Die Digitalisierung von Information hat das Erzeugen, Speichern, Verbreiten sowie insgesamt den Zugriff auf Bilder innerhalb weniger Jahre derart leicht gemacht, dass beispielsweise bis vor kurzem geläufige Differenzierungen wie die von BildproduzentIn und BildrezipientIn verschwimmen. Das Medium Bild gewinnt zunehmend eine essentielle Funktion für sämtliche Lebensbereiche; die neuen technischen Möglichkeiten steigern unübersehbar die gesellschaftliche und psychologische Relevanz des Bildes. Mit einer gewissen Latenz, die wohl der langen Tradition ihrer Textbezogenheit geschuldet ist, haben die Wissenschaften in den letzten Jahren auf diese Veränderungen zu reagieren begonnen. Während in den auslaufenden 0er Jahren noch mit gewissem Recht die Bildvergessenheit der Sozial- und Humanwissenschaften beklagt werden konnte, findet sich heute jedenfalls ein lebendiger, um nicht zu sagen boomender Diskurs rund um das Bild: Forschungsplattformen entstehen, disziplinübergreifende Forschungsprojekte und ganze bildbezogene Forschungseinrichtungen werden mit beachtlichen Mitteln gefördert, weltweit finden Tagungen statt, die das Bild und/oder Visualität ins Zentrum stellen. Die Psychologie kann zwar nicht zu den Vorreitern dieses Trends gezählt werden, wird aber davon zunehmend miterfasst. Das nomothetische Paradigma bzw. ein experimenteller Forschungsansatz, wie sie den Hauptstrom der Psychologie kennzeichnen, lassen hier allerdings nur begrenzte bzw. oberflächliche Anschlüsse an bildwissenschaftliche Auseinandersetzungen zu. Kulturpsychologisch-interpretative Perspektiven sollten in diesem Szenario hingegen prinzipiell Konjunktur bekommen.
Vor diesem Hintergrund wollten wir uns einen Überblick verschaffen, welche Auseinandersetzungen mit dem Medium Bild zur Zeit in unserer Disziplin vorliegen, haben aber auch nach transdisziplinären Ansätzen Ausschau gehalten und ebenso nach innovativen praktischen Anwendungen. Ziel war es, eine Ausgabe mit Beiträgen zu gestalten, die von einem Bildbegriff ausgehen, der das Bild als mit technischen Hilfsmitteln erzeugtes Artefakt versteht – in Abgrenzung zu inneren Bildern als mentalen Vorstellungen oder zu sprachlichen Metaphern. Wir interessierten uns insbesondere dafür, wie und mit welcher Verbindlichkeit wir Bilder innerhalb (kultur)psychologischer Forschungsbemühungen nutzen können, wofür genau Bilder als empirische Daten geeignet sind, vor welchen Herausforderungen die Interpretation von Bildern und Bildpraxen, d.h. die Hermeneutik visueller Botschaften, steht und ob sich historisch-kulturelle Veränderungen des Sehens im Zusammenhang mit Bildern als epistemologische und ästhetische Erweiterungen (oder Einengungen) von Selbst- und Weltbildern erfassen lassen.
Als Resultat versammelt diese Ausgabe Beiträge, die von eben diesem Bildbegriff ausgehen und in der Psychologie verortet werden können. Soweit der positiv-affirmative Blick auf das vorliegende Heft. Die Arbeit daran hatte nämlich auch ent-täuschende Momente für uns. Nach zunächst großem Rücklauf zu unserem call und reichlich Interessensbekundungen für Beiträge blieben letztlich nur vier Beiträge übrig: zwei aus dem Bereich der Kindheits- und Jugendforschung, die mit der Zeichnung eine gute Tradition hat, ein Essay mit vorwiegend wissenschaftstheoretischen bzw. -historischen Ambitionen – und schließlich unser eigener, methodologisch-grundlagentheoretisch ausgerichteter Beitrag.
Unsere vorläufige Diagnose dieses Prozesses lautet, dass es wohl großes Interesse an dem Thema gibt, sich aber in den meisten Feldern der Psychologie noch keine stabile (und publikationsmächtige) Tradition der Auseinandersetzung damit gebildet hat. Wir geben die Hoffnung allerdings nicht auf, dass auch zwischen den beiden hier artikulierten Polen von entwicklungspsychologischer und wissenschafts- bzw. grundlagentheoretischer Auseinandersetzung bildbezogene Forschungsbemühungen in unserer Disziplin in Gang kommen werden. Die nächste Gelegenheit dazu steht schon vor der Tür: Die 11. Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie vom 6. bis 8. Juni 2013 in Wien wird ebenfalls im Zeichen des Bildes stehen und sich unter dem Tagungstitel »BILDER ZEIGEN SELBST« mit Ikonizität und Visualität als Herausforderungen für die Kulturpsychologie beschäftigen (siehe http://www.kulturpsychologie.de/).
