Der Beitrag zeigt auf, dass Pierre Bourdieu mit seinem Habitusbegriff eine psychologische Gegenstandsbestimmung vornimmt, und kann entsprechend als Gegenentwurf zur Forderung, der Habitusbegriff müsse erst psychologisch fundiert werden (Zander 2010), gelesen werden. Zur Erläuterung unserer These wird zunächst das Konzept des Habitus beschrieben und im Rahmen einer 'verstehenden' Psychologie diskutiert und verortet. Anschließend werden Fragestellungen skizziert, mit denen sich Bourdieu kaum systematisch auseinandergesetzt hat, die allerdings psychologische Forschungen inspirieren können. Abschließend wird verdeutlicht, dass der Habitusbegriff – indem er daran erinnert, dass es überindividuelle bzw. apersonale Denk- und Handlungsmuster gibt – der »Vermittler« zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und der sozialen Praxis ist. Daraus könnte ein psychologischer Beitrag zur sozialen Ungleichheitsforschung abgeleitet werden.
Schüsselwörter: Habitus, verstehende Psychologie, soziale Ungleichheit, Sozioanalyse, Bildungsforschung
This article shows that Pierre Bourdieu’s habitus concept provides psychological value in that it helps to define the subject matter of psychology itself. This position can be interpreted as a contrary position to the claim of Zander (2010) that the habitus concept needs to be substantiated psychologically. To explore our claim, the habitus concept is outlined and situated within the framework of interpretative psychology (verstehende Psychologie). Subsequently, questions are outlined which Bourdieu answered only unsystematically but which might inspire psychological research. Finally, it is shown that the habitus concept – as it points out that there are supraindividual and apersonal patterns of thinking and acting – is the »mediator« between social relations and social practice. Hence, a psychological contribution to social inequality research can be put forward.
Keywords: habitus, interpretative psychology, social inequality, socio-analysis, educational research
Bourdieu löst mit dem Habitus-Konzept die Problematik auf, die schon Marx und Engels umtrieb, nämlich die Beziehung des Seins und des Bewusstseins bzw. warum das Sein das Bewusstsein bestimme (Bremer 2007). Während der historische Materialismus die rechtlichen, politischen und ökonomischen Vorstellungen als »Ideologie« identifizierte, konnte nicht hinreichend erklärt werden, »wie der Weg von der Ökonomie zum menschlichen Kopf oder Herz geht« (Fromm 1932, 46). Mehrere Vertreter der Frankfurter Schule versuchten diese Lücke zu schließen, indem sie die Marx’schen Theorie durch die Freud’sche Psychoanalyse bereichert haben. Fromms Konzeption einer »Analytischen Sozialpsychologie« war der Versuch, die Ideologien aus dem Zusammenwirken von seelischem Triebapparat und sozial-ökonomischen Bedingungen ursächlich zu erklären (Fromm 1932).
In der Habitustheorie hat Bourdieu zu einer analogen Fragestellung gearbeitet. Auch Bourdieu sieht die Dominanz der gesellschaftlichen Strukturen über die (Geistes-) Haltungen der Individuen, welche dann wiederum in ihrer sozialen Praxis die Strukturen (re-) produzieren. Ihm geht es also um das Verhältnis von Statik und Dynamik, von Regelmäßigkeit und Innovation, von Erhalt und Veränderung. Allerdings vollzieht er zwei wesentliche Modifikationen: Er erweitert erstens den Kapitalbegriff und macht diesen dann (wieder) anschlussfähig für Analysen der Sozialstruktur und der Lebensstile; und zweitens setzt Bourdieus Theorie der sozialen Welt weder Klassen noch Triebe, nicht einmal ein per se 'freies' Subjekt voraus.[1] Vielmehr basiert sein Konzept des sozialen Raums auf einer Betrachtung von Kapitalstruktur und -volumen. Dabei unterscheidet er zwischen ökonomischem Kapital (Geld, Besitz), kulturellem Kapital (Bildungsabschlüsse, Kompetenzen, Kulturgegenstände) und sozialem Kapital (Solidarität und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe) (Bourdieu 1983). In diesem horizontal und vertikal differenzierten sozialen Raum hält jede Person eine gewisse Position inne. Jede dieser Positionen korrespondiert tendenziell mit Dispositionen und Lebensstilen, also mit Einstellungen, Haltungen und Handlungspraktiken. Die Gesamtheit dieser Dispositionen bezeichnet er als Habitus.
Sein Habitus-Begriff hat also durchaus Bezüge zu dem, was der Alltagsgebrauch des Begriffs fokussiert, nämlich das Erscheinungsbild und den Verhaltensstil eines Menschen und damit die Art, mit der er auf andere wirkt. Der entscheidende Unterschied steckt im Detail. Bourdieu fragt insbesondere danach, woher der Habitus kommt und wem er zugeschrieben wird. Beide Fragestellungen hängen unmittelbar miteinander zusammen und machen deutlich, dass es Bourdieu auf die gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen ankommt, durch die Unterschiede in Erscheinung treten und sich aufrechterhalten. Der Habitus umfasst dabei die gesamte äußere und innere Haltung eines Menschen. Allerdings kommt es Bourdieu nicht auf einen deskriptiven Begriff, sondern auf ein Konzept an, welches die Wechselwirkungen in ihrer Gesamtheit umfasst:
»Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen […] erzeugen Habitusformen, d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken« (Bourdieu 1987a, 164 f.).
