Mit Blick auf die aktuell vorherrschende Tendenz der gesellschaftlichen Vereinnahmung von Kindern lassen sich die neuen Forschungsergebnisse als Antwort auf Vergesellschaftungsprozesse von Kindern lesen, die eine andere Qualität der Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Welt erfordern. Grundlegend für eine solche Argumentation ist eine Sichtweise, die den Kind-Weltzusammenhang nicht ausblendet und Kinder als Menschen ernst nimmt, die ähnlich den Erwachsenen von der Gesellschaft betroffen sind, an ihr teilhaben und sich mit ihr auseinandersetzen müssen.
Dies eröffnet Möglichkeiten, das Thema Kinder aus bestehenden Beschränkungen zu lösen und den Blick auf die gesellschaftlichen Bedeutungskonstellationen zu richten, die das Leben für Kinder und Erwachsene erschweren. Damit verbunden ist ein Perspektivwechsel in Bezug auf die Möglichkeiten von Kindern der Teilhabe an und Selbstverfügung über ihre/n Lebensbedingungen.
Schüsselwörter: Kinder, Subjektentwicklung, Gesellschaftsverständnis, Politik, politische Sozialisation, gesellschaftliche Verhältnisse
This article is based on the question, how research findings on children’s understanding of society can be perceived and integrated with the development of children’s subjectivity against the background of social transformation processes. Scientific examination on this topic lacks most of all an examination of children’s societal being and their subjective development on different levels such as subjective experience, parental position and the constellation of societal conditions.
In view of the currently prevailing tendency to socially monopolize children, the new research results can be read as an answer to socialisation processes of children requiring a new quality of confrontation with the environment. Such an argumentation is based on a point of view that does not ignore the relation between child and world, taking children seriously as human beings affected by, participating in and having to deal with society.
This allows for possibilities to free the subject of children from existing constraints and to focus on the constellations of societal relevance causing problems for children and adults. At the same time it includes a change of perspective concerning opportunities for children to participate in and take responsibility for their living conditions.
Keywords: children, development of subjectivity, concept of society, political socialisation, politics, societal conditions
Die Beschäftigung mit Kindern, ihren Lebenslagen, Interessen und Bedürfnissen ist keine Entdeckung der sog. neuen Kindheitsforschung[1], die sich unter dem Begriff der generationalen Ordnung[2] vermehrt mit Fragen ungleicher kindlicher Lebenslagen und -bedingungen auseinandersetzt (vgl. Bühler-Niederberger 2005; Hengst/Zeiher 2005; Honig 1999; Alanen/Mayall 2001).
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben gesellschaftliche Veränderungen, allen voran die zunehmende Industrialisierung zu einschneidenden Umbrüchen im Umgang mit Kindern geführt. So »dürfen« Kinder seitdem nicht mehr arbeiten, sondern müssen in die Schule gehen und das Kindeswohl stellt einen wichtigen Aspekt sozialstaatlicher Bezüge und Maßnahmen dar. Zeitgleich mit den Veränderungen der Lebensbedingungen hat auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kindern zugenommen (vgl. Breidenstein/Prengel 2005).
Relativ neu ist allerdings der Fokus mit dem das Leben von Kindern betrachtet wird. Während Kinderforschung lange hieß, sich mit den Problemen und Schwierigkeiten zu befassen, die Erwachsene mit Kindern haben (wie etwa die angemessene Erziehung und deren Resultate), sucht die neuere Kinderforschung die Welt aus der Perspektive von Kindern zu begreifen. Stellvertretend für den Wandel kann die Debatte um Kinderschutz versus Kinderrechte angesehen werden. Schutz wird Hilfsbedürftigen aus einer Perspektive des Hilfegebenden gewährt, während Rechte einem gleichberechtigten Partner gegenüber gewährleistet werden müssen.
Ein zentraler Impulsgeber der Kritik am autoritären Umgang mit Kindern hat seinen Ursprung in der 1968er-Bewegung. Angestoßen durch die Kritik am Umgang des Staates und seiner Vertreter mit dem Erbe des Faschismus, der fehlenden Entnazifizierung in den öffentlichen Institutionen und nicht zuletzt an den Universitäten und Schulen, ist auch das Leben von Kindern in den Fokus gerückt (Adorno 1969; Liebel 1969; Mollenhauer 1970). Ein Schlagwort lautete damals: »Weg mit den Kinderghettos!«, in denen »nichts mehr wichtig und nützlich ist« (Ulmann 1978, S. 428) und richtete sich gegen den Ausschluss von Kindern aus dem wirklichen Leben. Die Kritik zielte auf die »immer stärkere Privatisierung der Familie, die nicht mehr Produktionsgemeinschaft, sondern nur noch Reproduktionsgemeinschaft« (Holzkamp 1997a [1980], S. 110) ist, was dazu führt, dass auch das Kind in der Familie, von den »wesentlichen gesellschaftlichen Lebensbezügen isoliert ist« (ebd., S. 110).
Heute ist eine gegenläufige Tendenz zu beobachten. Das Leben von Kindern erscheint ähnlich dem allgemein verbreiteten Stress der Erwachsenen als Überforderung. Dieser Trend zeigt sich in vielen Bereichen des kindlichen Lebens, auch wenn er sich aufgrund der starken Unterschiede der Herkunftsfamilien schwer für alle Kinder verallgemeinern lässt. Gemeinsame Merkmale der Entwicklung lassen sich dennoch feststellen: Kindheit spielt sich heute vermehrt in den öffentlichen Institutionen ab und die schulische Bildung, mit Ganztagsschule und verkürzten Schullaufzeiten hat eher die Schoolreadiness[3] der Akteure und den Output Schüler im Fokus als eine umfassende Bildung von Kindern im Sinne des mündigen Bürgers (Adorno 1969; Heydorn 1970).
So resümieren Hornstein und Thole im Jahr 2005, dass »Kindheit heute eine eigenständige, in die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse eingebundene von diesen geprägte wie diese prägende Lebensphase [ist]. Ein Er- und Verleben der Kindheit außerhalb der gesellschaftlichen Modernisierungs- und Verwertungszusammenhänge ist heute keinem Kind mehr möglich« (Hornstein/Thole 2005, S. 533).
In Anbetracht dieser Feststellung lesen sich die Forschungsergebnisse der Kindheitsforschung, deren Augenmerk besonders auf die subjektiven Wahrnehmungen, Deutungen, Wissensbestände und Erfahrungen von Kindern in ihrer Lebenswelt gerichtet ist, wie eine Bestätigung. Sie haben gezeigt, dass Kinder im Grundschulalter[4] früher als angenommen über ein erhebliches gesellschaftliches wie politisches Wissen und Verständnis verfügen (Connolly/Smith/Kelly 2002; Connell 2004). Es entsteht der Eindruck, dass das Verständnis von Kindern bezüglich gesellschaftspolitischer Sachverhalte wie Krieg[5], Arbeitslosigkeit (Gläser 2002) oder die Einschätzung des Verhältnisses von Armut und Reichtum (Ramsey 2004) lange unterschätzt wurde oder sich verändert hat. So haben beispielsweise »vier von fünf Kindern schon einmal […] von Arbeitslosigkeit (81,5 Prozent) und Migration (88,9 Prozent) gehört [...]. Das Thema Terrorismus ist am wenigsten bekannt, allerdings kennen 58,5 Prozent der befragten Kinder auch dieses Thema« (Tausendpfund 2008, S. 7).
