In diesem Artikel wird vorgeschlagen, mit Hilfe der Konzepte »Erfahrung« und »Identität« individuelle Religiosität psychologisch zu analysieren. Ein hermeneutisches Erfahrungskonzept kann für die Vielfalt der möglichen Beziehungen zwischen »Religion« und »Erfahrung« sensibilisieren und ein (präreflexives, narratives und reflexives) Identitätskonzept für die entsprechenden Kontinuitäten und Kohärenzen im Kontext einer Lebensgeschichte. Am Beispiel der lebensgeschichtlichen Erzählung eines christlich-reformierten Niederländers, der sich Hare Krishna anschloss, wird diese Analyseperspektive demonstriert.
Schüsselwörter: individuelle Religiosität, Erfahrung, Identität, Lebensgeschichte,
This article suggests to use the concepts of »life experience« and »identity« for a psychological analysis of individual religiosity: A hermeneutical concept of life experience sensitizes to the varieties of possible relations between »religion« and »experience«. A (pre-reflexive, narrative and reflexive) concept of identity enables us to analyse the continuities and coherences of religious orientations in the context of life history. Relying on these concepts of experience and identity the life story of a Christian-Reformed Dutchman who joined Hare Krishna has been analysed in order to demonstrate the usefulness of this analytical perspective.
Keywords: individual religiosity, life experience, identity, life history/life story,
Die Gretchenfrage »Nun sag', wie hast du’s mit der Religion ?« war in letzter Zeit ein beliebter Titel für Vorträge und Symposien. »Religion«, so können wir daher vielleicht sagen, ist jedenfalls im Gespräch, sie ist Gegenstand privater, öffentlicher und auch wissenschaftlicher Konversationen. Im Zusammenhang mit allgemeinen Globalisierungsprozessen, mit Migrationsprozessen und vor allem auch im Zusammenhang mit Fragen der europäischen Integration hat »Religion« im 21. Jahrhundert in Europa (wieder) verstärkt Beachtung erfahren. Diese Feststellung dürfte wohl noch allgemeine Zustimmung erfahren, während alle weiteren Diagnosen umstritten sind: Während die einen trotz aller öffentlichen Präsentation und Diskussion eine weitere Zunahme der Anzeichen sehen, dass Gott im Sterben liege oder bereits tot sei (vgl. dazu Bruce 2002), sprechen andere von einer postsäkularen Gesellschaft (vgl. Habermas 2001) oder von einer Wiederkehr der Religion (vgl. dazu Beck 2008). Aber auch die Entdecker einer neuen Religiosität sind sich keineswegs einig: Während die einen überall spirituelle Revolutionen diagnostizieren, prognostizieren oder sogar unterstützen wollen ( vgl. dazu Helaas & Woodhead 2005; Lynch 2007), weisen andere vor allem auf ein globales Erstarken fundamentalistischer Orientierungen hin (vgl. z.B. Riesebrodt 2000). Und wieder andere möchten nicht nur von fundamentalistischen Orientierungen in den traditionellen »Weltreligionen«[1] sprechen, sondern warnen auch vor einem zunehmenden säkularen Fundamentalismus, einer neuen Orientierung des Antireligiösen, die ebenfalls eine Gefahr für westliche Demokratien darstellen könne.[2]
Eine Entscheidung dieser Kontroversen mit Hilfe der Techniken der empirischen Sozialforschung ist bisher noch nicht gelungen. Die Diskussion um die angemessene Interpretation von Umfrageergebnissen im Hinblick auf Zeitdiagnosen und Wahrnehmung von Trends hat gezeigt, dass derartige Interpretationen kontrovers sind und bleiben ( vgl. z.B. Hadaway, Marler & Chaves 1993). Dabei kann man sich auch immer die Frage stellen, was denn Leute eigentlich meinen, wenn sie sich selbst als mehr oder weniger religiös oder spirituell bezeichnen oder welche Erwartungshaltungen bzw. stillschweigende Annahmen im Hinblick auf die erwünschten Antworten mit eingehen, wenn Leute angeben, dass sie »sehr« oder auch nur »ziemlich« an die Existenz Gottes glauben. Zinnbauer et al. (1999) haben zum Beispiel in ihrer Studie gezeigt, welche Vielfalt an unterschiedlichen Bedeutungen die Teilnehmer ihrer Studie mit »Spiritualität« verbinden.[3] Die viel höhere Zustimmung zu Glaubensfragen in den USA im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern wird in einigen Studien inzwischen auch als das Ergebnis unterschiedlicher Erwartungshaltungen im Hinblick auf die erwünschten Antworten bei derartigen Umfragen interpretiert und nicht als der Ausdruck einer intensiveren und extensiveren persönlichen Religiosität (vgl. z.B. Norris & Inglehart 2004).
Nichtsdestoweniger sind derartige Umfrageergebnisse und ihre Analysen auch für kulturwissenschaftliche Religionspsychologen interessant. Wir sollten m.E. auch derartige quantitative Studien nicht meiden wie der Teufel das Weihwasser, sondern uns an der kritischen Interpretation derartiger »Fakten« beteiligen und auf diese Weise unser Scherflein zur Konversation über »Religion« beitragen. Dies werde ich hier allerdings nicht tun[4], sondern möchte nur auf ein Problem in der sozialwissenschaftlichen Religionsforschung hinweisen, das sich besonders deutlich bei der Interpretation von Umfrageergebnissen stellt und zwar auf das Problem der verschiedenen Sprachebenen. Konzepte wie Religion/Religiosität, Spiritualität, Glaube etc. gehören zum einen zur empirischen Ebene, sie werden von den Forschungspartnern in ganz unterschiedlicher Weise verwendet und verstanden, um ihre Orientierungen zu verdeutlichen, zu reflektieren, zu verteidigen etc. Zum anderen gehören diese Konzepte bisweilen auch zum analytischen Begriffsinstrumentarium der Sozialforscher und werden von ihnen terminologisch eindeutig bestimmt, um Orientierungen und Positionen der Forschungspartner zu klassifizieren, zu typisieren, zu deuten, zu erklären etc. Ein inkonsistentes Changieren zwischen diesen Ebenen kann bisweilen »empirische« Ergebnisse zur Folge haben, die mehr an das Kaninchen erinnern, das man nur deshalb aus dem Hut zaubern kann, weil man es vorher selbst hineingesteckt hat. So ist z.B. eine Interpretation vieldeutiger Selbstbezeichnungen bzw. Selbstverständnisse wie »religiös« oder »spirituell« mit Hilfe eines der terminologisch eindeutig bestimmten Religionskonzepte aus der Literatur mehr als problematisch. Das gilt auch für die Deutung von Orientierungen als »religiös«, bei denen man begründet davon ausgehen kann, dass Forschungspartner selbstreflexiv eine derartige Deutung ihrer Orientierungen nicht vornehmen würden.[5]
Man sollte daher sehr genau unterscheiden, auf welcher Ebene man Bezeichnungen wie »religiös« oder »spirituell« verwenden möchte und auf welche Weise sie in das analytische Instrumentarium der empirischen Religionsforscher Eingang finden können oder sollten. Wenn man vor allem derartigen Orientierungen und Positionierungen, derartigen Selbstdeutungen und Selbstreflexionen auf der empirischen Ebene nachspüren möchte, so ist es von Vorteil, zunächst auf eine Bestimmung von »Religiosität« oder auch »Spiritualität« auf der analytischen Ebene zu verzichten und stattdessen den »Sitz im Leben« von derartigen Bezeichnungen zu eruieren. Dazu bietet sich auf der analytischen Ebene vor allem das Konzept der Erfahrung an[6].