Bourdieu konzipiert den Habitus als Bindeglied zwischen der gesellschaftlichen Geschichte bzw. dem sozialen Gedächtnis auf der einen Seite und dem gegenwärtigen Wahrnehmen, Denken und Handeln der Individuen auf der anderen Seite. Die Position, die eine Person im sozialen Raum mit ihrer spezifischen Kapitalstruktur einnimmt, ist in einem Zusammenhang mit ihrem Lebensstil zu sehen. Der Habitus kann also als inkorporiertes Schema einer vorgegebenen, vor dem Individuum existierenden Gesellschaft gesehen werden (strukturierte Struktur), welches sich in der gegenwärtigen sozialen Praxis stetig aktualisiert und die Gesellschaft, so wie sie ist, erzeugt (strukturierende Struktur). Er entstammt vergangenen gesellschaftlichen Unterschieden und beeinflusst das Handeln der Individuen heute. Auf diese Weise gelang es Bourdieu, die Reproduktion sozialer Ungleichheit und damit die Stabilisierung der Sozialstruktur durch die aktuelle soziale Praxis der Individuen zu erklären. Der Habitus ist maßgeblich gesellschaftlich geformt, beeinflusst dann aber das subjektive Empfinden und Handeln der Akteure. Damit fungiert der Habitusbegriff als Brückenkonstruktion zwischen sozialen Prozessen und Strukturen auf der Mikro- und Makroebene.
Im Habitus-Konzept zentriert Bourdieu die Tatsache, dass es sozial geformte »feine Unterschiede« (oder genauer: Unterscheidungen) in der Gesellschaft gibt, die aus sozialen Ungleichheiten entstehen und diese wiederum reproduzieren. Bestimmte strukturelle Existenzbedingungen bringen nach Bourdieu (1987a) typische Habitusformen hervor. Das Habitat (verstanden als ein Segment des sozialen Raums und die soziale Position in diesem Raum mit der entsprechenden Kapitalausstattung), in dem ein Mensch aufwächst, erzeugt Denk- und Handlungsmuster, die ihrerseits der Wahrnehmung und Einschätzung späterer Erfahrungen zugrunde liegen. Die Verinnerlichung des Sozialen findet bereits in den frühen Phasen des sozialen Lebens statt. Die familiäre Sozialisation ist die für die Entwicklung des Habitus konstituierende Instanz. In der Familie wird ein selektiver Ausschnitt des sozialen Lebens erlebt, der einen Mikrokosmos gesellschaftlicher Verhältnisse – man könnte auch sagen: eine schichtspezifische Alltagskultur – als 'natürlich' manifestiert. All das, was in den frühen Lebensphasen bewusst oder unbewusst erlebt und erlernt wird, stellt für das Kind die gesamte soziale Welt dar. Alternative Lebensweisen, die nicht erlebt werden, werden demnach auch nicht im Habitus repräsentiert. Inhalt und Form der Kommunikation, Gestik, Mimik, Sprache und Sprachgebrauch, Konfliktbearbeitung und Konsensfindung, Umgangsformen, die Bewertungen (bspw. Stereotypisierung und Differenzierung) sozialer Prozesse, Bildungsaffinität und -motivation, Lernstrategien und -formen, Selbstdarstellung und Selbstbild, Geschlechtsbilder, Körperlichkeit, Präferenzen in Bezug auf Art und Form von Kleidung, Freizeitgestaltung, Ernährung, Architektur, Kunst, die Internalisierung sozialer Werte und gesellschaftlicher Normen, (Selbst-) Disziplin, Leistungsbewusstsein usw. werden nicht in ihrer ganzen Bandbreite des gesellschaftlich Möglichen erfahren, sondern nur in selektiver, sozialstrukturell geprägter Form. Auch die nächsten sozialen Beziehungen sind vom näheren Umfeld der Familie und dem Wohnort bzw. Stadtteil inklusive der dort ansässigen pädagogischen Einrichtungen, Schulen und Freizeitinstitutionen geprägt, die in der Regel nicht nur eine physische, sondern auch eine soziale Nähe zum Familienmilieu aufweisen. Das Kind wächst in einem Mesosystem (Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Peers, Schule) auf, das eine (schicht-) spezifische Kapitalausstattung aufweist und in dem sich entsprechend Strategien, Symbole, Praktiken usw. etabliert haben, die sich in diesem Ausschnitt des sozialen Raums zur Bewältigung des Alltags als nützlich erwiesen haben. In den Entstehensbedingungen einer Biografie entstehen spezifische Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, durch die die Biografie folglich geprägt wird.
Alle etablierten Lerntheorien entsprechen dieser Sichtweise, unabhängig davon, ob es sich um behavioristische Ansätze, die Theorie des sozialen Lernens, kognitivistische oder konstruktivistische Ansätze handelt: Diese Rekonstruktionen des Lernens haben – trotz enormer Differenzen in Bezug auf Selbst- und Fremdsteuerung des Erkenntnisprozesses und der daraus entwickelten didaktischen Schlussfolgerungen – gemeinsam, dass das Umfeld, welches belohnt oder bestraft, zum Nachahmen anregt, Informationen und Probleme oder Interpretationsweisen anbietet, von fundamentaler Bedeutung ist. Die soziale Dimension des Lernens, insbesondere durch Interaktionsprozesse, wird in jüngster Vergangenheit sowohl von der geisteswissenschaftlich als auch von der naturwissenschaftlich inspirierten Bildungsforschung betont. Selbst in der Hirnforschung und der Genetik wird vielfach das Bild der natürlich 'angelegten' Klaviatur (genetische Dispositionen) bemüht, welches jedem Menschen qualitativ und quantitativ unterschiedliche 'Tasten' (Talente/Fähigkeiten) zuschreibt, die sich allerdings – und hier liegt der Schwerpunkt – erst durch das (frühe) Ausprobieren der Tasten zu Talenten und Fähigkeiten entwickeln (soziale Dispositionen). Hierin liegt entsprechend eine soziale Determinante in Entwicklungsprozessen, die auch die naturwissenschaftlich inspirierte Lernforschung feststellt. Eine interessante Brücke zur Gehirnforschung skizzieren Krais und Gebauer (2008). Ausgehend von der Entdeckung neuronaler Schemata, die sich im Erleben der Welt entwickeln und die den »Charakter eines Dispositionsnetzes« haben (Lenk 1995, 70), stellen sie die Frage, ob man nicht vielleicht annehmen könne, »dass die Kategorie des Habitus kein reines Gedankenkonstrukt ist, sondern eine materielle Entsprechung im menschlichen Organismus hat« (Krais & Gebauer 2008, 63 f.).
