Über Religionspsychologie: Konditionen und Gründe ihrer Existenz.

Jacob A. v. Belzen

Zusammenfassung

Der Artikel geht drei Fragen nach: 1. Was ist Religionspsychologie?, 2. Warum gab es sie irgendwann kaum noch (zumindest in Deutschland)? und 3. Warum sollte es sie, zumindest dann und wann, geben?

Schüsselwörter: Religionspsychologie, internationaler Vergleich, kritische Würdigung, Theoretische Psychologie

Summary

The article deals with three questions: 1. what is psychology of religion, 2. why did it no longer exist (at least no longer in Germany), 3. why should it, at least at some places, exist?

Keywords: psychology of religion, international comparisons, critical appraisal, theoretical psychology

Was ist Religionspsychologie?

Religionspsychologie scheint für die meisten Zeitgenossen nicht gerade eine eindeutige Angelegenheit zu sein. Das Reizwort 'Religionspsychologie' löst ganz unterschiedliche Reaktionen aus: Manche geraten in Begeisterung und wollen nur zu gerne erfahren, warum fast alle Menschen religiös zu sein scheinen, oder warum Religion existiert, wo sie doch ständig zu versagen scheint, falsche Aussagen über die Wirklichkeit macht und trotz der Aufforderung zum Frieden bzw. zur Nächstenliebe eine unheilvolle Geschichte von Gewalt und Perversität aufzeigt. Mancher erhofft sich von der Religionspsychologie einen Beitrag zu einer friedvollen Koexistenz von religiösen Gruppen und Subkulturen, nicht nur auf der Ebene internationaler Politik, sondern auch zunehmend im eigenen Lande. Ganz anders lautet oft die Reaktion aus dem religiösen Lager selbst: Man fragt sich dort, was die Psychologie überhaupt über Religion und über Gott zu sagen haben könnte. Man verdächtigt sie des Atheismus und des Reduktionismus. Man hält Psychologie sogar für einen der wichtigsten Faktoren, in der spektakulären Säkularisierung und Entkirchlichung, die Nord-West Europa in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat. Mögen auch beide Reaktionen zum Teil auf Missverständnissen beruhen (siehe später), so vernimmt man doch die merkwürdigste Reaktion aus dem Lager der Psychologen selbst, nämlich erstauntes Fragen, ob es denn überhaupt so etwas wie Religionspsychologie gebe? Da in diesem Beitrag ganz unterschiedliche Themen wenigstens angerissen werden sollten, werde ich die drei angedeuteten Reaktionen nur kurz kommentieren.

Wenn wir die Reaktion mancher Psychologen zur Religionspsychologie als echte Frage verstehen dürfen (und nicht etwa als allzu arrogante Verneinung der Existenzberechtigung der Religionspsychologie), müssten wir eigentlich bereits die Antwort auf die vorausgehnde/davorliegende Frage kennen: Was ist denn das, Religionspsychologie? Notgedrungen muss hier auf eine ausführliche Darstellung der nach wie vor stattfindenden Grundlagendiskussion innerhalb der Religionspsychologie verzichtet werden (cf. Vergote, 1993, 1995; v. Belzen, 2007). Je nach philosophischer und psychologischer Orientierung fallen die Antworten auf die Frage recht unterschiedlich aus. Religionspsychologie erscheint so bloß als eine der vielen möglichen Beziehungen zwischen Religion und Psychologie. Historisch wie auch systematisch könnten sehr unterschiedliche solcher Beziehungen aufgezeichnet werden: Die Psychologie hat ihre Wurzeln unter anderem in der Religion, und dies nicht nur in dem Sinne, dass die Psychologie die Nachfolgerin des Diskurses über die 'Seele' aus früheren philosophischen, medizinischen und religiösen Kontexten ist, denn sie hat auch viele gesellschaftliche Funktionen übernommen, die noch bis vor kurzem unter anderem von der Religion wahrgenommen wurden. (Um nur ein bekanntes, wenn auch nicht unumstrittenes, Beispiel zu erwähnen: Wie oft hört man nicht die von Foucault inspirierte These, dass die Psychotherapie an die Stelle der Beichte getreten sei?) Religion hat aber auch inhaltlich ihre Spuren in der Geschichte der Psychologie hinterlassen. Es gibt eine ganze Reihe von namhaften Psychologen, die neue Formen von Psychologie entwickelt haben, weil die Bestehenden ihrer Meinung nach unzulänglich waren um wichtige Bereiche menschlichen Funktionierens wie unter anderem religiöses Handeln und Erleben zu konzeptualisieren. (Als Beispiele verweise ich nur auf Allport, Maslow, Rogers und Jung.) Umgekehrt ist es so, dass die meisten Formen von Religion auch gewisse Anthropologien und teilweise detaillierte Psychologien beinhalten. Die buddhistischen Formen könnten hier als gutes Beispiel angeführt werden. Auch wird von manchen Religionen im Umgang mit ihren Angehörigen die Psychologie zu Rate gezogen: So gibt es im sogenannten christlichen Westen eine weitverzweigte 'pastorale Psychologie',also ein Einbeziehen psychologischer Begriffe und Techniken durch Seelsorger und andere kirchliche Funktionäre (Baumgartner, 1990; Blattner et al., 1992, 1993; Klessmann, 2004). All diese und noch andere Beziehungsformen zwischen Religion und Psychologie gelten aber nicht als Religionspsychologie. – Was ist sie dann die Religionspsychologie?

