinnen und Freunden durch Bockenheim spaziert. Das war zuweilen recht heiter und lustig. Allerdings nicht an Sonntagen. Da waren die Straßen wie ausgestorben, öde, fade und leer. Besonders ein grelles und kühles Sonnenlicht machte die totale Verlassenheit dieses Ortes deutlich und konnte Vorstellungen und Vermutungen wecken, wie es wohl in den 30er und 40er Jahren, der Zeit der Nazis in Deutschland, in Bockenheim gewesen sein mochte: der politisierte stickige Mief des kleinbürgerlichen Lebens, Hakenkreuzfahnen, marschierende SA, bösartiges, hässliches Gelächter, Hetze, Demütigung und Verfolgung von Juden, Szenen aus einem toten Leben, die wir gewiss meist, nicht aber immer an jenen besonnten toten Sonntagen verdrängt haben. Häuser und Straßen offenbaren zuweilen eine Aura des Grauens, denen sich das aufgeweckte Bewusstsein nicht so einfach entziehen kann, sei es auch nur als Beklemmung, Verstimmtheit, Verworrenheit und Übelkeit. Das Geschehene kann wiederkehren an solchen toten Tagen, im Traum, in der Phantasie, in der Erinnerung.
Auf diese Erinnerungsspur hat mich die Lektüre von Adornos Traum gesetzt, eine Erinnerungsspur, die mir helfen soll, seinen Traum zu verstehen und zu interpretieren. »Bockenheim glich einem sonntäglichen Dorf, totenhaft friedlich, wie unter Glas«, heißt es da. Ein Bild unter Glas, Kirchhofsfrieden am Sonntag in einem Dorf, in dem viel »gekreuzigt«, mit anderen Worten gemordet, wurde – wie selbstverständlich auf der Tagesordnung, nicht weiter nachdenkenswert. Adorno, der Träumer, der gekreuzigt werden soll, nimmt es gelassen, ebenfalls ganz selbstverständlich, frei von Angst. Er sieht sich ebenfalls »unter Glas« auf dem Bild des kirchhöflichen Bockenheims auf dem Wege zum »Richtplatz«. Er betrachtet das Bild mit »größter Aufmerksamkeit«. Der Weg zur »Bockenheimer Warte«, bei der die Kreuzigung stattfinden soll, ist ein angstfreier »Spaziergang.« Der Träumer scheint aufgespalten, in ein Opfer, das man zum Richtplatz führt, und in einen angstfreien Betrachter. Diese Spaltung, die der Traum hier vornimmt, kann man schon als eine Art »Kreuzigung« verstehen, von der der Traum ein Bild schafft. Eine der interessantesten Mittel der Traumarbeit ist nach Freud (wir wiesen schon darauf hin) die »Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder«. Dazu gehören auch »plastische Wortdarstellungen«, wie eine es der Gang zum Richtplatz als ein »Spaziergang« ist.
Wir können nun fragen, was die Verbildlichung Bockenheims in ein »totenhaft friedliches«, »sonntägliches Dorf«, die Spaltung des Träumers in ein Opfer, das gekreuzigt werden soll, und einen aufmerksamen Betrachter, was die »plastische Wortdarstellung« »Spaziergang« für den Gang zum Richtplatz bedeuten soll? Der Traum gibt uns die versteckte Antwort. Der Traum soll für den Träumer »frei von Angst« bleiben. Gelingt ihm dies, so erfüllt er nach Freud die Hauptaufgabe des Traumes: der Schlaf des Schläfers wird nicht gestört. Der Schläfer muss nicht schweißgebadet erwachen. Er kann seine eigene Kreuzigung, den Gang zum Richtplatz träumen, ohne in Angst, Schrecken und Todesangst aus dem Bett zu fahren. Die Traumarbeit hat ein weiteres Mittel im Spiel: »die Umkehrung des Sinnes, Ersetzung durch das Gegenteil«: Die Todesangst wird in Angstfreiheit umgewandelt. Was nun, so fragen wir weiter, ist der gesellschaftliche Gehalt dieser Traumsequenz, also das Allgemeine, an dem sich der individuelle Träumer in seinem Traum abarbeitet, das nicht nur ihn bedroht, sondern gleichfalls viele andere?
