Die gegenwärtige Psychologie versteht sich kaum als Gesellschaftswissenschaft noch betrachtet sie Gesellschaft als einen wichtigen Gegenstand. Dabei liegt die Relevanz einer Psychologie gesellschaftlichen Denkens und Handelns selbstverständlich überaus deutlich auf der Hand – die (auch) gesellschaftspolitischen Erschütterungen durch die Katastrophe in Fukushima, der »Krieg gegen den Terror« oder die Euro-Krise sind nur besonders spektakuläre Belege hierfür. Für die im engeren Sinne universitär betriebene Psychologie bleibt allerdings zu diagnostizieren, dass dem Konnex von Psychologie bzw. Psychischem und Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit zukommt, bisweilen scheinen weite Teile der akademischen Psychologie trotz aller Emphase auf »Kontexte« geradezu gesellschaftsvergessen zu sein. Wenn der Begriff der Gesellschaft in der Psychologie aufgegriffen wird, dann zumeist außerhalb oder lediglich am Rand des psychologischen Mainstreams, etwa – um nur zwei Stränge zu nennen – in unterschiedlichen Spielarten einer wie auch immer näher bestimmten kritisch orientierten Psychologie (s. z.B. Holzkamp 1972; Rexilius 1988 sowie im vorliegenden Heft das Interview mit Ali Wacker und den Beitrag von Anna Bandt) oder im Rahmen einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse bzw. einer analytischen Sozialpsychologie (z.B. Fromm 1932). Aktuell wird die Kategorie der Gesellschaft gerade auch in den Bestrebungen sichtbar, eine dezidiert Kultur inkludierende Psychologie zu stärken (s. z.B. Boesch/Straub 2007), jedoch wird mitunter nicht ganz zu Unrecht moniert, auch kulturpsychologische Arbeiten würden die »harten«, »klirrenden« (und welch martialische Adjektive auch immer in Anschlag gebracht werden) gesellschaftlichen Strukturen zu sehr vernachlässigen, wie Carl Ratner (z.B. 2011) immer wieder herausstellt.
Angesichts dieser Ausgangslage ist das Anliegen des Themenheftes »Gesellschaftliches Denken und Handeln. Entwicklungspsychologische Perspektiven«, thematisch einschlägige Problemstellungen einer der Teildisziplinen der Psychologie, der Entwicklungspsychologie, etwas näher zu beleuchten. Dies liegt u.E. auch deswegen nahe, weil die Entwicklungspsychologie im innerdisziplinären Kanon der Psychologie noch vergleichsweise gesellschaftssensibel ist (Barrett/Buchanan-Barrow 2005; Kölbl 2008; s. a. Kölbl im vorliegenden Heft). Man denke trotz aller Kritik (z.B. Mey 1999) etwa an die psychosoziale Identitätstheorie Erik Eriksons (1973) und das hieran anschließbare Modell der Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1948; s.a. – kritisch dazu – Kleeberg-Niepage im vorliegenden Heft), innerhalb derer gesellschaftlichen »Faktoren« eine bedeutende Rolle zugedacht wird, insbesondere aber an die vielfältigen Bemühungen der Psychologie der kulturhistorischen Schule, zu einer gerade auch ontogenetisch ausgerichteten Psychologie des gesellschaftlichen Menschen beizutragen (z.B. Lurija 1986 [1974]; Vygotskij 2002 [1934]; dazu: Kölbl 2006) oder die Tradition des genetischen Strukturalismus im weiteren Sinne, der sich nicht allein der Rekonstruktion des logisch-mathematischen Denkens, sondern auch des moralischen und anderer Aspekte des gesellschaftlichen Bewusstseins widmet (z.B. Furth 1979; Kohlberg 1996; Piaget/Weil 1976 [1951] und im vorliegenden Heft der Beitrag von Stefan Weyers). Erwähnens- und einer eigenen psychologiegeschichtlichen Untersuchung wert sind auch Arbeiten aus der deutschsprachigen Psychologie der 1920er und 1930er Jahre zu Armut und Reichtum sowie zum geschichtlichen Bewusstsein (Böge 1976 [1932]; Hetzer 1929; Sonntag 1932), die die Lebendigkeit einer (auch) qualitativ verfahrenden Psychologie in der Zeit der Weimarer Republik (Deutschland) bzw. der Ersten Republik (Österreich) unterstreichen (Billmann-Mahecha 1994; Mey 2010).