Allerdings muss differenziert werden, welche Themen und Begrifflichkeiten für die Kinder eine Rolle spielen. Abendschön und Vollmer (2007, S. 223) bemerken, dass »Kinder das ‚Zeug’ zum jungen Staatsbürger [haben] mit ihrem politischen Vorverständnis, ihrem Interesse und ihrer Begeisterungsfähigkeit können sie ihre Meinungen und Einstellungen kund tun«. Das kindliche Verständnis scheint sich allerdings weniger auf konkrete Begriffe zu beziehen, sondern auf das Bewusstsein sozialer Unterschiede, gesellschaftlicher Verhältnisse und das Bedürfnis sich zu diesen zu äußern. So wussten »die meisten der von uns befragten Kinder beispielsweise weder zu Beginn noch zu Ende der ersten Klasse mit den Begriffen ‚Parteien’ oder ‚Politiker’ etwas anzufangen« (ebd., S. 223).
Wenn Kinder ein größeres Wissen und Verständnis über gesellschaftspolitische Themen haben als bisher angenommen, stellt sich die Frage, wie Kinder zu diesem Verständnis kommen und welche Konsequenzen das für den Umgang mit Kindern sowie für das Denken von und über Kinder hat. Das erfordert gleichzeitig, die Vergesellschaftungsprozesse von Kindern neu zu denken.
Diese Frage wird im vorliegenden Artikel zum Ausgangspunkt für eine Analyse des Zusammenhangs zwischen den veränderten Bedingungen kindlichen Lebens und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft genommen. Damit bietet sich gleichzeitig die Möglichkeit, das Thema Kinder und Gesellschaft und die Frage wie sich kindliche Subjektivität konstituiert, »aus vorherrschenden familialistischen oder naturalistischen Restriktionen zu befreien« (Sünker 1991, S. 7) und für eine Auseinandersetzung über die Position und Lebenslagen von Kindern, die »aufgrund gesellschaftlicher Strukturen und Bräuche sowie gesetzlicher Einschränkungen (‚Minderjährige’) zu den eher machtlosen Bevölkerungsgruppen zu rechnen« (Liebel 2009, S. 96f.) sind, zu öffnen.
Ein veränderter Blick auf Kinder und ihre Lebensrealitäten, der sich vermehrt mit den Bedingungen, Strukturen und den Einschränkungen des Lebens von Kindern beschäftigt knüpft an die Forderungen Alanens an, die schon 1994 bemerkte, dass es erhebliche Analogien des Kinderthemas zu den Ansprüchen feministischer Forschung gibt. Dementsprechend formuliert sie als Aufgabe der Forschung »das existierende Wissen über Kindheit und das vorherrschende Verständnis über das Leben von Kindern, über ihre Interessen und Bedürfnisse, sowie den ihnen zugewiesenen Platz und seine Bedeutung in der Ordnung moderner Gesellschaften zu kritisieren« (Alanen 1994, S. 96). Die Analogie zur Frauenfrage ergibt sich durch die Perspektive unter der das Thema verhandelt wird. Es macht einen großen Unterschied, ob über Kinder geforscht und geredet wird,[6] mit Kindern geforscht wird[7] oder vom Standpunkt der Kinder und ihrer erfahrenen Lebensrealität ausgegangen wird.[8] Damit sind explizit auch der Blick Erwachsener auf Kinder, als Denken über und Beziehung zu weniger Mächtigen sowie der gesellschaftliche Standort und die Lebensverhältnisse von Kindern angesprochen. Weniger mächtig bedeutet in Bezug auf Kinder u.a., dass sie meistens keine freie Verfügung über Ausgang und Umgang mit anderen Menschen haben, noch Verfügung über Art und Menge des Essens bzw. Essenszeiten, ihnen die Schlafenszeiten und die Kleidung (sowohl, was wettertechnisch angebracht, als auch was schön ist) vorgeschrieben sind und sie in den seltensten Fällen über Geld verfügen können (Ulmann 2003 [1987]).
Auch wenn diese Tatsachen genauso für Teile der Erwachsenen gelten mögen, drückt sich darin das »ordnungsgemäße« Verständnis der Erwachsenen über Kinder aus. Der Umstand sollte nicht als generelle Personalisierung dieser Unterdrückungsverhältnisse in den Eltern verstanden werden, sondern deutlich machen, dass das Gesellschaftsverständnis von Kindern mit dem Verständnis der Gesellschaft über Kinder zusammenhängt und nicht getrennt davon analysiert werden kann.
Insofern kann sich das Gesellschaftsverständnis von Kindern nicht in der Beschreibung über Fähigkeiten der Mitbestimmung, der Wahrnehmung politischer Sachverhalte und politischen Wissens erschöpfen, sondern muss sich mit den Bedingungen des Aufwachsens von Kindern unter konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen und den darin eingeschlossenen Möglichkeiten der (un-) freien Entwicklung von Kindern auseinandersetzen. Um die Zusammenhänge angemessen rekonstruieren zu können, muss die Auseinandersetzung beim Verhältnis der Kinder zur Gesellschaft ansetzen.
Die Klärung des Verhältnisses von Kindern zur Gesellschaft berührt eine der Kernfragen der Sozialisationsforschung (Geißler 1996) und damit auch des Verständnisses von Sozialisation und Vergesellschaftung des Menschen. Die häufig gestellte Frage ist, ob Kindern »die Gesellschaftlichkeit erst nach und nach anerzogen werden muss« (Schlemm 2001, unpag.) oder ab wann Kinder gesellschaftliche Wesen sind. Gesellschaftlichkeit erscheint in diesem Kontext als Etwas, das zum Leben des Menschen irgendwie hinzukommen muss. Relevanz erhält diese Frage durch ihre weitreichenden Folgen für das Leben von Kindern. Wenn Gesellschaftlichkeit erworben oder gelernt werden muss, muss es Menschen geben, die dies den Kindern vermitteln oder sie dazu erziehen, wie es Almond in den 1960er Jahren vorgeschlagen hat:
»Politische Sozialisation ist der Prozess der Einführung in die politische Kultur. Sein Ergebnis ist eine Gruppe von Einstellungen, Wahrnehmungen, Wertstandards und Gefühlen im Hinblick auf das politische System, auf seine verschiedenen Rollen und auf die Rolleninhaber selbst. Zu diesem Ergebnis gehören auch solche Kenntnisse, Werte und Gefühle, die sich auf Ansprüche und Forderungen an das politische System wie auch auf seine maßgeblichen Leistungen beziehen« (Almond [1963], zitiert nach Hopf/Hopf 1997, S. 13).