Bockenheim, das »sonntägliche Dorf, totenhaft friedlich«, wird zu einem Symbol des nationalsozialistischen Deutschland. Der Traum beginnt mit dem Motiv der Kreuzigung, zunächst ein christliches Motiv. Es scheint so, als mache der Traum den Träumer zum Heiland, der an das Kreuz geschlagen werden soll, der »Spaziergang« durch Bockenheim also der Passionsweg Christi? Das Traumbild ist konkretistisch, in dem dieses christliche Motiv aufgenommen ist. Zugleich aber legt das Kreuz das Hakenkreuz nahe. Die Bockenheimer Warte wird im Traum nicht nur zum Symbol von Golgatha, sondern Symbol einer Sammelstelle von Juden zur Deportation. Der »Spaziergang« dorthin erscheint im Traum als ein »Vorgang frei von Angst«. Die Traumarbeit muss viel Kraft und Verkleidungskunst, die Verwendung zentraler religiöser Symbole, aufbringen, um die tief sitzende Angst, von den Nazis geschnappt zu werden, zu verbergen und in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Angst, das Grauen darf im Traum nicht wahr sein. Die Wahrheit bleibt im Versteck der Traumbilder. Zu diesen Traumbildern zählt auch die »Universität«, die nicht nur im Traum sondern, auch in der Realität nahe der »Bockenheimer Warte« ist. Wie diese hat die Universität einen realen Kern in der Traumlandschaft von Bockenheim. Aber wie im Traum die »Bockenheimer Warte« auf eine Sammelstelle von Juden zur Deportation verweist, ist auch die »Universität« nicht nur ein Ort der Bildung, Wissenschaft, Forschung und Lehre. Die Universität war kein sicherer Ort für Juden. Sie war ein Ort der Prüfungen, Unsicherheiten, Konkurrenzen und Ängste, ein Ort, von dem Juden in der Zeit der Nazis entfernt, ausgeliefert und geächtet und später deportiert wurden. Der Traum verbindet die »Universität« mit der »Bockenheimer Warte«. Sie wird Teil der Sammelstelle zur Deportation. Hinter dem Zeichen des Kreuzes erscheint das Hakenkreuz.
Träume und Religionen sind miteinander verwandt. Beide produzieren Bilder; sie sind gewissermaßen »Bild gebende Verfahren«. Die Bilder sind meist schwer zu verstehen, verzerrt und verstellt durch Traumarbeit im Traum, in der Religion kompensiert durch Rituale, Erzählungen und Gebote. Religionen kann man als organisierte kollektive Tragträume verstehen, verwandt dem Nachttraum, in den sie einsinken und sich in den Stoff der Traumarbeit verwandeln. In Adornos Traum ist nicht nur das Bild der Kreuzigung anverwandelt. Auf dem Spaziergang zum Richtplatz betrachtet der Träumer »mit der größten Aufmerksamkeit« das »friedlich totenhafte« Bockenheim: »Ich glaubte nämlich, aus dem Aussehen der Dinge an diesem meinem letzten Tag etwas Bestimmtes über das Jenseits entnehmen zu können«. Diesseitige, weltliche Dinge, die Häuser und Straßen von »Bockenheim«, durch die der Spaziergang zum Richtplatz führt, werden »mit der größten Aufmerksamkeit« als Zeichen des »Jenseits« gesehen, die Auskunft geben könnten über die andere Welt, in die der Träumer glaubt, durch seine »Hinrichtung« einzugehen. Das macht die »Hinrichtung« zu einem Ritual. Das Martyrium führt in ein »Jenseits«, in dem man weiterlebt, ein geglaubtes und erhofftes paradiesisches »Jenseits«. Die Angstfreiheit des »Vorgangs« bleibt erhalten, die Todesangst scheint gebannt.
Doch diese religiöse, auch animistische Phantasie (alle diesseitigen Dinge sind jenseitig begeistet) führt im Traume zu weit, wird zu bewusstseinsnah und droht wahrscheinlich den träumenden Schläfer aufzuwecken. Prompt tritt die Traumzensur auf den Plan. Sie kleidet sich in das Kostüm des kritisch denkenden Philosophen, der rasch »zugleich« erklärt, »man müsse sich vor vorschnellen Schlüssen hüten«. Eine Religion, die das Jenseits mit diesseitigen »Dingen« bebildert, zwar eine in »Bockenheim« »noch geübte Religion«, scheint dem Träumer nunmehr historisch überholt. »Man dürfte sich etwa nicht dazu verleiten lassen«, dieser »Religion objektive Wahrheit zuzusprechen«. Sie verfällt dem Bilderverbot, ein paradoxes Phänomen der Traumarbeit, die gewöhnlich den latenten Traumgedanken, der zum Bewusstsein drängt, durch groteske Bildproduktionen den Weg verstellt.