Mit dem vorliegenden Schwerpunkt verbinden wir das Anliegen, einen bescheidenen Beitrag zu einer auch pädagogisch relevanten Entwicklungspsychologie gesellschaftlichen Denkens und Handelns zu leisten: Wie entwickeln sich Strukturen, Formen und Inhalte politischen, ökonomischen, historischen, rechtlichen und moralischen Denkens? Gibt es klar differenzierbare Pfade innerhalb der Entwicklung gesellschaftlichen Denkens und wie sehen mögliche Zusammenhänge zwischen ihnen sowie zur allgemeinen kognitiven Entwicklung aus? In welchem Verhältnis stehen kognitive Entwicklungen zu unterschiedlichen Formen gesellschaftlichen Handelns? Welche Konsequenzen für schulische und außerschulische Bildungsprozesse legen thematisch einschlägige entwicklungspsychologische Einsichten nahe? Dies sind einige der Fragen, um die die hier versammelten Beiträge in der einen oder anderen Weise kreisen.
Den Anfang macht der Text von Carlos Kölbl. In ihm werden im Zuge einer versuchsweise systematisierenden Zusammenschau einschlägiger theoretischer und empirischer Arbeiten Umrisse des Forschungsfeldes skizziert und Desiderate identifiziert. Dabei erfährt die Diskussion bereichsspezifischer Entwicklungspfade und bereichsübergreifender Aspekte sowie auf das Gesellschaftsverständnis bezogener Bildungsbemühungen ein besonderes Gewicht.
Anna Bandt identifiziert sodann im Sinne der Kritischen Psychologie und der neueren Kindheitsforschung Leerstellen und Verkürzungen einschlägiger psychologischer, erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Forschungen zum Gesellschaftsverständnis von Kindern. Dabei wird der Vergesellschaftung von Kindern im Zeichen rezenter gesellschaftlicher Transformationsprozesse besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ganz im Sinne einer Subjektentwicklung, die als Widerspruchsverarbeitung aufgefasst wird, diskutiert die Autorin auch das Gesellschaftsverständnis von Kindern als – wie sie selbst schreibt – »Ausdruck widersprüchlicher Erfahrung und Verarbeitung der Lebensrealität«.
Während Anna Bandts Beitrag vor dem Hintergrund einer spezifischen psychologischen Strömung in gewisser Weise »das Ganze« anvisiert, widmet sich Stefan Weyers einem Teilbereich, der gerade für moderne Gesellschaften von großer Bedeutung ist, der Entwicklung rechtlichen Denkens. Dazu werden Recht und Moral zunächst aus rechtstheoretischer Perspektive beleuchtet, um sodann diesem Verhältnis in den prominenten Ansätzen von Lawrence Kohlberg und Elliot Turiel nachzugehen. An die theoretischen Vorklärungen schließen sich empirische Analysen zur Entwicklung von Rechtsvorstellungen im Kindes- und Jugendalter an, die in ein sechs Phasen umfassendes Modell münden.
Andrea Kleeberg-Niepage widmet sich in ihrem Beitrag einem anderen Teilbereich gesellschaftlichen Denkens und Handelns: der Genese politischen Denkens und Handelns am Beispiel der Entstehung von Rechtsextremismus in der Adoleszenz. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht die kritische Diskussion einer weitverbreiteten und auch praktisch folgenreichen Annahme zur Entstehung von Rechtsextremismus bei Jugendlichen. Diese Annahme läuft auf die Behauptung einer mangelnden historisch-politischen Bildung als Grund für die fehlgeschlagene Lösung der Entwicklungsaufgabe der politischen Sozialisation hinaus. Auch auf der Grundlage eigener empirischer Analysen – der Rekonstruktion biografischer Verläufe – verwehrt sich die Autorin gegen die schlichte Vorstellung der Entstehung von Rechtsextremismus als einer bloß individuellen Fehlentwicklung und weist auf ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Faktoren hin, wie die Rolle von Peers, der Familie und nicht zuletzt den in der Gesamtgesellschaft kursierenden Diskursen und Praktiken.