Allzu simpel gesagt – ich komme zum Schluss noch einmal auf die Frage zurück – ist Religionspsychologie der Versuch unterschiedlichste Formen von Religion mit den Mitteln der Psychologie zu erforschen bzw. zu reflektieren. Religionspsychologie ist also der Versuch das theoretische und methodische Instrumentarium unterschiedlicher Psychologien auf religiöse Phänomene anzuwenden. (Wundt sprach seinerzeit, wahrscheinlich korrekter, vom Ausdehnen der Psychologie auf die Religion statt vom Anwenden darauf, v. Belzen, 2005.) Im Prinzip gibt es damit so viele Formen von Religionspsychologie wie es Ansätze innerhalb der Psychologie im Allgemeinen gibt (siehe Wulff [1997] für eine Übersicht der Ansätze unterschiedlicher Psychologien zur Religion), wenn es auch auf der Hand liegt, dass gewisse Formen von Psychologie in der Erforschung religiöser Phänomene leichter fruchtbar gemacht werden können als andere. Religionspsychologie folgt dabei der Geschichte der Psychologie auf dem Fuß: So bald sich eine neue Richtung in der Psychologie etabliert und auf die Religion angewendet wird, gibt es auch eine neue Richtung in der Religionspsychologie. So sind z.B. zur Zeit neurokognitive und evolutionistische Ansätze innerhalb der Religionspsychologie deutlich auf dem Vormarsch, sozusagen als Begleiterscheinung zum Umsichgreifen solcher Ansätze in der Psychologie im Allgemeinen (Alper, 2001; Atran, 2002; Azari et al., 2005; Boyer, 2001; Bulkeley, 2005; Kirkpatrick, 2005; Newberg & d’Aquili, 2001; Persinger, 1987). Also, kurz und wenn auch noch zu simpel gesagt: Religionspsychologie ist ein Anwendungsgebiet der Psychologie wie auch die Sportpsychologie, die Verkehrpsychologieoder die Medienpsychologie und viele weitere praktische Psychologien es sind (vgl. Straub, Kochinka & Werbik, 2000). Sie ist aber nicht nur ein Anwendungsgebiet, wie ich zum Schluss noch ausführen werde.

Noch einmal: Die Religionspsychologie folgt der Psychologie im Allgemeinen. Wenn sich die Psychologie im Laufe ihrer Geschichte immer mehr auf individuelles Verhalten und Erleben beschränkt(Danziger, 1990, 1997), wird auch in der Religionspsychologie die Religiosität (als individuell-subjektives Korrelat einer gewissen Form von Religion) der wichtigste Forschungsgegenstand, und verliert die Religionspsychologie in gleicher Weise sowohl die Religion als kulturelles Phänomen als den kulturellen Anteil individuellen Verhaltens und Erlebens weitgehend aus dem Auge (v. Belzen, 2007). Seit in der Psychologie im Allgemeinen ein Bereich wie etwa die klinische Psychologie immer größeren Platz einnimmt, geschieht dies mutatis mutandis in der Religionspsychologie genauso. Die Psychologie geht voran, die Religionspsychologie folgt. Obgleich, wie gesagt, religiöse Überlegungen oder Anliegen manchmal zum Entstehen neuer Richtungen in der Psychologie beigetragen haben, hat die Religionspsychologie als solche doch nie eine Erneuerung initiiert. Und weil das Thema in der Vergangenheit immer wieder zu Missverständnissen geführt hat, will ich an dieser Stelle auch noch, sei es nur nebenbei, bemerkt haben, dass die Religionspsychologie Religion als empirisches Phänomen (oder meistens nur noch Religiosität) zum Gegenstand hat. Ihr Gegenstand ist nicht das Objekt auf das sich irgendeine Religion bezieht. Ihr Gegenstand ist auch nicht die wie auch immer geartete Wahrheit der jeweiligen Religion. Es klingt so einfach, aber sorgt bis auf den heutigen Tag für Verwirrung: Religionspsychologie handelt nicht von Gott oder von Göttern, sie handelt von Menschen die an Gott glauben oder verzweifeln, von Menschen, die Götter erfahren oder verfluchen. Sie handelt nicht von der Theologie (wohl aber, wenn auch selten, von Theologen), sie handelt nicht von Dogmen, wohl aber von Menschen, die diese formulieren oder auch ablehnen. Religionspsychologie ist dabei selbst religiös neutral oder wenigstens um religiöse Neutralität bemüht. Die eingangs geschilderte zweite Reaktion, die der Ablehnung aus Furcht, ist also durchweg fehl am Platz: Sie fürchtet etwas, was die Religionspsychologie nicht tut, nicht kann, nicht beabsichtigt und was ihr auch nicht zusteht.

Religionspsychologie als Teilgebiet der Psychologie

Religionspsychologie, verstanden in diesem Sinne, ist einer der ältesten Zweige der Psychologie im Allgemeinen. Zur Religionspsychologie haben nahezu ohne Ausnahme alle Gründungsväter der Psychologie Allgemeinen beigetragen, ob man sich nun das Werk von Wundt, Flournoy, James, Hall, Freud, Münsterberg, Janet, Bühler, Stern oder so vielen anderen anschaut. Zur Religionspsychologie ist überdies von unzähligen später führenden Köpfen in der Psychologie beigetragen worden: Man schaue sich Allport, Fromm, Maslow, Jung, Skinner, Külpe, Thouless usw. an (cf. Wulff, 1997). Diese Beobachtung liegt auch auf der Hand: Wie schon die eingangs zu erst angeführte Reaktion zeigt, ist Religion ein immens wichtiger Bereich für sehr viele Menschen, manche halten sie sogar für von letztgültige Signifikanz. Weit mehr Menschen sind involviert in Religion als in Sport; wenn es also eine Sportpsychologie gibt, liegt die Existenz einer Religionspsychologie ebenfalls auf der Hand. Und nochmals, dabei geht es nicht darum, ob man den Sport bzw. die Religion als Psychologe mag oder nicht; um Sportpsychologe zu sein, muss man nicht unbedingt Sportler sein oder gewesen sein, genauso braucht man nicht persönlich religiös (gewesen) zu sein, um vernünftige Religionspsychologie betreiben zu können.