Zwei der Mechanismen, die nach Freud bei der Traumarbeit tätig sind, die »Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder« und »die Ersetzung ins Gegenteil«, haben wir in Adornos Traum am Werke gesehen und ausführlich kennen gelernt. Auf den Mechanismus der »Verdichtung« sind wir bereits gestoßen, ohne ihn besonders zu kennzeichnen. Unter Verdichtung in der Traumarbeit versteht man, »dass der manifeste Traum weniger Inhalt hat als der latente, also eine Art abgekürzte Übersetzung des letzteren ist« (Freud 1900/1972, 179). Wir haben in unserer Trauminterpretation die Verdichtungen von Kreuz und Hakenkreuz, von Bockenheim und nationalsozialistischem Deutschland, von Bockenheimer Warte, Golgatha und Sammelstelle für die Deportation von Juden bereits gezeigt. Die Mechanismen Verdichtung und Verkehrung ins Gegenteil greifen in der Zusammenfügung von Spaziergang und Leidensweg in der Traumarbeit des Traums ineinander. Den Mechanismus der »Verschiebung« lernen wir gerade kennen, den Freud als den Ersatz eines Traumelements durch eine »Anspielung« kennzeichnet und in der Art wie »der psychische Akzent von einem wichtigen Element auf ein anderes, unwichtiges übergeht, so dass der Traum anders zentriert und fremdartig erscheint« (Freud 1900/1972, 181). Eine solche Verschiebung findet sich in Adornos Traum im Übergang vom »Jenseits« in ein »elegantes Diner«. Wir gehen gleich noch auf diese Verschiebung näher ein.
Mit der Interpretation des ersten Moments einer Verschiebung, der Ersetzung eines Traumelements durch eine »Anspielung«, waren wir gerade beschäftigt. Die religiöse Aufmerksamkeit auf die diesseitigen, dem der Träumer »etwas Bestimmtes über das Jenseits entnehmen zu können«, geht über in eine »Anspielung« auf ein ideologiekritisches Argument, man solle sich nicht verleiten lassen, der in Bockenheim geübten Religion »objektive Wahrheit zuzusprechen«, da »in Bockenheim noch die einfache Warenproduktion herrsche«, die, so muss man hinzufügen, historisch seit langem überfällig und überholt sei. Hier »spielt« der Träumer auf den Marxschen Ideologiebegriff »an«, der Ideologie als »notwendig falsches Bewusstsein« beschreibt, der außerhalb von »Bockenheim« nur noch falsch ist und seine historische Notwendigkeit verloren hat. Einer an die »einfache Warenproduktion« gebundene Religion kann unter modernen, industriellen und kapitalistischen Produktionsbedingungen keine objektive Geltung mehr zukommen.
Aber die »Anspielung« impliziert noch ein Mehr an Bedeutungen. Die »einfache« Warenproduktion« ist im Traum nicht einfach ein ökonomischer Begriff, aus dem sich Religion und Ideologie herleiten. Die Worte »einfache Warenproduktion« sind im Traum eine »plastische Wortdarstellung«, die, wie Freud zeigt, im Zusammenhang des Traummechanismus einer »Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder« gesehen werden muss. Wir interpretierten schon »Bockenheim« als eine Traummetapher (eine Verschiebung) des nationalsozialistischen Deutschlands, ein von ökonomischer und politischer Rückständigkeit bedrohtes Land, das sich mehrheitlich einer gewaltförmigen antisemitischen Weltanschauung ausliefert. Im strengen Sinne war das keine Ideologie; vielmehr war das eine organisierte archaische Killermentalität in rassistischem und nationalsozialistischem Kostüm. Einmal an der Macht, wurde diese Pseudoideologie mit den Mitteln der modernsten Technik in Eroberungs- und Ausrottungskriegen praktiziert.
Die Todesangst des Träumers war objektiv bedingt, unmittelbare Folge der »Vorgänge« im nationalsozialistischen Deutschland. Ihre Verdrängung im Traum muss nicht aus natürlichen und traumatischen Todesängsten früher und frühester Kindheit besonders hergeleitet werden, obwohl auch frühkindliche Erfahrungen in den Verdichtungen des Traumes eine Rolle spielen. Ingmar Bergmann lässt in einem seiner großen Filme den Protagonisten sagen: »Die Wirklichkeit ist schlimmer als der Traum«. Doch der Traum spielt auf diese schlimme Wirklichkeit an, vor der er den Schlafenden zugleich behüten will, gleich den Jenseitsvorstellungen der Gläubigen, die ein ewiges Leben versprechen, damit man sich vor einem endgültigen Tod nicht ängstigen muss.