Begründet wird diese Argumentation häufig mit der fehlenden Kompetenz von Kindern, gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, mit der Gesellschaft umgehen zu müssen und sich zu gesellschaftlichen Fragestellungen zu äußern – kurz: mit ihrer Sonderstellung von der Unterstützung der Erwachsenen abhängig zu sein und nicht ihren Teil zur gesellschaftlichen Reproduktion beitragen zu können und zu müssen. Obwohl aktuelle Theorien zur politischen Sozialisation von Kindern durchaus davon ausgehen, »dass Kinder zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung mit ihrer Umwelt in interaktiven und kommunikativen Beziehungen verflochten sind« (Ohlmeier 2006, S. 55) ist das konkrete Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht geklärt. Diese Unklarheit ist von Elias sehr anschaulich beschrieben worden:
»Halb bewußt, halb unbewußt tragen bis heute die meisten Menschen einen eigentümlichen Schöpfungsmythos mit sich: Sie stellen sich vor, daß am ‚Anfang’ zunächst ein einzelner Mensch in die Welt trat und daß sich andere Menschen erst nachträglich zu ihm gesellten. So steht es bereits in der Bibel. Aber Nachklänge dieser Bewußtseinsform zeigen sich heute auch in mancherlei anderen Fassungen […]. Es sieht so aus, als ob den erwachsenen Menschen beim Nachdenken über ihren Ursprung die Tatsache, daß sie selbst, daß alle erwachsenen Menschen als kleine Kinder zur Welt kamen, unwillkürlich entschwände. Immer von neuem, bei den wissenschaftlichen Ursprungsmythen nicht anders als bei den religiösen, fühlen sie sich zu der Vorstellung gedrängt: Am Anfang war ein einzelner Mensch, und zwar ein einzelner Erwachsener.[…] Mehr noch: Jeder einzelne Mensch ist von Natur so beschaffen, daß er anderer Menschen, die vor ihm da waren, bedarf, um aufwachsen zu können. Zu den Grundbeständen der menschlichen Existenz gehört das gleichzeitige Dasein mehrerer Menschen in Beziehung zueinander« (Elias 1996 [1939], S. 39).
Jenseits der Bedürftigkeit des Menschen, d.h. dass sich Kinder noch nicht alleine versorgen können, geht es auch darum, dass die individuelle Entwicklung des Menschen erst durch den sozialen (Gesellschafts-) Bezug möglich wird. Nur in Beziehung zu anderen Menschen im sozialen Leben, kann sich menschliche Individualität, als Verwirklichung der Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion entwickeln. Nach Marx handelt es sich beim Menschen daher »nicht nur [um] ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann« (Marx 1971 [1903], S. 616). Die in diesem Satz gespiegelte »Dialektik von Individuation und Sozialisation« (Krauss 1994a, S. 106) bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Lebens- und Vergesellschaftungsweise des Menschen kein Gegensatz, sondern das menschliche Leben das Ergebnis der Naturgeschichte ist (vgl. Osterkamp 2000). Der große Unterschied zu allem tierischen Leben ist, dass sich Menschen nicht nur so optimal wie möglich an gegebene Naturverhältnisse anpassen können, sondern »die Menschen [verändern] die äußere Natur in einem selbstständigen, gesellschaftlich-historischen Prozeß und schaffen damit die Bedingungen ihrer Entwicklung« (ebd., unpag.). Das bedeutet auch, dass dem menschlichen Vergesellschaftungsprozess eine andere Qualität der Aktivität und Schaffung seiner Lebensbedingungen zugrunde liegt, die nicht gegen die Natur, sondern gerade natürlich ist.[9] »Wir haben insofern eine gesellschaftliche Natur, als wir grundsätzlich in der Lage sind, uns selber zu vergesellschaften, was subjektiv bedeutet, dass wir Verfügung über unsere Lebensumstände gewinnen, handlungsfähig und in diesem Sinne ‚frei’ werden wollen« (Markard 2003, unpag.).
Besonders aus einer gesellschaftskritischen Perspektive, die den Fokus nicht auf das Erlernen gesellschaftlicher Normen und Werte legt, sondern nach den »Bedingungen, Durchsetzungsprozessen und Formen von Vergesellschaftung der Mitglieder einer historisch-konkreten Gesellschaftsformation« (Sünker 2007, S. 101) fragt, ist die Klärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft grundlegend für eine Neubestimmung der Konstitutionsprozesse kindlicher Subjektivität, ihrer Ausdrucks- und Entstehungsformen.
Wenn Kindheitsforschung in der Lage sein will, konkrete Probleme und Missstände des Lebens von Kindern in der heutigen Gesellschaft anzugehen und zu beantworten, muss sie sich dem Ursprung des Verhältnisses von Kindern zur Gesellschaft stellen, um bisher ungenutzte Potenziale aufzudecken und das Missing Link – Kinder und ihre Gesellschaftlichkeit – zu überwinden. Damit entstehen auch für die Vorstellungen kindlicher Subjektentwicklungen neue Möglichkeiten. Kinder werden nicht nur mit dem Rüstzeug geboren, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden, sondern sie werden in spezifische historisch-konkrete Bedingungen geboren. Das reicht von den aktuellen sozioökonomischen Bedingungen sowie der Position und Lage der Eltern, welche bestimmte Bedeutungskonstellationen, d.h. Arten und Weisen des Aufwachsens nahe legen, bis zu den konkreten Umgangsformen der Eltern mit den Kindern.
Die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses von Kindern wird traditionell dem Themenbereich der politischen Sozialisationstheorie zugeordnet.[10] Aus der Perspektive der Sozialisationsforschung wird unter politischer Sozialisation von Kindern die »politische Subjektentwicklung« (Ohlmeier 2007, S. 54) verstanden, d.h. die »Entwicklung von politisch relevanten Bewusstseinsstrukturen« (ebd., S. 54) oder »die politische Persönlichkeitsentwicklung« (ebd., S. 55). Diese Entwicklung verläuft als ständiger Auseinandersetzungs- und Abhängigkeitsprozess mit den jeweiligen Lebensbedingungen. Die Politisierungsinstanzen, Familie, Schule, Medien und Peers werden als Vermittler zwischen dem Subjekt und dem soziopolitischen System betrachtet (ebd.).
Das Gesellschaftsverständnis von Kindern wäre nach Ohlmeier (2007) als »Politisierung aus der Innenperspektive [Verständnis A.d.V.], bezogen auf Politik im weiteren Sinne [Gesellschaft A.d.V.]« (ebd., S. 60f.) zu verstehen. Die Trennung von Politik im engeren und weiteren Sinne soll »demnach nicht eine Auflösung des Politischen im Sozialen [sein], sondern gerade das Aufspüren politischer Aspekte in sozialen Zusammenhängen« (ebd., S. 58) thematisieren. Die Aufgabe, das Verhältnis von Kindern zur Gesellschaft zu klären ist also explizites Ziel der Sozialisationstheorien. Dennoch besteht das Problem, dass es sehr viele unterschiedliche Ansätze gibt, den Mensch-Gesellschaftszusammenhang zu klären. »Auffassungsdifferenzen bestehen sowohl in Bezug auf die Begrifflichkeit, die Methodologie, die Forschungsschwerpunkte als auch hinsichtlich der theoretischen Referenzsysteme, der axiomatischen und inhaltlichen Grundbestimmungen« (Geulen/Veith 2004, S. VII).
Obwohl sich die traditionellen Vorstellungen von Sozialisationsprozessen im Laufe der Zeit sehr stark verändert und differenziert haben – von einer einseitigen Fokussierung auf erzieherische Prozesse der Anpassung des Individuums an die Gesellschaft (Durkheim 1922) im Dienste einer Erhaltung des Status Quo (Almond [1963], siehe Hopf /Hopf 1997) bis zu der Annahme des realitätsverarbeitenden aktiv handelnden Subjekts (Hurrelmann 1994) – lässt sich die Frage der Vergesellschaftung von Kindern in den traditionellen Sozialisationskonzepten nicht angemessen unterbringen, weil die gesellschaftliche Vermitteltheit verkürzt abgebildet wird.
