Editorial

Jacob Belzen, Carmen Dege & Martin Dege

Der Religionspsychologie geht es gut, so kann man wieder sagen. Zumindest findet man zur Zeit unter dem Stichwort Religionspsychologie wieder allerlei wissenschaftliche Aktivität: Forschung, Kongresse, Veröffentlichungen und noch so einiges mehr. Merkwürdig ist nur, dass man in der deutschen Psychologie davon sehr wenig mitbekommt: Deutsche Psychologen scheinen durchweg der Meinung zu sein, dass Religionspsychologie nur am Anfang der Geschichte der Psychologie – bei Gründervätern wie James, Freud oder Wundt – existiert habe und dass sie, wenn überhaupt, heute nur noch an theologischen Fakultäten vorgefunden werden könne. Nicht zuletzt wegen dem erschwerten empirischen Zugang zum Gegenstand Religion, erscheint die Religionsforschung in vieler Augen nach wie vor als ein Teil der Psychologie, der sich eher auf Spekulation und Introspektion verlässt, als auf tatsächlich vorhandene empirische Daten. Das vorliegende Themenheft soll helfen Missverständnisse wie diese auszuräumen.

Seit den Tagen von James, Freud und Wundt hat sich vieles getan in der Psychologie, for better or for worse, darüber kann man lange diskutieren. Religion aber, als Kulturphänomen, ist in der Psychologie in genauso weite Ferne gerückt wie die meisten anderen Kulturphänomene auch. Die Psychologie konzentriert sich meistens auf das Individuum oder zumindest auf bei Individuen feststellbare Phänomene, und so tut es eben auch die Religionspsychologie. Diese Tendenz hat sicherlich ihre guten Aspekte: Die Religionspsychologie hat mittlerweile eine unüberschaubare Anzahl von Daten zu individueller Religiosität vorgelegt, also zu religiösem Denken, Fühlen, Handeln und Erleben. Genauer gesagt bemühen sich Religionspsychologen darum, Phänomene wie Glaube, Zweifel, Spiritualität, Gotteserlebnisse, Reue und Schuldgefühle, Buße und Beichte, aber auch gemeinsames religiöses Handeln mit Hilfe eines psychologischen Ansatzes zu untersuchen und zu begreifen.

Solche Forschung wird durchweg nicht von Theologen betrieben, noch nicht einmal von Religionswissenschaftlern im Allgemeinen. Sie setzt das spezielle Studium der Psychologie, inklusive heutiger Forschungsmethoden, voraus, und kann daher wohl am besten von Psychologen geleistet werden. Mit wenigen Ausnahmen aber gibt es bis heute noch so gut wie keine deutsche Beteiligung. Notgedrungen wird deshalb in diesem Themenheft des Journal für Psychologie auf Beiträge aus anderen Ländern zurückgegriffen. Das Heft hat ausdrücklich als Ziel und Aufgabe, deutschsprachigen Kollegen die heutige Religionspsychologie vorzustellen. Es will vor allem einen Querschnitt durch die aktuelle Forschung liefern, der in der Lage ist, aufzuzeigen, dass aus unterschiedlichsten Lagern der jetzigen Psychologie und unter Einbeziehung dort entwickelter Methoden, Methodologien und Theorien heute wieder Religionspsychologie betrieben wird und werden kann. Dabei ist zu beachten, dass alle Autorinnen und Autoren als Psychologinnen und Psychologen (bzw. Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker) ausgebildet wurden, sich alle als innerhalb der Psychologie forschernd verstehen, und keiner von ihnen an einer theologischen Fakultät tätig ist.

Einleitend zeigt Jacob A. v. Belzen in seinem Beitrag »Über Religionspsychologie: Konditionen und Gründe ihrer Existenz« zunächst welche Verwunderungen und Mißverständnisse der Begriff Religionspsychologie nach wie vor bei vielen Psychologen und Psychologinnen auslöst. Ausgehend von einem Verständnis, das Religionspsychologie primär als reines Anwendungsgebiet der Psychologie begreift, schlägt er mittels einer Erörterung der Geschichte der Religionspsychologie den Bogen zur Frage inwieweit Religionspsychologie zur Kritik und Revision psychologischer Forschung im Allgemeinen dienen kann und damit also auch einen Teil der theoretischen Psychologie darstellt.

Robert A. Emmons geht in seinem Beitrag »Gods and Goals: Spiritual Striving as Purposeful Action« der Frage nach, inwieweit sich Religion als eine spezifische Domäne menschlichen Lebens mit Hilfe des Konzeptes der personal strivings erklären läßt. Er beschäftigt sich also mit der Frage, inwieweit Religion, Religiösität und Spiritualität zum Erreichen persönlicher Ziele beiträgt. Schließlich stellt er einen möglichen empirischen Zugang zur Frage der Religiösität innerhalb seines theoretischen Rahmens vor um einen Erklärungsansatz für das Phänomen der spiritual strivings zu finden.

Innerhalb der Forschung zum Mystizismus existiert eine große Bandbreite an Literatur, die jedoch in weiten Bereichen keinen Bezug aufeinander nimmt. Ralph W. Hood Jr. nimmt sich dieses Problems in seinem Beitrag »Theoretical Fruits from the Empirical Study of Mysticism: A Jamesian Perspective« an. Er plädiert für eine interdisziplinäre Ausrichtung religionspsychologischer Forschung, die sowohl quantitative als auch qualitative Methodik mit einschließt. Als Ankerpunkt für eine Neuausrichtung der Forschung im Bereich des Mystizismus sowie innerhalb der Religionspsychologie schlägt er eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lesarten des von William James formulierten radikalen Empirismus vor.