Damit zu den in diesem Heft versammelten Arbeiten: In der Entwicklungspsychologie und der angrenzenden Erziehungswissenschaft gibt es eine gute Tradition im Bereich von Kinder- und Jugendzeichnungen. Hier liegt auch der forschungspraktische Schwerpunkt des Hefts, der unserer Ansicht nach gegenwärtige Sozialisationsbedingungen insofern widerspiegelt, als in der institutionalisierten Ausbildung die Auseinandersetzung mit dem Bild in der frühen Jugendphase in aller Regel abreißt und die Ausbildung in Sprache und Schrift von der primären zur einzigen wird. Die Sozialisation in Sachen Bildkommunikation findet dafür im außerschulischen Bereich statt: Neben dem allgegenwärtigen Fernsehen sind kaum mehr Handys ohne Bildschirm im Umlauf, dafür immer mehr Tablets, Netbooks, iPods und ähnliche Geräte, mit denen man Bilder erzeugen, bearbeiten und anschauen kann.
Das Verhältnis von Sprache und Bild wird in den beiden auf Kinder bzw. Jugendliche bezogenen Aufsätzen unterschiedlich gefasst. In der von Rita Balakrishnan, Heike Drexler und Elfriede Billmann-Mahecha vorgelegten Rekonstruktion der kommunikativen Bedeutung von Kinderzeichnungen spielen die sprachlichen Äußerungen der Untersuchten eine zentrale Rolle für die empirische Arbeit mit Bildern. Die Autorinnen wollen insbesondere die im Hauptstrom des Faches geradezu habituelle Verkürzung des forscherischen Fokus auf das Endprodukt – hier die Kinderzeichnung – vermeiden und diese im Kontext ihrer Entstehung untersuchen bzw. in Hinblick auf die kindliche Malabsicht verstehen. Dabei rücken jene die kindliche Zeichnung begleitenden sprachlichen Äußerungen in den Fokus. Eine solche, nicht auf das Endprodukt reduzierte Sichtweise auf das kindliche Zeichnen ermöglicht es, die soziale und kommunikative Funktion von Kinderzeichnungen zu analysieren, die in der herkömmlichen Kinderzeichnungsforschung vernachlässigt wurde. Resultat des aufwändigen Erhebungsdesigns ist eine außergewöhnlich gut empirisch abgestützte Typologie, die auch insofern innovativ ist, als sie bildliches und verbales Material zum Ausgang nimmt und insofern methodisch-wissenschaftliche Genregrenzen überschreitet.
Die grundlagentheoretische Auffassung des Verhältnisses von Bild und Text im Aufsatz von Gabriele Wopfner unterscheidet sich davon deutlich. Denn die Autorin macht gerade die Eigenständigkeit ebenso wie die Eigenlogik des Bildes im Kommunikationsprozess stark. Auch hier basiert der Aufsatz auf einer breit angelegten und aufwändigen Erhebung, bei der eine erstaunliche Fülle an Datenmaterial anspruchsvoll ausgewertet wurde. Gerade durch diese thematische und pragmatische Ähnlichkeit einerseits und die methodischen und grundlagentheoretischen Unterschiede andererseits bilden die beiden Aufsätze einen spannenden Kontrast zueinander und zeigen, wie unterschiedliche methodologische Herangehensweisen auch ganz unterschiedliche Ergebnisse liefern.
Der Schwerpunkt des Beitrags von Gabriele Wopfner liegt jedenfalls in einer methodisch-methodologischen Auseinandersetzung mit der dokumentarischen Bildinterpretation in ihrer Anwendung auf Kinderzeichnungen. Zu diesem Zweck wird zunächst in die dokumentarische Methode der Bildinterpretation eingeführt, um dann deren besondere Möglichkeiten und Herausforderungen im Zusammenhang mit Kinderzeichnungen auf der Basis von empirischem Material zu diskutieren. Eine exemplarische Fallstudie, d.h. die intensive Analyse eines Bildes, erlaubt daran anschließend Einblicke in die Gesamtergebnisse der Studie. Dabei klingt auch das gesellschaftskritische Potential der Adoleszenzentwicklung insbesondere in Hinblick auf das Geschlechtsrollenverhältnis an und es wird deutlich, wie sich dieses jenseits von sprachlichen Ausdrucksformen artikuliert. Die dokumentarische Interpretation ermöglicht dieses kritische Potential zu rekonstruieren, insbesondere eben jenes, das sich jenseits von sprachlichen Ausdrucksformen artikuliert.