Der Habitus, der sich im sozialen Kontext der Kindheit herausbildet, wird von Bourdieu (1976, 171) auch als »zweite Natur« bezeichnet. Einmal herausgebildet wirkt der Habitus für den Habitusträger, aber auch für sein Umfeld natürlich, wie angeboren, das Wesen des Individuums charakterisierend. Als unbewusster, ansozialisierter »Instinktersatz« und für das Individuum kaum wahrnehmbar ist er nicht ohne Weiteres selbstreflexiv erfassbar (Bourdieu 2001, 182). Er funktioniert eben deshalb so gut, weil er hinter dem Rücken seines Trägers wirkt. Entsprechend wird die soziale Herkunft als selbst-verständlich angesehen – und damit auch die Schichtzugehörigkeit.
In Zeiten, in denen Punks Golf spielen und Wein trinken, alle Kinder die gleichen Spielkonsolen besitzen, jeder für wenige Euro einen Flug buchen kann, alle bei IKEA mit dem Leben beginnen können statt einfach nur zu wohnen, ist der materielle Unterschied nicht der entscheidende Faktor. So betont bspw. Nolte (2004, 65), dass die Kultur der Unterschichten von materiellen Notlagen längst entkoppelt sei, denn Lotto und Sportwetten sowie der Konsum von Computerspielen, DVDs, Tabak, Alkohol usw. sind nicht billiger als die Lektüre von Büchern. Es sind insbesondere weiche Faktoren in der Alltagsgestaltung, die den Unterschied ausmachen. Die wohl relevantesten gesellschaftlichen Unterscheidungen vollziehen sich im Bildungswesen. Hier finden immer noch deutliche Herrschaftskämpfe um Privilegien statt. Und im Bildungswesen (insbesondere in Deutschland) hängen die Erfolgschancen messbar mit der sozialen Herkunft zusammen (Vester 2008). Dies wird zum einen damit begründet, dass in der Schule Fähigkeiten vorausgesetzt werden, die eigentlich in der Schule gelernt werden sollten (Böttcher 2005), wodurch die Bedeutung der Familiensozialisation für die Bildungskarriere steigt. Zum anderen gibt es auch deutliche Hinweise darauf, dass die soziale Herkunft bei der Notengebung und der Schulformempfehlung mitbewertet wird (Ditton 2008). Zum dritten kann eine herkunftsbedingte Form der Selbstdiskriminierung bei Bildungsentscheidungen in den Familien nachgewiesen werden (Boudon 1974).
Daher überrascht es nicht, dass in der Bildungsforschung (insbesondere in der Erziehungswissenschaft und der Bildungssoziologie) die Habitustheorie und Habitusanalysen eine besondere Rolle spielen (z.B. Büchner & Brake 2006, Bremer 2007, Friebertshäuser et al. 2009, Berger & Kahlert 2008, Becker & Lauterbach 2008).[2] Mit dem Eintritt in die Schule werden Kinder verschiedener sozialer Herkunft mit einer bestimmten bildungsbürgerlichen bzw. mittelschichtorientierten Logik des Lernens konfrontiert (Jünger 2008, Dalhaus 2010). Damit haben die einen Kinder strukturelle Vorteile, die anderen deutliche Nachteile.[3] Nach Bourdieu (1998, 35) vollzieht sich die Reproduktion gesellschaftlicher Ordnung über die »Relation zwischen den Strategien der Familien und der spezifischen Logiken des Bildungssystems«. Die in der Öffentlichkeit vielfach geäußerte Forderung, die Familien sollten ihrer Verantwortung bei der Förderung ihrer Kinder nachkommen, verfehlt den hier verfolgten Gedanken. Sowohl die Frage danach, woher die Eltern wissen sollen, wie sie ihre Kind unterstützen können, als auch die Tatsache, dass Eltern in der Regel glauben, das richtige Leben zu führen, und keinen Sinn darin sehen, dass sich ihre Kinder an anderen Werten und Milieus orientieren, entgehen dieser Forderung. Die Familie wird bzw. fühlt sich dann in gewisser Weise degradiert oder sie muss – will sie dem Kind ein besseres Leben ermöglichen – die eigene Familienkultur entwerten.[4]
Der sozialen Ungleichheitsforschung verschließt sich die Psychologie weitgehend. Lediglich in Nischen der Psychologie ist die Reproduktion struktureller Benachteiligung in der psychologischen Forschung repräsentiert. Vor diesem Hintergrund kann der Versuch von Zander (2010) verstanden werden, mit der Erschließung der Habitustheorie einen weiteren Zugang für die Psychologie zu diesem Themenfeld zu eröffnen. Inwieweit der Habitusbegriff hierfür psychologisch begründet werden muss – wie es Zander fordert – soll im Weiteren erörtert werden. Um der Frage nachzugehen, ob (und wenn ja wie) die Habitustheorie für die Psychologie fruchtbar gemacht werden kann, wird eine analytische Auseinandersetzung mit der Gegenstandsbestimmung der Psychologie selbst notwendig.