Erfahrung kann (im Anschluss an Wilhelm Dilthey, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricoeur) zunächst als eine komplex strukturierte Erste-Person-Beziehung zur Welt verstanden werden. Wahrnehmen, Denken, Phantasieren, Empfinden, Fühlen, Wünschen, Erinnern etc. erschließen ein Geschehen, dessen Subjekt »ich« bin. Handlungstheoretisch können wir den Erfahrungsprozess vor allem als eine Kombination aus Erwarten, Handeln und Widerfahren charakterisieren. Ich handle im Zusammenhang mit bestimmten Erwartungen und mache dabei meine Erfahrungen. Aber ich kann diese Erfahrungen nicht planen. Sie bestehen aus dem, was mir im Zusammenhang mit meinem erwartungsvollen Handeln widerfährt. Sowohl Gadamer (1975) als auch Luhmann (1971) betonen die Negativität bzw. auch das passive Moment dieses Prozesses: Meine Erwartung wird »enttäuscht«, es widerfährt mir etwas, das weiterer Interpretation und Reflexion bedarf. Luhmann (1971, 41) formuliert diese Zusammenhänge folgendermaßen: »Erfahrung ist nie das reine, unmodifizierte Eintreffen des Erwarteten – wenn ich die Treppe hinaufsteige, ist das keine Erfahrung, dass die Treppe noch da ist … Erfahrung ist die laufende Rekonstruktion der sinnhaft konstituierten Wirklichkeit durch Abarbeitung von Enttäuschungen.« Damit sind Erfahrungen immer subjektiv: Sie sind abhängig von den spezifischen Erwartungen, die »ich« habe und stehen damit letztlich in einem lebensgeschichtlichen Kontext: Ich, als diese Person, mit diesen Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten und Kenntnissen (kurz: mit diesen Orientierungen) habe in dieser Situation diese Erfahrung gemacht. Auch mein Wissen aus Erfahrungen ist daher grundsätzlich subjektiv und revidierbar und bedarf auch weiterer Prüfungen, wenn sich die Frage nach der allgemeinen Gültigkeit dieses Wissens stellt. Zugleich sind Erfahrungen immer auf »Welt« bezogen, sie gewinnen ihre Gestalt durch Zäsuren im »Strom des Lebens«, in der Kontinuität des menschlichen In-der-Welt-Seins-mit-Anderen. Dabei können Erfahrungen vor allem als Sinneinheiten verstanden werden, die mittels Interpretation und Evaluation durch das Subjekt gebildet werden. Das Geschehen, als dessen Subjekt »ich« mich begreife, wird nach Ablauf diversen Geschehens als dieses Geschehen aus der Mannigfaltigkeit der potentiellen Beschreibungen heraus gebildet. Diese »historische« Sinnbildungsleistung bedarf einer spezifischen Sprachform und zwar der narrativen Form, der Geschichte (vgl. z.B. Ricoeur 1991), wobei allerdings neben der Rekonstruktion des elementaren Erfahrungsprozesses durch die Narration eine erzählte Geschichte immer auch Deskriptionen, Argumentationen und Evaluationen umfasst. Bei dieser rudimentären Vorverständigung im Hinblick auf »Erfahrung« möchte ich es zunächst bewenden lassen.
Allgemein kann in der Religionspsychologie dieses hermeneutische Erfahrungskonzept dazu dienen, die Komplexität individueller Religiosität adäquat zu berücksichtigen. In diesem Kontext lässt sich dann z.B. auch die Frage verorten, welche Relationen zwischen Erfahrungen im Alltag und jüdischen, christlichen, islamischen, buddhistischen, hinduistischen etc. Symbolen und Traditionen, die von manchen bisweilen auch als »religiöse« Symbole und Traditionen bezeichnet werden, bestehen können. Dabei können wir die folgende idealtypische Unterscheidung treffen: Erfahrungen können aufgrund der bereits religiös strukturierten Erwartungen zu religiösen Erfahrungen werden oder Erfahrungen können aufgrund expliziter Interpretationsleistungen eine religiöse Bedeutung bekommen (vgl. dazu Popp-Baier, 2005).
Im ersten Fall ist bereits das Geschehen, das erzählt wird, ohne religiöse Konzepte nicht artikulierbar. Beispiele dafür sind Erfahrungen im Zusammenhang mit Gebetserhörungen; dabei ist Religiöses bereits in den Geschehensablauf involviert, denn es kann nur jemand die Erfahrung einer Gebetserhörung machen, der mit dem religiösen Handlungsschema »Beten« vertraut ist, dieses enaktiert und auf diese Weise Wünsche und Wirklichkeit im Zusammenhang mit Gewesenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem »sinnvoll« aufeinander bezieht. Auch Erfahrungen, bei denen bestimmte außeralltägliche Wahrnehmungen wie z.B. Visionen oder Auditionen zentral stehen, sind häufig Erfahrungen, bei denen im Rahmen eines religiösen Erwartungshorizontes bereits die Wahrnehmungen entsprechend strukturiert werden.[7] Zu diesem Typus von religiösen Erfahrungen kann man auch die sogenannten mystischen[8] Erfahrungen rechnen, Erfahrungen, die im Zusammenhang mit verschiedenen mystischen Traditionen artikuliert werden. Bei derartigen Erfahrungsartikulationen stehen u.a. das Erleben von »Gottes Gegenwärtigkeit«, einer »Einheit mit Gott«, einer »ungeteilten Einheit«, oder auch einer »vollkommenen Leere« am Ende eines »spirituellen« Weges zentral. Derartige Erfahrungen, die häufig den Einsatz bestimmter Techniken oder Praktiken (u.a. von Halluzinogenen oder auch von Übungen, um die sinnliche Wahrnehmung zu reduzieren oder gerade übermäßig zu stimulieren ) oder einen »spirituellen« Begleiter erfordern, bekommen ihre Bedeutung in erster Linie durch die im Kontext von Traditionen geformten Erwartungen der Erfahrungssubjekte und der damit verbundenen »Disziplinierung« des Begehrens.9 Bei diesem Typus der Relation zwischen Erfahrung und Religion kann das Religiöse auf mannigfaltige Weise in den Erfahrungsprozess eingehen – auch auf der Ebene der körperlichen, der affektiven, der emotionalen und der praktischen Aspekte von Handlungszusammenhängen, die nicht unmittelbar sprachlich artikulierbar sind.