»Jenseits« und »elegantes Diner« sind in diesem Traum ebenfalls »plastische Wortdarstellungen«. Sie sind so nicht einfache Worte der Umgangssprache; sie folgen vielmehr der Grammatik der Traumarbeit. Diese zielt, um es abermals zu betonen, mit ihren Mitteln auf den Erhalt des Schlafes, gleichwie die Bilderwelt und die Rituale der Religionen den Erhalt des Lebens in einem jenseitigen ewigen Leben beschwören. Traum und Schlaf haben mithin ähnliche Aufgaben. Der Tod ist nur ein Schlaf bis zum Wiedererwachen in der Auferstehung oder einer Wiedergeburt. Oder der Tod ist ein ewiger Schlaf, ein »totenhafter« Frieden.
All diese Vorstellungswelten dienen der Verdrängung, zumindest aber der Minimierung von Todesängsten. Wie Freud herausfand – wir betonten es bereits – dient die Religion als eine allgemeine Neurose der Verhinderung des Ausbruchs einer individuellen. Die Psychoanalyse ist die Durchdringung und Aufarbeitung individueller psychischer Symptome, des persönlichen Unglücks, mit dem Versprechen der Ermöglichung eines wie auch immer beschiedenen Lebensglücks und Lebenszufriedenheit, verbunden mit der Einsicht in das allgemeine Unglück menschlichen Lebens. Das ist viel und wenig zugleich im Vergleich mit den Versprechungen der Religionen.
Zurück zu Adornos Traum: Wir haben gesehen, wie die Traumarbeit eine Jenseitsvorstellung nutzt, damit – so unsere Interpretation – der Traum nicht zu nahe an die Bewusstseinsgrenze heranrückt. Die Traumzensur tritt als Wächter des Schlafes auf den Plan, greift zum Kostüm des Ideologiekritikers und schiebt die animistische Jenseitsvorstellung: alle Dinge sind belebte Zeichen des Jenseits, beiseite. Das aber reicht der Traumarbeit nicht. Es kommt zu einer Verschiebung. Das »Jenseits« im Traum wird durch ein »elegantes Diner« ersetzt. Denn wie die religiöse Betrachtung, die »mit der größten Aufmerksamkeit« »etwas Bestimmtes über das Jenseits« den Dingen »entnehmen« will, scheint der Traumarbeit auch das ideologiekritische Raisonnement nicht ausreichend von der Grenze zum Erwachen wegzuführen, um den beruhigenden Lebensschlaf zu erhalten. Sie verwandelt das »Jenseits« in ein »großes ungemein elegantes Diner«. Es taucht noch eine gewisse »Sorge« auf, ob solche Verschiebung der Traumarbeit gelingen kann. Doch das Ende des Traumes zeigt an, dass es »Zuversicht« gibt, die schlaferhaltende Maßnahme, die auf eine lebenserhaltende Maßnahme hindeutet, zum Erfolg zu bringen. Es wird Urlaub bis zum Wecken geben. »Im übrigen hatte ich die Sorge: ob ich am Abend vor der Kreuzigung zu einem großen ungemein eleganten Diner, zu dem ich eingeladen war, beurlaubt würde, sah dem aber mit Zuversicht entgegen«.
Die »Kreuzigung« erweist sich bei fortschreitender Interpretation ebenfalls als eine »plastische Wortdarstellung«, eine Verdichtung vielfältiger Bedeutungen im Traum: Hakenkreuz, Hinrichtung, Mord, Vernichtung. Dazu gesellen sich Kreuzung und Kreuzweg: ein Kreuzweg zwischen Jenseits und Diesseits, eine Kreuzung von paradiesischer Langeweile und irdischem Lustgetümmel, verdichtet sich zu »einem großen ungemein eleganten Diner«. Bei feiner Musik im Hintergrund, gespielt von einem geübten kleinen Orchester, werden über die reich gedeckte Tafel hinweg mit Witz und Ironie geist- und lehrreiche Sentenzen ausgetauscht, während unter dem Tisch scheinbar unbemerkt eifriges Füßeln und bei einer kaum merklich angehobenen, mit reicher Stickerei verzierten Tafeldecke das zärtliche, zuweilen auch grobschlächtige Berühren von Knien und Oberschenkeln Platz greift. Das setzt sich fort in anschließendem Schmiegen und Wiegen von in Frack und Abendkleid gehüllter, eng sich aneinander lehnender Leiber, in rhythmischem Tanze dahingleitend auf spiegelndem, glatten Parkett.