Um die Zusammenhänge von Vergesellschaftung und der Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses präziser auszuführen, sollen nun mit Hilfe von Konzepten der Kritischen Psychologie Anknüpfungspunkte heraus gearbeitet werden, die eine Klärung der relevanten Aspekte für das Verhältnis von Kindern und Gesellschaft möglich machen. Ausgangspunkt ist die Lebenswelt, wie sie vom Standpunkt der Kinder erfahren wird.
Im Gegensatz zu den klassischen entwicklungspsychologischen Theorien über die Entwicklung von Kindern entwickelt Holzkamp (1985) im Rückgriff auf die kulturhistorische Schule ein Konzept, das Entwicklung nicht als innerpsychischen Reifungsprozess oder als Resultat von Lehr- und Lernprozessen versteht, sondern Entwicklung als Prozess der tätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt auffasst.
Durch Handeln greift der Mensch auf eine Umwelt zu, die vor ihm von anderen Menschen entsprechend ihrer Bedürfnisse geschaffen und verändert wurde. Leben in dieser Welt ist nur möglich, wenn sich ein Kind die historische Gewordenheit der Welt aneignen und für seine Zwecke nutzen kann. Es besteht daher eine entwicklungsnotwendige Differenz zwischen der Erfahrung sowie den Möglichkeiten des Kindes und der »widerständigen«, d.h. sich nicht simpel den Bedürfnissen des Kindes unterordnenden Umwelt.
Entwicklung vollzieht sich also als Verarbeitung der Widersprüche, die sich aus der tätigen Auseinandersetzung mit der vom Menschen geschaffenen Welt ergeben.
Obwohl die Entwicklung von Kindern anfangs durch die Einschränkung auf das familiäre Zuhause geprägt ist, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse »zu keinem Zeitpunkt der Ontogenese suspendiert, sondern für das Kind vom ersten Lebenstage an präsent« (Holzkamp 1985, S. 458). Bezogen auf die kindliche Entwicklung geht es darum, wie sich die Beschränkungen der Erwachsenen »zwischen Anforderungserfüllung und der Realisierung subjektiver Lebens- und Glücksansprüche« (Holzkamp 1997b [1980], S. 103) z.B. durch ihre Arbeit im kindlichen Leben niederschlagen. Dabei geht es um die Einschränkungen und die Widersprüchlichkeiten der Handlungsfähigkeit vom Standpunkt der Erwachsenen aus und zwar in dem Maße wie sie für die Kinder in ihrer Lebenswelt erfahrbar werden. Die Vermitteltheit kindlicher Subjektivität mit Gesellschaftlichkeit sieht Holzkamp (1985) durch die sogenannte Kind-Erwachsenen-Koordination gegeben. Die Kind-Erwachsenen-Koordination ist der sowohl absichernde als auch einschränkende Rahmen kindlichen Entwickelns und selbständig Werdens als auch von vornherein die Konstellation, in der Entwicklungswidersprüche in Erscheinung treten. Bezogen auf die Entwicklung der kindlichen Subjektivität und auf die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses stellt sich die Frage, wie die individuelle Vergesellschaftung vonstatten geht.
Richtungweisend bei der Analyse der Subjektentwicklung ist das menschliche Bedürfnis der »Erweiterung der bewußt-vorsorgenden Kontrolle über die Lebensbedingungen« (Holzkamp 1979, S. 10). Da sich die Entwicklung des Kindes im Verhältnis von subjektiven Möglichkeiten und Behinderungen bewegt, geht es um die Analyse der Widersprüche zwischen der empfundenen Selbst- bzw. Weltsicht und den vorstellbaren, aber (noch) nicht realisierten Möglichkeiten. Obwohl die Kinder von Geburt an die Potenz zur gesellschaftlichen Lebensweise in sich tragen, müssen sie bestimmte Aneignungs- und Bewusstseinsprozesse erst vollziehen, bevor sie in dem Maße wie Erwachsene lebens- und handlungsfähig sind. Durch die Lebenswelt der Erwachsenen erfahren die Kinder die Welt zunächst unspezifisch, d.h. losgelöst von den historisch entstandenen Verwendbarkeiten und den vergegenständlichten Intentionen der Menschen, als natürliche Umwelt. Holzkamp geht davon aus, dass einer der wesentlichen Bestimmungsmomente der Sozialisation das Lernen der verallgemeinerten Brauchbarkeit der Gegenstände in der Welt und sozialer Intentionalität ist. Die verallgemeinerte Brauchbarkeit fasst die Historizität, d.h. die menschengemachte und gebrauchsbezogene Funktionalität der Dinge für bestimmte Zwecke. Die Sozialintentionalität zielt auf die zwischenmenschliche Ebene ab, d.h. dass (erwachsene) Menschen zielgerichtet, begründet und emotionsgebunden handeln (auch wenn es teilweise unbewusste Vorgänge sind). Über das Verständnis der intentionsgebundenen zwischenmenschlichen Beziehungen kann das Kind auf die vergegenständlichten Brauchbarkeiten der Gegenstände rückschließen.
Der Motor der Entwicklung ergibt sich aus dem Verhältnis einerseits »groß werden zu wollen«, selbstständiger zu werden und mehr Kontrolle über die Bedingungen der Bedürfnisbefriedigung zu erhalten und andererseits der Erfahrung von Begrenztheit im Zuge der Verwirklichung, da Erwachsene im Vergleich zu mir als Kind viel selbstständiger zu sein scheinen. Daraus resultiert eine Widerspruchserfahrung, die gelöst werden will. Wenn Kinder einschätzen können, warum die Anderen etwas tun oder nicht tun und deren Emotionen sowie Intentionen einschätzen können ist die Lebenswelt wesentlich kontrollierbarer.
Beispielsweise können frühzeitige Interpretationen kindlichen Verhaltens, wie: »das Kind schreit, weil es mich ärgern möchte«, wenn das Kind die gegenseitige Intentionalität noch nicht verstanden hat, zu großer Verwirrung und Aggression beim Kind gegenüber den Erwachsenen führen. Für das Kind müssen Zuschreibungen von Emotionen bevor es gelernt hat, dass Menschen Emotionen u.U. zielgerichtet einsetzen, willkürlich und unverständlich erscheinen. Die Schuldgefühle, die sich entwickeln können, müssen unterdrückt werden, da das Kind von den Erwachsenen abhängig ist. Ambivalente oder intransparente Erfahrungen begünstigen, dass das Kind bei Autoritätskonflikten eher dazu tendiert, Autoritäten anzuerkennen und sich in den gegebenen Verhältnissen so gut wie möglich einzurichten. Insofern stellen emotionale als auch kognitive Erfahrungen die Basis für das Gesellschaftsverständnis von Kindern dar.
Ähnliches gilt für die Gegenstände in der Welt. Auch wenn sich ein Buch ebenso zum zerreißen eignet, weil es so schön knistert, erschließen sich eventuell ganz neue Welten, wenn das Buch seiner Funktionalität entsprechend verwendet und gelesen wird. Gleichzeitig wird die sachgemäße Nutzung von Gegenständen durch Kinder verständlichere und damit kontrollierbarere Reaktionen der anderen Menschen hervorrufen. Kinder können dann realisieren, dass sich ihr Handlungsspielraum vergrößert, wenn sie die Dinge sachgemäß nutzen.