Im zweiten (idealtypischen) Fall wird aus der Perspektive des Erfahrungssubjektes ein Erlebnis erzählt, dem schließlich noch explizit eine religiöse Deutung hinzugefügt wird. Beispiele sind Erzählungen von Unglücksfällen oder Katastrophen, die der Erzählende überlebt hat und die er nun z.B. als eine Rettung durch Gottes Hand oder durch eine höhere Macht versteht. Dabei kann die Beziehung zwischen dem Geschehen, dem Erlebnis, und dem religiösen Deutungskonzept sehr komplex sein. Eine religiöse Deutung kann aus der Perspektive der ersten Person das Ergebnis einer plötzlichen Einsicht sein, aber auch das Ergebnis einer Vielfalt von Überlegungen und Schlussfolgerungen. Eine religiöse Deutung kann im Brustton der Überzeugung formuliert sein, sie kann aber auch aus der Perspektive des Erfahrungssubjekts nur als mögliche Deutung formuliert werden und die entsprechende Person kann – sogar den Rest ihres Lebens – daran zweifeln, ob eine religiöse Deutung derartiger Erlebnisse nun angemessen sei oder nicht. Weiterhin können bestimmte Erfahrungen auch den Anreiz geben, um sich mit den Deutungsangeboten verschiedener »Religionen« auseinander zu setzen, um schließlich das für die eigene Erfahrungsgeschichte adäquate Deutungsangebot zu assimilieren und zu akkomodieren. Andererseits können auch bestimmte Erfahrungen dazu beitragen, dass ein bereits akzeptiertes religiöses Sinnangebot als nicht mehr adäquat beurteilt wird und daher grundlegend modifiziert oder ganz aufgegeben wird. Mit dieser Aufzählung sind noch nicht alle relevanten Aspekte erfasst, aber ich möchte in diesem Zusammenhang auch nur für die Vielfalt der möglichen Beziehungen zwischen »Erfahrung« und »religiöser Deutung« sensibilisieren.[10]
Im Einklang mit den bisher angestellten Überlegungen kann man die Beziehung zwischen »Erfahrung« und »Religion« in der modernen Gesellschaft auf der Ebene individueller Religiosität als »vielfältig pluralistisch« bestimmen. Es ist zum einen möglich, dass eine nicht näher bestimmbare Vielfalt von Erfahrungen religiös strukturiert oder religiös gedeutet wird, und es ist zum anderen möglich, dass bestimmten »existentiellen« Erfahrungen ( z.B. im Zusammenhang mit Geburt, Krankheit, Tod) durch die kreative Akkomodation einer Vielfalt verfügbarer religiöser Deutungsmuster Sinn verliehen wird. Analysen individueller Religiosität könnten dementsprechend vor allem die handlungsbezogenen Aspekte des Erfahrungskomplexes und dabei den rational Handelnden und seine kulturellen Ressourcen, seine Präferenzen, seine Entscheidungen, seine Selbsttechniken, seine Interpretationen und seine Evaluationen der Folgen seiner Handlungen etc. berücksichtigen.[11] Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass wir die Kontinuitäten und Kohärenzen, die ein hermeneutisches Erfahrungskonzept im Hinblick auf individuelle Orientierungen impliziert, aus dem Blick verlieren. Es gilt also, eine analytische Perspektive zu erarbeiten, die es erlaubt, nicht nur die Zäsuren im Strom des Lebens zu identifizieren und zu analyseren, sondern gerade auch die »Lebenszusammenhänge« (Dilthey).[12]
In diesem Zusammenhang empfiehlt sich das Konzept der Identität, um Kontinuitäten und Kohärenzen individueller Orientierungen zu thematisieren, ohne dabei das Erfahrungskonzept aufgeben zu müssen und gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Variablen statt Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge zu konstruieren.[13] Dabei möchte ich drei Ebenen der personalen Identitätskonstruktion unterscheiden: Zunächst eine Ebene des basalen Selbstbewusstseins, das alle meine bewussten Bewegungen, Stimmungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Überlegungen, Aktivitäten und Beziehungen begleitet. Es konstituiert, so könnte man vielleicht sagen, die »Jemeinigkeit« meines Körpers bzw. Leibes, meiner Stimmungen, Wahrnehmungen etc. auf einer prä-reflexiven Ebene und bildet die Voraussetzung für die Konstitution der sogenannten Perspektive der ersten Person im Hinblick auf die eigene Welt inklusive der eigenen Person ( vgl. dazu Metzinger 2003).
Auf einer zweiten Ebene wird Identität, d.h. Kontinuität und Kohärenz, narrativ konstruiert (vgl. dazu z.B. McAdams 2001). Ricoeur (1991) hat darauf hingewiesen, dass zumindest in Europa und Nordamerika das Konzept des individuellen Lebens intim mit dem Konzept der Erzählung verbunden ist, dass man schon im Alltag die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod als die Geschichte eines Lebens bezeichnet. Und üblicherweise halten wir uns für fähig, unsere Geschichte – mit offenem Ausgang – auch zu erzählen oder zumindest Geschichten aus unserem Leben zu erzählen, wobei unsere narrativen Selbstkonstituierungen den kulturellen Modellen von Biographien, Autobiographien und anderen persönlichen Geschichten folgen, wie wir sie vor allem auch über die modernen Medien kennen lernen.
Und die dritte Ebene ist die Ebene der reflexiven Selbstkonstitution, auf der wir vor allem Ideen und Ideale, Theorien und Lebensphilosophien über uns selbst und unsere Welt entwickeln (vgl. dazu z.B. Epstein 1973, Harré & Langenhove 1999, Popp-Baier im Druck).
Individuelle Religiosität kann nun, unter Bezugnahme auf ein elementares Erfahrungskonzept und seine Bedeutungs- und Sinndimensionen, als Teil eines Lebenszusammenhangs, als religiöse Identität, auf allen drei Ebenen analysiert werden.
Der ersten Ebene kann man z.B. jene religiösen »Gefühle und Anschauungen« zurechnen, die in der religionspsychologischen Literatur auch häufig mit »Erfahrung« in Zusammenhang gebracht werden, die sich aber weniger auf datierbare Erlebnisse beziehen als vielmehr auf eine bestimmte Form religiösen Bewusstseins und Erlebens , das dem Subjekt bei allem, was es denkt und tut, präsent ist – gleichsam eine Form von Hintergrundmusik, die den Alltag begleitet (vgl. Jäger 2005, 224). Christliche Mystiker beschreiben dies bisweilen als ein Bewusstsein von Gottespräsenz, manche dem New Age verhaftete Personen können derartige »Gefühle« als das ständige Gewahrsein einer Teilhabe an göttlicher Energie beschreiben und Schamanen als das allgegenwärtige Bewusstsein des Einflusses der lower world und der upper world auf die Alltagswelt etc. Selbstverständlich setzt eine derartige religiöse Bewusstseinsbildung einen entsprechenden kulturellen Kontext voraus und ist auch der Reflexion zugänglich, wobei allerdings auch häufig betont wird, dass dieses Bewusstsein bzw. Erleben sprachlich nur unzureichend artikuliert werden kann. Selbstwahrnehmungen, Selbstempfindungen im Zusammenhang mit bestimmten Körpertechniken, die zunächst auch eingeübt werden müssen, z.B. im Zusammenhang mit Ritualen als mehr oder weniger formalisierten Handlungsroutinen und Praktiken, können auch dieser Ebene der präreflexiven religiösen Identität zugerechnet werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die (erste) Teilnahme an derartigen Ritualen nicht auch rationalen Überlegungen verdanken kann.
In lebensgeschichtliche Zusammenhänge kann nun Religiöses in vielfältiger Hinsicht eingehen. Zunächst als Erfahrungsartikulationen wie wir sie oben idealtypisch herausgestellt haben. Aufgrund ihrer narrativen Struktur haben Erfahrungen immer auch schon einen Bezug zur Lebensgeschichte des Erfahrungssubjektes und können in ihren verschiedenen individuellen Sinnbezügen am besten im biographischen Kontext beschrieben, verstanden und teilweise auch erklärt[14] werden. Auf der Ebene von Lebenserzählungen kann religiöse Identität aber auch noch über eine narrative Analyse in ihrer vielfältigen Verwobenheit in derartige Erzählungen beschrieben werden. Ein Modell für eine derartige narrative Analyse bietet z.B. McAdams (1993), der Lebenserzählungen als persönliche Mythen begreift und sie u.a. im Hinblick auf ihr Repertoire an Bildern, Themen, ideologischen Rahmenorientierungen und Charakteren analysiert (vgl. dazu auch Popp-Baier 2003).