Nicht nur die Traumarbeit, sondern auch die Interpretationsarbeit bedarf »Bild gebender Verfahren«; die erstere, um die vielen Traumwünsche in einer »plastischen Wortdarstellung« zu verdichten und unkenntlich zu machen, die andere, um sichtbar zu machen, was die Verdichtung von Zweideutigkeiten in einem »großen ungemein eleganten Diner« alles zu leisten vermag. Die Interpretation bedarf einer nachhaltigen Phantasie des Interpreten. Er »betrachtet« gemeinsam mit dem Träumer »mit der größten Aufmerksamkeit«, inwieweit die Traumarbeit ein »Bestimmtes«, nunmehr etwas von den himmlischen Freuden des Jenseits in die diesseitigen »Dinge« zu verschieben vermag. Der Träumer sieht dem »mit Zuversicht entgegen«, seinem Urlaub, den der Traum dem lebendigen Schläfer gewährt, ein Urlaub im »Grand Hotel ‚Abgrund’« in »Bockenheim« nahe der Richtstätte »Bockenheimer Warte«.
Adorno träumte diesen Traum in Los Angeles, einem sicheren Ort, geografisch fern von dem Frankfurter Stadtteil Bockenheim und zeitlich unmittelbar nah, 1942, einem totalitären, hoch gefährlichen, unendlich gewalttätigen Deutschland. Auch diese Raum- und Zeitbedingungen sind für den »gesellschaftlichen Gehalt« des Traums konstitutiv. Er konnte und kann nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit, in jeglicher Nacht geträumt werden. Er bedurfte der räumlichen Ferne und der zeitlichen Nähe zu einer Wirklichkeit, die schlimmer war, als selbst der grauenvollste Alptraum sie hätte träumen und die Interpretation sie hätte fassen können.
Ich verwende die Metapher vom »Grand Hotel ‚Abgrund’«, wie leicht ersichtlich, in einer anderen Bedeutung als Georg Lukács, der sie in einem Aufsatz mit gleichem Titel 1933 gegen die nicht parteigebundenen linken Intellektuellen denunziatorisch verwendete, Intellektuelle die sich nicht für die Partei der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse hätten entscheiden können; statt dessen hätten sie sich im »Grand Hotel ‚Abgrund’« der bürgerlichen Gesellschaft eingerichtet (vgl. van Reijen & Schmid Noerr 1988, 7f.)
In Adornos »Traumprotokollen« findet sich der gut zwanzig Jahre später in Sils-Maria geträumte Traum. Er scheint auf den ersten Blick nichts mit dem Traum von Los Angeles zu tun zu haben. Wir werden sehen, dass es unbewusste Verbindungen zwischen beiden Träumen gibt.
Sils-Maria, 4. September 1964 „(Kurz vorm Erwachen)Ich hatte einen sechsstündigen Schulaufsatz über Goethe zu schreiben. Sogleich war mir bewusst, dass ich einen Komplex auszusuchen hatte und zwar den zentralen. Deshalb begann ich eine Interpretation von >So lass mich scheinen, bis ich werde<. Meine These lautete: Goethe fügte der Sprache soviel Erde bei, dass ihre Schwerkraft sich senkte und den Gehalt freigab. Mit unsäglicher Mühe suchte ich die These zu entfalten. Schon das Schreiben jedes Wortes bereitete die äußerste Anstrengung und schien eine Ewigkeit zu dauern. Während der Arbeit ergriff mich die Angst, ob ich in der zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt fertig werden könnte, und ob irgendein Lehrer fähig sei, den Aufsatz zu verstehen, so dass ich eine schlechte Note bekäme. Vor lauter Angst wachte ich auf« (Adorno, 2005, 78).
Es war mir von Beginn der Interpretation an nicht klar, warum ich gerade diesen Traum interpretieren wollte. Nach mehrmaligem Lesen dämmerte es mir allmählich. Der Traum versetzte mich in meine eigene Schulzeit zurück, an die ich mich schrittweise konkreter zu erinnern begann. Auch ich hatte in der Unterprima einen Aufsatz über Goethe, genauer über Goethes »Faust« zu schreiben, gewiss nicht sechs Stunden lang, wie dem Träumer Adorno in seinem Traum aufgegeben, sondern drei bis vier Stunden, die mir damals auch völlig ausreichend schienen. Ich fühlte mich in keiner Zeitbedrängnis. Der Lehrer, der das Fach Deutsch in der Klasse unterrichtete, hatte sich sehr große Mühe gegeben, diesen Text von Goethe uns nahe zu bringen und uns besonders deutlich klarzulegen versucht, dass Goethe im »Faust« keiner Idee gefolgt sei. Der »Faust« sei vielmehr ein herausragendes Beispiel für die Eigenständigkeit der Kunst und ihrer Unabhängigkeit von philosophischem Denken und philosophischen Ideen.