Anliegen unseres eigenen Textes ist es, das Erkenntnispotential der Linie zu entfalten und damit einen Beitrag zur grundlagentheoretischen Ausarbeitung rekonstruktiver Methodologie zu leisten. Die Linie fungiert dabei als pars pro toto für Ikonizität, d.h. für die spezifischen bzw. formalen Strukturen bildlicher Bedeutungskonstitution. Als ein ebensolches Prinzip diskutieren wir das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Die Linie erweist sich als Teil unseres impliziten Wissens, das beim Bildverstehen zum Tragen kommt. Wir differenzieren in der Folge zwischen zwei Formen der Abstraktion, welche die Linie möglich macht: zwischen jener, die wir als a-theoretische bezeichnen und die einen Zugang zur Weltanschauung, die sich im Bild dokumentiert, eröffnet – und jener, die wir als theoretische bezeichnen und die kommunikativ-generalisiertes, raum-zeitlich weitgehend ungebundenes Wissen darzustellen vermag. Neben einem Plädoyer für die Beachtung der Eigengesetzlichkeit des Bildes ist es uns ein Anliegen, bei der sozialwissenschaftlichen Interpretation von Bildern diese beiden Aspekte der Linie nicht zu verwechseln. Eine derartige Verwechslung kann nur allzu leicht dazu führen, dass man bei der a-theoretischen Abstraktionsleistung der Linie nomologische Qualitätskriterien anlegt, was – wie wir zeigen ein erkenntnislogisches Missverständnis darstellt.
Zwar ist heute in wissenschaftstheoretischen und wissenssoziologischen Diskursen das Verständnis etabliert, dass wissenschaftliche Bilder keine Abbilder von Natur sind, sondern komplexe technisch-methodische Voraussetzungsketten und Darstellungsstile haben. Die Praxis wissenschaftlicher Forschung erliegt angesichts von mit Evidenz prunkenden Bildern nichtsdestotrotz immer noch gerne einer Selbsttäuschung über deren Natur. In seinem Essay versucht Gerhard Benetka die historischen Wurzeln dieser Selbsttäuschung offen zu legen. Mit Latour führt er diese Selbsttäuschung auf eine Verwechslung von Kunstgeschichte und Epistemologie zurück, auf Grund derer Wissenschaft als realistisches Gemälde aufgefasst wurde, das in exakter Weise die Welt zu kopieren imstande ist. Wie Benetka zeigt, ist damit auf ein bestimmtes Verständnis von Kunst verwiesen, das sich nicht zufällig zur selben Zeit und an denselben geografischen Orten zu behaupten begann, zu der bzw. an denen die frühen Fundamente für das Entstehen der neuzeitlichen Wissenschaft gelegt wurden: auf jene naturalistische Auffassung von Kunst, die mit der italienischen Renaissance hervorgebracht wurde. Am Beispiel von anatomischen Zeichnungen Leonardo da Vincis demonstriert er, dass selbst Bilder mit einer zunächst überaus naturalistischen Anmutung nicht einfach das Gesehene reproduzieren, sondern vielmehr Ausdruck einer bereits von Vorstellungen (z.B. hinsichtlich der Funktionsweise des menschlichen Körpers) aufgeladenen Wahrnehmung sind. Besonders auffällig an den scheinbar naturalistischen Zeichnungen da Vincis ist, dass sie den oder die Betrachter/in immer schon mitdenken, wenn sie anatomische Strukturen öffnen, entfalten oder vergrößern und so Perspektiven erzeugen, die in der Natur nicht möglich sind.
Das Heft beschließt ein frei eingereichter, d.h. mit dem Bild-Thema nicht verbundener Beitrag von Arnold Hinz, der sich kritisch mit der Validität und Nützlichkeit studentischer Unterrichtsevaluationen auseinandersetzt, denen heute kaum ein/e Hochschullehrende/r mehr entkommt. Der Beitrag kümmert sich dabei nicht um die gesellschaftlich-politischen Kräfte und Verschiebungen, die in den letzten Jahrzehnten, ausgehend vom angelsächsischen Raum, die Hochschulen nach der Logik von Verwertbarkeit, Effizienzsteigerung und Planbarkeit re-formatiert und dabei auch den Evaluatoren so große Konjunktur beschert haben, sondern verfolgt eine immanent-kritische, daher auch an den mainstream der Psychologie gut anschlussfähige Perspektive, in deren Zentrum die Effekte von erwarteter Benotung und von physischer Attraktivität der DozentInnen auf die Lehrevaluation stehen. Deren Validität wird durch diese Effekte stark eingeschränkt, dazu kommen beträchtliche Nebenwirkungen – insbesondere ein Konformitätsdruck – auf die Lehrenden, sodass auch aus dieser immanent- kritischen Perspektive der Schluss naheliegt, dass sich mittlerweile durch die flächendeckende und permanente Lehrevaluation ein ehemals emanzipatorisches Anliegen in sein Gegenteil verkehrt hat.