Die ideologischen Rahmenorientierungen bilden dabei bereits den Übergang zur Ebene der reflexiven Identitätskonstruktion, wobei dann auch Ideen, Theorien etc. im Hinblick auf Religion eine Rolle spielen können. Dabei schlage ich vor, diese Reflexionen – insbesondere auch im Zusammenhang mit den Narrationen – mit Hilfe des Konzepts der Lebensphilosophie zu analysieren ( vgl. dazu Popp-Baier im Druck). Auf dieser Ebene kann man dann auch explizit die mehr oder weniger intellektuelle Form von religiöser Identität berücksichtigen, z.B. die individuelle Positionierung im Kontext von Konversationen und Debatten, subjektive Theologien, aber auch allgemeinere Vorstellungen von Lebenssinn und Lebensglück, die explizit reflexiv, aber auch eher implizit in lebensgeschichtlichen Erzählungen zum Ausdruck gebracht werden können.
Auf methodologische Empfehlungen zur Erfahrungs- und Identitätsanalyse im Hinblick auf individuelle Religiosität möchte ich hier verzichten ( vgl. dazu z.B. Popp-Baier 2005, im Druck) und stattdessen noch ein Beispiel dafür präsentieren, wie Lebenserzählungen im Hinblick auf die Konstruktion von (religiöser) Identität interpretiert werden können.
Als Herr K seine Lebensgeschichte im Kontext eines narrativ-biographischen Interviews erzählt, ist er beinahe 65 Jahre alt.[15] Er wurde im Krieg in einem kleinen Dorf in Friesland geboren. Seine Eltern waren Mitglieder der Hervormde Kerk[16] , sein Vater war ein sehr orthodoxer Anhänger und seine Mutter folgte vor allem seinem Vater. Herr K hat noch eine 11 Jahre ältere Schwester, die im Alter von 20 Jahren nach Australien emigrierte. Der Vater hatte einen kleinen Gemischtwarenhandel, von dem die Familie allerdings kaum leben konnte, so dass er zusätzlich noch als Küster, Totengräber und Milchkontrolleur arbeitete. Herr K besuchte sieben Jahre lang eine christliche Schule, in der Gebete, Lieder, Psalmen und biblische Geschichten eine große Rolle spielten. Davon sind ihm auch viele in Erinnerung geblieben. Danach besuchte er noch eine öffentliche technische Schule und mit 14 Jahren begann er zu arbeiten, wobei er seine erste Stelle schon nach einem Jahr wieder aufgab. Er war, so Herr K, ein ziemlich unruhiger Geselle. Nach seiner Dienstzeit und verschiedenen Arbeitsstellen landete er schließlich bei Rijkswaterstaat17, wo er 22 Jahre in den verschiedensten Abteilungen arbeitete. Alles hat seine Bestimmung, findet Herr K. Wenn man zurückschaut, hat alles so sein müssen.
Mit 16 Jahren lernte er seine spätere Frau kennen, die er dann im Alter von 22 Jahren heiratete. Seine Frau war Mitglied der Gereformeerde Kerk[18] , er war hervormd, aber das war kein Problem. Er besuchte bisweilen auch ihre Kirche und sie besuchte seine Kirche. Sie hatten eine schöne Zeit zusammen und nahmen auch an vielen christlichen Aktivitäten für junge Leute teil. Zwei Jahre nach der Hochzeit wurde bei seiner Frau ein Tumor an der Hypophyse diagnostiziert, der sie zunächst auch erblinden ließ. Nach einer schweren Operation erholte sie sich wieder, ihr Sehvermögen kam zurück, aber nach 13 Jahren begann der Tumor wieder zu wachsen und sie musste sich noch einmal einer schweren Operation unterziehen, von der sie dachten, dass sie die nicht überleben würde. Doch sie überlebte diese Operation, und sie lebte danach noch ziemlich lang. Sie war damals 28 Jahre alt und sie wurde 63. Aber danach haben sie immer mit Krankheit gelebt. Immer zu Ärzten und Alternativheilern. Jedoch haben seine Frau und auch er immer am christlichen Glauben festgehalten. Auch er selbst entwickelte Gesundheitsprobleme, litt vor allem unter einem hohen Blutdruck und Gleichgewichtsstörungen. Deshalb wurde er auch im Alter von 57 Jahren für arbeitsuntauglich erklärt und verlor seine Stelle.
Beginn der 90er Jahre hatte er sich schon etwas von der Gereformeerde Kerk zurückgezogen. Nach der Heirat waren sie nämlich beide gereformeerd. Was da gepredigt wurde, sprach ihn nicht mehr an. Er ging nur noch widerwillig zum Gottesdienst, aber er war noch auf der Suche nach Sinngebung und nach einer Vertiefung seiner Spiritualität. Aber, so Herr K, wo konnte er die finden? 1993 kamen Herr K und seine Frau bei einem Ferienaufenthalt in den Ardennen in das vegetarische Restaurant von Radhadesh.[19] Damals spielten Ernährungsfragen bereits eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Sie waren bereits »halbe Vegetarier«, wie Herr K formuliert. Frau K hatte 1984 einen Moerman-Arzt aufgesucht, der Krebs durch die richtige Ernährung heilen wollte. Sie folgte einer entsprechenden Diät, bei der Herr K aus Solidarität weitgehend mitmachte. Aber Frau K bekam Gewichtsprobleme und sie probierte noch eine Reihe anderer Diäten aus, bis sie mit Empfehlungen für einen alternativen Lebensstil Bekanntschaft machten, der vor allem auch auf eine bestimmte Ernährungsweise gegründet war und der bei Frau K anschlug. Diesem Lebensstil folgten beide, als sie das vegetarische Restaurant der Hare Krishna kennen lernten. Herr K fühlte sich von der ganzen Atmosphäre angezogen und suchte das Gespräch mit den Mönchen dieser Gemeinschaft. 1994 besuchten sie Radhadesh noch einmal zusammen mit seinem Schwager und seiner Schwägerin und besichtigten das ganze Zentrum. Herrn K beeindruckten dabei vor allem das Singen des Mahamantra[20] und die entsprechenden Erläuterungen. Er kaufte ein Buch mit Rezepten und Ausführungen zur vegetarischen Lebensweise, das er seiner Frau vorlas. Von der vegetarischen Lebensweise fühlten sich beide angesprochen und wurden von einem Tag auf den andern Vegetarier.