Wenn dies sich nun alles so verhält, und wenn die Religionspsychologie also ein Teil der Psychologie (oder vielmehr ein möglicher Teil aller Psychologien) ist, liegen zwei Fragen auf der Hand, die man als Ausarbeitung des Staunens unserer eingangs vorgeführten Kollegen betrachten kann: 1. Wie ist es möglich, dass manche Psychologen wirklich nie von der Religionspsychologie gehört haben?, 2. Wo findet man denn die Religionspsychologie? Wie immer, sagt die Frage eine Menge über den aus, der sie stellt, sowie über den Kontext des Fragenden. Das Erstaunen über die Existenz der Religionspsychologie wird wohl eher von einer europäischen als von einer US-amerikanischen Psychologin wahrgenommen werden. In den USA ist die Religionspsychologie bei Psychologen keineswegs so unbekannt wie in Europa, immerhin gibt es innerhalb der American Psychological Association schon seit Jahrzehnten eine im Umfang gar nicht geringe Division für Religionspsychologie (ihr gehören etwa 2.600 Psychologen an). Dass die Religionspsychologie in Amerika jüngst wieder Aufwind bekam, belegt nicht nur die Flut an einschlägigen Veröffentlichungen, sondern vor allem auch die Tatsache, dass es eben diese APA ist, die diesen Trend mit einer Reihe eigener Bücher dokumentiert oder gar verstärkt (Miller, 1999; Miller & Delaney, 2005; Richards & Bergin, 1997; Richards & Bergin, 2000; Richards & Bergin, 2004; Shafranske, 1996; Sperry & Shafranske, 2005). Die Religionspsychologie in den USA befindet sich damit wohl in einer Position, wie sie in vielen europäischen Ländern nahezu unvorstellbar wäre: Eine Arbeitsgruppe eigens für Religionspsychologie. Man stelle sich etwa vor, z.B. die Deutsche Gesellschaft für Psychologie würde plötzlich Sammelbände zur Religionspsychologie herausgeben!

Diese hier nur kurz umrissene Situation sagt gleichwohl über die USA wie über die verschiedenen Länder Europas einiges aus… Die Religionspsychologie steht in den USA in einem völlig anderen Kontext als in Europa. Ohne uns jetzt auch nur annähernd in soziologische Darstellungen begeben zu können, sollte wahrscheinlich zunächst daran erinnert werden, dass die USA in vielen Hinsichten zu den religiösesten westlichen Ländern gehört: Der Einfluss der Kirchen ist kolossal, auch in staatlichen Angelegenheiten. Natürlich erklärt sich dies aus einer bis vor kurzem gründlich anderen gesellschaftlichen Ordnung als in vielen Ländern Europas – dies hier im Detail auszuführen ginge wohl zu weit; es dürfte wohl auch bekannt sein. Zudem würden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass zwischen den einzelnen Ländern Europas auch erhebliche Unterschiede bestanden und bestehen; wir müssten dauernd differenzieren, Aussagen wenigstens teilweise zurücknehmen und somit eine äußerst ermüdende Analyse verfolgen. Es dürfte vernünftiger sein, uns ein oder höchstens ein paar ausgesuchte Beispiele aus Europa anzuschauen. Da man vermuten darf, dass die Lage in der BRD den Leser vornehmlich interessieret, werde ich, obgleich ein relativer Außenseiter, versuchen sie mit ein paar Worte zu skizzieren. Dabei dürfte es instruktiv sein, einen Vergleich mit einem Nachbarland anzustellen, und es wird nicht erstaunen, wenn ich hier besonders die Lage in den Niederlanden heranziehe.

Einen Vergleich mit den Niederlanden zu machen liegt aber nicht nur aus dem zufälligen Grund, dass ich deren Lage am besten kenne, auf der Hand. Die BRD hat eine recht große Ähnlichkeit mit den Niederlanden – es sei daran erinnert, dass Bismarck meinte, die Niederlande würden sich von selbst seinem vereinten deutschen Kaiserreich anschließen. Sicherlich existiert zwischen den beiden Ländern so mehr Ähnlichkeit als mit Bulgarien, Portugal oder Island. Vor allem aber möchte ich auf die merkwürdige Tatsache rekurrieren, dass es in diesem kleinen Nachbarland die höchste Zahl an Lehrstühlen und anderen akademischen Stellen für Religionspsychologie in Europa gibt. (Zugegeben sei aber, dass das Erstaunen über diese Tatsache bei niederländischen Psychologinnen und Psychologen sicherlich nicht weniger groß ist als bei deutschen Kollegen, insofern Niederländer denn überhaupt darüber in Kenntnis gesetzt werden wollen.) Da der Platz fehlt, den Leser induktiv zu Schlussfolgerungen hinzuführen, teile ich eine Beobachtung aus dem nun folgenden historischen Ausflug bereits vorweg mit: Der Grund der vielen Stellen für Religionspsychologie in den Niederlanden im Gegensatz zu keiner einzigen in der BRD liegt nicht im unterschiedlichen Charakter der institutionalisierten Psychologie in beiden Ländern begründet. Wie die unterschiedliche Lage der Religionspsychologie in den USA und in Europa nicht aus einem anders gearteten Verständnis von Psychologie, sondern aus dem gesellschaftlichen Kontext erklärt werden muss, bedarf auch der Unterschied zwischen den Niederlanden und der BRD einer kontextuellen Erklärung.