Wenn sich die Kinder die Gegenstandsbedeutung angeeignet haben, besteht der nächste große Entwicklungsschritt darin, die gesellschaftliche Vermitteltheit der Beziehungen zu realisieren. Menschliche Beziehungen, auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern gestaltet sich nicht allein durch die sozialen Bezüge (»diese Person mag ich«), sondern auch durch gesellschaftliche Dimensionen. Der gesellschaftliche Bezug ist für ein Kind nicht ohne weiteres ersichtlich, da die Lebenswelt des Kindes zumeist auf einen kleinen Personenkreis beschränkt ist und Eltern zusätzlich dazu neigen, dem Kind wenn möglich nicht ihre konkreten Handlungsgründe darzulegen, sondern kindgerechte Erklärungen zu finden. Trotzdem ist anzunehmen, dass Kinder z.B. merken, dass es einen Unterschied macht, ob die Mutter mit einer Freundin ins Kino geht und der soziale Aspekt im Vordergrund steht oder ob sie arbeiten gehen muss, ihr Handeln also gesellschaftlich vermittelt ist. Während die Arbeit der Mutter wahrscheinlich kein Verhandlungsgegenstand in der intersubjektiven Kommunikation zwischen Mutter und Kind ist, lässt sich ein Kinobesuch vielleicht dadurch verhindern, dass ich als Kind »großes Theater mache«. Das Beispiel verdeutlicht, dass eine Widerspruchserfahrung dadurch zum Lerngegenstand werden kann, dass sie Grenzen setzt und nicht verhandelbar ist.
Dieser Prozess beinhaltet m.E. eine bedeutsame Frage für die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses von Kindern. Wenn die Überwindung des rein sozialen Verständnisses sowohl die Voraussetzung für das Begreifen der gesellschaftlichen Vermitteltheit als auch für das Begreifen von politischen Verhältnissen ist, kann davon ausgegangen werden, dass der aktuelle Umgang mit Kindern, in Familie und Schule über die Mechanismen der Pädagogisierung, Individualisierung und Moralisierung ein großes Hindernis für das Begreifen gesellschaftspolitischer Zusammenhänge und Widersprüche darstellt.
Durch die pädagogische Betrachtung von Konflikten, z.B. das Kind möchte auf dem Spielplatz bleiben, die Mutter nach Hause gehen, wird das Konfliktpotenzial als interpersoneller Beziehungskonflikt betrachtet – das Kind will nicht, was die Bezugsperson möchte, mag sie also nicht – und die Lösung des Konflikts ist auf der emotional-pädagogischen Ebene angesiedelt. Damit wird eine gegenstandsbezogene Verhandlung über unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse unwahrscheinlich, was Frust auf Seiten der Mutter und Aggressionen beim Kind nahe legt. Eine auf die Bedürfnisse der einzelnen Menschen ausgerichtete Kommunikation und Deutung der Situation, die die Interessen offen legt und sie ernst nimmt, lässt Möglichkeiten der Aushandlung und des Widerstands zu. Das kann heißen, dass die Mutter in dem Fall sagt, dass sie nachhause gehen möchte, anstatt die Umstände zu naturalisieren und etwa zu sagen, dass das Kind genug gespielt hätte und es Zeit für das Mittagessen wäre.
Die Verfasstheit der Gesellschaft verstehen, heißt vor allem, die Vermitteltheit der menschlichen Beziehungen und deren Bestimmung durch die gesellschaftliche Ordnung und Struktur verstehen. Beispielsweise muss ein Kind irgendwann lernen, dass der Verkäufer im Geschäft seine Produkte nicht verkauft, weil er jemanden gerne mag, sondern weil er Geld verdienen muss, um zu überleben. Wenn die Motivation des Verkäufers also nicht sozial bedingt, sondern in der zwingenden Notwendigkeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen begründet ist, dann ist sie gesellschaftlich gesteuert. Die Zusammenhänge sind also nicht unmittelbar zu begreifen, weil sie nicht anschaulich sind, sondern mittelbar – durch bestimmte Sachzwänge, die sich über eventuelle soziale Motive legen, bedingt. Für das Kind ist das Verständnis dieser Prozesse unumgänglich, um in der Gesellschaft zurecht zu kommen. Wenn davon ausgegangen wird, dass eine adäquate Aneignung dieser Zusammenhänge Kindern hilft, sich in der Gesellschaft zu orientieren und ein angemessenes Gesellschaftsverständnis zu entwickeln, ist das Lernen dieser Vermitteltheit ein wichtiger Baustein für die spätere Fähigkeit, das Leben und seine Zusammenhänge nicht nur aus der Anschauung heraus zu begreifen, was eine stärkere Abhängigkeit und Ausgeliefertheit an die Verhältnissen nahe legt. Zu begreifen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, zu denen auch die scheinbare Selbstverständlichkeit etwas zu kaufen gehört, menschengemacht sind und damit veränderbar, vergrößert die Denk- und Handlungsfähigkeit und die Möglichkeiten von Kindern, Einfluss auf ihre Lebensführung zu nehmen.
Problematisch dabei ist, dass die Nichtanschaulichkeit z.B. des Verhältnisses von Kind-Ware-Verkäufer eine Übersetzung nötig macht: die Sprache, in der bestimmte Zusammenhänge transportiert werden. Obwohl Sprache und die Fähigkeit des Gebrauchs der Sprache den Handlungs- und Verständigungsspielraum von Kindern erheblich erweitert, transportiert sie gleichzeitig die gesellschaftlichen Bedeutungen und Verallgemeinerungen. »Der Mensch, der sich ein System der sprachlichen Bedeutungen aneignet, erwirbt zugleich auch deren allgemeineren ideologischen Inhalt, das heißt deren Bedeutung« (Krauss 1994b, unpag.). Dadurch kann es sein, dass Kinder keine »adäquat verkörperten objektiven Bedeutungen« (Leontjew 1982, S. 149) lernen, was wiederum »die Möglichkeit [schafft], in [das] Bewußtsein entstellte oder phantastische Vorstellungen und Ideen hineinzutragen, […] die in der realen praktischen Lebenserfahrung keinerlei realen Boden haben« (ebd.).
Die Verarbeitung solcher widersprüchlichen Erfahrungen können dann personalisiert und als intrapsychische Konflikte zwischen verschiedenen Deutungen und Möglichkeiten empfunden und verarbeitet werden oder aber als neue Lernerfahrungen zu einem kritischen Verhältnis gegenüber gesellschaftlich nahegelegten Deutungen führen. Insofern haben frühkindliche Lern- und Erfahrungsprozesse eine große Bedeutung für das Gesellschaftsverständnis von Kindern.
Gesellschaftsverständnis ist ein sehr umfassender Begriff, der nicht der üblichen Alltagssprache entstammt und nicht eindeutig einer bestimmten Disziplin zuzurechnen ist. Für den vorliegenden Zusammenhang ist wesentlich, dass der Begriff nicht aussagen soll, dass Kinder die Gesellschaft in ihrer formalen abstrakten Struktur im Ganzen nachvollziehen können, sondern dass die gesellschaftlichen Bedeutungskonstellationen Teil der Lebenswelt von Kindern sind und von diesen erfahren und verarbeitet werden.