Herr K vertiefte sich weiter in östliche Religionen, las Bücher über Hinduismus und Buddhismus und fand vor allem die Schöpfungshymnen faszinierend. Den Kirchgang stellte er zum Kummer seiner Frau allmählich ganz ein. Seine Frau ging noch stets zur Kirche und selbst fand er auch, dass er sie dadurch, dass er sie allein gehen ließ, ein bisschen verriet. Aber er konnte mit den Predigten einfach nichts mehr anfangen, und da kam Hare Krishna und das fand er großartig. Er fand die östlichen Philosophien faszinierend und die Hare Krishnas hatten auch Prinzipien: Man durfte kein Fleisch und keine Eier essen, keinen Tee und keinen Kaffee trinken, keinen übermäßigen Sex haben und Glücksspiele waren auch verboten. Übermäßigen Sex hatte er nicht, aber das andere war schon schwierig. Man musste auch 16 Runden am Tag chanten.[21] Mit Hilfe einer Kette seiner Frau begann er zu Hause schon ein bisschen mit dem Chanten.1996 las er in der Zeitung etwas über Transzendentale Meditation[22], dass man über diese Meditation ein ganz anderer Mensch werde, und da sagte er zu seiner Frau, dass das doch etwas für ihn sei. Er suchte Kontakt zu dieser Bewegung, nahm an einem Kurs teil, der eine Woche dauerte und wurde danach initiiert. Er nahm gern an Treffen teil, bei denen aus der Bhagavadgita23 vorgelesen wurde und bei denen es auch um östliche Philosophie ging. Es faszinierten ihn vor allem die östliche Atmosphäre und dass die Leute so friedlich miteinander umgingen. Nach einiger Zeit hatte er allerdings den Eindruck, dass er bei TM nichts mehr lernen könne und so schaute er sich doch wieder nach Hare Krishna um. Später sagte er, TM sei für ihn eine Vorstufe zu Hare Krishna gewesen. Er besuchte verschiedene Treffen, ging zu Vorträgen, nahm aktiv an Hauskreisen teil und fand schließlich auch seinen geistigen Lehrer. Nach verschiedenen Aktivitäten im Zusammenhang mit verschiedenen kleineren und größeren Zentren fand er in der Hare Krishna-Bewegung auch wieder Arbeit. Diesen Umstand kommentierte damals seine Frau mit den Worten: Wo der Mensch eine Tür schließt, öffnet Gott ein Fenster. Schließlich wurde er im Tempel in der Stadt B initiiert. Er muss sich nun an die 4 Prinzipien für die Lebensführung halten und auch jeden Tag 16 Runden chanten. Aber damit hat er keine Probleme, er hat sich ja schon vor seiner Initiierung daran orientiert.
Allerdings hatte man ihn gewarnt, dass man, wenn man sich einer anderen Religion anschließe, seine Familie verliere. Das ist nun eigentlich auch der Fall. Er hat auch viele Bekannte und Freunde verloren. Seine Familie – und das ist die Familie seiner Frau – hat große Probleme damit, dass er sich den Hare Krishnas angeschlossen hat. Es nimmt ihn sehr mit, dass sein Schwager und seine Schwägerin ihn seit dem Tod seiner Frau noch nicht besucht haben. Am Morgen des Interviews hat ihn seine Schwägerin angerufen und sich damit entschuldigt, dass ihr Mann einem Bekannten bei Bauarbeiten helfen musste. Darüber regt er sich so auf, dass er das Telephongespräch abbricht. Kurz darauf hat ihn eine Frau von den Hare Krishnas angerufen, mit der er viel Kontakt habe und die er auch ein bisschen als seine spirituelle Tochter betrachte. Das musste so sein, es wird alles gelenkt. Bei ihr konnte er dann auch ein bisschen seine Gefühle abreagieren. Es ist bei ihm also etwas einsam geworden, aber dann denkt er bei sich, was er doch für einen prächtigen Glauben habe. Nun, da seine Frau gestorben ist, ist ihm sein Glaube eine große Stütze. Ohne ihn hätte er es vielleicht nicht geschafft. Sein geistiger Lehrer hat ihm nach dem Tod seiner Frau geschrieben, dass er nun seinen eigenen Weg suchen müsse, dass er eigentlich als Vanaprastha weiter müsse. Nach dem Varna-Ashram-System[24], so Herr K, kann man vier soziale Gruppen unterscheiden. Er fühlt sich nun der dritten Gruppe zugehörig, als ein Vanaprastha, der sich mehr von seiner Familie, aber auch von anderen Dingen lösen und mehr Krishna dienen müsse. Damit schließt Herr K seine lebensgeschichtliche Erzählung zunächst ab.
Nach einer Interviewpause geht Herr K noch weiter auf seinen Weg zum Krishnabewusstein ein, auf das Sterben seiner Frau, ihre Haltung zu seiner Beziehung zu Hare Krishna, die Probleme der Familie mit der vegetarischen Lebensweise, das Glaubensleben seiner Frau und auf die Beerdigung seiner Frau. Nach einer weiteren Pause beantwortet Herr K noch Fragen zu seinem Gottesbild, welche Rolle Religion in seinem Leben spielte, was ihn zunächst bei Hare Krishna ansprach, zu seiner Beziehung zu Krishna und zu den Reaktionen aus seinem sozialen Umfeld zu seiner neuen Orientierung.
Im Hinblick auf die religiöse Identitätskonstruktion von Herrn K im Kontext des narrativ-biographischen Interviews wäre zunächst eine Lebensphilosophie zu nennen, die keine Zufälle im Leben kennt. Im Zusammenhang mit seinen ausführlichen Erzählungen von seinen verschiedenen beruflichen Ambitionen und Beschäftigungen bis er schließlich bei Rijkswaterstaat landet, erklärt Herr K, dass alles so kommen musste und er schließt das Thema mit den Worten ab: »Nun gut, das hat alles nichts mit Religion zu tun. Aber sehr wohl mit der Tatsache, dass ich sage, unser Weg ist vollkommen ausgetüftelt, vollkommen ausgetüftelt.« Es gibt keinen Zufall, so Herr K. Alles hat eine Ursache und so steht es auch in der Bhagavadgita. Hier präsentiert Herr K eine Überzeugung, die für ihn nicht mit »Religion« zusammenfällt, aber doch ( später ?) eine spezifische religiöse Bestätigung, Begründung und damit auch Spezifizierung erhält: Es steht nicht nur so im Buch, das die Wahrheit enthält, sondern es gibt auch eine Erklärung dafür, dass »alles gelenkt wird«, wie Herr K wiederholt zum Ausdruck bringt. Es ist der Gott Krishna, der alles lenkt, wodurch die glücklichen Fügungen in der Vergangenheit (Erfüllung von Berufswünschen) verständlich werden, aber auch Geschehensabläufe, die man so nicht beabsichtigte, sind »Krishna’s Wille«. Und negative Ereignisse werden dadurch akzeptabel, dass sie vorhergesagt wurden und auch dadurch einen Sinn bekommen, dass sie als Aspekte eines Situationskontextes begriffen werden, den man im Zuge eines normativ bestimmten und durch eigene Anstrengungen zu beeinflussenden Entwicklungsverlaufes überwinden muss.