Zur Geschichte der Religionspsychologie

Wie bereits erwähnt, haben sich die meisten Autoren aus den Anfangsjahren der Psychologie als selbständiger Disziplin auch mit der Religion auseinandergesetzt, auch oder vielleicht sogar gerade in den deutschsprachigen Ländern (v. Belzen, 1996). Da die Psychologie sich in den Niederlanden erst viel später etablieren konnte als in Deutschland, ist auch die Religionspsychologie dort erst später aktiv betrieben worden. Wenn man sich die Geschichte anschaut – was hier nicht getan werden kann – kommt man leicht zur Feststellung, dass sich die Entwicklung der Religionspsychologie in Deutschland und in den Niederlanden fast umgekehrt proportional verhält: Während die mannigfaltigen Entwicklungen und Initiativen auf diesem Gebiet in Deutschland so gut wie zum Erliegen gekommen sind, stößt man in den Niederlanden auf die ziemlich erstaunliche Tatsache, dass an einem psychologischen Institut ein Lehrstuhl eigens für Religionspsychologie eingerichtet wird. Auf diesen Lehrstuhl an der Katholischen Universität Nijmegen wurde 1957 der Psychologe Han Fortmann berufen, der wahrscheinlich durch seine vielen populärwissenschaftlichen Aufsätze mehr Einfluss gewann als durch seine wissenschaftliche Arbeit. Aber die Zeit war ihm günstig zugeneigt. Sehr involviert in der akademischen Selbverwaltung, plädierte er – selbst Priester – für eine neue Strukturierung des theologischen Studiums und für einen neuen Studiengang 'pastorale Theologie'. Die Theologie dürfte sich seiner Meinung nach nicht länger nur herkömmlicher Mittel wie des Studiums der christlichen bzw. katholischen Tradition bedienen, sondern sollte zeitgemäß und empirisch orientiert sein. Aus diesem Grund forderte er auch eine starke Präsenz von Fächern wie Soziologie und Psychologie. 1964 begann der neue Studiengang, der bald so gut wie allen Reorganisationen von Studiengängen für katholische Theologie im Lande Modell stand. Da indes Fächer wie Psychologie und Soziologie in den Niederlanden eine enorme gesellschaftliche Popularität gewannen und damit ein spektakuläres zahlenmäßiges Wachstum verzeichneten, wollte man auch in der Theologie 'echte' Soziologinnen und Psychologinnen für die Lehre gewinnen. Zwar waren die tatsächlich als Psychologen Angestellten fast ohne Ausnahme zunächst als Theologe oder zumindest als Priester ausgebildet, doch war das Wichtige für das Wachstum der Psychologie doch zunächst, dass sie als Psychologen angestellt wurden: Sie wurden auf für Psychologie ausgeschriebene Stellen ernannt, auf die in der Folge dann auch Psychologen ohne Theologiestudium berufen wurden.

Um nicht allzu viele historische Details mitteilen zu müssen, kürze ich hier ab: Viele theologische Fakultäten profitierten vom zahlenmäßigen Wachstum der Universitäten und wuchsen mit, manche der Stellen für Psychologie wurden dabei auf Lehrstuhlniveau besetzt; nach einigen Jahren wollten andere katholische Fakultäten für Theologie nicht zurückbleiben; auch sie gingen dazu über, Psychologen zu berufen, zum Teil auf Lehrstühle. Nach einigen Jahrzehnten meinte die andere private, gleichfalls konfessionelle (aber in diesem Fall kalvinistische) Universität der Niederlande, ebenfalls einen Lehrstuhl in der Psychologie für Religionspsychologie einrichten zu müssen. Die hier sehr unzulänglich dargestellte Entwicklung hat dazu geführt, dass die Religionspsychologie ein Jahrhundert nach ihrer Einführung in den Niederlanden über mehrere Lehrstühle und etliche sonstige Stellen im akademischen Mittelbau verfügt. Eine beachtliche Bilanz, die aber den meisten Psychologen in den Niederlanden nicht bekannt ist.

Gründe für das Fehlen von Wachstum in Deutschland

Warum geschah derlei nicht in Deutschland? Man kann die Frage nur provisorisch beantworten: Ist es schon schwierig genug, zu erklären, warum etwas geschah, ist es oft fast unmöglich ausreichend zu erklären, warum etwas nicht geschah. Dennoch möchte ich fünf Gründe vortragen. Zunächst werde ich vier allgemein gehaltene Beobachtungen erläutern, Beobachtungen, die wahrscheinlich für die Psychologie tout court gelten. In einem weiteren Schritt will ich dann vergleichend schauen, ob und in wie weit diese Beobachtungen in einem bestimmten Kontext zum Verständnis der jeweiligen Lage beitragen können. Zum Schluss möchte ich dann noch einen fünften Punkt betrachten der für das fehlende Wachstum der Religionspsychologie in Deutschland mitverantwortlich sein könnte, ein Punkt der uns wohl in eine kritische Reflexion der Psychologie selbst führen wird. Es ist der Psychologie im Laufe ihrer Geschichte immer wichtiger geworden, sich als selbständige Disziplin zu etablieren, als eine Wissenschaft die erwachsen geworden ist und sich aus ihren Anfängen und Vorgeschichte befreit hat zu sein. Psychologen setzen sich gerne von der Philosophie und der philosophischen Psychologie ab, sie präsentieren sich gerne als harte Empiriker, die am liebsten quantitativ und experimentell vorgehen. Das mag eine etwas karikierende Darstellung sein, aber liegt jeder Karikatur dennoch eine Wirklichkeit zugrunde. Auf jeden Fall ist es verständlich, dass die meisten Psychologen die sich von der zur Vorgeschichte der Disziplin gehörenden Philosophie abgrenzen möchten, die Distanz zur Theologie noch stärker wahren wollen und nicht einmal mehr an ihre Vorgeschichte in dieser Fakultät erinnert werden wollen. Religion oder Religiosität als Forschungsgegenstand liegen bei einer solchen Einstellung nicht auf der Hand. Einher gegangen damit ist eine immer stärker werdende Akzentuierung der naturwissenschaftlichen Aspekte der Psychologie. Psychologen gehen gerne eine Zusammenarbeit mit Biologen, Physiologen, Neurologen oder Mathematikern ein, die nicht weniger auf der Hand liegende Zusammenarbeit mit Human- und Sozialwissenschaftlern wie Soziologen, Anthropologen oder Historikern ist kaum noch aufzufinden. Religion, 'von Haus aus', wie Wundt meinte, ein kulturelles Phänomen, rückt damit in weite Ferne. Ob nun als Folge oder Ursache, eine wiederholt auch in empirischen Untersuchungen festgehaltene Tatsache ist, dass Psychologen sich zu der Gruppe unter den Akademikern entwickelt haben, die am wenigsten religiös ist (Ragan et al., 1980; Bergin & Jensen, 1990). In einem solchen Klima kommt kaum noch jemand auf den Gedanken Religiosität untersuchen zu wollen und damit vielleicht als religiös zu gelten. Religionspsychologie ist, wenn auch nicht nur, so doch zu einem wichtigen Teil, eine Anwendung der Psychologie im Allgemeinen. Man kann sehr wohl Psychologie, sogar sehr unterschiedliche Psychologien, inklusive ihrer Anwendungen, in vielen Bereichen, betreiben ohne als Institut über einen Religionspsychologen verfügen zu müssen. Die Lage in der BRD beweist es. (Das heißt selbstverständlich nicht, dass an der Lage in den Niederlanden nichts auszusetzen wäre. Dass es zum Beispiel keinen Lehrstuhl für Kulturpsychologie gibt und dass auch in der BRD kulturwissenschaftlich orientierte oder allgemeiner hermeneutisch informierte Ansätze immer weniger gefunden werden, hat eine Einseitigkeit zur Folge, die der Psychologie auf Dauer nur schaden kann.) Religionspsychologie ist kein 'muss'.