Wenn das Ziel eine Verständigung über das Gesellschaftsverständnis von Kindern sein soll, erschwert sich das Unterfangen dadurch, dass lange angenommen wurde und noch häufig wird, Kinder seien aufgrund ihrer kognitiven wie kommunikativen Fähigkeiten nicht in der Lage, komplexe Verhältnisse wie die Gesellschaft zu verstehen.[11] Damit besteht die Gefahr, Kinder aus bestimmten Prozessen auszuschließen und nicht mit ihnen zu sprechen und zu verhandeln, sondern über sie. In Bezug auf Kinder findet sich für den beschriebenen Erkenntnisgegenstand häufig die Bezeichnung Weltwissen (Fried/Büttner 2004). Darunter werden verschiedene Aspekte, vom Verhältnis zwischen Armut und Reichtum, über Ökologie bis Rassismus unter Kindern versammelt. Die Bezeichnung ist sehr unspezifisch und nicht auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge fokussiert. In der Nutzung des Wortes Weltwissen für das Gesellschaftsverständnis von Kindern spiegeln sich gleichzeitig die Annahmen über kindliches Verstehen wider. Eine Differenzierung zwischen sozialem Verständnis und Gesellschaftsverständnis findet nicht statt. Weltwissen steht hier für Faktenwissen über die umgebende Welt und wird verkürzt gleichgesetzt mit dem Verständnis der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge und Widersprüche.
Gesellschaftsverständnis geht jedoch über das Verstehen der sozialen Zusammenhänge hinaus. Es bildet einen Teil des Verhältnisses der Menschen zur Welt, in der sie leben, einkaufen usw. Es geht also um die materiellen Verhältnisse und deren Konsequenzen, welche Kinder je nach ihrem Lebensstandort und ihren Lebensumständen erfahren und verarbeiten. Erfahrung und Verarbeitung bieten sich an, das widersprüchliche Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Bedingungs- und Bedeutungsverhältnissen und subjektiven Sinn- und Verständnisbildungsprozessen auszudrücken, um herauszuarbeiten wie sich die Menschen »mit diesen Möglichkeitsräumen sinnlich wahrnehmend und erlebend, emotional empfindend, denkend, urteilend und handelnd befassen und vermitteln und sich damit selbst als individuelle Subjekte erfahren« (Kandzora 2000, S. 9).
Eingangs wurde festgestellt, dass die Kinderforschung keinen elaborierten Gesellschaftsbegriff besitzt und folglich das Verhältnis von Kindern zur Gesellschaft unzureichend geklärt ist. Ähnlich undefiniert ist demnach auch, wie Kinder Gesellschaft verstehen und wie sich dieses Verständnis konstituiert.
In Bezug auf das gesellschaftliche Verständnis stehen Kinder vor der Schwierigkeit, dass die gesellschaftliche Verfasstheit nicht anschaulich ist und sich daher einem einfachen Verstehen entzieht. Dazu kommt, dass sie die Erfahrung nicht machen können, dass ihr Leben gesellschaftlich vermittelt ist, da sie von der Vermitteltheit nur peripher betroffen sind, weil sie sich nicht selbstständig ernähren und arbeiten müssen, sondern von der Unterstützung der Erwachsenen leben. Die Notwendigkeit der Unterstützung stellt sie in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Erwachsenen, was die kognitive Aneignung der realen Verhältnisse erschweren kann. Das Leben scheint vornehmlich von sozialen Bezügen abzuhängen, wie dem elterlichen Unterstützungsrahmen oder der »netten Lehrerin«. Generell liegen für Kinder daher Personalisierungen faktischer gesellschaftlicher Verhältnisse näher als ihr tatsächlicher Ursprung. Den übergeordneten Rahmen, warum die Eltern arbeiten gehen oder warum sie als Kinder zur Schule gehen müssen, d.h. eine spezifische gesellschaftliche Ordnung, müssen sie noch nicht realisieren. Die Widersprüchlichkeit der Erfahrung muss mit dem fortschreitenden Zugang zur Welt immer drängender werden und die Kinder anregen, sich dem zu stellen und es zu verstehen, um besser zurecht zu kommen und z.B. nicht frustriert zu sein, wenn es nicht reicht »nett« zum Verkäufer zu sein, um das begehrte Objekt zu erhalten.
Ruft man sich nun die Forschungsergebnisse zum gesellschaftspolitischen Denken und Wissen von Kindern ins Gedächtnis und fragt erneut nach der Antwort für die Veränderungen im heutigen kindlichen Denken so sind die Ergebnisse und ihre Begründung ohne eine Einbettung in die aktuellen Lebensverhältnisse nicht erklärbar.
Zusammenfassend[12] lässt sich sagen, dass
Kinder mehr von Politik und Gesellschaft verstehen als angenommen wurde,
sich dieses Verständnis nicht auf Faktenwissen oder Strukturmerkmale (»Wer ist der Bundeskanzler?«) bezieht,
Kinder nicht nur auf ihre engste Lebenswelt bezogen sind und Teile der gesellschaftlichen Struktur in ihre Lebenswelt und ihr Verständnis eingehen.
Aufgrund des Forschungsstandes lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob die Ergebnisse auf eine Veränderung des Gesellschaftsverständnisses von Kindern zurück zu führen sind oder im Rahmen der Kindheitsforschung erstmals die Theorien von Kindern über Politik erforscht worden sind.
Diese Frage lässt sich eventuell aufschlüsseln, wenn die obigen Ergebnisse mit den aktuellen Lebensbedingungen von Kindern in Zusammenhang gebracht werden.
Seit den 1990er Jahren unterliegen viele gesellschaftliche Teilbereiche einem wachsenden Ökonomisierungsdruck (Arbeitsmarkt, Gesundheitsversorgung usw.), d.h. Prozesse und Strukturen, die inhärenter Teil des wirtschaftlichen Systems sind, werden wirkmächtiger und schlagen sich auch im Leben der einzelnen Menschen nieder. Dass die Ökonomisierung der Menschen auch das Leben von Kindern betrifft, ist seit dem Jahrtausendwechsel vielfach beschrieben worden – von der Debatte des Humankapitals[13] Kind, über die Entdeckung des Konsumenten Kind zu den politischen Diskursen über die Bildungssituation in Deutschland nach PISA.
Diese Entwicklungen legen nahe, dass sich Kinderleben heute nicht in einem Schonraum (Gaiser/Rother 2009) vollzieht. Der Druck, der heute auf den Kindern als »rares Gut« (Kachelrieß 2010, S. 34) lastet, kann dazu beitragen, dass sich die Ökonomisierung, wenn auch diffus, schon früh im kindlichen Befinden niederschlägt. Ökonomisierung des kindlichen Lebens kann im konkreten Fall bedeuten, dass gesellschaftliche Sachzwänge die innerfamiliäre Kommunikation und die argumentativen Begründungen der Bezugspersonen dominieren. Es ist anzunehmen, dass sich gleichzeitig der Druck erhöht, weil die individuelle Gestaltbarkeit abnimmt, wenn gesellschaftliche Anforderungen steigen. Das führt für die Kinder zu der komplexen Lage, dass sie eine diffuse Betroffenheit erfahren, die jedoch nicht einsichtig oder beeinflussbar ist. Wenn die Zusammenhänge weder eindeutig noch kognitiv zu erfassen sind, so ist doch nahe gelegt, dass sie wahrgenommen werden, allein schon aufgrund der emotionalen Befindlichkeit und Stimmung im familiären Zusammenhang.
Die Nichtanschaulichkeit der gesellschaftlichen Strukturen wird also durch die Eltern oder nahen Bezugspersonen und deren argumentative Bezüge und Emotionen individualisiert und für das Kind erfahrbar, auch ohne konkrete Anschauung oder tatsächliche kognitive Erfassung. Was bleibt ist ggf. die Empfindung der Kinder von komplexen unkontrollierbaren Tatbeständen der Welt.