Die Fragen zu seiner Glaubensorientierung beantwortet Herr K mit der Konstruktion eines deutlichen Kontrastes zwischen der Wahrheit, die er inzwischen kennt und seinem christlichen Glauben, der aus »Tradition« und »Kultur« bestanden habe. Seine christlich- religiösen Handlungen erklärt er als das Ergebnis religiöser Sozialisation ( man sprach in Gebeten zu Gott, weil man in der Tradition erzogen war, aber eigentlich blieb Gott vage und abstrakt) und als das Ergebnis eines sozialen Zwangs zum Konformismus ( man musste in die Kirche gehen, sonst gehörte man nicht dazu, aber man wusste eigentlich nicht so genau, was man tat). Dagegen betont er die Authentizität seiner gegenwärtigen Orientierung ( u.a. dass Krishna nun alles für ihn sei, von ihm habe er ein deutliches Bild, und mit ihm habe er einfach Kontakt). Ebenso konstruiert Herr K einen deutlichen Gegensatz zwischen den Hare Krishna und den christlichen Kirchen : Wir sind, so Herr K, von Natur aus religiös und auf die Erde gekommen, um Gott zu dienen. Der Mensch hat sich aber von Gott abgewandt und die christlichen Kirchen passen sich viel zu sehr an die materialistische Welt an und verkünden nicht mehr das wahre Evangelium. Dagegen haben die Hare Krishna Gott wieder zurückgebracht, Prabhupada[25] hat die wahre Religion in den Westen gebracht. Konvergenzen sieht Herr K allerdings in der Lehre. So geht er im Zusammenhang mit der Frage danach, was Krishna für ihn bedeute, zunächst auf diese Frage ein: Was ihn bei Krishna besonders anspreche, ist die Tatsache, dass er vor ca. 5000 Jahren ungefähr 125 Jahre auf der Erde gewesen sei und Wunder vollbracht habe. Das ist für ihn der Beweis, dass Krishna Gott sei. Im Anschluss daran geht Herr K aber auch noch ausführlich darauf ein, dass er auch ein besonderes Band mit Jesus habe, wobei er viel aus der Hare Krishna Literatur zur Bedeutung der Bibel und zur Bedeutung von Jesus anführt, u.a. dass man viel aus der Bibel entfernt habe, z.B. alles über Reinkarnation, aber auch die Tatsache, dass Jesus in Indien gewesen sei. Jesus ist für Herrn K einer der größten Yogis, die es je gegeben habe. Er ist nicht am Kreuz gestorben und gen Himmel gefahren, sondern nach 3 Tagen in Trance nach Kaschmir gegangen und hat da noch eine ganze Zeit gelebt. Zwischen dem, was Jesus gepredigt hat und den Vedischen Schriften gibt es sehr viel Übereinstimmungen, so Herr K. Wenn man noch berücksichtigt, dass Herr K im ersten Teil des Interviews angibt, dass sich seine Frau und er nie vom christlichen Glauben abgewandt haben, kann man Herrn K trotz aller Distanzierungen und Kontraste vielleicht ( nicht nur) im Hinblick auf seine Lebensphilosophie als einen christlich-reformierten Hare Krishna-Jünger charakterisieren.
Wollen wir Herrn K’s religiöse Orientierungen im Zusammenhang mit seinen (Lebens-) Erfahrungen verstehen, dann wären zunächst seine Ehe und die tödliche Krankheit seiner Frau zu nennen, die ein wichtiges Thema in seiner Lebenserzählung bilden. Im zweiten Teil des Interviews setzt Herr K seine Entwicklungen im Krishnabewusstsein deutlich in Beziehung zum langsamen Abschied von seiner Frau. Er hat einen langen Anlauf gehabt, sagt er, der ihm schließlich in den letzten Jahren so viel Kraft gegeben habe, dass er nun auch den Verlust seiner Frau tragen könne. Sie konnten viel zusammen besprechen, haben auch viel über östliche Philosophie gesprochen, vielen Dingen hat seine Frau zugestimmt, aber sie wollte doch bei der Kirche bleiben. Das war ihre Entscheidung, die er auch in Ordnung fand. Dennoch hat sie jeden Tag an ein paar Runden Chanten teilgenommen und hat ihn immer zu Aktivitäten bei Hare Krishna ermuntert. Die letzten Jahre empfand er als einen Abschiedsprozess, als einen Trauerprozess, und als seine Frau schließlich starb, konnte er das als eine Befreiung für sie aber auch für ihn selbst begreifen. Seine Frau hat auch immer gesagt, er müsse sich nicht an sie hängen und im letzten Jahr hing er auch nicht mehr so an ihr. Unter die Traueranzeige schrieb er, dass er an ihrer Seele hänge und nicht an ihrem Körper. Und ihre Seele ist nun vielleicht in einem anderen Körper. Seine Frau, so sagt er später noch einmal, sei sehr loyal gewesen, aber doch ihren eigenen Weg gegangen. Als sie aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr in die Kirche konnte, vermittelte er ihr einen Baptistenpfarrer als Seelsorger, dessen Predigten in einem Pflegeheim in der Nachbarschaft sie immer sehr schön fand. In seiner Lebenserzählung, so können wir vielleicht sagen, präsentiert Herr K Religion als »Orientierungszentrum« für seine Lebensprobleme, wobei das gemeinsame Leben mit seiner todkranken Frau und die Verarbeitung ihres Verlustes zentral stehen. Dies ist zunächst bereits auf der basalen Ebene der Ernährung der Fall, als die vegetarische Lebensweise von Hare Krishna den Eheleuten nicht nur eine gemeinsame Diät sondern zugleich eine gemeinsame Lebensphilosophie bietet, die diese Diät mit einer »höheren« Legitimation versieht. Und Hare Krishna erlaubt schließlich Herrn K, die »Trennung in Verbundenheit«, die Entwicklung von eigenen Lebensperspektiven für die Zeit nach dem Tod seiner Frau, die bereits zu ihren Lebzeiten enaktiert werden können. Dabei wird der Erzählung gemäß Hare Krishna für Herrn K zu »seiner Religion«, an der seine Frau auch noch teilhat, ohne sie allerdings zu »ihrer Religion« zu machen. Damit wird vor allem »Religion« zum Medium für wechselseitige Loyalitäten und für Toleranz, aber auch für eigene Profilierungen, für Gemeinsamkeiten, aber auch für Differenzen, für Verbindungen, aber auch für Distinktionen, die Herrn K den Entwurf eines eigenen Lebens mit einem eigenen sozialen Umfeld ermöglichen, an dem seine Frau bereits nicht mehr teilnimmt.
Das Interview zeigt auch Bemühungen Herrn K’s, bestimmte Erfahrungen im Zusammenhang mit der Familie (seiner Frau) nicht nur »religiös« zu deuten, sondern auch über Religion zu strukturieren. Im ersten Teil des Interviews nennt er seinen Anschluss bei einer »anderen Religion« als Grund für die Irritationen mit seiner Familie und verbindet diese Strukturierung auch mit einem Sinn im Hinblick auf seine religiöse Entwicklung. Später erzählt er von Irritationen, z.B. bei Geburtstagsfesten, die sich früher vor allem aufgrund der vegetarischen Ernährung ergeben hätten und noch später im Interview führt Herr K an, dass man ihn und dann auch seine Frau immer ein bisschen merkwürdig gefunden habe, da er eine andere Arbeit gehabt habe als die anderen Männer in der Familie, kein Bauer gewesen sei, da er und seine Frau nicht auf dem Land gewohnt hätten und auch keine Kinder gehabt hätten, da man auf seine Frau wegen ihrer Krankheit immer Rücksicht hätte nehmen müssen etc. Geographisch und kulturell gehörten sie eigentlich nicht so dazu. Vor allem sein Schwager und seine Schwägerin hatten es eigentlich nicht akzeptiert, dass er und seine Frau anders waren als sie, so Herr K. In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie dieses Interview auch dazu dient, Erfahrungen mit »Andersheit« und sozialen Problemen so zu artikulieren, dass sie ausschließlich mittels Religion strukturiert und gedeutet werden, so dass sie in seinem Leben einen »positiven« Sinn bekommen und mit Handlungsmöglichkeiten verbunden werden. Es wird allerdings auch deutlich, dass Herrn K diese Artikulation in diesem Interview noch nicht vollständig gelingt.