Die Aufteilung von Soziologie und Psychologie als zwei Disziplinen mit relativ scharfen Differenzen in Bezug auf Gegenstandsbestimmung, Theorie und Methodologie, die 'arbeitsteilig' den Menschen in der Gesellschaft in den Blick nehmen, wird nicht zuletzt von Bourdieu selbst kritisiert. Im Habituskonzept Bourdieus kann durchaus eine gewisse Chance gesehen werden, eine Rezeptionslücke zwischen einer soziologischen und einer psychologischen Gegenstandsbestimmung zu schließen. Die Schlussfolgerung von Zander (2010), Bourdieus Soziologie komme nicht ohne psychologische Fundierung aus und der Habitusbegriff müsse u. U. modifiziert oder gar ersetzt werden, bleibt allerdings nur rudimentär begründet, denn es wird nicht klar herausgestellt, was eine psychologische Fundierung des Habitusbegriffs meint. Aus zwei Gründen folgen wir dieser Forderung nicht. Zum einen bestehen keine theoretisch-analytischen Perspektiven, die systematische Ansätze bieten, das Habituskonzept zu revidieren.[5] Zum anderen bleibt unberücksichtigt, dass man – will man ein solches Vorhaben umsetzen – im Vorfeld etwas genauer charakterisieren sollte, was denn das jeweils Spezifische der einen und der anderen Disziplin sein soll. Es wird daher zu fragen sein: Wie viel Psychologie 'steckt' bereits im Bourdieuschen Ansatz bzw. umgekehrt, welche Aspekte des Habitus sind bereits an einer psychologischen Gegenstandsbestimmung orientiert? Erst nach einer solchen Prüfung kann der Habitusbegriff (inter-) disziplinär eingeordnet werden.
Bereits 1894 forderte Wilhelm Dilthey eine Bestimmung der Wissenschaft Psychologie im Rahmen der Geisteswissenschaften und machte in diesem Zusammenhang auf eine Entzweiung der Psychologie aufmerksam. Seinerzeit stellte er der erklärenden Psychologie eine verstehende Psychologie gegenüber.[6] Die erklärende Psychologie charakterisierte er vor allem durch ihre Neigung, Psychisches auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten erklären zu wollen. Dieser Auffassung stellt Dilthey eine psychologische Gegenstandsbestimmung gegenüber, die sich stärker der Rekonstruktion widmet, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht (Dilthey 1961). Dilthey selbst förderte hierbei die zweite Richtung und fasste das psychische Geschehen ausdrücklich als eine »Struktur« (Dilthey 1961, 192) zwischen psychischen Phänomenen (Erlebens- und Handlungsformen) auf. So gesehen ist Dilthey einer der ersten, die den Strukturbegriff in die Psychologie brachten. Heute können wir feststellen, dass diese zweite Auslegung von Psychologie mehr oder weniger an den Rand der akademischen Psychologie gewandert ist, während erstere die Disziplin der Psychologie beherrscht – auch wenn zuweilen Schema-Theorien oder systemische Ansätze deutlich stärker mit Diltheys »verstehender Psychologie« korrespondieren. Diese haben jedoch keineswegs den Status von Hauptströmungen.
Verfolgt man die Entwicklung der Psychologie weiter, lässt sich feststellen, dass sich Diltheys Zweiteilung der Disziplin heute als zu einfach bzw. zu grob erweist. Zwar werden die Hauptströmungen nach wie vor überwiegend durch einen naturwissenschaftlich-objektivistischen Orientierungsrahmen zusammengehalten, beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings eine nahezu explosionsartige Zersplitterung in eine Vielzahl von Subdisziplinen (etwa Wahrnehmungspsychologie, Kognitionspsychologie, Neuropsychologie usw.) mit einer entsprechenden 'Gegenstands-Fragmentierung'. Diese Subdisziplinen gliedern sich in unzählige spezifizierte Forschungsbereiche, die jeweils Jahr für Jahr eine unüberschaubare Menge an Befunden auf der Mikroebene produzieren. Man kann durchaus von einer Atomisierung und Autonomisierung verschiedener Unterdisziplinen sprechen.[7]
Für die hier verfolgte Fragestellung gilt es also festzuhalten: Die Psychologie ist nicht durch eine Gegenstandsbestimmung hinreichend zu charakterisieren, sondern unter Psychologie wird derzeit eine Vielzahl unterschiedlicher Gegenstandsbestimmungen 'gehandelt'. Will man den Habitusbegriff psychologisch begründen, stellt sich aber unweigerlich die Frage nach der konstitutiven Differenz zwischen Soziologie und Psychologie. Zander (2010) gibt hierauf indirekt eine Antwort: Es ist der einzelne Mensch, das Individuum, noch schärfer: das 'Innere', was den Gegenstand der Psychologie ausmache. Das Innere ist dabei so etwas wie eine Haut, die alle selbstständigen Subdisziplinen zusammenhalten soll. Demgegenüber vertreten wir die Perspektive, dass Bourdieu mit dem Habituskonzept bereits eine psychologische Gegenstandsbestimmung vornimmt. Denn: Begreift man Diltheys verstehende Psychologie als eine Entwicklungslinie der Disziplin, dann kann Bourdieu durchaus bereits in die Riege psychologischer Gegenstandsbestimmung eingereiht werden. Es sind Psychologen, wie etwa Dilthey, Elias, Freud, Nietzsche, Salber, Spengler u.a., die das psychische Geschehen als eine Form von Selbstbehandlung vergegenständlichen, in dem Sinne, dass zwischen den beobachtbaren und beschreibbaren Erlebens- und Handlungsformen eine Art Gliederungs- und Strukturierungssystem wirksam ist, das auf die Behandlung elementarer menschlicher Probleme zentriert ist (wie etwa die Verhältnisse zwischen Lust und Unlust, Aktivität und Passivität oder Erhalt und Veränderung). Vermittlungsprozesse, wie zum Beispiel Kompromissbildungen und Abwehrmechanismen, werden hierbei als 'psycho-logische' (im Gegensatz zu formal-logischen) Umgangsformen des Strukturierungssystems aufgefasst. Durch Umstrukturierung, Umzentrierung, Verlagerungen, Aufteilungen etc. ringt der 'psychische Apparat' in gewisser Weise um eine Lösung unlösbarer Aufgaben. Anders formuliert: Jede Lösungsform schafft unweigerlich neue Probleme. Beispielsweise kann das System sich an frühe Lösungsmuster fixieren und sich Probleme einhandeln, weil es nicht zu einer Prüfung im Hier und Jetzt kommt, d.h. frühe Lösungsmuster sind u.U. inadäquat geworden angesichts sich verändernder Rahmenbedingungen.