Mein Lehrer hielt große Stücke auf mich, ich gehörte zu seinen besten Schülen, und er erwartete gewiss, dass ich seine These in meinem Aufsatz rühmlich bestätigen würde. Ich aber arbeitete mit Lust an einer Gegenthese, mit der ich seine Anerkennung erringen wollte. Ich war begeistert vom Verse des Mephistopheles: »Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zu Grunde geht; Drum besser wär’s, daß nichts entstünde. So ist denn alles, was ihre Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, Mein eigentliches Element.« (Goethe 1996, 39). Ich versuchte aufzuzeigen, dass dies so recht eine Teufelsidee, ja die Idee des Teufels schlechthin sei. Es machte mir kaum Mühe, diese These zu entfalten, und ich war mit meinem Aufsatz vor der Zeit fertig und fest überzeugt, ich werde dafür eine sehr gute Note erhalten. Ich bekam aber eine schlechte Note. Statt des erwarteten »sehr gut« erhielt ich nur ein »befriedigend«. Mein Lehrer war enttäuscht über meine »Uneinsichtigkeit«, wovon mein Aufsatz nur so strotze. Und ich war enttäuscht von seiner »Unfähigkeit«, meinen Aufsatz zu verstehen.
Mit Adorno, den ich aus der Ferne auch als meinen Lehrer ansah, erging es mir ähnlich. Als einer, der in den sechziger Jahren Soziologie, Philosophie und Psychologie studierte, nicht frei von einem historischen Optimismus, erläuterte ich in meinem Referat »Macht und Herrschaft bei Marx« in Adornos soziologischem Hauptseminar mit einiger zustimmender Lust den Marxschen Revolutionsbegriff, wohl wissend, dass Adorno diesem gegenüber sehr skeptisch war. Er stand neben mir auf dem Podium vor einem großen studentischen Auditorium, unterbrach meinen leicht begeisterten Redefluss mit der knappen lakonischen Bemerkung: »Na, die hat ja wohl nicht stattgefunden«, eine Bemerkung, die meinen historischen Optimismus ins Wanken brachte und meine Verneinungslust dem kritischen Gedanken weiter öffnete.
Bevor Adorno mit der Erzählung seines Traumes beginnt, vermerkt er: „(Kurz vorm Erwachen)«. Man hat zunächst den Eindruck, der Traum sei vor dem üblichen morgendlichen Erwachen geträumt und sein Inhalt wahrscheinlich sehr bewusstseinsnah und der ordnenden Kraft des erwachenden Ichs bereits ein Stück weit gefügig. Das Traumprotokoll schließt allerdings mit dem Satz: »Vor lauter Angst wachte ich auf«. Es scheint sich also nicht um das normale Erwachen am Morgen, sondern um eine Art Aufschrecken aus dem Schlaf zu handeln: »vor lauter Angst«. Das Angstgefühl, an dessen Modulierung der Traum arbeitete, muss so groß gewesen sein, dass der Traum trotz »unsäglicher Mühe« den Schlaf nicht länger gewährleisten konnte und der Schläfer mit einigem Entsetzen aufwachen musste.
Im Gegensatz zu meiner Renitenz gegenüber meinem Lehrer in meinem Schulaufsatz im Wachzustand erscheint der Träumer Adorno im Traume sehr gehorsam. Ja, er übertreibt sogar, er macht sich die Aufgabe, einen »Schulaufsatz über Goethe« zu schreiben, besonders schwer. Übereifrig macht er sich an die Arbeit, sucht den »zentralen« »Komplex« »Goethes« aus, überzeugt davon, dass er ihn »auszusuchen« habe, nun aber nicht sicher, ob er mit der Entfaltung seiner »These« »in der zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt fertig werden könnte«, unsicher von sich, ob er dazu »fähig sei«, die Aufgabe überhaupt zu bewältigen. Damit die Verzweiflung an sich selbst den Träumer nicht aus dem Schlaf reißt, greift die »Traumarbeit« zum Mittel der »Verschiebung«. Sie »verschiebt« die Unfähigkeit auf die Lehrer. Den Träumer ergreift nunmehr neben der Angst, mit seinem Aufsatz nicht rechtzeitig fertig zu werden, »die Angst«, »ob irgendein Lehrer fähig sei, den Aufsatz zu verstehen«. Doch diese »Verschiebung« der möglichen eigenen Unfähigkeit des Träumers auf die der Lehrer misslingt. Sogleich packt den Träumer die Angst, »eine schlechte Note« zu bekommen, und er wacht »vor lauter Angst« auf. Die »unsägliche Mühe« der Traumarbeit, dem Schläfer den Schlaf zu erhalten, versagt. Die »Angst« ist überwältigend.