Aus dem Interview kann man auch einige Hinweise auf ein mögliches präreflexives religiöses Bewusstsein von Herrn K entnehmen. Seine Entwicklung im Krishnabewusstsein und sein Leben nach seiner Initiation dürften seine Selbstwahrnehmung und sein Körperbewusstsein stark beeinflusst haben. Er trägt das Tilak[26] und wird damit auch nach außen als »anders« erkennbar. Er hält sich an die vier Prinzipien und chantet täglich seine 16 Runden. Das ist für ihn nun alles einfach. Und an einer anderen Stelle im Interview betont er, dass das Folgen der vier Prinzipien sein Leben vereinfache. Er muss nicht mehr überlegen: Soll ich ein Glas Wein trinken? Es verlangt ihn nicht mehr nach Wein, nach Alkohol, nach Fleisch oder nach all den anderen Dingen. Er hat kein Verlangen mehr. Herr K, so kann man vermuten, deutet und reguliert sein Leben nicht nur im Rahmen der Lehre der Hare Krishna, sondern erlebt sein Leben als das tägliche Fortschreiten auf einem Weg, der ihm bestimmt ist.
Unter Bezugnahme auf die analytischen Konzepte der Erfahrung und der Identität wurde im vorliegenden Aufsatz eine Analyse individueller Religiosität versucht, wobei das Konzept der (religiösen) Erfahrung vor allem für die Vielfältigkeit der möglichen Bezüge zwischen »eigenem Leben« und »eigenem Gott« (Beck 2008) und das Konzept der (religiösen) Identität für die Kontinuitäten und Kohärenzen in diesem Lebenszusammenhang sensibilisieren sollten. Im Hinblick auf eine mögliche Typisierung dieses Falles unter Bezugnahme auf Interpretamente aus der sozialwissenschaftlichen Religionsforschung der letzten Jahre ließe sich Herrn K’s Religiosität auch als eine spezifische Form des religiösen »Komponisten« (BertelsmannStiftung 2007) oder der »kosmopolitischen Konstellation« (Beck 2008) interpretieren: Die Komposition ist dabei eine dyadische Komposition, sie ist bezogen auf eine spezifische partnerschaftliche Konstellation und wird vor allem im Kontext dieser Konstellation kommunikativ hergestellt und ausgehandelt, wobei die beiden Partner unterschiedliche Positionen im Rahmen eines geteilten Sinnhorizontes unter Rückgriff auf gemeinsame lebensgeschichtlich erworbene Kompetenzen und kulturell zur Verfügung stehende »multireligiöse« Ressourcen einnehmen. Diese unterschiedlichen Positionen lassen sich wiederum als Antworten auf unterschiedliche Lebensprobleme und Lebensfragen im Rahmen eines gemeinsamen Problem- und Fragehorizontes interpretieren. Ob es sich allerdings bei dieser Form der »dyadischen Kompositionsreligiosität« bereits um eine neue Sozialform des Religiösen handelt, die zu einer angemessen Analyse auch noch anderer Forschungsmethoden bedarf, lässt sich mittels dieser Fallanalyse noch nicht beantworten.
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Zur Problematik dieses Konzeptes vgl. z.B. Kippenberg & von Stuckrad 2003.
Vgl. dazu am besten die Diskussion im Internet unter dem Stichwort »säkularer Fundamentalismus«
Das dürfte überhaupt für »religiöse« Semantik gelten, wie z.B. auch die folgende Interviewsequenz zeigt, die Grace Davie (1994) in der Einleitung ihres Buches anführt: « 'Do you believe in God ?' 'Yes.' 'Do you believe in a God who can change the course of events on earth?' ‘No, just the ordinary one.'« (Davie1994, 1). Nun kann man im Rahmen eines Interviews noch weitere Informationen darüber erhalten, was jemand unter dem »ordinary God« oder auch unter anderen Konzepten versteht. In Umfragen könnte man den Bedeutungsspielraum derartiger Konzepte durch weitere detaillierte Angaben bzw. Nachfragen einschränken, aber diese Einschränkungen gelangen an ihre Grenzen und häufig wird im Zusammenhang mit Umfragen darauf auch gänzlich verzichtet. Komplexe Konzepte wie z.B. vicarious religion (Davie 2002) oder Antireligiosität haben m.W. noch keinen Eingang in die Umfrageforschung gefunden.
Die kritischen Fragen u.a. zur Reliabilität und Validität der entsprechenden Messungen münden in der Regel schnell in Grundsatzdiskussionen über Gegenstand, Aufgaben und Methoden einer empirischen Religionsforschung. Dabei haben vor allem die bisherigen Definitionsdebatten m.E. eines gezeigt: Das Wort »Religion« benennt keinen identifizierbaren Gegenstandsbereich, sondern zeigt Diskurse an. Positionen in derartigen Diskursen, die mit spezifischen Religionsbestimmungen verbunden sind, können als relativ begründet im Hinblick auf verschiedene Forschungsperspektiven und -aufgaben begriffen werden. Dabei kann dann die Religionswissenschaft (oder besser : können die Religionswissenschaften) ihre Identität nicht über einen (gemeinsamen) Gegenstand erlangen, sondern als die historisch und pragmatisch veteidigbare institutionelle Organisation einer Vielzahl von Forschungsperspektiven und -interessen, wobei eine derartige Organisation dann auch multi-, inter-, und transdisziplinäre Forschungsprojekte inspirieren kann (vgl. dazu z.B. Popp-Baier 2007). Eine interessante kritisch-reflexive Perspektive im Hinblick auf derartige Messinstrumente ist auch eine Kritik der entsprechenden Items im Hinblick auf die Interessen, Kenntnisse und das Vokabular ihrer Konstrukteure und damit bereits im Hinblick auf die Repräsentation partikularer Positionen innerhalb eines wissenschaftlichen und auch öffentlichen Diskurses. So fällt z.B. an einem der jüngsten Erhebungsinstrumente, dem Fragebogen des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung (2007), auf, dass darin 5 Religionsgemeinschaften genannt werden (Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus) und bei zwei Religionsgemeinschaften (Christentum und Islam) noch ausdrücklich 6 Konfessionen (katholisch, evangelisch, orthodox, evangelikal-freikirchlich, pfingstkirchlich, charismatisch) und 3 Glaubensrichtungen (Schia, Sunna, Alevit) genannt werden. Die Diskussion um die Problematik der Unterscheidungen im Hinblick auf die 5 »Religionsgemeinschaften« gehört zum Diskurs »Religion« und man kann gute Gründe für wie auch sehr gute Einwände gegen diese Unterscheidungen in einer internationalen »Umfrage zum Thema Weltanschauung« vorbringen. Was allerdings doch überrascht, ist die Tatsache, dass (und auch welche) Differenzierungen im Hinblick auf Christentum und Islam vorgenommen werden, während bei Judentum, Hinduismus und Buddhismus keinerlei weitere Differenzierungen für nötig befunden wurden.