Bei der skizzierten Selbstbehandlung handelt es sich um eine Gegenstandsbestimmung, die nicht notwendigerweise auf den Einzelnen, das Individuelle oder gar ein 'Innen' beschränkt ist. In der Alltags- und Kulturpsychologie ist es durchaus üblich, sowohl individuelle Strukturierungsprozesse als auch kulturelle Strukturierungsprozesse systematisch aufeinander zu beziehen (vgl. etwa Blothner 2003, Becker 2010). Jedoch richtet sich der Fokus kaum auf soziale Ungleichheiten. Mit dem Begriff des Habitus und der Veränderung desselben wird eine solche Selbstbehandlung im Kontext dynamischer gesellschaftlicher Prozesse und sozialer Ungleichheitsstrukturen beschrieben.
Auch Bourdieus Systematisierung lässt wie angedeutet eine Nähe zu der Gegenstandsbestimmung 'Selbstbehandlung' erkennen, indem er der Frage nachgeht, wie Veränderungen in einem 'festgelegten' System überhaupt möglich sind. Bourdieu, der selbst weite Strecken im sozialen Raum zurückgelegt hat,[8] hat seine wissenschaftliche Arbeit zwar eher den gesellschaftlichen Regelmäßigkeiten als den Innovationen gewidmet. Daher muss man in vielen verschiedenen Werken nach Ansätzen zur Überwindung der sozialen Grenzen suchen. Dennoch können nach genauer Lektüre Erklärungsmuster für individuelle Bewegungen im sozialen Raum und damit für Veränderungen des Habitus gefunden werden. Sie müssen allerdings um weitere analytische Konstruktionen im Anschluss an Bourdieu ergänzt werden: Zu fragen ist erstens, wie es dazu kommt, dass der Habitus sich im Zeitverlauf bzw. in einer Biografie verändert, und zweitens, welchen Herausforderungen sich diese Personen zu stellen haben.
Für die Veränderungen des Habitus sind zwei idealtypische Möglichkeiten denkbar:
Zum einen kann ein Mensch in soziale Situationen geraten, in denen er mit seinen Handlungsorientierungen und -strategien nicht weiter kommt. Bourdieu deutet diese Möglichkeit folgendermaßen an: »Die den objektiven Bedingungen vorgreifende Angepasstheit des Habitus ist ein Sonderfall, der (in den uns vertrauten Universen) zwar besonders häufig auftritt, den man aber nicht verallgemeinern sollte« (Bourdieu 2001, 204). Die dauerhafte Nicht-Passung von Habitus und sozialem Kontext kann über eine Verunsicherung entweder zu Orientierungslosigkeit und Rückzug in das Herkunftsmilieu[9] oder zu einem kreativen Lernprozess und schließlich zu einer Habitustransformation führen. Dann würden Geschmack, Bildungsziele usw. von den Herkunftsbedingungen (nach und nach) abweichen, allerdings in Abhängigkeit vom Zeitpunkt, an dem diese Prozesse beginnen. Hierbei handelt es sich um einen unbewussten Prozess. Dieser Typus von Veränderung wird durch den sich stetig beschleunigenden sozialen Wandel, Veränderungen in der Arbeitswelt und durch Transnationalisierung (oder auch durch Krisensituationen) begünstigt. Das regelmäßige Zusammentreffen »unterschiedlicher Habitusformen und Strukturen« führt dann dazu, dass »die Kette der wechselseitigen Verstärkung von inkorporierten Erwartungen und objektivierten Wahrscheinlichkeiten durchbrochen wird« (Raphael 2004, 269). Es können also durchaus gesellschaftliche und individuelle Verhältnisse existieren, in denen die Entstehungsbedingungen des Habitus in der Sozialstruktur kein Pendant finden.[10] Als Besonderheit dient hier auch das deutsche Schulsystem mit seinen selektiven Schulformen, welche das Zusammentreffen verschiedener Habitus kaum begünstigen (bzw. diesem eher im Wege stehen).
Zum anderen ist eine bewusste Entscheidung denkbar, in der ein Mensch eine implizit soziologische Analyse, eine Sozioanalyse (Rieger-Ladich 2005), vollzieht.[11] Der Mensch erkennt die Gesetzmäßigkeiten und restriktiven Elemente seiner (familial) vorgeprägten Herkunft und strebt danach, diesen gegenüber eine gewisse Freiheit zurückzugewinnen. Hierbei handelt es sich also um eine differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft (und indirekt auch mit dem eigenen Habitus), beispielsweise innerhalb einer bestimmten Lebensphase. Dieser biografische Bruch wird bewusst vollzogen und geht einher mit einem (aktiven) An-sich-selbst-arbeiten, welches Zeit und Mühe beansprucht, da über viele Jahre einverleibte Muster aufgebrochen bzw. kontrolliert werden müssen. Hierbei handelt es sich um eine zielgerichtete, intentionale Habitustransformation. Diese Veränderungen des Habitus »sind das Resultat einer aktiven Auseinandersetzung mit den erweiterten Möglichkeiten der Öffnung des sozialen Raums und den erfahrenen strukturellen Zwängen« (Vester et al. 2001, 324 f.).