Die »Traumarbeit« des Träumers misslingt. Das Versprechen, das Goethes Vers für den Träumer hat: »So lass mich scheinen, bis ich werde«, erfüllt sich nicht. Ich verweise auf das sehr einfühlsame Nachwort, das Jan Philipp Reemtsma zu Adornos »Traumprotokolle« geschrieben hat. Auch Reemtsma interpretiert den Traum von Sils-Maria. Anders als ich das in meiner Interpretation tun kann, bezieht er das ganze Mignon-Gedicht aus Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« in seine Interpretation mit ein, insbesondere die Schlussverse: »Zwar lebt’ ich ohne Sorg und Mühe, doch fühlt’ ich tiefen Schmerz genung«. Reemtsma bezieht diese Zeilen, die unausgesprochen in Adornos Traum anklingen, auf dessen Kindheitserinnerungen:
»Es stehen Adornos Erinnerungen an ein in sich kaum getrübtes Kindheitsglück neben den Ahnungen des kommenden Bösen und seine ersten Erfahrungen damit, und die Deutschlandbesuche aus dem Londoner Exil haben etwas traumwandlerisch Wiederholendes, als sähe man das Böse an, es könne aber einem doch nichts anhaben« (Reemtsma, Nachwort zu Adorno, 2005, 118).
Auch die Angstfreiheit, die der Träumer Adorno auf dem Wege durch »Bockenheim« zu seiner Kreuzigung auf der »Bockenheimer Warte« in dem von mir interpretierten Traum von Los Angeles verspürt, thematisiert etwas von dem Blick auf das Böse, das einem am Ende doch nichts anhaben könne. Das Unbewusste, so Freud, kennt keine Zeit, keinen Anfang, kein Ende, keinen Tod; es scheint unerschütterlich vom ewigen Leben überzeugt. Im Traum gibt es den »Urlaub« für das »große, ungemein elegante Diner«, dem der Träumer »mit Zuversicht« entgegensieht.
Die »plastische Wortdarstellung«, zu der der Vers »So lass mich scheinen bis ich werde« sich in der Traumarbeit verwandelt, verfehlt seine Wirkung. Der konkretistische Kern, den die Traumarbeit einhüllt: »So lass mich schlafen, bis zu meinem natürlichen Erwachen. So lass mich leben bis zu meinem Erwachen im ewigen Leben«, ist nur die Illusion des Traumes, aus der die Todesangst den Träumer reißt und weckt. Es erschließt sich uns eine erste Sinndimension der im Traum verdichteten »These«: »Goethe fügte der Sprache soviel Erde bei, dass ihre Schwerkraft sich senkte und den Gehalt freigab«. Die Traumarbeit fügte »mit unsäglicher Mühe« dem Traum so viele Gewichte bei, dass seine »Schwerkraft sich senkte und den Gehalt«, die Todesangst, im angstvollen Erwachen »freigab«.
Die Traumarbeit ist in diesem Traum »eine Interpretation« von Goethes Vers »So lass mich scheinen, bis ich werde«. Unsere Interpretationsarbeit ist im Gegenzug zur Traumarbeit nicht eine Verschüttung »der Sprache« mit »Erde«, mit »soviel« Wortsymbolik des Traumes, sondern eine Freilegung des Sinns der Traumsymbolik, der geträumten Wortsymbolik, der »plastischen Wortdarstellungen« im Traum, eine Freilegung des »gesellschaftlichen Gehalts« des Traumes.
Die Entfaltung der »These«, die »unsägliche Mühe« macht und »schon das Schreiben jedes Wortes« »die äußerste Anstrengung« bereitet und »eine Ewigkeit zu dauern« scheint, ist die Traumarbeit als Verkehrung ins Gegenteil. Die viele »Erde«, die »Goethe« der »Sprache« beigibt, soll den »Gehalt« weniger freigeben als zuschütten; sie soll den »Gehalt« begraben, den Schlaf, den Todesschlaf besiegeln. Der kann nun, so wie er ist, eine Ewigkeit ohne Erwachen dauern oder in ein Erwachen im ewigen Leben übergehen. Das letztere ist eher unwahrscheinlich. Aus dem Traume erwacht der Träumer »vor lauter Angst«. Er kehrt zurück in sein normales zeitbegrenztes Menschenleben, das einmal der Tod abschließt.