Auch wenn Kinder die Zusammenhänge noch nicht adäquat verstehen so ist doch wahrscheinlich, dass sie die Widersprüchlichkeit anhand ihrer emotionalen Erfahrungen spüren. Diese Widerspruchserfahrung kann dazu führen, dass sich Kinder entweder zurückziehen und mehr oder weniger diffus mit Angst oder Verunsicherung darauf reagieren und sich ein entsprechendes diffuses Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse aneignen. Aber Kinder können, wenn sie die notwendige Unterstützung erhalten, aufgrund der widersprüchlichen Erfahrungen ggf. früher lernen, dass ihre Existenz nicht nur von der Familie abhängt und entsprechend ein Gesellschaftsverständnis entwickeln, dass reale Zusammenhänge und Widersprüche in der sie umgebenden Welt realer abzubilden vermag.
Sicherlich spielt es auch eine Rolle und muss differenziert werden, welche Position und Lage die Eltern im gesamtgesellschaftlichen System inne haben.
Beispielsweise ist möglich, dass Kindern, deren Eltern von Hartz IV leben und die Klassenreise eventuell vom Arbeits- oder Sozialamt nicht übernommen wird, früher klar wird, dass das Leben auch von außerfamiliären Bedingungen abhängt, als einem Kind dessen Eltern über ein hohes Einkommen verfügen, die ein Haus besitzen und deren Kind eine Privatschule besucht. Diese Überlegungen werden durch Forschungsergebnisse zum Thema Kinder und Politik insofern gestützt als die Bandbreite kindlichen Gesellschaftsverständnisses groß ist und sehr stark vom Kontext abhängt, in dem Kinder groß werden. Schule vermag an diesen Tatsachen gerade zum Schulbeginn nicht sehr viel zu verändern. So hat sich gezeigt, dass Kinder, die in einem wohlhabenden, unterstützenden und gleichzeitig den gesellschaftlichen Normen und Umgangsformen entsprechenden Umfeld aufwachsen, von schulischer Bildung profitieren können, während Kinder aus anderen kulturellen Umfeldern wenig profitieren und sich damit die Schere bezüglich des Wissensstandes der Kinder zum Schulbeginn eher vergrößert als verkleinert (vgl. van Deth et al. 2007). Gleichzeitig variiert die Bekanntheit politischer Themen je nach dem sozioökonomischen Hintergrund der Eltern. Kinder aus Gebieten mit niedrigem sozioökonomischen Status sind die Begriffe Arbeitslosigkeit als auch Gleichbehandlung bekannter als Kindern mit hohem sozioökonomischen Status (ebd., S. 97). Das stützt die Annahme, dass Kinder je nach ihrem Hintergrund unterschiedliche Erfahrungen machen und diese entsprechend verarbeiten, je nachdem ob sie betroffen sind oder nicht.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass mithilfe subjekttheoretischer Überlegungen der Umstand, dass Kinder Gesellschaft wahrnehmen und teilweise verstehen, als Antwort auf veränderte Vergesellschaftungsprozesse gedeutet werden. Eine stärkere Betroffenheit durch die komplexer werdende gesellschaftliche Situation legt eine größere Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesen Strukturen durch Kinder nahe. Das Resultat der Auseinandersetzung ist als Prozess zu denken und offen. Maßgeblich abhängen wird er von den Möglichkeiten, die Kinder haben und dem Unterstützungsrahmen, der ihnen zur Verfügung steht.
Die Frage, ob es tatsächlich zu einer Veränderung des Gesellschaftsverständnisses von Kindern gekommen ist oder ob die Wissenschaft heute lediglich besser in der Lage ist, die Theorien von Kindern zu Politik und Gesellschaft zu erforschen, ist weiterhin offen.
Mit Bezug auf die kritisch-psychologischen Überlegungen zur Subjektentwicklung von Kindern kann jedoch angenommen werden, dass sich das Gesellschaftsverständnis von Kindern vergrößert hat. Die Strukturiertheit der neuen Anforderungen ist komplexer und vermittelt mit den vielfältigen Bezügen heutiger Lebensweise. Wenn Kinder nicht mehr »automatisch« den Beruf des Vaters erlernen, sich starre Rollenvorgaben auflösen und auch der Umgang mit Kindern sich dahingehend verändert, dass sie in familiären und erzieherischen Prozessen immer stärker als Verhandlungspartner ernst genommen werden, dem die Welt verständlich gemacht werden muss, birgt dies eine große Freiheit für die Entfaltung und Eigenstrukturierung kindlichen Lebens. Diese Freiheit und die Vielfalt der Möglichkeiten würde ein erhöhtes Auseinandersetzungspotenzial beinhalten. Der Prozess, sich mit den gesellschaftlichen Strukturen auseinanderzusetzen, begünstigt wiederum die Entwicklung eines komplexeren Gesellschaftsverständnisses.
Komplexität und Freiheit der Alternativen bedeutet gleichzeitig eine große Unsicherheit für das Fühlen und Denken der Kinder.
In Bezug auf die Realität des Lebens von Kindern stellt sich die Frage, wie wir als Erwachsene Kinder unterstützen können, die mannigfachen gesellschaftlichen Anforderungen und potenziellen Vereinnahmungen zu erkennen, ihren Möglichkeitsmodus zu verstehen und aufzuzeigen, dass es unterschiedliche Handlungsalternativen gibt.
Das ist eine Anforderung, die selbst für Erwachsene schwierig ist. Und genau da müssen die Überlegungen m.E. ansetzen. Anstatt die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen auf fehlende Einsicht, Erfahrung oder Können seitens der Kinder zurückzuführen und Kinder aus diesen Gründen in ihren Handlungsmöglichkeiten und deren Ausdrucksformen zu beschränken, sollte die Andersartigkeit als Ausdruck unterschiedlicher subjektiver Standpunkte dem Leben gegenüber und den Möglichkeiten des Einzelnen darin begriffen werden. Und die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder hängen vor allem davon ab, welchen Rahmen Erwachsene ihnen zuweisen.
Gelingen kann das m.E. nur, wenn Kinder nicht mehr »er-zogen« werden, sondern das Leben mit ihnen geteilt wird. Das bedeutet auch, die eigenen Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten im Umgang und in Konfrontation mit der Gesellschaft offen zu legen sowie Ambivalenzen und Grenzen deutlich zu machen, ohne sie zu naturalisieren oder zu pädagogisieren.