Diese vier Punkte dürften für das Fehlen von Forschung und Lehre zur Religion an den meisten Instituten für Psychologie verantwortlich sein. Sie gelten auf jeden Fall für alle drei Länder, auf die ich bisher kurz eingegangen bin, inklusive den USA. Denn auch wenn die Religionspsychologie in den USA stark vertreten ist, sollte man bedenken, dass es dort keinen einzigen Lehrstuhl für Religionspsychologie gibt. Die bekannten Religionspsychologen aus den USA sind ohne Ausnahme Professoren für irgendeine andere Disziplin innerhalb der Psychologie, die sich aber, aus welchem Grunde auch immer, dafür entschieden haben über Religiosität zu forschen und zu veröffentlichen. (Dies führt daher auch in den USA zu erheblichen Einseitigkeiten, da die meisten Kollegen eben nur noch ihr Spezialgebiet innerhalb der Psychologie bzw. innerhalb der Religionspsychologie beherrschen. Man vergleiche z.B. wie einseitig die 'Handbücher' von Spilka et al. [2003] und Paloutzian & Park [2005] aufgebaut sind (ein weit ausgreifendes Werk wie das von Wulff [1997] ist eine Ausnahme in den USA). Auch wenn die USA im Vergleich zu Europa eine große Zahl an Religionspsychologen vorweisen kann, ist die Religionspsychologie an den meisten psychologischen Instituten nicht vertreten. Dass es dennoch soviel Religionspsychologie dort gibt, liegt, neben der großen Zahl an Psychologen überhaupt, wie schon angedeutet, am sehr religiösen Charakter der amerikanischen Gesellschaft, ist also ausschließlich kontextuell zu erklären.

Die vier angeführten Punkte dürften auch für die Niederlande und Deutschland einleuchten. Zum dritten genannten Punkt sollte ich vielleicht noch hinzufügen, dass auch für die Niederlande in einigen empirischen Forschungen festgehalten ist, wie unreligiös Psychologen als Berufsgruppe sind oder auch wie unbehaglich sie sich fühlen beim Thema Religion in Forschung oder praktischer Tätigkeit (Kerssemakers, 1989; cf. auch Fiselier, 1986; Pieper & van Uden, 1998). Für Deutschland sind mir zwar keine solche Forschungsergebnisse bekannt, aber Gespräche mit deutschen Kollegen bestätigen den Eindruck, dass es sich hier nicht viel anders verhält. Überdies hat der Psychologe Buggle vor einigen Jahren ebenfalls 'persönlich-biographische Gründe der potentiellen Forscher' für das deutsche Defizit in der Religionspsychologie verantwortlich gemacht (Buggle, 1991, S. 12).

Die Lage in den Niederlanden ist, mit anderen Worten, die Ausnahme, die die Regel bestätigt: Es gab eine kurze Zeit Lehrstühle für Religionspsychologie an zwei psychologischen Instituten, aber eben an privaten religiösen Universitäten, die dort zum Teil dazu dienten den 'besonderen' Charakter der jeweiligen Universität zu etablieren und legitimieren, und die von den Psychologen in den betreffenden Instituten selbst, sobald sie die Chance dazu hatten, eliminiert wurden. Die allerdings insgesamt in vielen Hinsichten beachtliche Institutionalisierung der Religionspsychologie in den Niederlanden muss aus kontextuellen Faktoren heraus erklärt werden, von denen der eine wahrscheinlich gleichermaßen für die BRD zutrifft, aber ohne einen anderen für die Religionspsychologie nicht unbedingt etwas einbringt. Der erste Faktor ist das stark wachsende gesellschaftliche Prestige der Psychologie und damit einhergehend das Eindringen von Psychologen in vielerlei Domänen, von Pädagogik über Gesundheitsfürsorge bis zum Militär, usw. Der zweite Faktor ist, dass die meisten theologischen Fakultäten in den Niederlanden seit den sechziger Jahren zu der Auffassung gelangt sind, dass sie ohne die Psychologie nicht mehr auskommen, wollten sie ihren Studenten doch psychologisches Wissen und Können mit auf den Weg geben und mussten daher Psychologen einstellen. Diesen zweiten Faktor gibt es in dieser Form nicht in der Bundesrepublik. Soweit ich als Ausländer die Lage überhaupt einschätzen kann, gibt es hier wenigstens zwei große Unterschiede: 1. alte Vorurteile gegen die Religionspsychologie (z.B. von Seiten der nach dem Zweiten Weltkrieg recht dominant geworden 'dialektischen Theologie'), und 2. die in großen Strecken recht traditionelle Anstellungspolitik deutscher Universitäten. Besonders den zweiten Punkt sollte ich vielleicht etwas näher erläutern.