Z.B. sieht nicht jeder, der meditiert, darin eine »religiöse« Praxis und nicht jeder, der sich manchmal mit allem eins fühlt, würde dieses Gefühl als »religiös« bezeichnen. Daneben gibt es auch viele »Gläubige«, welche die Bezeichnung »Religion« für ihren (wahren) Glauben ablehnen und unter Religion nur den (Irr-)Glauben der anderen verstanden wissen wollen (zur Geschichte des polemischen Gebrauchs des Religionsbegriffs vgl. z.B. auch Feil 2000).
Vgl. dazu auch die klassische Studie von William James (1902/1985).
So werden z. B. Erfahrungen im Zusammenhang mit Marienerscheinungen aus der Perspektive der ersten Person so artikuliert, dass jemand Maria sieht oder schließlich erkennt und auch sprechen hört. Derartige Erfahrungen werden in der Regel von Katholiken gemacht, die auch mit Erzählungen von derartigen Erscheinungen vertraut sind. Eine besondere Erzähltradition umfasst dabei Marienerscheinungen bei Kindern. Zur Geschichte der modernen Marienerscheinungen und ihrer sozialpolitischen Aspekte vgl. z.B. Perry & Echeverria 1988. Dieser Typus von Erfahrungen bildet vor allem die Grundlage von Sundéns Rollentheorie der religiösen Erfahrung (vgl. Sundén 1966), die als eine narrative Religionspsychologie »avant la lettre« gelten kann (vgl. dazu Belzen 1996). Ein elaborierter Analyseansatz im Hinblick auf den Prozesscharakter derartiger religiöser Erfahrungsbildungen findet sich in Lindquists Studie zum Neo-Schamanismus (Lindquist 1997), wobei Lindquist allerdings letztlich einem positivistischen Ansatz verhaftet bleibt und von einer rohen, chaotischen Erfahrung als Basis ausgeht, die dann erst in weiteren Schritten mit Hilfe von kulturellen Schemata interpretiert wird.
Zur Bedeutungsvielfalt auch dieses Begriffes vgl. z. B. Kripal 2006.
Zu entsprechenden methodologischen und forschungspraktischen Überlegungen vgl. z.B. Popp-Baier 2005.In einem ganz anderen Forschungsparadigma wird inzwischen auch auf die Komplexität kognitiver Leistungen im Zusammenhang mit Religiosität hingewiesen. So zeigt z. B. Boyer im Rahmen des »cognitive science approach«, welche »mentalen« Repräsentationen und Operationen bestimmte religiöse Konzepte intuitiv plausibel machen können (vgl. z.B. Boyer 2003).
Zu rational choice-Ansätzen in der sozialwissenschaftlichen Religionsforschung vgl. z.B. Young 1997.
Die weitreichendsten Behauptungen über derartige Zusammenhänge wurden in der religionspsychologischen Literatur bisher von den Neuropsychologen und kognitiven Psychologen einerseits und von den sogenannten Bindungstheoretikern andererseits aufgestellt. Obwohl von äußerst unterschiedlicher theoretischer Provenienz, bemühen sich doch beide um den Nachweis von Ursachen im Hinblick auf religiöses Erleben und Deuten, welche die »pragmatische« Beziehung zwischen »Erfahrung« und »Religion« eliminieren würden. Aber bei diesen Ansätzen wird sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, da bereits die zu untersuchenden Phänomene auf Einheiten reduziert werden, die als Variablen im Zusammenhang mit diesen Ansätzen einer empirischen Analyse zugänglich sind, wobei es bei einer derartigen Gegenstandsreduktion eben gerade nicht mehr um die Beziehung zwischen »Erfahrung« und »Religion« geht (zur allgemeinen Kritik derartiger »deskriptiver Reduktionen« vgl. z.B. Proudfoot 1985)
Zur Bedeutung des Identitätsbegriffs in den Sozialwissenschaften vgl. z.B. Rosa 2007 und Straub 2004.
Zu verschiedenen Erklärungsmodellen im Zusammenhang mit menschlichen Handlungen vgl. z.B. Straub/Werbik (1999).
Dieses Interview wurde von Ragna Louman geführt. Zum Konzept des narrativ-biographischen Interviews vgl. Schütze 1983. Das Originaltranskript des Interviews befindet sich im Anhang der unveröffentlichten MA-Arbeit von Ragna Louman (2007), in der die Autorin 5 narrativ-biographische Interviews mit ISKCON- Konvertiten im Hinblick auf unterscheidbare Phasen in diesem Bekehrungsprozess analysierte. ISKCON ist die Abkürzung für International Society for Krishna Consciousness, eine weltweite, hinduistische Gemeinschaft, die 1966 von A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada in New York gegründet wurde. Die ISKCON-Anhänger glauben an einen persönlichen Gott und sehen in Krishna die höchste Vorstellungsform dieses Gottes. Meine eigene Analyse des Interviewtranskripts beginnt mit einer »formulierenden Interpretation«, in der zusammenfassend die wichtigsten Ereignisse und Handlungszusammenhänge aus der Perspektive und innerhalb des Relevanzsystems des Interviewpartners dargestellt werden. Daran schließt sich eine »reflektierende Interpretation« an, in der Bedeutungszusammenhänge unter Bezugnahme auf die analytischen Konzepte der (religiösen) Erfahrung und der (religiösen) Identität herausgearbeitet werden (zur Unterscheidung zwischen »formulierender« und »reflektierender« Interpretation siehe auch Bohnsack 1991). Die formulierende Interpretation bezieht sich dabei auf den ersten Teil des Interviews, während der zweite und dritte Teil des Interviews vor allem in die reflektierende Interpretation mit eingehen, wobei auch in diesem Zusammenhang noch ausführlich die Perspektive und das Vokabular des Interviewpartners präsentiert werden. Auf religionswissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Analysen der Hare-Krishna-Bewegung oder anderer im Interview genannten Gruppierungen und Bewegungen wird hier verzichtet. Zum Verständnis mancher im Interview genannter Begriffe und Namen werden kurze Erläuterungen in Endnotenn hinzugefügt.
Die ursprünglich nach der Reformation in den Niederlanden entstandene Reformierte Kirche, von der sich dann später die Gereformeerde Kerken abspalteten (vgl. z.B. Hoekstra & Ipenburg 2000). Inzwischen haben sich diese Kirchen mit der ursprünglichen Nederlands Hervormde Kerk und der Evangelisch-Lutherse Kerk zur heutigen Protestantse Kerk in Nerderland (PKN) zusammengeschlossen.
Siehe Fußnote 16
Eine bekannte Lebensgemeinschaft von ISKCON, die für Besucher offen ist und dabei sogar eine Attraktion für Touristen bildet (vgl. Louman 2007).
Name für das Hare Krishna Mantra
Bezeichnung für das kontinuierliche Rezitieren des Hare-Krishna-Mantras
Ebenfalls eine weltweite hinduistische Bewegung, die 1958 von Maharishi Maheshi Yogi gestartet wurde (vgl. dazu z.B. Knoblauch 2006).
Eine Dimension des Kastensystems in der hinduistischen Gesellschaft, nach dem man auch zwischen vier verschiedenen Lebensstadien (Brahmachārin, Grihastha, Vanaprastha, Samnyāsa) unterscheiden kann (vgl. dazu z.B. Auffarth, Kippenberg & Michaels 2006).
Siehe Endnote 15
Zeichen aus heiligem Ton auf der Stirn, das symbolisiert, dass der Körper ein Tempel Gottes ist.