Auf diese Weise können Kinder lernen, dass auch die Haltung der Erwachsenen häufig von Unsicherheit geprägt ist und dass es immer verschiedene Antworten und Handlungsalternativen gibt. Die Rolle der intersubjektiven Kommunikation und die Fragen der Kinder nehmen dabei eine bedeutende Rolle ein, denn nur wenn »Kinder es lernen radikal genug weiterzufragen, [können] sie den Schein der Naturhaftigkeit und Unverständlichkeit bürgerlicher Lebensverhältnisse durchbrechen, ihre Interessen unverzerrt erkennen und für deren Durchsetzung kämpfen« (Holzkamp 1997c [1983], S. 154). Kindern die realen Verhältnisse nicht schön zu reden, sondern sie mit den Widersprüchen zu konfrontieren, soll wiederum nicht heißen, Kindern früh politische Zusammenhänge zu erklären und wirtschaftliche Vorträge zu halten, sondern sie eigene Erfahrungen machen zu lassen und bei Fragen offen zu antworten. Die Sicht und das Verständnis von Erwachsenen auf Erziehungs- und Sozialisationsprozesse sind ein erster wesentlicher Schritt:
»Ich leugne natürlich nicht, dass es so genannte ‚schwierige’ und ‚faule’ Kinder gibt, dass neben kleinen Wonneproppen auch große Kotzbrocken existieren, wohl aber, dass sie quasi ‚von Natur aus’ so sind. Es scheint mir theoretisch näher zu liegen und praktisch produktiver zu sein, die Annahme zu vertreten, diesen schwierigen und faulen Kindern sei der Spaß […] ausgetrieben worden, bzw. sie fänden sich in einer Situation des Widerstands […]. Wenn also die Formen, in denen sich die subjektive Notwendigkeit der Vergesellschaftung/Verfügung realisiert, uns nicht gefallen, müssen wir uns fragen, was sich Kinder gefallen lassen mussten, dass sie sich in ungefälliger Weise vergesellschaften. Die Formen, unter denen Menschen (Kinder, Jugendliche) Verfügung über ihre Lebensumstände zu erreichen versuchen, sind natürlich je nach gesellschaftlicher Lage, Situation und Geschlecht und deren subjektiver Interpretation sehr verschieden« (Markard 2006, S. 442).
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Mit neuer Kindheitsforschung ist der Paradigmenwechsel in der Kinderforschung seit dem Beginn der 1990er Jahre gemeint. Im Gegensatz zur Forschung »über« Kinder, »sucht [die Neue Kindheitsforschung] die Annäherung an die Perspektiven der Kinder, sie versucht die Welt von Kindern und ihre Weltsicht [...] zu erfassen. Sie betont die Gleichwertigkeit und Eigenständigkeit von Kindheit [...], fragt nach der Eigenlogik und Andersartigkeit kindlicher Erfahrungen und Welten im Hier und Jetzt« (Breidenstein/Prengel 2005, S. 8).
Alanen hat 1994 das Konzept des »generationing« in die Diskussion über Kindheit aus soziologischer Perspektive eingebracht (vgl. Orth/Schwietring/Weiß 2003). Das Konzept beschreibt Kindheit als gesellschaftlich konstruierte Kategorie, die Menschen aufgrund ihres Alters differenziert und ihnen bestimmte Plätze in der Gesellschaft zuweist.
Schoolreadiness ist seit PISA und dem Fokus auf die frühkindliche Bildung ein Index, der aussagen soll, welche Fähigkeiten und Kompetenzen Kinder haben müssen, um in der Schule bestehen zu können (Green/Preston/Janmaat 2006). Laut Bericht der Gewerkschaft für Erziehung und Bildung (GEW) nimmt das deutsche Schulsystem »nur in einer Hinsicht eine Spitzenposition ein, nämlich wenn es um Auslese und Benachteiligung durch die soziale Herkunft geht. Kinder aus bildungsarmen Familien haben im deutschen Bildungssystem wenig Chancen auf Ausgleich ihrer Benachteiligung« (GEW 2004, S. 2).
Sicherlich spielt es eine Rolle, ob es um 2-jährige oder 12-jährige Kinder geht. Im Folgenden wird der Begriff Kinder oder Jugendliche ohne Altersangabe verwendet, weil die Kategorisierung von Kindern aufgrund ihres Alters für den vorliegenden Argumentationszusammenhang zweitrangig ist. Zum einen widerspricht die Kategorisierung aufgrund des Alters dem generationalen Verständnis, weil die Bestimmung des Lebensabschnitts Kindheit eine hegemoniale Festsetzung von Erwachsenen ist. Zum anderen steht hier die Frage nach dem subjektiven Erleben und der Erfahrung der Kinder im Vordergrund. Die hier verwendete Differenzierung folgt grob dem Jugendschutzgesetz, das Menschen von 1-14 Jahren als Kinder und ab 14 bzw. 15-18 Jahren als Jugendliche bezeichnet (BGB 2002).
Mittels qualitativer Interviews hat Götz festgestellt, dass Kinder in Deutschland den Krieg im Irak wahrnehmen und mehrheitlich eindeutig gegen den Krieg eingestellt sind (Götz 2003).
Beispielhaft sind hier die zahlreichen Lebensberichterstattungen, wie die Shell-Studie (Albert/Hurrelmann/Quenzel 2010) oder die World-Vision-Studie (Hurrelmann/Andresen 2007) zu nennen. Ziel ist nicht, diese Forschungen als sinnlos zu disqualifizieren, sondern Unterschiede in der zugrundeliegenden Ausrichtung und dem Anspruch deutlich zu machen.
Damit sind alle Forschungen gemeint, die der Stimme der Kinder Gehör verschaffen wollen oder den Anspruch haben, die Welt aus der Perspektive der Kinder zu betrachten (Honig/Lange/Leu 1999). Das ist m.E. ohne den konkreten Einbezug der Kinder nicht möglich bzw. kann nur ansatzweise gelingen. Dabei gilt gerade für die Forschung mit Kindern, dass Forschende »immer in der Gefahr [sind], sich die Lebenswelt der Kinder ‚unerlaubterweise’ zurecht zu legen und sie sich zu eigen zu machen« (Mey 2001, Abs.1; vgl. auch Mey 2003, 2005).
In dem Fall ist »Gegenstand der Forschung […] nicht das Subjekt, sondern die Welt, wie das Subjekt sie – empfindend, denkend, handelnd – erfährt« (Markard 2000, S. 7). Dementsprechend ist die Forschung einzelfallbezogen, wobei die Einzelfälle zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, d.h. es geht um den verallgemeinerten Subjektstandpunkt. »Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt« (ebd., S. 10).
Die gesellschaftliche Natur des Menschen steht gegen bestimmte Positionen, wie Psychoanalyse oder biologistische Konzeptionen, in denen dem Menschen die Gesellschaftlichkeit gegen die Triebhaftigkeit oder biologische Funktionalitäten, d.h. gegen die Natur erst »anerzogen« werden müsste (Markard 2009; Schlemm 2004).
Aus psychologischer Perspektive wird die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses von Kindern als Teilbereich der kognitiven Entwicklung gefasst oder im Rahmen der Moralentwicklung verhandelt. In beiden Fällen wird meist auf Piaget (1948) und dessen strukturgenetische Theorie Bezug genommen.
Beispielsweise wurde lange angenommen, dass Kinder Gesellschaft erst verstehen können, wenn sie die Stufe des formal-abstrakten Denkens nach Piaget mit ca. 12-15 Jahren (Piaget 1948) erreicht haben.
Die Aussagen sind alle einer großen Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim entnommen (van Deth/Abendschön/Rathke/Vollmar 2007).
»Ausgangspunkt des Konzepts ist die Annahme, dass für die Lebenschancen der nachkommenden Generationen in den (sich selbst als solche definierten) Wissensgesellschaften die Akkumulation von kulturellem, sozialem und kognitiven Kapital von herausragender Bedeutung ist und vornehmlich in der Kindheit stattfindet. Die Humankapitaltheorie geht davon aus, dass sich die Höhe der Investitionen in die junge Generation (bzw. in die Menschen) durch Kosten-Nutzen-Rechnungen festlegen lässt« (Kachelrieß 2010, S. 37).