In der BRD scheinen theologische Fakultäten nach wie vor hauptsächlich auf die Ausbildung zukünftiger Pfarrer ausgerichtet zu sein. Traditionell war dies zwar auch in den Niederlanden oft der Fall, aber im Prinzip sind die theologischen Fakultäten an den religiös neutralen Reichsuniversitäten religionswissenschaftlich ausgerichtet, und das bereits seit 1879. Das hatte zur Folge, dass an den theologischen Fakultäten der Reichsuniversitäten zwei Ausbildungen angeboten wurden: eine 'staatliche', im Prinzip religiös-neutrale religionswissenschaftliche Ausbildung und eine 'kirchliche', auf das spätere Pastorenamt ausgerichtete Ausbildung, versehen mit Professoren, die von der Kirche angestellt wurden. (Die Professoren auf der 'Staatsseite' einer theologischen Fakultät wurden vom Kultusminister, ohne Rücksprache mit den Kirchen, berufen; auf der 'kirchlichen' Seite wurden sie auf Vorschlag der Kirchen ernannt.) Um so weniger sich nun die niederländischen theologischen Fakultäten infolge der Säkularisierung, Entkirchlichung und vor allem abnehmender Studierendenzahlen als Pastorenausbildung verstehen konnten, um so mehr fingen sie an, auf ihr religionswissenschaftliches Profil zu pochen. Manche Stellen für pastorale Psychologie (einen Zweig der pastoralen Theologie) wurden daher umbenannt in Stellen für Religionspsychologie, einen nicht auf kirchliches Interesse ausgerichteten Zweig der Psychologie. Die Psychologie, die zum Teil an deutschen theologischen Fakultäten gelehrt wird, ist dagegen durchweg pastorale Psychologie, eine Psychologie, betrieben von pastoralen Theologen, gelehrt innerhalb der pastoralen Theologie. (Und diese pastorale Psychologie ist in Deutschland, eben auch wegen der stattlichen Anzahl der Ausbildungen in der Theologie, zu einem florierenden Unternehmen angewachsen: Es gibt heute eine Deutsche Gesellschaft für Pastorale Psychologie mit rund 700 Mitgliedern.) Auch wenn mancher sogenannter pastoraler Psychologe eine zweite Ausbildung neben der theologischen absolviert hat (meistens als Psychoanalytiker, recht selten als Psychologe), so bleibt doch die Ausrichtung und die Anstellung die des Theologen. Darüber hinaus kommt es in der BRD eigentlich nicht vor, dass eine theologische Fakultät einen Nicht-Theologen auf einen Lehrstuhl beruft. In den Niederlanden sind im Gegensatz dazu eine Reihe von Nicht-Theologen auf Lehrstühle nicht nur für Psychologie, sondern auch für Geschichte, Anthropologie, Soziologie oder sogar Bibelwissenschaft berufen worden. Und dies hängt wiederum zusammen mit der etwas traditionell gehaltenen Umschreibung vieler Lehrstühle und sonstiger Stellen an deutschen theologischen Fakultäten: Die Umschreibungen sind oft (und akademisch korrekt!) sehr breit. Ist eine Person einmal auf einen Lehrstuhl berufen worden, genießt sie den Beamtenstatus und die Freiheit in Forschung und Lehre (was in den Niederlanden nicht gegeben ist), kann also quasi machen was sie will. Manche deutsche Theologen haben sich daher auch schon mal auf Religionspsychologie eingelassen (Heimbrock, 1977; Henning & Nestler; 2000; Theißen, 1983, 2007), wenn es auch niemanden gegeben hat, der sie zu seinem Hauptanliegen gemacht hat. Der springende Punkt ist aber: In Deutschland bleibt es dem zufälligen Interesse eines einzelnen überlassen, ob er oder sie etwas zur Religionspsychologie beiträgt, oder nicht. Wird der oder die Betreffende emeritiert, kann der Nachfolger eine ganz andere Richtung einschlagen; Kontinuität ist nicht gewährleistet. Das gilt genauso für die Lage an den deutschen psychologischen Instituten, wo natürlich auch schon mal, wenn auch sporadisch, etwas zur Religionspsychologie veröffentlicht wird (Moosbrugger et al., 1996; Zwingmann & Moosbrugger, 2004).

Was vermag die (Religions)psychologie?

Selbstkritisch, oder mindestens meiner eigenen Subdisziplin gegenüber kritisch, möchte ich abschließend noch auf einen fünften Punkt zur Erklärung des Fehlens von Infrastruktur für die Religionspsychologie in Deutschland eingeben. Die vorher ausgeführte Darstellung sollte nämlich keineswegs nur als kritisch verstanden werden; es ist eher so, dass ich sie zum Anlass der Kritik an der Religionspsychologie selbst – und damit aber an der Psychologie im Allgemeinen – nehmen möchte. Denn offenbar, so könnte man ja nach den vorherigen Ausführungen schließen, hat die Religionspsychologie die deutschen theologischen Fakultäten nicht überzeugen können ihr einen Lehrstuhl einzurichten. Offenbar ist man dort nicht sehr beeindruckt von dem, was die Religionspsychologie vorzuzeigen vermag (und als bezeichnend dafür darf angesehen werden, dass deutsche Theologen, wenn sie sich schon für Psychologie interessieren, eher eine psychoanalytische Ausbildung absolvieren als ein Studium der Psychologie.) – Also: Was hat die Religionspsychologie denn dann zu bieten?