Ali Wacker darf gerade hierzulande als einer der Pioniere auf dem hier interessierenden Feld gelten, hat er doch mit dem von ihm Mitte der 1970er Jahre herausgegebenen Sammelband zum »Gesellschaftsverständnis von Kindern« (Wacker 1976) vergleichsweise früh Analysen zur Ontogenese des gesellschaftlichen Denkens dokumentiert, kommentiert und selbst geliefert. In dem am Ende des Themenschwerpunkts von uns mit ihm geführten Interview geht Ali Wacker unter anderem auf die Entstehung eben dieses Bandes ein, rekapituliert seine Berufsbiografie als wissenschaftlich tätiger Psychologe und erläutert sein langjähriges Engagement in der Arbeitslosenforschung, das sich auch in seiner Auseinandersetzung mit der Marienthalstudie ausdrückt. Das Interview ist nicht zuletzt als Beitrag zur Geschichte der bundesrepublikanischen Psychologie von Interesse, gerade im Hinblick auf die Spuren, die die Studentenbewegung hinterlassen hat.
Wir wünschen allen Lesenden eine anregende Lektüre und laden gerne ein, Kommentare zu den einzelnen Beiträgen oder dem gesamten Themenheft zu schreiben.
Barrett, Martyn & Buchanan-Barrow (Hg.) (2005): Children’s understanding of society. Hove, New York (Psychology Press).
Billmann-Mahecha, Elfriede (1994): Qualitative Sozialforschung in der Psychologie der Weimarer Republik: Beispiele aus der Kinder- und Jugendpsychologie. Psychologie und Geschichte 5(3/4), 208–217.
Boesch, Ernst E. & Straub, Jürgen (2007): Kulturpsychologie. Prinzipien, Orientierungen, Konzeptionen. In: Kornadt, Hans-Joachim & Trommsdorff, Gisela (Hg.): Kulturvergleichende Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie. Serie VII. Themenbereich C »Theorie und Forschung«. Göttingen (Hogrefe), S.25–95.
Böge, Kurt (1976 [1932]): Arm und Reich vom kindlichen Standpunkt gesehen. In: Wacker, Ali (Hg.): Die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses bei Kindern. Frankfurt/M. (Campus), S. 17–36.
Erikson, Erik H. (1973 [1959]): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M. (Suhrkamp).
Fromm, Erich (1932): Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie. Zeitschrift für Sozialforschung 1, 28–54.
Furth, Hans G. (1979): The world of grown-ups. Children’s conceptions of society. New York (Elsevier).
Havighurst, Robert J. (1948): Developmental tasks and education. Chicago (University of Chicago Press).
Hetzer, Hildegard (1929): Kindheit und Armut. Psychologische Methoden in Armutsforschung und Armutsbekämpfung. Leipzig (Hirzel).
Holzkamp, Klaus (1972): Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten. Frankfurt/M. (Fischer).
Kohlberg, Lawrence (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M. (Suhrkamp).
Kölbl, Carlos (2006): Die Psychologie der kulturhistorischen Schule. Vygotskij, Lurija, Leont’ev. Mit einem Nachwort von Alexandre Métraux. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Kölbl, Carlos (2008): Die Entwicklung gesellschaftlichen Denkens. In: Bolscho, Dietmar & Hauenschild, Katrin (Hg.): Ökonomische Grundbildung mit Kindern und Jugendlichen. Frankfurt/M. (Lang), S. 36–48.
Lurija, Alexander R. (1986 [1974]): Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse. Weinheim/Berlin (Acta Humaniora/VCH).
Mey, Günter (1999): Adoleszenz, Identität, Erzählung. Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen. Berlin (Köster). http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-39188 (Stand: 23.02.2012).
Mey, Günter (2010): Qualitative developmental psychology. In: Toomela, Aaro & Valsiner, Jaan (Hg.): Methodological thinking in psychology: 60 years gone astray? Charlotte, NC (Information Age Publishers), S. 209–230.
Piaget, Jean & Weil, Anne-Marie (1976 [1951]): Die Entwicklung der kindlichen Heimatvorstellungen und der Urteile über andere Länder. In: Wacker, Ali (Hg.): Die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses bei Kindern. Frankfurt/M. (Campus), S. 127–148.
Ratner, Carl (2011): Macro cultural psychology. A political philosophy of mind. Oxford (Oxford University Press).
Rexilius, Günter (Hg.) (1988): Psychologie als Gesellschaftswissenschaft. Geschichte, Theorie und Praxis kritischer Psychologie. Opladen (Westdeutscher Verlag).
Vygotskij, Lev S. (2002 [1934]): Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen. Weinheim (Beltz).
Sonntag, Kurt (1932): Das geschichtliche Bewußtsein des Schülers. Ein Beitrag zur Bildungspsychologie. Erfurt (Stenger).
Wacker, Ali (Hg.) (1976): Die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses bei Kindern. Frankfurt/M. (Campus).