Die Idee einer flexiblen Umwandlung des Habitus entspricht Gerhard Schulzes (1992) Annahme explosionsartig gewachsener Möglichkeitsräume in der Gegenwartsgesellschaft und spielt auf Ulrich Becks (1996) Individualisierungstheorem an (Alheit & Schömer 2009, 427 f.). Im Sinne Bourdieus sollte aber vielmehr davon ausgegangen werden, dass im ursprünglichen Habitus schon eine gewisse Modifikationsfähigkeit angelegt ist: ein im Habitus angelegter begrenzter Raum für Innovationen (Wigger 2009).[12] Der Habitus ermöglicht und begrenzt, stellt sich als »Rahmungen und Spielräume des Selbst« (Wittpoth 1994) gleichermaßen dar. Empirische Studien (Vester u.a. 2001) zeigen dies auch weiterhin und rechtfertigen die Annahme eines begrenzten Spielraums für Veränderungen, den Bourdieu dem Habitus zuschreibt. Allerdings korrespondieren die Ansätze von Beck, Schulze und Bourdieu dahingehend, dass der Möglichkeitsraum wächst, je komplexer eine Gesellschaft ist und je häufiger dadurch Missverhältnisse zwischen objektiven und einverleibten Strukturen auftreten.[13] Denn erst die Tatsache, dass der Habitus unbewusst, unsichtbar hinter dem Rücken seines Trägers und dessen Interaktionspartner funktioniert, lässt ihn funktionieren. In Missverhältnissen tritt das restriktive und träge Moment, das dem Habitus inhärent ist, offen zutage und ermöglicht dadurch Selbstreflexion im Sinne eines praktischen Reflektierens (Bourdieu 2001, 206). Bereits die Klassiker der Soziologie haben die veränderten Handlungs- und Wahrnehmungsmodi in komplexen Gesellschaften beschrieben, so beispielsweise Max Weber (1972), der davon ausgeht, dass zweckrationale Handlungsmuster in modernen Gesellschaften zunehmen, oder Georg Simmel (1968), der beschreibt, dass der Grad an wahrgenommener Fremdheit unter den Menschen infolge der Modernisierung wächst. So haben sich Bourdieus Kategorien auch leicht verschoben. Während in den Arbeiten aus den 1960ern und frühen 1970ern die Klassen mit jeweils gleichartigen Habitus als wesentliche Dimension aufgeführt werden, rücken in den 1980ern und 1990ern Berufsgruppen und gesellschaftliche Teilsysteme (soziale Felder) immer stärker in den Vordergrund (Raphael 2004, 271 f.). Dies entspricht weniger einem grundlegenden Paradigmenwechsel, sondern eher der wachsenden Fragmentierung der Gesellschaften. Veränderungen des Habitus werden also durch mehr oder weniger starke Irritationen vermittelt, durch die das Dispositionssystem umgeordnet wird.[14]
Darauf bauen Milieu-Ansätze auf, insbesondere von Vester et al. (2001, 135 ff.), die von einer pluralisierten Klassengesellschaft sprechen. Sie arbeiten, ausgehend von Bourdieus Modell des sozialen Raums, differenziertere soziale Milieus für die deutsche Gesellschaft aus. In den Untersuchungen zu Milieuwechseln – die nicht zwingend horizontale Bewegungen (also Auf- bzw. Abstiege) sein müssen, sondern sich auch aufgrund von neu entstandenen oder weg gebrochenen Milieus ereignen können – erkennen sie bei jüngeren Befragten »eine Spannung zwischen ihrer ursprünglich erworbenen Dispositionen und den Idealen und Werten ihrer neuen Milieuzugehörigkeit«; dabei deuten diese Wechsler »ihre Biographie als lebenslangen Lernprozess, in dem sie diese Spannung in Kompromissen zu lösen versuchen« (Vester et al. 2001, 324 f.).
Vor dem hier skizzierten Hintergrund kann festgestellt werden, dass Bourdieus Habituskonzept bereits eine psychologische Gegenstandsbestimmung beinhaltet und nicht erst psychologisch fundiert werden muss. Dies gilt allerdings nur in Bezug auf eine »verstehende Psychologie«.[15] Methodisch bewegt sich Bourdieu bereits auf psychologischem Terrain, wenn er die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft zwar einerseits mittels objektivistischer Verfahren ermittelt und dabei nach allgemeingültigen Funktionsprinzipien sucht, andererseits aber diese Daten durch eine konstruktive Beschreibung individueller Erlebens- und Handlungszusammenhänge (bis hin zur Beschreibung seiner persönlichen Erfahrungen[16]) ergänzt. Indem er ausdrücklich einen problemzentrierten und störungsanfälligen Auseinandersetzungs- oder Vermittlungsprozess zwischen determinierenden (gesellschaftlichen) Bedingungen und potenziellen individuellen Freiheitsgraden in Szene setzt, nähert sich Bourdieu auch konzeptionell einer psychologischen Gegenstandsbestimmung an, die derzeit allerdings wenig Beachtung im Mainstream der Disziplin findet. Diese abseitige Gegenstandsbestimmung definiert das psychische Geschehen als Behandlung elementar-menschlicher Probleme, die im Strukturierungsprozess selbst angelegt sind. Gegenstand ist aus dieser Sicht die Rekonstruktion eines autopoietischen Gliederungs- und Strukturierungssystems, das mit widersprüchlichen Verhältnissen umzugehen hat (z.B.: Wie viel Veränderung verträgt oder braucht Stabilität? Wo behindert Stabilität Innovationen? Wann drohen Veränderungen Stabilität aufzulösen? etc.). Der Habitus ist ein Modell, das solche Züge in analoger Weise ins Zentrum der Analyse stellt. Bourdieu