Dies ist wohl eine Frage, an der der ganzen Psychologie gelegen sein sollte. Religion ist, ob man sie nun mag oder nicht, ein eminent wichtiges Element menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Wir erleben in den Medien zur Zeit fast täglich Nachrichten über religiöse Konflikte, oder zumindest über religiös artikulierte oder legitimierte Konflikte. Das Nichternstnehmen von Religion auf der Ebene der Gesellschaft wie auf jener des Individuums ist ein Versagen in der Größenordnung des Augen Verschließens für die ökologische Problematik. Mittlerweile gibt es mehrere Versuche, das Defizit aufzuarbeiten, aber sie kommen durchweg nur mit Verzug zur Entwicklung. Seitdem unter jüngeren Psychologen die Antipathie gegenüber Religion wieder abnimmt – vielleicht auch weil sie die Nachteile einer religiösen Erziehung nicht erleiden mussten? noch einmal: Es geht mir hier nicht darum auch nur irgendeine Religion zu verteidigen! – und gesagt werden darf, dass Religion positiv mit Gesundheit korrelieren kann, prophylaktisch günstig sein kann, usw., gibt es eine Flut von Untersuchungen über Religion und Gesundheit – so viele, dass es mittlerweile schon wieder Metastudien und sogar Handbücher dazu gibt (Cashwell & Young, 2005; Frame, 2003; Gilbert, 2002; Griffith & Griffith, 2002; Koenig, 2004; Pieper & van Uden, 2005; Young-Eisendraht & Muramoto, 2002). Aber zu einer eigentlich auf der Hand liegenden Thematik wie religiöser Gewalt, hat die Psychologie noch fast nichts zu sagen, und so ist es nur äußerst dürftig, was die Religionspsychologie bisher zur Analyse der Ereignisse z.B. des 11. Septembers 2001 beizutragen wusste (Bongar et al., 2007; Bromley & Melton, 2002; Fields, 2004; Jones, 2008). Hätte die Psychologie die Religion, die Religionen, die Vielfalt religiösen Erlebens, wie William James sie noch nannte, doch nur ernst genommen…

Wie bereits gesagt, es muss nicht an jedem Institut für Psychologie Forschung und Lehre zur Religion betrieben werden. Aber dass sie überhaupt nicht vorgefunden werden, deutet auf einen blinden Fleck auf Seiten der Psychologie als Institution hin: Wie schon Allport und Farberow 1963 ausführten, scheint Religion zu einem Tabu in der Psychologie geworden zu sein (Farberow, 1963). Wenn aber menschliches Handeln und Erleben das materielle Objekt der Psychologie ist, liegt es geradezu auf der Hand auch religiöses Handeln und Erleben in die Forschung mit einzubeziehen. Und das nicht nur, weil es bei so vielen Menschen vorgefunden wird, sondern auch weil es sich um etwas Spezifisches und Charakteristisches für den Menschen handelt: Nur Menschen sind religiös und fast alle Menschen waren religiös. Es wäre äußerst wichtig, mit Hilfe der Psychologie zum Beispiel zur Differenzierung zwischen Glauben und Wahn, oder zwischen Glauben und Ideologie etwas beitragen zu können. Dabei geht es um mehr, als nur das nochmalige Nachweisen bereits bekannter psychologischer Zusammenhänge an religiösen Populationen. Wie sinnvoll es auch sein mag, psychologische Thesen und Instrumente zusätzlich zu validieren, bei der Religionspsychologie geht es um anderes und vor allem um mehr. Es geht darum, mehr über die jeweilige Form von Religion herauszufinden. Sicherlich geht es auch um die Generierung von psychologischem Wissen, aber eben psychologisches Wissen über Religion(en). Die Religionspsychologie kann dabei nicht anderes als bereits existierendes psychologisches Instrumentarium verwenden (oder auch adaptieren), Religionspsychologie folgt der Psychologie im Allgemeinen, so habe ich bereits eingangs gesagt. Die zentrale Frage lautet also: Was hat die Psychologie zu bieten, wenn es darum geht einen wichtigen, spezifischen und charakteristischen Bereich menschlichen Verhaltens und Erlebens zu erforschen? Was kann die Psychologie über die jeweilige Form von Religion herausfinden? Wann, unter welchen Bedingungen und bei wem, ist z.B. eine Religion schädlich für die psychische Gesundheit? Oder, mehr auf der Ebene gesellschaftlicher Relevanz: Warum wird Bereitschaft zur Gewalt bei Anhängern von gewissen Religionen gefunden, aber nicht bei anderen, weder in derselben Religion noch in einer anderen Religion? Spielt die jeweilige Form von Religion hier eine selbständige Rolle, oder funktioniert sie bloß als Kontext? Die Psychologie ist leider meistens zu einer Antwort auf diese Fragen nicht fähig.