Stefan Huber macht sich daran, die von Ralph Hood aufgestellten Forderungen einzulösen, indem er sich mit »Kerndimensionen, Zentralität und Inhalt« befasst und »ein interdisziplinäres Modell der Religiosität« vorschlägt. Er möchte mittels der Erweiterung religionspsychologischer Kategorien eine möglichst breite Abbildung individueller religiöser Konstruktionsprozesse sicher stellen. Empirisch setzt sich Stefan Huber mit der Kategorie der Zentraltät von Religion als einer der drei Hauptachsen seines theoretischen Modells auseinander, um sich insbesondere mit der Unterscheidung von hochreligiösen und religiösen Menschen kritisch auseinander zusetzen.

Ulrike Popp-Baier gründet ihren Beitrag »Erfahrung, Identität, Religion. Zur psychologischen Analyse individueller Religiosität« auf eine zunehmende Differenzierung zwischen Religion, Religiösität und Glauben, die sich in den letzten Jahren beobachten lässt. In einem Plädoyer für eine kritische Auseinandersetzung mit quantitativer Forschung innerhalb der Religionspsychologie hebt sie besonders das hermeneutische Erfahrungskonzept als Möglichkeit einer adäquaten Berücksichtigung individueller Religiösität heraus. Um Kohärenzen individueller religiöser Orientierungen zu berücksichtigen schlägt sie die Nutzbarmachung des Identitätskonzeptes vor, um schließlich Religion im individuellen Lebenszusammenhang anhand eines Beispiels zu diskutieren.

Ausgehend von der Signifikanz, die Gott im Leben vieler Menschen einnimmt, befasst sich Ana-María Rizzuto mit « A Neglected Object in Psychology: the Relationship to the Divinity«. In ihrem Beitrag bedient sich die Autorin eines psychoanalytischen Zugangs zur Religiösität. Ausgehend davon, dass die Repräsentation der Eltern sowie anderer emotional signifikanter früher Objekte eine entscheidende Rolle bei der Ausprägung des Glaubens spielt, stellt Ana-María Rizzuto ein Fallbeispiel eines Analysanden vor. Anhand dieses Beispiels erläutert sie, wie Glaube für Libido und Defensivmechanismen sowie als organisierendes Objekt genutzt wird.

Kelly M. Trevino und Kenneth I. Pargament fassen Ihre Überlegungen zu Spiritualität und Psychotherapie unter den Titel »Toward a Theoretical Model of Spirituality for Clinical Practice: An American Perspective«. Dabei liefert die konsequente Trennung der Arbeit von Priestern und klinischen Psychologen bei einem gleichzeitig steigenden Bedürfnis nach Spiritualität den Ausgangspunkt für die Überlegungen der Autoren. Um diesem Problem zu begegnen bieten die Autoren ein Modell an, mit dem Spiritualität als wichtiger Bestandteil psychotherapeutischer Arbeit genutzt werden kann.

In einem Einzelbeitrag behandelt Tatjana Schnell die Frage, ob »Deutsche in der Sinnkrise?« stecken. Sie liefert einen »Einblick in die Sinnforschung.« An Hand einer repräsentativen Stichprobe zeigt die Autorin, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Vielzahl von Bedeutungen zur Sinnerfüllung der Deutschen beiträgt.

Amsterdam und Worcester (MA), im November 2008 Jacob Belzen, Carmen & Martin Dege

Autorenhinweis

Jacob Belzen

Jacob A. v. Belzen ist Kulturpsychologe. An der Universität von Amsterdam hat er einen Lehrstuhl für Religionspsychologie inne. Sein Interesse gilt der kulturpsychologischen, explizit interdisziplinären Erforschung religiöser Phänomene, sowie Geschichte und Grundlagen der psychologischen Wissenschaften im Allgemeinen.

Prof. Dr. Jacob Belzen University of Amsterdam Oude Turfmarkt 147 NL-1012 GC Amsterdam The Netherlands

E-Mail: belzen@hum.uva.nl

Carmen Dege

Carmen Dege ist Diplomandin am Otto-Suhr-Institut sowie am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Theorie, Poststrukturalismus, Religion sowie Naher und Mittlerer Osten. Zur Zeit befasst sie sich mit dem Phänomen der Lüge und ihren Implikationen für Politik, Demokratie und Handlungsfähigkeit.

Carmen Dege Otto-Suhr-Institut Freie Universität Berlin

E-Mail: carmen.dege@fu-berlin.de

Martin Dege

Martin Dege ist Doktorand an der Clark University in Worcester, Massachusetts. Er ist Mitherausgeber des Journal für Psycholgie und Gründungsmitglied der Clark University Radical Psychology Group. In seiner Arbeit fokussiert er sich auf die Geschichte und Philosophie der Psychologie sowie auf die institutionellen Prozesse, die die akademische Psychologie konstituieren. Zur Zeit arbeitet er an einem Forschungsprojekt zum Begriff der Möglichkeit.

Martin Dege Frances L. Hiatt School of Psychology Clark University 950 Main St. Worcester, MA 01610 USA

E-Mail: mdege@clarku.edu