fasst gesellschaftliche und allgemeingültige Funktionsprinzipien als Rahmen (oder 'soziale Logiken') auf, die den individuellen Spielraum einschränken. Das Gesellschaftliche sieht Bourdieu als relativ stabil an. Insofern Bourdieu diese »strukturierte Struktur« durch den Einzelnen in gewisser Weise 'transformiert' sieht, werden Einzelheiten (wie etwa Formen der Kommunikation, Gestik, Mimik, Formen des ästhetischen Geschmacks etc.) zu Ausdrucksformen gesellschaftlicher Unterschiede. Der Habitus geht aber darüber hinaus, denn die individuellen Ausdrucksformen dienen zugleich auch der Aufrechterhaltung jener Struktur. Im einzelnen Menschen reproduzieren sich also gesellschaftliche Unterschiede. Der Habitus ist vor diesem Hintergrund strukturierte und strukturierende Struktur zugleich. Anders formuliert: Im Habitus scheint die 'konservative' Tendenz von Gesellschaft durch und zugleich begreift Bourdieu den Habitus durch Spannungsverhältnisse fundiert. Folgerichtig fragt er nach verändernden und innovativen Tendenzen im System.[17] Diese konzipiert er als Herausforderung des Einzelnen, neue Entwicklungsrichtungen – im Sinne eines kreativen Umgangs mit ansozialisierten Vorgaben – zu produzieren. Wenn Bourdieu das Konzept des Habitus als eine Art von »Kompromissbildung« (2001, 211) in Anlehnung an Freud charakterisiert, dann ist das im Rahmen einer Form von Selbstbehandlung – verstanden als eine Form von Vermittlung zwischen Reproduktion (Erhalten) gesellschaftlicher Verhältnisse und dem Heraustreten aus diesen Verhältnissen (Verändern) – zu sehen. Denn Bourdieu selbst beschreibt in seinem soziologischen Selbstversuch (2002) ausführlich, dass der Einzelne in eine Art Kampf verwickelt wird, wenn er über die Reproduktion des Status quo hinausgehen will und auf eine Art 'Umstrukturierung' drängt (die bei Bourdieu hauptsächlich mit einer anderen Position im sozialen Raum gleichzusetzen ist). Genau hier besteht die Nähe zur Psychoanalyse, da auch Freud ein System vor Augen hat, das sich einerseits immer wieder reproduziert und zugleich auch auf Veränderung drängt. Auch hierbei kommt es zu spezifischen Funktionsverteilungen, Kämpfen zwischen unterschiedlichen Instanzen und zu Kompromissbildungen etc.
Zweifelsfrei gibt es noch eine Reihe von offenen Fragen der Habitustheorie. »Bourdieus Versuch, mit der Kategorie des Habitus 'das Erzeugungsprinzip aller (…) Eigenschaften (einer Person) und ihrer Werturteile über die eigenen so gut wie die Eigenschaften der anderen begrifflich zu fassen', kann den Blick für innere Ambivalenzen und Identitätskonflikte verstellen. Solche Ambivalenzen können aus widersprüchlichen inneren wie auch gesellschaftlichen Handlungsanforderungen resultieren, mit denen sich die Menschen auseinandersetzen müssen, zum Beispiel im Beruf und in der Familie« (Vester et al. 2001, 324 f.).[18]
Diesen Aspekten hat Bourdieu sich allerdings kaum systematisch gewidmet.[19] Genau hier liegt eine zentrale Schnittstelle zwischen soziologischen und psychologischen Theorien und Forschungen. Grundlage hierbei könnte die Auseinandersetzung bzw. Vermittlung von grundlegenden Verhältnissen sein, die 'menschliche Unternehmungen' allgemein bestimmen, seien es nun individuelle Lebensentwürfe oder übergeordnete gesellschaftliche Konstruktionen. Wenn Interesse und Bereitschaft vorliegen würden, empirische Befunde zu verbinden und soziale Strukturen und Prozesse grundsätzlich mit zu berücksichtigen und auf grundlegende Zusammenhänge hin zu vereinheitlichen, könnten für beide Disziplinen relevante Befunde generiert werden. Das Themenfeld 'soziale Ungleichheit' könnte dann auch für die psychologische Forschung an Bedeutung gewinnen.
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Der »Sozialcharakter« (Fromm 1981) hat ebenso eine gewisse Nähe zur Kategorie des Habitus wie der Begriff der »Mentalität«, wie ihn Geiger (1987) verwendet. Letzterer konstatiert, dass sich auch in der kapitalistischen Gesellschaft der 1930er ständische Sitten und Lebensauffassungen bewahrt hätten, die zu schichtspezifischen geistig-seelischen Haltungen (Mentalitäten) der Individuen führten (vgl. hierzu Vester et al. 2001, 167). Bourdieu bezeichnet diese ständisch geprägten Mentalitäten als klassenspezifische Habitus.
Selbst die PISA-Studien sind nicht unwesentlich durch Bourdieu inspiriert (Deutsches PISA-Konsortium 2005).
Vernachlässigt wird selbst von Professionellen, dass die »schulischen Settings und Praxisformen« nicht für alle Kinder Lernanreize anbieten (Alkemeyer 2009, 134).
Nach Peter Alheit und Frank Schömer (2009, 420), die Autobiographien von Aufsteigern aus dem 18., 19. und 20 Jahrhundert analysieren, scheint es so zu sein, "dass die Eltern oder das nähere soziale Umfeld die Aufstrebenden vom 'sozialen Fremdgehen' zurückzuhalten, ja nicht selten sogar mit ziemlich rabiaten Mitteln dieses Ausscheren aus dem Herkömmlichen zu verhindern suchen." Ein Ausscheren aus dem Herkunftsmilieu scheint also in vielerlei Hinsicht mit Hürden verbunden zu sein.