Gäbe es hier Anlass für eine mehr grundsätzliche, wenn auch nicht unbedingt neue Kritik an der Psychologie? Wie gesagt, Religionspsychologie ist Teil der Psychologie, Religionspsychologie folgt den Entwicklungen in der Psychologie im Allgemeinen. Sie teilt damit die Stärken, aber auch die Schwächen der Psychologie im Allgemeinen. Die Kritik, Psychologie wäre – ihrem Selbstverständnis geradezu entgegengesetzt! – nicht empirisch genug, als nähme sie den tatsächlich handelnden und erlebenden Menschen nicht seriös, kommt gerade am Kasus der Religionspsychologie zum tragen. Wie oft haben wir nicht bereits gehört, dass die Psychologie so wenig zu einem fundamentalen Verständnis des Menschen beiträgt, dass sie mit ihren statistischen Ermittlungen individuelle Einzigartigkeiten aus dem Auge verliert, dass ihre an weißen, mittelschichts und noch dazu westlichen Studenten gewonnenen Ergebnissen sich nicht generalisieren lassen, usw. Wenn man in der Religionspsychologie nicht anderes tut, als dieser Strategie zu folgen, dringt man zwar wieder in die Psychologie im Allgemeinen vor, wie es eben auch heute zunehmend gelingt, aber die Frage ist, ob diese Art von Psychologie vollbringt wozu sie bestellt worden ist: Generiert sie wirklich psychologisches Wissen über Religion? Oder reduziert sie religiöses Handeln und Erleben auf solche Kategorien, mit der sich eine so genannte empirische Forschung, inklusive statistischer Analyse, zügig durchführen lässt? Mit anderen Worten, wie valide ist diese Form von Psychologie? Wie valide ist die Psychologie in ihrer Anwendung auf die Religion? Dass Zusammenhänge die z.B. die Sozialpsychologie über Kommunikation und über Verhalten in Gruppen ermittelt hat, auch in einem religiösen Kontext gelten werden, dürfte ziemlich trivial sein. Aber ob es einen Unterschied zwischen der Angehörigkeit zu einer religiösen Gruppe und einer nicht-religiösen Gruppe gibt, scheint nicht so trivial zu sein. Hat die Angehörigkeit zu einer religiösen Gruppe vielleicht einen Mehrwert für den Einzelnen? Anderes Beispiel: Wenn eine religiöse Gruppe gewalttätig wird, haben wir es dann mit demselben Phänomen zu tun, wie wenn Sportanhänger oder Teilnehmer einer Demonstration gewalttätig werden? Ist das gezielte Vorgehen einer terroristischen Gruppe psychologisch gesehen dasselbe wie das gezielte Vorgehen einer Terrorbekämpfungseinheit? Oder, um mit einem letzten und weniger blutrünstigen Beispiel abzuschließen: Wenn die Gottheit, so wie z.B. im Christentum postuliert, persönlich ist oder sogar eine Person darstellt, und wenn Christ sein bedeutet, eine Beziehung zu dieser Person zu unterhalten, dann wird diese Beziehung zu Gott wahrscheinlich viele Merkmale interpersönlicher Beziehungen wie bereits von Psychologen herausgefunden, aufzeigen. Aber eine Beziehung zu (einem) Gott ist nicht identisch mit einer Beziehung zu einer anderen Person, noch nicht einmal mit einer Beziehung zu z.B. einem abwesenden Geliebten, da der (christliche oder andere) Gott keine Person ist in dem Sinne wie andere Menschen Personen sind. Worin besteht dann also der Unterschied zwischen einer Beziehung zu (einem) Gott und zu einer menschlichen Person? Kann dieser Unterschied erfasst und exploriert werden? Hat er irgendeine psychologische Bedeutung und Konsequenz für das involvierte Subjekt?, und: Wie kann diese konzeptualisiert und erforscht werden? In was für einer Wirklichkeit lebt ein gläubiger Mensch? Gibt es – vom psychologischen Gesichtspunkt, ich rede nicht von Theologie! – einen Unterschied zu Märchen, Phantasie, Mythos, Wahn, Ideologie und so weiter? Wenn die Psychologie dazu beiträgt, Antworten auf solche und viele andere Fragen zu finden, wird sie sowohl psychologisches Wissen generieren als auch Wissen über Religion(en), und damit wahrhaft Religionspsychologie sein.

In diesem Sinne ist die Religionspsychologie ein wichtiges Element auch der Theoretischen Psychologie und nicht nur ein Anwendungsgebiet der Psychologie: Sie fordert die Psychologie dazu auf, zu reflektieren über den Charakter des von ihr generierten Wissens nachzudenken. Sie kann dazu beitragen, Perspektiven zu öffnen oder offen zu halten, und vor allzu voreiligen Schlussfolgerungen zu bewahren. Wie die Geschichte der Psychologie, von der Religionspsychologie ein integraler Teil ist, konfrontiert sie die gegenwärtige Psychologie mit deren nicht-kontinuierlichen, streckenweise unlogischen, nur aus zufälligen Kontexten erklärlichen Verlauf, sie macht auf vernachlässigte und sogar tabuisierte Fragestellungen aufmerksam und führt rasch zu einer Besinnung auf den Charakter psychologischen Wissens überhaupt. Denn man solle sich fragen: Was ist los mit der Psychologie, mit dieser Wissenschaft vom Menschen, dass sie zu einem so spezifisch und charakteristisch menschlichen Handeln und Erleben wie dem religiösen nur so wenig zu melden hat? Was sagt der Fakt, dass Religionspsychologie marginalisiert werden konnte über die Psychologie im Allgemeinen aus? Hat sich die Psychologie vielleicht in eine Richtung entwickelt, die für die Erforschung eines sowohl persönlich als auch gesellschaftlich höchst relevanten Bereichs menschlichen Funktionierens ungeeignet erscheint? Sollte man aus der Tatsache, dass die Religionspsychologie in den ersten Jahrzehnten der Geschichte der Psychologie im Allgemeinen eine so prominente Subdisziplin war, später aber marginalisiert wurde, vielleicht auch schließen, dass die Psychologie wichtige Bereiche menschlichen Verhaltens und Erlebens aus dem Blick verloren hat? Brauchen wir etwa eine andere als die mainstream Psychologie um so etwas wie Religion und Spiritualität psychologisch erfassen zu können? – Ich breche ab, denn nicht zur Grundlagendiskussion wollte ich mit diesem Aufsatz einen Beitrag leisten, sondern nur daran erinnern, dass 1. es Religionspsychologie gibt, 2. erklären warum es sie manchmal nicht mehr gab, und 3. darlegen warum es sie, zumindest hier und da, geben sollte.

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Autorenhinweis

Jacob A. v. Belzen

Jacob A. v. Belzen ist Kulturpsychologe. An der Universität von Amsterdam hat er einen Lehrstuhl für Religionspsychologie inne. Sein Interesse gilt der kulturpsychologischen, explizit interdisziplinären Erforschung religiöser Phänomene, sowie Geschichte und Grundlagen der psychologischen Wissenschaften im Allgemeinen.

Prof. Dr. Jacob Belzen University of Amsterdam Oude Turfmarkt 147 NL-1012 GC Amsterdam The Netherlands

E-Mail: belzen@hum.uva.nl