Der Traum ist eine Verdichtung und der Träumer ein Verdichter. Er verdichtet das Traum-Ich Adorno mit Mignon, die in Goethes verdichtetem Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« das Lied »So lasst mich scheinen, bis ich werde« singt. Mignon ist eine Romangestalt, eine Schöpfung Goethes, und Goethe wird zur Traumgestalt Adornos. Die Verdichtung von Mignon, Goethe und Adorno, ihr Zusammenbringen in Einem ist der »zentrale Komplex« des Traumes, die Traumarbeit, die »Interpretation« von »So lasst mich scheinen, bis ich werde«, die der Träumer in seinem Traum vornimmt. Es könnte für unsere Interpretationsarbeit nicht unerheblich sein, zu wissen, ob die kleine Veränderung im Traumprotokoll: »So lass mich« anstelle von »So lasst mich« im Gedicht eine Änderung ist, die der Traum vorgenommen hat, oder ein Fehler, vielleicht eine Fehlleistung Adornos beim Niederschreiben des Traumes, oder ein Fehler bei der Drucklegung des Buches gewesen ist. Wir können das nicht herausfinden. Zu diesem »Komplex« gehört auch, dass der Traum Adornos, Mignons Gedicht und Goethes Roman in ein Traumgebilde übergehen. So könnten alle Verse des Gedichts in den Traum aufgenommen sein, Goethes Roman der Traum sein und auch der Traum von »Wilhelm Meister« im Roman geträumt worden sein.
Greifen wir nur einen Teil dieser spekulativen Interpretationsarbeit heraus: der Traum sei eine Verdichtung des Gedichts[1]. Wir könnten dann im Traumtext auch die Verse finden: »Vor Kummer altert’ ich zu frühe; Macht mich auf ewig wieder jung!« Schenkt mir das ewige Leben als Ausgleich für die irdische Drangsal. Das ist der Wunsch, den der Traum zum Ausdruck bringt und vergeblich zu befriedigen sucht, denn er vermag den Schlaf des Seeligen nicht zu erhalten, der »vor lauter Angst« aufwachen muss. Er kann nicht das scheinen, bis er geworden ist. Werden »jene himmlischen Gestalten«, an die sich die Bitte, der Appell, der Wunsch des Träumers richten mag, ihn gnädig erhören? Das scheint dem Träumer dann doch nicht glaubhaft, und er muss aus seinem Traum, der Illusion des Glaubens an das Jenseits, in dem »die himmlischen Gestalten« sich um sein Glück sorgen, erwachen. Die »unsägliche Mühe«, die äußerste Anstrengung »beim Schreiben jedes Wortes«, das schier »eine Ewigkeit zu dauern« scheint, kann den »Gehalt«, die Erfüllung des Wunsches, ewig zu sein, nicht freigeben. Der Träumer ist nicht Goethe, der Olympier, noch ist er ein Teil von ihm, noch dieser ein Teil von ihm selbst. Seine Worte, die Texte Adornos, scheinen ihm nicht oder noch nicht die Schwerkraft zu besitzen, den wahren Gehalt der Dinge vollständig erkennbar zu machen. Die Erkenntnis bedarf der »Erlösung«, so muss der Träumer solange das scheinen, bis er es geworden ist.
So lautet auch der Titel der letzten Reflexion »aus dem beschädigten Leben« der Minima Moralia. Einige Zeilen daraus, mit denen ich hier schließen möchte, verraten etwas davon, wie tief die Motive der Träume dieses großen Philosophen mit jenen seines wachen Denkens verbunden waren:
»Zum Ende. – Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an« (Adorno 1951, 480).
Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (1993): Einleitung in die Soziologie. Nachgelesene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 15. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (2005): Traumprotokolle. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Freud, Sigmund (1900/1972): Die Traumdeutung. Studienausgabe Bd. II. Frankfurt/Main: Fischer.
Freud, Sigmund (1927/1974): Die Zukunft einer Illusion. In ders., Studienausgabe Bd. IX. Frankfurt/Main: Fischer.
Freud, Sigmund (1932/1974): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In ders., Studienausgabe Bd. I. Frankfurt/Main: Fischer.
Freud, Sigmund (1939/1974): Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In ders., Studienausgabe Bd. IX. Frankfurt/Main: Fischer.
Goethe, Johann Wolfgang (1962): Wilhelm Meisters Lehrjahre, Zweiter Teil. München: dtv.
Goethe, Johann Wolfgang (1996): Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart: Reclam.
Van Reijen, Willem & Schmid Noerr, Gunzelin (1988): Grand Hotel Abgrund. Hamburg: Junius.
»So lasst mich scheinen, bis ich werde; Zieht mir das weiße Kleid nicht aus! Ich eile von der schönen Erde Hinab in jenes feste Haus.
Dort ruh’ ich eine kleine Stille, Dann öffnet sich der frische Blick, Ich lasse dann die reine Hülle, Den Gürtel und den Kranz zurück.
Und jene himmlischen Gestalten Sie fragen nicht nach Mann und Weib, Und keine Kleider, keine Falten Umgeben den verklärten Leib.
Zwar lebt’ ich ohne Sorg’ und Mühe, Doch fühlt’ ich tiefen Schmerz genung; Vor Kummer altert’ ich zu frühe; Macht mich auf ewig wieder jung! (Goethe, 218).