Dies gilt nur dann nicht, wenn man ein 'freies' Subjekt normativ annimmt. Die Definition von Reemtsma (1998), wonach ein Mensch nicht per se frei ist, sondern erst dann als frei bezeichnet werden kann, wenn er bestimmte Entscheidungen treffen kann, entspricht einer Perspektive, die mit dem Bourdieuschen Ansatz kompatibel erscheint.
Ganz ähnlich lautet die bekannteste Definition des Gegenstandes der Soziologie von Max Weber (1972, 1), der die Soziologie als eine Wissenschaft begreift, »die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« [Hervorhebungen von A.E.M./St.W.].
Dieser Befund lässt sich sicherlich auf nahezu alle Disziplinen übertragen. Für die Psychologie erweist sich dies jedoch als besonders schwerwiegend, da die Gegenstandsbestimmung der Gesamtdisziplin umstritten ist. Die Soziologie wird hingegen durch die starke Orientierung an den Gründungsvätern und Klassikern der Disziplin gleichermaßen differenziert und zusammengehalten.
Liebau (2006, 56) bezeichnet Bourdieu als jemanden, »der den Aufstiegsweg vom Provinzkind zum Wissenschaftsfürsten komplett durchlaufen hat«.
In Bezug auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in der Schule wurde dies bspw. von Vera King (2009), Rahel Jünger (2008) und Grundmann et al. (2008) beschrieben.
Solche Befremdungen des eigenen Selbst werden in vielfachen Bereichen »angeboten«, so z. B. bei riskanten, experimentellen Praktiken und Grenzerfahrungen in Sport und Popkultur (Alkemeyer 2009, Alkemeyer & Schmidt 2003, Schmidt 2004).
»Die Soziologie ist ein höchst machtvolles Instrument der Selbstanalyse, die es einem ermöglicht, besser zu verstehen, was man ist, indem sie einen die sozialen Bedingungen, die einen zu dem gemacht haben, was man ist, sowie die Stellung begreifen läßt, die man innerhalb der sozialen Welt innehat« (Bourdieu 1992, 223, zitiert nach: Bourdieu & Wacquant 2002, 96). Eine eindrucksvolle Sozioanalyse hat Pierre Bourdieu mit »Ein soziologischer Selbstversuch« (2002) selbst vorgelegt. Hier wird auch deutlich, wie biographische und soziale Prozesse die Wahrnehmung und Deutung des Selbst beeinflussen.
Da der Habitus »ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind« (Bourdieu 1987b, 251). Oder: »In Abhängigkeit von neuen Erfahrungen ändern die Habitus sich unaufhörlich. Die Dispositionen sind einer Art ständiger Revision unterworfen, die aber niemals radikal ist, da sie sich auf der Grundlage von Voraussetzungen vollzieht, die im früheren Zustand verankert sind« (Bourdieu 2001, 207).
Einzig in vormodernen Gesellschaften ist die Harmonie zwischen »Sein« und »Bewusstsein« weitgehend statisch gegeben. Daher hatte bereits Karl Marx, der zweifelsfrei in der Moderne lebte, Schwierigkeiten, das Verhältnis von »Sein« und »Bewusstsein« zu bestimmen. Eine andere Frage, die bereits Marx und Engels umtrieb, nämlich danach, wann es zu Wandel oder gar zu einer Revolution kommt, kann Bourdieu mit seiner Habitustheorie schlüssig beantworten. Der Prozess des Wandels ist nämlich nicht als Veränderung durch Subjekte zu verstehen; man sollte »nicht sagen, dass ein geschichtliches Ereignis ein Verhalten auslöste, sondern dass es diese auslösende Wirkung hatte, weil ein von diesem Ereignis affizierbarer Habitus ihm diese Wirksamkeit verlieh« (Bourdieu 2001, 190).
Eine Herangehensweise, die solche Prozesse biologisch zu erklären versucht, kann nicht nur in ihrer Erklärungskraft bezweifelt werden, sondern steht Erkenntnissen sozialer und kultureller Art regelrecht im Wege.
Inwieweit die erklärende Psychologie mit dem Habitusbegriff vereinbar ist, bedarf einer weiteren Prüfung. Psychologische Konzepte wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Motivation, Volition, Emotion, Einstellung, Gedächtnis und Lernstrategien sind – solange sie nicht biologistisch begriffen werden – in ihrer Sozialität 'Elemente' dessen, was Bourdieu in dem Konzept des Habitus vereint. Ob diese 'Schnittmengen' auch in der Forschungspraxis integriert werden können, muss hier offen bleiben.
Bourdieu (2002, 10): »Doch ich weiß sehr genau, […] daß mir […] tatsächlich erst nach und nach die Grundsätze klargeworden sind, die meine Arbeit bestimmt haben.«
Auch solche Innovationen werden in der naturwissenschaftlichen Psychologie durch die systematische Negation von 'Ausreißerwerten' übersehen.
Bourdieu beschreibt in einem ähnlichen Zusammenhang die Schwierigkeit, im sozialen Veränderungsprozess die Pole Flexibilität und Rigidität in der Waage zu halten: Wenn die Festigkeit allzu ausgeprägt ist, könnte der Habitus in anderen Milieus nicht mehr funktionieren; ist er zu anpassungsfähig, »löst der Habitus sich auf in dem Opportunismus einer Art mes momentanae, die nicht fähig ist, in der Begegnung mit der Welt ein Gefühl innerer Geschlossenheit zu bewahren« (Bourdieu 2001, 207).
Am Ende seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hat er diese Aspekte in den Blick genommen. In »Das Elend der Welt« (2005) analysierte er mit einer größeren Forschergruppe die biographische und narrative Verarbeitung sozialer Missstände und deren Überwindung.